Alles auf Anfang - Manuel Möglich - E-Book

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Manuel Möglich

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Beschreibung

Kann man Utopien leben? Manuel Möglich macht den Praxistest. Es gibt Menschen, die ihrem Traum von einem ganz anderen, besseren Leben folgen – und Manuel Möglich folgt diesen Menschen, um herauszufinden, ob ihnen dieses Abenteuer gelingt. Was bleibt von den großen Träumen, wenn man sie zu leben versucht? Eine Welt ohne Geld und Eigentum lernt Möglich bei den Nomadelfen kennen, einer urchristlichen Gemeinschaft in der Toskana. Ob die freie Liebe (neudeutsch «Polyamorie») die Lösung aller Probleme ist, soll sich bei den Kirschblütlern in der Schweiz zeigen. Möglich unterwirft sich auf der Suche nach innerer Einkehr dem mönchischen Alltag im Benediktinerkloster, erklettert die Baumhäuser junger Umweltaktivisten im Hambacher Forst und träumt mit Tech-Freaks auf dem kalifornischen RAAD-Festival von Cyborgs und Unsterblichkeit. Oder müssen wir die bessere Zukunft, wie die Initiatoren der niederländischen Mars-One-Expedition glauben, gar auf einem anderen Planeten suchen? Manuel Möglich begegnet Visionären und Phantasten, Finanziers und Hippies, Revolutionären und Aussteigern, und er versucht zu ergründen, was diese Menschen dazu bringt, alles zu wagen. Klar ist am Ende: Manche Utopie ist nicht so weit entfernt, wie man zunächst glauben möchte – und es lohnt sich auf jeden Fall, das eigene Leben hin und wieder auf den Prüfstand zu stellen.

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Seitenzahl: 309

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Manuel Möglich

Alles auf Anfang

Auf den Spuren gelebter Träume

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Kann man Utopien leben? Manuel Möglich macht den Praxistest.

 

Es gibt Menschen, die ihrem Traum von einem ganz anderen, besseren Leben folgen – und Manuel Möglich folgt diesen Menschen, um herauszufinden, ob ihnen dieses Abenteuer gelingt. Was bleibt von den großen Träumen, wenn man sie zu leben versucht? Eine Welt ohne Geld und Eigentum lernt Möglich bei den Nomadelfen kennen, einer urchristlichen Gemeinschaft in der Toskana. Ob die freie Liebe (neudeutsch «Polyamorie») die Lösung aller Probleme ist, soll sich bei den Kirschblütlern in der Schweiz zeigen. Möglich unterwirft sich auf der Suche nach innerer Einkehr dem mönchischen Alltag im Benediktinerkloster, erklettert die Baumhäuser junger Umweltaktivisten im Hambacher Forst und träumt mit Tech-Freaks auf dem kalifornischen RAAD-Festival von Cyborgs und Unsterblichkeit. Oder müssen wir die bessere Zukunft, wie die Initiatoren der niederländischen Mars-One-Expedition glauben, gar auf einem anderen Planeten suchen?

Manuel Möglich begegnet Visionären und Phantasten, Finanziers und Hippies, Revolutionären und Aussteigern, und er versucht zu ergründen, was diese Menschen dazu bringt, alles zu wagen. Klar ist am Ende: Manche Utopie ist nicht so weit entfernt, wie man zunächst glauben möchte – und es lohnt sich auf jeden Fall, das eigene Leben hin und wieder auf den Prüfstand zu stellen.

Über Manuel Möglich

Manuel Möglich, geboren 1979 in Weilburg/Hessen, studierte Medien- und Kulturwissenschaft, schrieb für «Vice» und arbeitete als Radiojournalist für 1LIVE und radioeins. Seine Fernsehserie «Wild Germany» auf ZDFneo und Netflix, die ihn und seinen direkten, subjektiven Stil bekannt machte, war für den Deutschen Fernsehpreis nominiert. Mit dem Dokuformat «Y-Kollektiv» gewann er den Deutschen Webvideopreis. Als «Rabiat!»-Reporter versucht Möglich, die ARD zu verjüngen. 2015 erschien sein erstes Buch «Deutschland überall». Manuel Möglich lebt in Berlin.

Für Maren

«Die Widersprüche sind unsere Hoffnung.»

Bertolt Brecht

 

«Let’s start today!»

Gorilla Biscuits

Eine Welt ohne Geld?

Zu Gast bei den Nomadelfen (Toskana)

Ich sehe im Rückspiegel die Mautstation kleiner werden. Der Beamte in seinem Kasten hat nicht meinen Ausweis verlangt, etwas Hartgeld reichte, und schon hob sich der Schlagbaum in die tief hängenden Regenwolken. Geld öffnet Türen.

Hinter dem Brenner erstrahlt Europa wie Gold. Auf dem letzten Stück vor dem Pass haben die dicken Tropfen nachgelassen. Mit jedem gefahrenen Meter verwandelt sich das glänzende Schwarz des Asphalts mehr in ein mattes Hellgrau. Das Firmament wirkt auch gleich heller, freundlicher. Vor dem Dolomitenpanorama, vom Tal hinauf bis zu den allzeit schneebedeckten Gipfeln, zeigt sich die Natur maximal dramatisch, gewaltig. Im langen Schatten der Berge erscheint die eigene Existenz mickrig und unbedeutend.

Südtirol soll nur ein Zwischenstopp sein, nicht der Beginn einer italienischen Reise, wie sie ein gewisser Johann Wolfgang von Goethe unternommen hat. Der war von diesem Landstrich nicht weniger fasziniert als ich: «Alles, was auf den höheren Gebirgen zu vegetieren versucht, hat hier schon mehr Kraft und Leben, die Sonne scheint heiß, und man glaubt wieder einmal an einen Gott.» Zu Gott habe ich das letzte Mal als Kind gebetet, mein Glaube ist höchstens Relikt. Vom Wort des Allmächtigen wird diese Reise gen Süden trotzdem handeln, da bin ich mir sicher.

 

«Rot od’r weiß?», erkundigt sich Albert, der Besitzer des kleinen Agriturismo-Hofs unweit von Bozen.

Wie sich herausstellt, hat er nur darauf gewartet, dass ich um seine Empfehlung bitte.

«Bis zwölf om Mittog trink wirn Weißwein, drnoch nurn Rotn. Der mocht net aggressiv.»

Ein schnarchiger Kalenderspruch, aber ich will dem Chef nicht den Fehdehandschuh hinwerfen und füge mich. Die dickbauchige Flasche mit der dunklen Flüssigkeit präsentiert Albert wie einen Schatz.

Während ich trinke, steigt am Nachbartisch langsam der Lärmpegel. Der Weißwein muss schuld sein, was sonst, denke ich, doch ich liege falsch. Sommelier Albert diskutiert aufgebracht mit einem Paar. Es geht um den Zustrom von Flüchtlingen, alle echauffieren sich. Die Außengrenzen des Landes sollten dichtgemacht werden, schwadronieren sie, die Zeit dafür sei reif. Nach einer differenzierten Auseinandersetzung klingt das nicht, für letzte Gewissheit sorgt die flache Hand, die wieder und wieder laut auf den Tisch klatscht und die «Love-Peace-&-Harmony»-Stimmung zerstört. Gift liegt in dieser nasalen Empörung. Alles, was eben noch golden geschimmert hat, wird augenblicklich zu Rost.

«Wie wäre es mit konstruktiven Vorschlägen?»

Denke ich mir und sage es nicht, dabei hätte ich mich einmischen sollen. Längst hat sich der Rotwein wie ein schwerer Mantel um mich gelegt, nimmt mir die Luft, die Sprache, jede Schlagfertigkeit. Ich halte also die Klappe und verachte mich dafür, weil Schweigen Tolerieren heißt. Weit über dem Meeresspiegel sind es dieselben Sorgen und schaurigen Tiraden des Untergangs, die auch im Tiefland durch die Köpfe spuken. Lösungsansätze, Ideen oder einfach nur Mitgefühl: Fehlanzeige. Aber warum sollte man hier anders denken als an so vielen Orten in Europa? Hier, wo die Mehrheit sich als Minderheit versteht, viele von der Autonomie Südtirols träumen und die Abspaltung von Italien herbeisehnen. Am Nachbartisch flammt die Sorge hell auf wie ein Bengalo.

«Mit welchm Schouder solln die bezohlt werdn?»

Geld schließt Türen.

 

Bin ich wirklich aufgebrochen, um mich am Nachmittag mit Rotwein zu betrinken und mir diese Art von Gespräch anzuhören? Nein.

Alles auf Anfang stellen, eine neue Grundierung auftragen, um mit frischen Farben ein verheißungsvolles Bild zu malen. Und das nicht alleine, sondern gemeinsam mit anderen, jeder kriegt einen Pinsel und darf mit ran.

Was sich so einfach anhört, erfordert vor allem eines: Mut. Denn nicht immer ist das, was man sich so ausmalt, in der unmittelbaren Umgebung zu verwirklichen. Dennoch gibt es diese Menschen, die keinen Bock mehr haben auf Theorie und den Praxistest wagen. Die sich nicht länger mit Kompromissen zufriedengeben und den Traum von einem vollkommen anderen, besseren Leben zu leben versuchen. Ob es ihnen gelingt? Ebendas will ich herausfinden. Ich bin losgezogen, um in Europa und darüber hinaus Leute zu treffen, die schon heute oder in naher Zukunft eine Utopie verwirklichen wollen.

Dabei treibt mich mehr als nur Neugierde an. Das Vorhaben, nach gelebten Utopien zu suchen, rührt aus einem Unbehagen tief in mir selbst. Es ist fast schon paradox. Angefangen hat es, als ich realisiert habe, dass ich nichts mehr empfinde: Eilmeldungen waren Buchstaben auf dem Display, gegen schreckliche Nachrichten hatte ich mich längst immunisiert. Und ich bin mir sicher, dass es nicht nur mir so geht. Der Mensch kann sich an so vieles gewöhnen – aber muss er das überhaupt? Sind wir nicht alle Zwängen ausgesetzt, die uns daran hindern zu tun, was getan werden könnte? Solange wir unser Gewissen beruhigen, indem wir Fair-Trade-Produkte im Bioladen kaufen, Ökostrom beziehen und fleißig Online-Petitionen unterschreiben, lässt sich das Unwohlsein vielleicht noch verdrängen. Doch eigentlich verschließen wir die Augen, machen täglich Zugeständnisse.

Als Realist, der an das Gute glauben will, ist mir immerhin eine Sache klar: Die Welt, in der wir leben, ist faktisch die beste aller Zeiten. Um nur ein paar Zahlen aus der jüngeren Vergangenheit zu nennen: Allein in den letzten zehn Jahren haben die Aids-Todesfälle weltweit um ein Drittel abgenommen; seit dem Jahr 2000 ist die Zahl der Malaria-Toten um sechzig Prozent zurückgegangen; die globale Lebenserwartung steigt weiter und liegt heute durchschnittlich bei siebzig Jahren; rund einhundert Millionen Menschen gelang es im Jahr 2016, extremer Armut zu entkommen; noch nie konnte ein größerer Teil der Weltbevölkerung lesen und schreiben. Früher war also überhaupt nicht alles besser. Tatsächlich leben wir schon lange in einer utopischen Welt – wenn man sie aus der Perspektive vergangener Jahrzehnte betrachtet, die von solchen Zuständen nur träumen konnten.

Warum sollten wir nicht weiterträumen? Es gibt genügend Gründe, an eine radikal andere, von heute aus gesehen utopische Zukunft zu glauben. Und damit nicht genug, vieles lässt sich schon hier und jetzt ausprobieren. Ich bin Personen begegnet, die ihre frühere Existenz aufgegeben haben, um einem alternativen Lebensentwurf zu folgen – ob es dabei um Ökologie oder Ökonomie geht, um die Liebe oder ein befreites Miteinander, den Kampf gegen den Tod auf der Erde oder die Neuerfindung des Lebens auf dem Mars. Sie alle nehmen das Risiko zu scheitern mit Kusshand in Kauf, weil sie wissen, dass viel zu gewinnen ist. Folgen Sie mir auf ihren Spuren und entscheiden Sie selbst, ob diese Menschen Pioniere oder wahnsinnige Träumer sind.

 

In der Maremma, dem südlichsten Zipfel der Toskana, erwarten mich die Nomadelfen. Mitte der Fünfziger ließ sich die Gemeinschaft in der Region nieder. Was mich sofort beeindruckt: Die Nomadelfen haben schon vor vielen Jahren das Geld aus ihrer Gemeinschaft verbannt. Ein Leben ohne Geld – je älter ich werde, desto weniger kann ich mir vorstellen, wie das funktionieren soll. Nicht weil ich Unmengen auf dem Konto oder ein besonderes Faible dafür hätte; egal, ob millionenschwer oder knietief im Dispo, fast jeder glaubt doch insgeheim, dass es ruhig ein bisschen mehr sein könnte. Schon das erste Taschengeld raubt einem die Unschuld, das bedruckte Papier wird zeitlebens mit Bedeutung aufgeladen, und der Gedanke daran ist ein steter Begleiter. Die innere Freiheit wird nur für Momente spürbar, wenn der Cashflow ausnahmsweise mal stimmt, und leider halten solche Momente nie lange an.

Keinen Cent werden die Nomadelfen während meines Aufenthalts von mir verlangen, weder für Essen noch für Unterkunft. Ihr Dorf liegt zwei Autostunden von Florenz entfernt. Auf der SS 223 von Norden kommend, führt mich eine eigene Autobahnausfahrt kurz vor Grosseto direkt nach Nomadelfia. Es geht eine Zeitlang abwärts, dann wieder aufwärts, bis ich einen mannshohen rotbraunen Stein passiere, der in hebräischen, griechischen, lateinischen, kyrillischen und arabischen Schriftzeichen den Namen des Orts verkündet. «Legge di Fraternità» lese ich darunter: «Das Gesetz der Brüderlichkeit».

Nomadelfe kann werden, wer drei Kriterien erfüllt. Zumindest das erste davon trifft auf mich zu: Das einundzwanzigste Lebensjahr habe ich bereits seit einiger Zeit hinter mir. Kinder, die in der Gemeinschaft aufwachsen, müssen sich, sobald sie erwachsen sind, dafür oder dagegen aussprechen. Zweitens, und schon dieser Punkt macht es deutlich schwieriger für mich, laut «Ja!» zu schreien: Es gilt, auf jede Art von Eigentum zu verzichten. Man muss gewillt sein, mit dem Nötigsten für ein Leben in Würde auszukommen, nur kein unnötiger Ballast. Nomadelfia ist arm, aber nicht sexy. Nomadelfia ist arm und strenggläubig. Gottes Wort hat bei diesen Italienern noch absolute Gültigkeit. Die letzte zu erfüllende Bedingung, will man sich dem Kollektiv anschließen, lautet daher: Katholik sein, den Glauben und die Lehre der katholischen Kirche anerkennen und danach leben. Ich selbst bin mehr oder weniger protestantisch aufgewachsen, eher weniger als mehr, und noch viel dramatischer: Seit Jahren komme ich auch ohne eingetragene Konfession ganz gut durchs Leben. Damit wäre ich als Anwärter wohl von vornherein raus.

Nomadelfia fußt auf der Vision seines Gründers Don Zeno, der von einem neuen Volk träumte. Dieser Traum hat so manche Männer nicht nur in den Wahnsinn getrieben (wenn er nicht selbst schon ein Ausdruck von Wahnsinn war), sondern auch auf bestialische Ideen gebracht. Höre ich den Ausdruck «neues Volk», denke ich sofort an Rassenideologie – doch Don Zeno lag das fern. Er besetzte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs mit seinen Leuten das ehemalige Durchgangslager Fossoli bei Modena. An jenem Ort, an dem Don Zeno im Jahr 1900 zur Welt gekommen war, hoben siebenundvierzig Jahre später die «kleinen Apostel», wie sich die Gruppe seinerzeit noch nannte, auf blutgetränktem Boden eine neue Gemeinschaft aus der Taufe. Aufgenommen wurden zunächst einhundertzwanzig Waisenkinder, später wuchs die Gemeinschaft auf rund siebenhundert Kinder und dreihundert Erwachsene an. Zum ersten Mal wagte man hier den Versuch, dem «Gesetz der Brüderlichkeit» zu folgen. Das neue Volk sollte sich an die Botschaft des Evangeliums halten. Bis heute kommt die Gemeinschaft dem Wunsch ihres Gründervaters, der 1981 starb, nach.

Woher rührt diese Faszination, diese Treue? Ist es der Kult um eine verstorbene Symbolfigur oder tatsächlich die Demut vor Gott und seinem Wort, der Heiligen Schrift? Vielleicht hallen bis heute die Worte Papst Johannes Pauls II. nach, der ein Jahr vor Don Zenos Tod ihn und einige seiner Brüder und Schwestern in Rom empfing. Das Oberhaupt der römisch-katholischen Kirche ließ sich zu folgender Aussage hinreißen: «Ihr habt ein Zeugnis eures Lebens, eurer Brüderlichkeit, eurer Erfahrung gebracht, das vielleicht ein kleines Samenkorn ist; aber das kleine Samenkorn muss wachsen, und vielleicht wird es die Kultur der Zukunft durchdringen.» Neun Jahre später kam Johannes Paul II. in die Maremma, um seine loyalen Anhänger zu besuchen.

 

Don Zenos Vision von Nomadelfia erinnert an Thomas Morus’ «Utopia», an die Ur-Utopie. Morus entwarf vor mehr als fünfhundert Jahren in seinem Werk das Bild einer idealen Gesellschaft. Eine Staatsfiktion, die nach der Bibel zum meistgedruckten Buch der Welt wurde; schon das ist reichlich irre und macht deutlich, wie sehr die Menschen seit jeher nach der großen Alternative verlangten.

Auf der wahrlich traumhaften «Nova Insula Utopia» ist das Leben friedlich und gerecht. Alle Menschen sind gleich, allen gehört alles. So wie in Nomadelfia. Es existiert ein lebenslanges Wohnrecht, und jedes zehnte Jahr können Wohnungen untereinander getauscht werden – in Nomadelfia müssen die Bewohner alle drei Jahre die Häuser wechseln, bestehende Familiengruppen löst der Präsident der Gemeinschaft auf, um sie neu zusammenzusetzen. Und es gibt weitere Parallelen zwischen Don Zenos und Thomas Morus’ Utopie. Geld beziehungsweise Gold haben beide aus ihrem System verbannt, trotzdem leidet niemand an Hunger, keiner muss sich um seine Arbeit sorgen oder Ausbeutung fürchten – aber ausnahmslos alle Mitglieder der Gemeinschaft sind verpflichtet, einer Beschäftigung nachzugehen. In Utopia lernen auch die Städter das Landleben und den Ackerbau kennen, in Nomadelfia schützt ein akademischer Titel nicht vor der Knochenarbeit im Stall. Wer nicht mehr arbeiten kann, wird versorgt. Arbeitslosigkeit und Altersarmut sind damit mal eben abgeschafft. Auf Morus’ Insel tragen die Menschen Einheitskleidung, und auch der Gründervater der Nomadelfen hat sich über Bekleidung den Kopf zerbrochen. Sie soll elegant sein, dabei aber bescheiden und nicht weniger funktionell. Sicher könnte man noch viele weitere Parallelen finden.

Ein Unterschied liegt darin, dass die Utopier wenig mit Religion anfangen können. Der utopische Kommunismus dieses uralten Buchs verspricht dem Einzelnen die Erlösung schon auf Erden, nicht erst im Himmel. Glückseligkeit im Hier und Jetzt, das suchen die Nomadelfen ebenfalls – wenn auch auf dem Weg des Glaubens. Morus selbst, dem englischen Politiker, Gelehrten und Heiligen der römisch-katholischen Kirche, blieb zu Lebzeiten das Glück verwehrt. Da er sich weigerte, die anglikanische Kirche anzuerkennen, ließ Heinrich VIII. ihn 1535 hinrichten.

 

Die Grillen zirpen in Endlosschleife und liefern damit den Sound zur schweißtreibenden Hitze. Kinderspielzeug liegt auf der vertrockneten Wiese verstreut, die bald mehr braun als grün sein wird. Schatten spendet ein Haus aus gewaltigen Bruchsteinen, in die Mauer ist ein feines Mosaik eingearbeitet, das die Jungfrau Maria zeigt.

«In der Gemeinde verriegelt niemand sein Haus», kommentiert Giovanni, als ich verwundert feststelle, dass die Tür offen steht. Warum auch absperren? Viel zu holen gibt es drinnen vermutlich nicht, und die meisten Habseligkeiten sind Gegenstände von ideellem Wert. Vor allem aber soll hier alles geteilt werden. Im Evangelium nach Johannes heißt es: «Und alles, was mein ist, das ist dein, und was dein ist, das ist mein.»

Das gilt auch für die Fahrräder, die vor dem Haus abgestellt sind. Den hageren Mann mit der sehr hohen Stirn, die sich wohl bald zu einer Glatze erweitern wird, bekomme ich während meines gesamten Aufenthalts nur im immer gleichen blauen T-Shirt zu Gesicht, das ironischerweise mit der Flagge der USA bedruckt ist. Ein Symbol, das für so vieles steht, für Träume und Freiheit, Leid und Hass, doch nicht zuletzt für einen Turbokapitalismus par excellence, von dem sich die Nomadelfen losgesagt haben. Wenn es um den Fuhrpark geht, gibt sich Giovanni wenig bescheiden, täglich wählt er ein anderes Gefährt. Alle Räder sind Allgemeinbesitz, so funktioniert das hier mit der Sharing Economy. Don Zeno soll dieses Wirtschaftsmodell seinerzeit vorausgeahnt haben, behaupten manche in der Gemeinschaft.

Ein silberner, in die Jahre gekommener Alfa Romeo, der gemächlich an uns vorbeirollt, lässt mich stutzen.

«Sefora wirst du gleich kennenlernen. Lass uns reingehen, sie warten schon.» Mein Begleiter reibt sich die Hände, was er noch öfter tun wird, wenn es ihm nicht schnell genug geht.

Die Gruppe Diaccialone freut sich, mich als Gast zum Mittagessen begrüßen zu dürfen. In Nomadelfia gibt es elf dieser Familienverbände, jeder davon umfasst mehr als zwanzig Erwachsene und Kinder. Giovanni winkt mich in den kühlen Flur, von dort geht es in den Speisesaal, wo meine Gastgeber warten. Eine Flügeltür mit gelben Milchglasscheiben wird hastig zugeschoben – dahinter sehe ich einen kleinen Altar, wie er sich in jedem der Häuser findet. Morgens um sieben kommen die Nomadelfen hier zum Gebet zusammen. «Ut unum sint» lese ich noch neben dem Kruzifix auf einer Holztafel. «Dass sie eins seien», so der Wunsch von Papst Johannes Paul II., der in einem Rundschreiben die Einheit aller Christen forderte. In Nomadelfia ist das kein frommer Wunsch geblieben.

Die Kleinsten schauen mich mit großen Augen an, zu schüchtern, um eine Frage zu stellen, und lächeln die Sprachlosigkeit einfach weg. Niemand am Tisch glotzt auf ein Smartphone, die wenigstens besitzen eines. Stattdessen unterhält man sich mit seinem Platznachbarn. Als für einen Moment Stille einkehrt, schließen alle die Augen und falten die Hände. Kinder, Jugendliche, Erwachsene, Greise. Luca, Emilia und Enza sitzen neben mir und mir gegenüber. Außerdem Giovanni und sein Vater, der deutlich mehr Haar auf dem Kopf und im Gesicht trägt als sein Sohn, selbst wenn es längst ergraut ist. Ich tue es meinen Gastgebern gleich, falte die Hände zum Gebet. Alle scheinen ganz bei sich zu sein, ich täusche es nur vor und komme mir deshalb ein wenig schäbig vor.

Der Wein in den Gläsern, der Käse auf den Tellern, das goldtrübe Olivenöl vor uns in der Flasche, all das Gemüse und Fleisch auf den Servierschalen, mit denen der Tisch eingedeckt wurde, stammt aus eigener Produktion. Jeder Familienverband bewirtschaftet einen Garten. Zu nahezu achtzig Prozent können sich die Nomadelfen autark versorgen, Wein und Öl verkauft die Gemeinde. Der Gewinn fließt in die Kasse des nomadelfischen Finanzministers, so etwas gibt es hier tatsächlich. Diejenigen, die vom italienischen Staat Rente oder Kindergeld beziehen, zahlen alles in die Kasse ein. So hat die Gemeinschaft Mittel für unterschiedliche Güter, zum Beispiel neue Gerätschaften und Maschinen, die nur gegen Devisen zu haben sind. Ganz ohne Cash geht es also doch nicht.

«Wenn ihr mal Geld braucht, was macht ihr dann?», wundere ich mich.

«Wir vereinbaren einen Termin mit unserem Finanzminister.»

Er ist es, der entscheidet, ob Anschaffungen getätigt werden können. Und er entscheidet auch über den Konsum der Mitglieder. Die Nomadelfen wissen, für was sie Geld ausgeben dürfen und für was nicht, es gibt Regeln, die jeder am Tisch kennt. Eine Pizza im Nachbarort: gelegentlich. Ein Parfüm oder ein Deo: schwierig. Luxusprodukte: nie.

Wir sind bereits beim Essen, als sich eine junge Nomadelfin auf den letzten freien Platz neben mir setzt. «Hi, ich bin Sefora!», stellt sie sich vor.

Die Alfa-Frau. Das glatte schwarze Haar trägt sie offen. Ihr Rock ist lang und weit geschnitten, dabei sehr modisch, die Schuhe haben keilförmige Absätze. Ich bin überrascht, weil dieser Stil nicht so recht hierherzugehören scheint. Sefora sieht aus, wie modeinteressierte Frauen gemeinhin so aussehen, und genau deshalb passt sie nicht zwischen die anderen Nomadelfen. Dabei erblickte sie hier das Licht der Welt und wurde garantiert anders sozialisiert als die meisten Kinder in der Maremma. Wie Giovanni ist auch Sefora Single, beide arbeiten im Büro der Gemeindeverwaltung. Kollegen auf Zeit, bis der Präsident der Gemeinschaft eine andere Aufgabe für sie findet. Das alles erfahre ich, noch bevor Sefora selbst zum Erzählen kommt und ohne dass ich danach gefragt hätte. Unser gemeinsamer Vertrauter im blauen USA-T-Shirt hat mir die Worte einer Grauhaarigen mit Kittelschürze übersetzt. Sieben leibliche und zwanzig Adoptivkinder hat sie großgezogen, das hinterlässt Spuren. Dass es rund um die Tafel allmählich stiller wird, liegt an der Neugier der Alten.

«Ob du verheiratet bist, will sie wissen.» Giovanni sieht zu mir rüber, reibt sich die Hände und dolmetscht meine knappe Antwort, für die er auf Italienisch ungleich länger braucht.

Das Getuschel nimmt noch zu, und die zum Schweigen Genötigte wirkt peinlich berührt. Alle am Tisch haben mitbekommen, dass sich meine Italienischkenntnisse auf eher nutzlose Phrasen wie «Carbonara e una Coca-Cola» beschränken, doch um diese Situation zu deuten, braucht es keine Worte. Heute Besucher, morgen Bewohner. Kannst du dir vorstellen, dich bei uns in Nomadelfia niederzulassen? So direkt fragt das niemand, nicht mal die nassforsche Oma. Falls ich mich dazu überreden ließe, würde ich ratzfatz Anschluss finden. So viel versichern sie mir.

Das Ankobern ist Methode, ich bilde mir nichts darauf ein, vermutlich verhalten sich die Nomadelfen jedem Typen gegenüber so. Wer mit dem Rücken zur Wand steht, muss jede Chance nutzen. Waren sie mal fünftausend, so zählt das Volk der Nomadelfen heute nicht mal mehr dreihundert. Der demographische Wandel und der Wille, die Gemeinschaft zu erhalten, macht erfinderisch. Ein Satz, den man im Zusammenhang mit großen Dax-Konzernen und ihren Aufsichtsräten so schnell nicht lesen wird: Die Frauenquote ist außergewöhnlich hoch. Sie interessiert sich, wie es scheint, deutlich mehr als Er für das Don-Zeno-Modell. Überwiegend weiblich sind deshalb die Neuankömmlinge. Trotz des Frauenüberschusses haben es die Damen aber keineswegs leicht. Das Patriarchat herrscht nicht nur unter Topmanagern in Vorstandskreisen, sondern auch in der Maremma.

Sefora, die nun endlich ihr Schweigen bricht, nimmt es gelassen, sie wird mit der Holzhammertaktik der Alten vertraut sein. Nach einem Studium in Rom wollte sie eigentlich Kriegsreporterin werden, aber einen ernsthaften Versuch, auf diesem Feld Fuß zu fassen, hat sie nie gewagt. Ich weiß nicht, welche Qualifikationen es für diesen Beruf braucht. Bei der Beobachtung der Lage Ruhe bewahren zu können, wie sie es die ganze Zeit über getan hat, dürfte förderlich sein. So wirkt sie, die eine tiefe Sehnsucht nach der weiten Welt und ihren Brennpunkten verspürt, in diesem Mikrokosmos fast wie ein Paradiesvogel, dem der Käfig längst zu klein geworden ist. Wie der Drang, in die Ferne zu reisen und über das Elend zu berichten, zu ihrer friedlichen Kindheit und Jugend in Nomadelfia passt, kann Sefora nicht beantworten, sie würde es gerne selbst wissen.

Um schnell das Thema zu wechseln, stellt Sefora ein paar Fragen. Mit dieser Übersprungshandlung scheint sie ihre Zweifel beiseiteschieben zu wollen, es funktioniert natürlich nicht, doch ich mag die Fremde. Dass sie hadert und noch nicht weiß, ob ihre Zukunft in Nomadelfia liegt, wird immer deutlicher. Drei Jahre Bedenkzeit gewährt die Gemeinde denen, die vor die Wahl gestellt sind. Es ist fast wie im Noviziat, eine Phase des beidseitigen Kennenlernens. Die interessierte Person muss sich klarmachen, ob die hier gelebte Form des Miteinanders den eigenen Bedürfnissen, Wünschen und Träumen entspricht.

«Wie lange kannst du noch darüber nachdenken?»

«Ich überlege seit vier Jahren, und ich brauche noch ein wenig», lacht Sefora.

Die Community zeigt sich geduldig, niemand drängt sie. Entscheidet sich Sefora für ihre Heimat, bleibt ihr eine Karriere und die weite Welt versagt. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie Mutter werden und sowohl eigene als auch adoptierte Kinder großziehen würde, wäre groß. Sollte Sefora ihre Entscheidung irgendwann bereuen und feststellen, dass Nomadelfia und sie nicht länger zusammengehören, könnte sie jederzeit das Ruder herumreißen, aussteigen und gehen. Niemand unterliegt dem Zwang, bis ans Ende der Tage Zenos Worten zu folgen.

Nicht nur die Türen stehen hier offen. Es gibt keine Mauer, die Nomadelfia abschottet. Doch ganz ohne finanzielle Mittel oder einen Job dürfte die Rückkehr in die kapitalistische Gesellschaft da draußen ein schwieriges Unterfangen bleiben, obwohl die Gemeinschaft ihren Dropouts in der ersten Zeit unter die Arme greift, wie betont wird. Nomadelfe zu werden sei an sich sowieso keine Wahl im eigentlichen Sinne, sondern schlichtweg die Antwort auf den Ruf Gottes. Irgendwo in der Ferne hört Sefora diesen Ruf noch. Doch auch wenn sie ihn einmal nicht mehr vernehmen sollte, sie bleibt optimistisch und kann sogar dem Schrumpfen ihrer Großfamilie etwas Positives abgewinnen: Die Ehemaligen seien heute überall in Italien zu finden.

 

Nach dem Essen steht die Zeit still. Bis zum frühen Nachmittag sind die Straßen wie leergefegt, allein die Hitze flimmert über dem Asphalt. Ausgerollte Schläuche liegen kreuz und quer auf einem sonst recht belebten Platz, an dessen Rand ein rotes Löschfahrzeug mit dem Nomadelfia-Schriftzug parkt. Die zusehends kleiner werdende Pfütze im Schatten eines Baumes bleibt Zeugnis der Arbeit, die Feuerwehrmänner vor kurzer Zeit hier verrichtet haben. An einem Hang in der Nähe liegt ein Hof, auf dem sich kein Trecker bewegt, nicht mal eine Kuh lässt sich bei den Temperaturen blicken, und an dem Stausee hinter einem der kleinen Hügel wird um diese Zeit auch nichts los sein. Nur die Grillen zirpen unbeeindruckt weiter und weiter.

Gelegentlich rollt dann doch jemand in einem Auto oder auf einem Fahrrad durch die Kulisse. Die, die vorbeikommen, grüßen ganz selbstverständlich. Es ist wie überall sonst auf dem Dorf. Erinnerungen an das Aufwachsen auf dem Land – nein, es ist doch nicht wie früher, denn als Knirps hatte man die Älteren zu grüßen, so gehörte sich das. Und es steigerte natürlich die Chancen, zur Konfirmation Geld von den Fremden mit halbwegs vertrauten Gesichtern zu bekommen. Genau deswegen wurde man ja konfirmiert, eine Stereoanlage war für einen Vierzehnjährigen schließlich superteuer. Vielleicht rührt die aufrichtige Art, die echte Freundlichkeit in diesem italienischen Nest daher, dass Geld tatsächlich niemandem etwas bedeutet. Meine Taschen sind leer, für Münzen und Scheine finde ich hier keine Verwendung, einen Schlüssel brauche ich ebenso wenig. Was mit Verzicht einhergeht, sorgt für ungeheure Gelassenheit, denn auch der Zeit jagen die Bewohner nicht hinterher, und ich tue es ihnen gleich.

«Wir können und wollen unsere Idee nicht verkaufen», hat eine Frau beim Essen zu mir gesagt. «Man muss es selbst erleben.»

In Nomadelfia wird nicht Gutes getan, hier ist man einfach gut, höflich, aufmerksam. Und ziemlich relaxt.

Als Giovanni Mitte der Neunziger von seinen Eltern nach Nomadelfia verpflanzt wurde, war er zehn Jahre alt. Sein Vater ein Hardcore-Christ, besessen von einer Idee: Der einzig wahre Weg für seine Familie sollte ein Leben mit Jesus sein. Wäre Giovanni irgendwann auf die Idee gekommen, ein gottloses Dasein zu riskieren, hätte ich es ihm jedenfalls nicht verdenken können. Doch zwanzig Jahre später teilt er die Ansichten seines alten Herrn. Religion brauche eine Gruppe, um lebendig zu werden. Das größte Problem der Christen in Europa sei nicht ihr Glaube, sondern ihre Einsamkeit. Was nützen Kirchen, wenn eine Gemeinde nur einmal in der Woche für den Gottesdienst zusammenkommt, oder nicht einmal das? Viel mehr als ein Glaubensbekenntnis bleibe am Ende nicht.

In Nomadelfia leben die Bewohner tagein, tagaus das Wort Gottes, mindestens viermal pro Woche trifft man sich zum Gebet, und am Sonntag wird die Messe begangen. Ich befinde mich also unter Ultrachristen, doch davon bekomme ich erstaunlich wenig mit. Die Nomadelfen stellen ihren Glauben nicht zur Schau. Keine Bibelverse im Sprachgebrauch, keine Stoßgebete, nur ein kurzer Dank für den Allmächtigen vor dem Essen, ein Blitzgebet, mehr ist da nicht. Das Leben ist weit entfernt vom Klosteralltag mit seinen strikten Gebetszeiten und Verhaltensregeln.

Giovanni aus der Reserve zu locken, ihn dazu zu bringen, Kritik zu üben, kostet Zeit. Es gab eine Phase im Leben von Mr. USA-Shirt, in der er ernsthaft an diesem Modell, das ihn so nachhaltig geprägt hat, zweifelte. Als er für sein Politikstudium in Florenz das vier Quadratkilometer große Land der Gemeinschaft verließ, hatte der angehende Akademiker nicht vor zurückzukehren. Sein altes Leben war ihm zuwider, und der Horizont schien greifbar. Doch fünf Jahre in dem so nahen und gleichzeitig so fremden Teil der Toskana reichten ihm. Da war diese innere Leere, die sich immer weiter ausdehnte und ihn fast schon auffraß.

«Ich habe mich selbst nicht mehr gespürt und konnte mich nur selten freuen. Wie ein Roboter habe ich funktioniert.»

Mit der Zeit und dem Abstand kam die Erkenntnis, dass allein der Ort mit dem Hügel, auf dem ein riesiges Kreuz alles überragt und jede Nacht den Himmel wie ein Leuchtfeuer erhellt, Giovanni ausfüllen kann. Nomadelfia ist seine Heimat und seine Welt.

«Wir führen ein einfaches Dasein ohne die üblichen Statussymbole. Dafür stehen wir eng in Beziehung zueinander, niemand ist bei uns einsam.»

Ein einfaches Dasein als Antithese zu dem Lebensentwurf der vielen, die nach materiellem Reichtum streben, «gut» als Synonym für «profitabel» verwenden und sich über Besitz und Beruf definieren.

Eine weitere Maxime der Nomadelfen lautet «Weder Diener noch Herr». Ob der Präsident, den ich nun doch gerne einmal kennenlernen will, oder Giovanni: Niemand an diesem Ort ist wichtiger als die anderen, jeder soll gleich sein. Das zumindest ist der Anspruch.

«Lebt ihr Nomadelfen nicht eigentlich den Sozialismus?», wundere ich mich irgendwann.

Der Politikwissenschaftler sieht mich entgeistert an. Es sei doch mehr als offensichtlich, was Marx und Engels zu ihren Schriften inspiriert habe. Für Giovanni ist vollkommen klar: Die Sozialisten haben sich großzügig aus dem Evangelium bedient. Dass Don Zeno ein politisches Programm mit dem Titel «Bewegung der Brüderlichkeit» ausgearbeitet hat, das ihm im Nachkriegsitalien den Ruf als roter Priester einbrachte, verschweigt der Nomadelfe.

 

Bei all der Brüderlichkeit, ein bisschen gleicher als alle anderen muss Don Zeno schon gewesen sein. Zumindest auf dem Friedhof könnte man diesen Eindruck gewinnen. Don Zenos Gebeine liegen fernab der Siedlung, inmitten von Weinplantagen, hinter einer hohen Backsteinmauer. Beim Anblick des Grabs denke ich an eine Reise nach Ramallah. Als ich die Stadt im palästinensischen Autonomiegebiet des Westjordanlands besuchte, sah ich mir auch das Mausoleum von Jassir Arafat an. Zwei uniformierte Sicherheitskräfte der palästinensischen Ehrengarde wachten mit geschulterten Maschinengewehren hinter einem Marmorblock, vor dem Blumenkränze lagen. Jeder Schritt und jedes Wort hallte in dem lichtdurchfluteten Kubus nach. Klare Linien, Transparenz, kein Firlefanz. Das Grab bei Nomadelfia bewacht niemand, die Halle ist deutlich kleiner. Doch die Ruhestätte des Gründervaters der Armen aus freien Stücken ist überraschend opulent. Wie der Sarkophag Arafats zeigt auch Don Zenos Sarg die große Verehrung, die dem Mann noch immer entgegengebracht wird. Unzählige Blumen in Vasen, auf dem Sargdeckel aus Stein liegen kleine Kiesel mit den Namen derjenigen, die ihm folgen. Das goldgerahmte Porträt des Hornbrillenträgers macht deutlich, was Don Zeno für die Gemeinschaft ist: ein Visionär und ein Heiliger.

Auf der anderen Seite der Mauer ruht die Gefolgschaft. Die Grabsteine sind identisch und sehr einfach. Neben Geburts- und Todesdatum zeigt ein kleines Foto die beigesetzte Person. Der Vorname des oder der Verstorbenen wird nicht durch den Familiennamen ergänzt, sondern durch eine selbst gewählte Beschreibung, die anzeigt, wie die Gemeinschaft sich an ihn oder sie erinnern soll. «Mama», «Bruder» oder «Oma» lese ich am häufigsten. Sogar die vor wenigen Wochen beigesetzte Irene hat einen unauffälligen Gedenkstein bekommen wie alle anderen. Dabei kam sie schon 1941 als gerade volljährige Frau zu Don Zeno, um die erste «Mutter aus Berufung» zu werden und sich um die vielen Waisen zu kümmern, als wären sie ihre eigenen Kinder. Für viele Frauen der Gemeinschaft ist sie ein Vorbild.

Überall in Nomadelfia sind Kinder zu hören, die lachen und spielen. Die Idee der gelebten Nächstenliebe, die auch den Kleineren gelten soll, hatte für Don Zeno oberste Priorität. 1931, bei seiner ersten Messe als Priester, nahm er einen verwahrlosten Jungen auf, den er wie einen Sohn behandelte. Das einzige Foto, das in Nomadelfia von ihm existiert, ist ein verrücktes Zeitdokument: Ein Knabe, der die Gesichtszüge eines Erwachsenen hat, steht verloren mit Anzug und Schieberkappe da, die Augen zu Schlitzen zusammengekniffen. In der Hand glimmt eine Fluppe, neben ihm steht eine rüstige Oma in einem gemusterten Kittel. Auch sie raucht, in ihrem Mundwinkel klemmt eine Pfeife. Dieser Junge war das erste von fünftausend verwaisten Kindern, die Nomadelfia bis heute aufgenommen hat. Manche von ihnen wurden nach wenigen Monaten in Familien außerhalb der Gemeinschaft vermittelt, andere blieben ihr ganzes Leben.

Don Zeno selbst wuchs als das neunte von zwölf Kindern in einer gutsituierten Familie nahe Modena auf. Sein radikaler Geist zeigte sich früh. Mit vierzehn schmiss Zeno die Schule. Er ackerte mit den Angestellten auf dem Gut des Großvaters, kam mit der Gewerkschaft in Berührung und engagierte sich in der katholischen Jugend. Während des Militärdienstes geriet er an einen Kameraden, der anarchistische Ansichten vertrat: Christus und die Kirche würden der Menschheit den Fortschritt verwehren. Die Christen seien selbst ein Teil des Übels, denn sie lebten nicht nach der Lehre, an die sie angeblich glaubten. Den jungen Zeno machten diese Behauptungen rasend, doch er war dem Anarchisten rhetorisch unterlegen. Dieses Streitgespräch soll für ihn alles verändert haben. Sein Versprechen glich einem Befehl: «Ich werde ihm mit meinem Leben antworten, ich verändere die Gesellschaft und beginne bei mir selbst. Ich werde weder Diener noch Herr sein.»

Der Rest ist Geschichte, ich habe in Auszügen davon erzählt. Immer wieder war die Utopie zum Greifen nah, bevor es zu schweren Rückschlägen kam. Zu Beginn der fünfziger Jahre wurde das besetzte Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers in Fossoli geräumt, Kritik am Gründervater wurde laut. Der Priester landete vor Gericht, und der Vatikan befahl Don Zeno, Nomadelfia zu verlassen. Die Waisenhäuser des Landes nahmen sich der Kinder an. So hätte alles enden können, Nomadelfia war formal aufgelöst. Doch Don Zeno ließ sich auf eigenen Wunsch in den Laienstand versetzen, um der Kirche nicht länger zu unterstehen. Dass die Gemeinschaft weiterexistieren konnte und seit 1954 in der Maremma lebt, einer Region, die bis Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts bettelarm war, könnte man göttliche Fügung nennen. Im letzten Moment kam den Nomadelfen die Gräfin Maria Giovanna Albertoni Pirelli zu Hilfe, sie schenkte ihnen das raue, weite Land. Die Adelige aus der Reifen-Dynastie hatte sich schon zuvor für die Arbeit Don Zenos eingesetzt, als Witwe und alleinerziehende Mutter von vier Kindern bewunderte sie sein ungewöhnliches Engagement für die Waisen. Nomadelfia, sagte sie, sei zu ihrer fünften Tochter geworden.

Keine zehn Jahre später nahm Don Zeno das Priesteramt wieder auf. Was für ein Mensch er war, welche Charaktereigenschaften er hatte, was er ausstrahlte – darüber kursieren in der Welt, die er geschaffen hat, unzählige Geschichten. Die Botschaft ist stets die gleiche: Don Zeno war einer aus unserer Mitte, einer mit einem ganz großen Herzen, ein wahres Vorbild. Die Nomadelfen lieben ihn bedingungslos.

 

In der Gemeindehalle ist vom göttlichen Spirit so viel zu spüren wie in einer Autobahnraststätte. An den Wänden ausschließlich Fotos von Don Zeno. Ab und zu der jüngere, meistens der schon ergraute. Schwarze Hornbrille, stets in Zivil, im Anzug und mit Hut. Die Bildunterschriften befassen sich mit Stilfragen: «Der Mensch soll schön sein, Gott offenbart sich in allen Dingen als schön, und der Mensch soll diese Ausdrucksart weiterführen. Wir könnten der Jugend und der ganzen Welt eine andersartige Mode schenken: völlig frei, aber elegant, bescheiden und funktionell.»

Funktionell, wenn auch nicht immer elegant gekleidet sind tatsächlich die meisten an diesem Ort, selbst der Präsident. In seinem komplett gefliesten Büro nimmt er mich in Sandalen, Jeans und einem in die Hose gesteckten weißen Polohemd in Empfang. Anders als meine bisherigen Gastgeber scheint er nicht allzu erfreut zu sein, mich zu sehen. «Unmotiviert» würde seiner phlegmatischen Art noch schmeicheln. Immerhin bemüht er sich hinter dem Tisch hoch, um mir seine Hand entgegenzustrecken. Den Händedruck und das aktive Schütteln, ein essenzieller Bestandteil dieses Begrüßungsrituals, überlässt er allein dem Gast.

Alle vier Jahre wählen die Nomadelfen einen Präsidenten aus den eigenen Reihen. Dass dieses Amt in der Gemeinschaft kein allzu großes Ansehen genießt, bestätigt das Oberhaupt knapp und so euphorisch, wie ich zuvor begrüßt wurde: «Einer muss es halt machen.» Dazu mehr Arbeit, weniger Zeit, natürlich kein Geld – kurzum: ein Job, um den sich verständlicherweise niemand reißt. Zumindest sei das System frei von Bunga-Bunga-Partys, Vetternwirtschaft und Korruption, also einzigartig in Italien. Aber ganz ohne die üblichen politischen Strukturen funktioniere die Insel der Gottesfürchtigen nicht, ein paar Schablonen aus meiner Welt brauche es, denn Anarchie sei nicht praktikabel, nimmt der Präsi meine Frage vorweg. Man habe sich einmal daran versucht, es dann aber schnell bleiben lassen.

Hinter einer schweren Eisentür mit komplexer Schließanlage am Ende des Flurs liegt das Archiv. Noch mehr Bilder, Briefe, Filmrollen und alte Tonbandaufnahmen von Don Zenos Reden lagern in diesem Tresor, zu dem nur wenige Auserwählte Zugang haben. Ein Großteil der Sammlung wurde bereits digitalisiert, was mir kaum erwähnenswert erscheint – bis ich im TV-Studio der Nomadelfen stehe. Ich komme mir vor wie in einem Museum: Röhrenmonitore, VHS-Rekorder und CD-Player erwecken den Anschein, als wollte man die moderne Medienwelt Anfang der Neunziger persiflieren. Bescheidenheit also auch hier.

Vorgeführt wird mir ein Video über Nomadelfia, das mit einem Helikopterflug über das Areal beginnt, unterlegt ist die alte Aufnahme im 4:3-Format mit einer Melodie, die mich an die «Schwarzwaldklinik» erinnert.

«Führen wir ein utopisches Leben?», fragt der Sprecher, um die Frage gleich selbst zu verneinen.

Das Medienzentrum erfüllt zwei Funktionen. Zum einen entstehen in den Räumlichkeiten selbstproduzierte Beiträge über Nomadelfia. Zum anderen wird hier das italienische TV-Programm zensiert – das heißt, Teile davon werden nach klaren Kriterien ausgewählt, aufgenommen und zusammengeschnitten. Mal etwas Sport, mal ein Spielfilm, mal ein wenig Kultur. Nur die Nachrichten bleiben unangetastet, also keine «alternative facts». Nach dieser nicht ganz freiwilligen Selbstkontrolle wird das Material über Kabel auf die wenigen Mattscheiben in den Fernsehräumen der Familiengemeinschaften übertragen.

«Werbung, Gewalt und Pornographie bekommt bei uns niemand zu sehen», brüstet sich Giovanni, der nach meiner Begegnung mit dem Präsidenten wieder die Führung übernommen hat. Meinen Vorwurf der Zensur weist er zurück, lieber spricht er von Selektion.

Die Diskussion ist schnell beendet. Mit Giovanni über selbstbestimmte Entscheidungen diskutieren zu wollen ist ein ähnlich hoffnungsloses Unterfangen wie der Versuch, über einen der wenigen öffentlichen Rechner in Nomadelfia Porno-Clips herunterzuladen. Wie in modernen Autokratien können auch hier ausschließlich Seiten aufgerufen werden, die ins Weltbild der Gemeinde passen. Dass das Verbotene den Reiz noch fördert, will an diesem Ort niemand hören.