Alles außer gewöhnlich - Nicolaia Rips - E-Book

Alles außer gewöhnlich E-Book

Nicolaia Rips

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Beschreibung

Weil ihre weltfremden Künstler-Eltern 2005 ins legendäre Chelsea Hotel in New York ziehen, wächst Nicolaia Rips auf inmitten von Bohemiens, Callgirls und Spinnern. Ständig werden auf den Zimmern Partys gefeiert, krumme Dinger gedreht, phantastische Geschichten als lautere Wahrheit verkauft. Mittendrin die kleine Nicolaia, die als Maskottchen gehütet wird. Das ist interessant – aber auch eine Herausforderung. Mit wundervoller Komik und viel Humor erzählt Rips in ihrem Erlebnisbericht, wie sie die Normalität zu meistern lernte und sich ihren Platz im fast normalen Anderssein erkämpfte. Es ist ein Abgesang auf die Demimonde des Chelsea – und die mitreißende Geschichte einer außergewöhnlichen Kindheit.

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Seitenzahl: 229

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Über das Buch

Die Bewohner des heruntergekommenen Chelsea Hotel sind heute nicht mehr so berühmt wie einst – als Janis Joplin, Andy Warhol und Leonard Cohen hier hausten. Aber ihr kreativer Geist lebt, und um ihn zu spüren, zieht Familie Rips in Dauermiete ein. Die kleine Nicolaia verbringt ihre Zeit mit Freaks, die Partys feiern, krumme Dinger drehen und phantastische Geschichten als lautere Wahrheit verkaufen. In der Lobby wird ein Mord geplant. Ein Fotograf stirbt an Schönheit. Zwischen den Zimmern wird Schmuggel betrieben. Nicolaia wird zum Maskottchen, überall dabei und Everybody’s Darling. In der Schule wird sie dafür geschnitten: Außenseiter unbeliebt. Doch im Chelsea hat Nicolaia gelernt, dass die Welt größer ist als das Klassenzimmer; im Lauf der Jahre erkämpft sie sich ihren Platz im fast normalen Anderssein. Das Debüt der nun Achtzehnjährigen ist ein Abgesang auf die Demimonde des Chelsea – und die mitreißende, anrührende und sehr witzige Geschichte einer außergewöhnlichen Kindheit.

N & K

Nicolaia Rips

Alles ausser gewöhnlich

Aufwachsen im Chelsea Hotel

Aus dem Englischen von Kathrin Razum

Nagel & Kimche

Für Michael, Sheila und all die anderen, die mir Grund zum Klagen gegeben haben

Praktisch jeder in New York hätte gute Lust, ein Buch zu schreiben, und tut es auch.

GROUCHO MARX

Prolog

ES WAR ELF UHR am Samstagabend vor Weihnachten, und meine Eltern hatten mir aufgetragen, aus dem Aristocrat Deli, einem nahegelegenen Feinkostladen, Eiskrem zu besorgen. Während ich auf den Fahrstuhl wartete, widmete ich mich einer meiner Lieblingsbeschäftigungen: auszuprobieren, wie weit ich an der Meldeklappe des uralten Feuermelders ziehen konnte, ohne dass das quer darunter angebrachte Glasröhrchen zerbrach.

An diesem Abend allerdings rutschten meine dicklichen siebenjährigen Finger ab, und ich hielt mich unwillkürlich mit vollem Gewicht an dem Hebel fest.

Der Feueralarm gellte durch die Flure, und ich kickte die Glasscherben hinter einen nahen Abfalleimer. Nachbarn kamen aus ihren Apartments zum Vorschein; sie hatten Gitarren, Pistolen, Pelze, Gemälde und Manuskripte bei sich, schleppten Gliederpuppen und riesige altmodische Kameras. Sie schrien oder murrten, rieben sich den Schlaf aus den Augen und rempelten einander an, verärgert, weil sie aus ihrer Behaglichkeit gerissen worden waren. Meine Mutter, die im Nachthemd war, schwang mich mit einem Arm in einen Klammergriff hoch, der jeden Runningback beschämt hätte, und rannte mit mir die abblätternde Eisentreppe des Hotels hinunter. Im anderen Arm hatte sie einen Stoß buntbemalter Tagebücher, die ihre im Verlauf von dreißig Jahren gemachten Reisen durch Asien, Afrika und den Nahen Osten dokumentierten. Gewürze und Pflanzen, die sie darin getrocknet und gepresst hatte, segelten mit einem zarten Dufthauch heraus. Mein Vater, der im Smoking mit Nerzbesatz hinter uns herlief, drückte eine Flasche Gin an sich.

Im Foyer wurden wir von einer Schar Männer und Frauen in seidenen Morgenmänteln empfangen, Lidstrich verschmiert, Perücken verrutscht, und mitten unter ihnen «Der Engel», der nackt war bis auf ein weißes Tuch um die Lenden und ein leuchtendes Federarrangement auf dem Rücken.

Da wir nicht in unsere Zimmer zurückkonnten, ehe die Feuerwehr das gesamte zehnstöckige Gebäude eingehend untersucht hatte, wandelte sich die Stimmung im Foyer (dank der Flasche Gin meines Vaters sowie dem El Quijote, dem alten spanischen Restaurant gleich nebenan) von gemeinschaftlicher Verärgerung zu kollektiver Trunkenheit. Die Leute wuselten durcheinander und plauderten mit ihren Nachbarn.

Erleichtert darüber, nicht verhaftet worden zu sein (was manch anderer mit fortschreitender Nacht nicht mehr von sich behaupten konnte), ging ich hinaus. Es schneite. Doch keine weißen Flocken. Sie waren rosa – durchtränkt vom Licht der zwölf roten Buchstaben über der Eingangstür: HOTEL CHELSEA.

Meine erste Reise

IM ACHTEN EHEJAHR meiner Eltern stellte meine Mutter fest, dass sie schwanger war. Dieses eigentlich freudige Ereignis wurde dadurch getrübt, dass mein Dad sich weigerte zu akzeptieren, dass ihm etwas so Schreckliches zustoßen könnte. Er war überzeugt, nicht dafür verantwortlich zu sein, und bezichtigte meinen Paten Tom, einen bekennenden Schwulen, der Vaterschaft.

Meine Mom war eine außerordentlich reiselustige Frau, und während sie sich über die Schwangerschaft freute, befürchtete sie zugleich, dass ein Baby das Ende ihrer Reisen bedeuten könnte. Sie begann eine Reise in den Iran zu planen.

Da sie für den Iran ein Visum brauchte und in den USA keins bekommen konnte, flog sie nach London und beantragte ihr Visum dort. Sie war im fünften Monat schwanger.

Auf der iranischen Botschaft in London teilte man ihr mit, dass die Erteilung eines Visums Monate dauern könne. Warten war nie ihre Sache gewesen, und so beschloss sie, in der Zwischenzeit auf der usbekischen Seidenstraße nach Taschkent zu reisen und dort dann ihr Visum in Empfang zu nehmen. Ein iranischer Arzt in London stellte ihr ein Attest aus, demzufolge sie bis zum siebten Monat reisen durfte. Damit machten wir uns auf den Weg.

In New York leugnete mein Dad derweil, dass er eine Frau hatte, von einer werdenden Tochter ganz zu schweigen. Seine Phantasie fand ein jähes Ende, als er eines Tages eine Postkarte erhielt, auf der eine strahlende Frau mit beträchtlich gerundetem Bauch im Kreise mehrerer ebenso fröhlicher usbekischer Männer eine Automatikwaffe abfeuerte. Auf der Karte stand «Ein schöner Nachmittag mit deiner Tochter!»

Nachdem er die bevorstehende Geburt seiner Tochter zur Kenntnis genommen hatte, ergänzte mein Vater, der die Reisen meiner Mutter in die gefährlichsten Regionen der Welt bisher bewältigt hatte, indem er seinen Radius auf zwei Häuserblocks beschränkte, die das Chelsea Hotel, sein Lieblingscafé und seinen Friseur umfassten, dieses Programm um Besuche bei einer Psychiaterin. Was diese von seinen Reflexionen über seine Kindheit in Nebraska hielt, bunt und überraschend wie die Paprikastückchen in gefüllten Oliven, wage ich mir nicht auszumalen.

Am 19. Juli, genau einen Monat vor meiner Geburt, öffnete mein Vater die Tür und sah sich einer Frau in einer Burka gegenüber. Als meine Mutter im St. Luke’s-Roosevelt Hospital in den Wehen lag, war mein Vater schließlich gezwungen, seine Komfortzone zu verlassen. Nachdem er das getan – und mich kennengelernt – hatte, merkte er, dass es da draußen gar nicht so übel war.

Italien

MUTTER SCHAUTE VATER AN, Vater schaute Mutter an, beide schauten mich an (in meiner Wiege) und kamen zu dem Schluss, dass es für uns drei das Beste sein würde, nach Italien zu ziehen.

Ich verstehe bis heute nicht, warum, aber die nächsten Jahre krabbelte ich in einem nördlich von Rom gelegenen Städtchen namens Sutri umher, während meine Mutter malte und mein Vater weiß der Himmel was tat. Meistens saß er mit den alten Männern auf dem Marktplatz zusammen. Da er kein Italienisch sprach, behalf er sich mit einer Vielzahl verwirrender Gesichtsausdrücke.

Von Italien aus zogen wir nach Nordafrika und dann nach Indien. Wir wohnten immer auf dem Dorf. Meine jeweiligen Babysitter verstanden die paar Worte nicht, die ich in Italien gelernt hatte, und so erlernte ich die gleiche Sprache rätselhafter Gesichtsausdrücke wie mein Vater.

Als wir schließlich in die Vereinigten Staaten zurückkehrten, zogen wir wieder ins Chelsea Hotel, das für seine Schriftsteller, Künstler und Musiker bekannt ist, aber ebenso für seine Drogenabhängigen, Alkoholiker und Exzentriker jeglichen Geschlechts. Zu jeder beliebigen Zeit hielt sich mindestens ein Vertreter jeder Gruppe im Foyer auf. Da es im Hotel kaum Kinder gab, verbrachte ich meine Zeit mit diesen Leuten.

Vorschule

IN MEINEN FRÜHESTEN ERINNERUNGEN an meinen Vater sitzt er in einem Armsessel, mich auf dem Schoß, und liest mir aus unterschiedlichen Büchern vor. Anstelle der Geschichten, die uns allen so lieb und vertraut sind (Wilbur und Charlotte, Der kleine Prinz) nahm er, was immer er selbst gerade las, und wandelte es in eine Kindergeschichte um.

Ich vermute, er tat das nicht deshalb, weil er faul war, was er zweifelsohne war, sondern weil ihm die Herausforderung gefiel, Der Idiot oder irgendetwas von Thomas Carlyle, seinem Lieblingsautor, in eine Geschichte für Unterfünfjährige zu verwandeln.

Das wäre an sich nicht weiter problematisch gewesen, hätte er nicht geglaubt, dass das Vorlesen von Erwachsenenbüchern – gefolgt von einer Diskussion – eine effektivere Methode war, die geistigen Fähigkeiten seiner Tochter zu fördern, als die üblichen Verfahren.

Das zog zweierlei nach sich (wie außer meinem Vater alle erkannten): Zum einen ging das Vorlesen und Plaudern auch in einem Alter noch weiter, in dem andere Eltern anfangen, ihren Kindern das Lesen beizubringen, zum anderen begann die Sprache Carlyles in das weiche Gehirn seines Kindes (also meines) einzusickern.

Wenn er mir ein paar Stunden lang vorgelesen hatte, mummelte mein Vater mich ein und ging mit mir in sein Lieblingscafé in der Eighth Avenue. Das Big Cup war in leuchtenden Farben gestrichen und stand voller kaputter Stühle und Sofas, und an die Klotüren waren zu meiner Freude Barbiepuppen genagelt. Die Puppen, hauptsächlich Kens, waren nackt.

Das Café war beliebt bei jungen Männern, die aussahen wie Ken, und bei älteren Männern, die jüngere Männer, die aussahen wie Ken, kennenlernen wollten. Ich war das einzige Kind dort, und als einer der ersten Stammgäste wurde ich zu einer Art Maskottchen.

Als ich vier geworden war und meinen Eltern der Gedanke kam, dass ich eine Vorschule besuchten sollte, waren die Schulen in der Nähe des Chelsea Hotels alle voll. Also ließen meine Eltern meinen Namen auf diverse Wartelisten setzen, wobei mein Vater diejenigen Schulen, die in der Nähe seiner bevorzugten Cafés lagen, mit einem Sternchen kennzeichnete, aber die Chancen standen schlecht. Unterdessen verbrachte ich meine Tage im Foyer des Hotels und im Big Cup und unterhielt mich mit den Bewohnern beziehungsweise Stammgästen.

Eines Tages erhielten meine Eltern einen Anruf von einer Schule in der Nachbarschaft. Ein Platz war frei geworden, aber da noch mehr Kinder auf der Warteliste standen, wollte die Schulleiterin mit uns allen sprechen, bevor sie entschied, wen sie aufnehmen würde.

Mir war das alles damals natürlich fremd, aber die Eltern in Manhattan haben ein wahnhaftes Verhältnis zum Schulsystem, sie glauben, dass die richtige Vorschule maßgeblich dafür ist, dass ihr Kind auf die richtige Grundschule, Mittelschule und Highschool gelangt, aufs richtige College und so weiter. Die Konkurrenz ist so groß, dass manche Eltern Leute dafür bezahlen, dass sie die ganze Familie auf das Vorstellungsgespräch vorbereiten. Das geht so weit, dass diese Berater sogar die Kleider auswählen, die beim Vorstellungsgespräch getragen werden sollen.

Die Schule, von der meine Eltern angerufen wurden, lag in der West Fourteenth Street im sogenannten Meatpacking-District. Früher wurde in diesem Viertel im großen Stil Fleisch verarbeitet, jetzt reiht sich dort ein schicker Laden an den anderen. Da die Schule als kreativitätsfördernd und sicher galt, wurde sie von den Kindern berühmter Schauspieler und Schauspielerinnen besucht, die in der Nähe wohnten. Die Schule hatte einen so guten Ruf, dass die Schulleiterin eine lokale Berühmtheit war, die von hinterhältigen Eltern umschwänzelt wurde.

Wir betraten die Schule und wurden sogleich zu einem Wartezimmer geführt. Die Schulleiterin, sagte man uns, werde in wenigen Minuten bei uns sein.

In dem Zimmer warteten schon eine andere Mutter, ein anderer Vater und ein kleiner Junge. Er trug eine Khakihose, Blazer und Krawatte.

Ich hatte meine Lieblingskleider an, Rock und Oberteil aus einem farbenfrohen schimmernden Stoff, den meine Mutter in Marokko für mich gekauft hatte. Da ich die Sachen schon mehrere Jahre hatte, war das Oberteil nicht mehr in Sichtweite des Rocks, und der Rock war viel enger und kürzer, als er hätte sein sollen. Ein passendes Kopftuch war auch dabei.

Die Sekretärin wies mich und das andere Kind an, nebeneinander auf der Couch Platz zu nehmen. Wie wir da nebeneinandersaßen, er in Khakihose und Blazer, ich in meinem Ensemble, glichen wir einem Psychiater und seiner Patientin, die auch ein halbes Jahr nach Halloween noch ihr Feenkostüm trägt.

Und dann erklärten die anderen Eltern nach ein paar Sekunden ostentativen Geflüsters auch noch, das sei ihr Vorstellungsgespräch, nicht unseres, und wenn wir uns nicht blamieren wollten, sollten wir besser gehen, bevor die Schulleiterin komme.

Ganz gewiss nicht, erwiderte meine Mutter. Sie seien diejenigen, die sich geirrt hätten.

Solange ich meine Eltern kannte, waren sie kein einziges Mal zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen. Insofern war ich überrascht, als ich sah, wie meine Mutter in die Tasche griff und einen Kalender hervorzog, mit dessen Hilfe sie beweisen wollte, dass der Fehler bei den anderen lag.

Doch es blieb keine Zeit, das zu klären. Die Schulleiterin war eingetreten.

Überrascht, zwei Familien vorzufinden, erklärte sie, dass hier offenkundig etwas durcheinandergeraten sei, was aber nichts ausmache. Sie habe nichts dagegen, mit beiden Kindern zusammen zu sprechen.

Sie hatte vielleicht nichts dagegen, die Eltern des Jungen aber sehr wohl. Meine Mutter wiederum hatte das alles gar nicht gehört; sie hatte gerade die betreffenden Daten in ihrem Kalender gefunden und festgestellt, dass sie und ihr Mann und ihre Tochter genau eine Woche zu früh zum Vorstellungsgespräch erschienen waren.

Die Schulleiterin begann damit, dass sie die Eltern des Jungen bat, ihren Sohn zu beschreiben. Was sie sagten, schockierte mich.

Der junge Herr, Ethan, konnte nicht nur lesen (wovon ich bekanntlich meilenweit entfernt war), sondern er sprach eine zweite Sprache fast fließend und begann zudem gerade, Bilderbücher auf Griechisch zu lesen. Ethans Eltern versicherten der Schulleiterin, sie hielten es nicht für notwendig, dass ihr Sohn Griechisch lerne, aber er habe darauf bestanden. Bei diesen Worten bedachte mich Ethan mit einem hämischen Grinsen.

Aber das war nicht das wahrhaft Erstaunliche. Was mich umhaute, war etwas anderes: Egal was Ethans Vater oder Mutter über Ethan sagten (tolle Persönlichkeit, sportlich, zwei Sprachen plus Altgriechisch), es schien die Schulleiterin nicht zu beeindrucken.

Ich war geliefert. Amerika konnte sich offenkundig kaum retten vor Superkleinkindern, mit denen ich mich niemals würde messen können und in deren Schatten ich mein restliches Dasein fristen würde.

Es gab nur eine Hoffnung. Ich warf einen raschen Blick auf Ethans Khakihose und hielt nach der vertrauten Ausbeulung einer Huggies-Windel Ausschau.

Ich hatte zufällig mitgehört, wie Mom irgendjemandem erklärt hatte, das Allerwichtigste bei einem Vorschul-Vorstellungsgespräch sei, unmissverständlich zu vermitteln, dass das Kind sauber sei. Mom zufolge nahmen die Schulen eher einen Trottel auf, der seine Blase kontrollieren konnte, als ein kleines Genie, dem man noch die Windeln wechseln musste.

Für mich wäre es ausgeschlossen gewesen, ohne Windel zum Vorstellungsgespräch zu gehen. Ich hatte das Toilettendiplom noch nicht erworben und konnte mir nicht vorstellen, ungeschützt zu einem so wichtigen Termin zu gehen. Allerdings hatte Mom dafür gesorgt, dass meine Windel unter meinem Feenrock perfekt verborgen war.

Aber ich hatte kein Glück. Ethans Khakihose wies keine Ausbeulung auf. Zwischen seinen Altgriechisch-Stunden hatte er gelernt, seinen Schließmuskel zu kontrollieren.

Nachdem Ethans Vater seinen Vortrag über Ethans Fähigkeiten beendet hatte, wandte sich die Schulleiterin meinen Eltern zu und fragte sie ohne erkennbares Interesse, was ich der Schule zu bieten hätte.

Mein Vater antwortete. «Ehrlich gesagt, nicht viel.»

Verräter!

Meine Mutter berührte ihn am Arm, aber er war nicht zu bremsen.

«Sie ist schwer zu verstehen – selbst für die Menschen, die sie lieben; sie kann den Illustrationen in einem Bilderbuch nicht folgen, geschweige denn sich alle sechsundzwanzig Buchstaben des Alphabets merken, sie ist nicht sportlich und wird gerade etwas pummelig, und unter uns gesagt: Sie hat keine Freunde.»

Die Schulleiterin starrte ihn an.

«Aber eins muss ich sagen …»

Großer Gott.

«Wenn es darum geht, bei einer Dinnerparty einen Toast auszubringen, ist sie unschlagbar – zumindest in ihrer Altersgruppe.»

Es stimmte, was er sagte: Ich konnte nicht lesen, war nicht sportlich und hatte keine Freunde, aber wo immer auf der Welt wir gerade gewohnt hatten, an Dinnerpartys hatte es nie gemangelt, und ich hatte oft genug erlebt, wie Leute aufgestanden waren und gesprochen hatten, um zu kapieren, worum es dabei ging.

Ich bin mir bis heute nicht sicher, was meinen Vater dazu bewog, der Schulleiterin zu sagen, was er sagte. Ich vermute mal, er spürte, dass sie ungeachtet ihrer aufrechten Art dem Gang an die Hausbar nicht abhold war und wahrscheinlich so manche Stunde damit verbracht hatte, Drinks zu kippen und ihre Freunde mit Geschichten über die Schule zu unterhalten. Vielleicht amüsierte sie die Vorstellung eines Kleinkindes, das nach dem Genuss von Milch und Keksen einen passablen Toast ausbringen konnte.

Um die Sache perfekt zu machen und zum Erstaunen meiner Eltern wandte ich mich an die Schulleiterin. «Wo ist denn die Toilette?»

Ich hatte keine Ahnung, was ich dort tun würde.

Am nächsten Tag wurde ich aufgenommen.

Die Poolparty

UNGEFÄHR EINE WOCHE, bevor die Vorschule begann, verkündete meine Mom, dass sie ein Paar kenne, dessen Tochter in dieselbe Schule gehen werde. Ein paar Tage später waren wir bei diesem Paar zum Essen.

Ich fand es zwar schön, jemand Neues kennenzulernen, versprach mir aber nicht viel davon. Mit Kindern kam ich nicht sonderlich gut zurecht. Ich verbrachte meine Zeit größtenteils mit meinen Eltern und ihren Altersgenossen, wodurch ich für Gleichaltrige wohl ziemlich geschraubt klang. Um ehrlich zu sein, hatte ich keine Freunde, geschweige denn eine gute Freundin.

Die Tochter des Paars, Greta, war gescheit und hübsch (untertassengroße braune Augen, dicke Ringellocken), und zu meiner Überraschung verstanden wir uns gut. Sie wohnte gleich bei uns um die Ecke, und so dachte ich, falls wir uns richtig befreundeten, würde es wohl viele gemeinsame Nachmittage geben.

Am ersten Vorschultag saßen wir im Schneidersitz auf dem Boden und hielten uns an der Hand. Bald verbrachte ich auch Zeit mit ihren Freundinnen. Zum ersten Mal in meinem Leben lernte ich nicht nur eine Gruppe Kinder meines Alters kennen, sondern sie schienen mich sogar zu mögen.

Gegen Ende des Schuljahrs lud Gretas Familie meine Familie zum fünfundvierzigsten Geburtstag von Gretas Vater in ihr Landhaus in Upstate New York ein. Da die Party im Sommer stattfand, sollte es eine Piñata geben, einen Eiswagen, einen Swimmingpool, das volle Programm. Und das alles, wohlgemerkt, für einen Vierundvierzigjährigen, der fünfundvierzig wurde. Aber ich beklagte mich nicht.

Die Party fing gut an. Greta und ich spielten, und ich lernte all ihre Cousins und Cousinen kennen. Gretas Freundinnen aus der Schule waren auch da.

Nachdem ich mit den anderen Kindern gespielt, auf die Piñata gehauen und beim Kindervolleyball ein paar Bälle an den Kopf gekriegt hatte, ging ich zum Pool, um mich etwas abzukühlen. Dort traf ich auf Gretas Tante, die gerade Lola, ihr Baby, mit Sonnenspray einsprühte.

Lolas Mutter machte sich meine Anwesenheit zunutze und sprang in den Pool, um zu den anderen Erwachsenen hinüberzuschwimmen, die gerade Cocktails tranken.

Nach einer Weile kam sie dorthin zurück, wo Lola und ich spielten, und bat mich, ihr Lola in den Pool hinunterzureichen. Ich freute mich, das Baby tragen zu dürfen, und stimmte bereitwillig zu.

Im Rückblick muss ich sagen, dass eindeutig die Mutter an allem schuld war. Wie könnte ich sonst nachts ruhig schlafen?

Ich hob Lola hoch, schwankte ein bisschen, nach links, nach rechts, und als ich merkte, dass ich gleich fallen würde, warf ich mich nach vorn Richtung Pool. Lolas Mom bekam mehr als Lola. Das Baby und ich stürzten zusammen auf Lolas Mom, die ohnmächtig wurde.

Wir gingen alle unter: Lola (das Baby), ich (eine Fünfjährige, die infolge der gutwilligen Nachlässigkeit ihrer Eltern nicht schwimmen konnte) und eine vierzigjährige Frau, die dank einiger Cocktails und einem Schlag auf den Kopf schnell auf den Boden des Swimmingpools sank, während sie von einem Strand in Tahiti und jemand anderem als ihrem Mann träumte.

Vielleicht wäre das Ertrinken eines Säuglings nicht weiter aufgefallen, aber ein Säugling, ein Kind und eine Frau mittleren Alters, das war dann doch zu viel. Es war nicht zu übersehen – und dazu noch all das Japsen und Planschen und Kreischen.

Die ganze Party rannte zum Pool, unter vielfältigstem Geschrei.

Ich würde gern berichten, dass ich heldenhaft den Kopf des Babys über Wasser stemmte und dann Mutter und Kind an Land bugsierte, zum Erstaunen der Familie und ihrer Gäste, doch so war es nicht.

Es lief eher so ab:

Nachdem ich mit Mühe meinen Kopf über Wasser gebracht hatte (indem ich mich, nun ja, auf das Baby stellte), rief ich den Leuten zu: «DAS BABY SCHWIMMT VON SELBST! RETTET MICH!»

Die Leute fischten den Säugling aus dem Pool und hievten dann die Mutter auf den Zementboden, wo einer der Gäste zur Mund-zu-Mund-Beatmung schritt. Bald begann Lolas Mutter leise Stöhnlaute von sich zu geben, die zeigten, dass sie sich wohl noch in Tahiti befand.

Nachdem Lola und ihre Mutter gerettet waren, erwog man, mich ertrinken zu lassen, aber dann setzte sich doch das Gute im Menschen durch, und ich wurde aus dem Wasser gezogen.

Gretas Vater, der Mann, dessen Geburtstagsfeier ich ruiniert hatte, ist ein anständiger, großzügiger Mensch, der mir den Vorfall allem Anschein nach nicht übelnahm. Ganz im Gegensatz zu Lolas Mom. Vor allem aber im Gegensatz zu Greta.

Ich hatte sie gedemütigt, hatte die Party ihres Vaters beendet, ehe sie den Geburtstagskuchen hatte präsentieren können, an dem sie den ganzen Tag gearbeitet hatte, und natürlich hätte ich fast ihre kleine Cousine und ihre geliebte Tante ertränkt.

Kurz nach der Party gab mir Greta zu verstehen, dass ich nicht mehr ihre beste Freundin war (wer hätte es ihr verdenken können), oder überhaupt auch nur ihre Freundin (dito), und dass ihre neue beste Freundin jetzt Anastasia («Ana») Penny war. Aber damit war die Sache nicht ausgestanden, denn Greta sollte (während wir gemeinsam unsere Schullaufbahn absolvierten) zu einem jener Menschen werden, den alle mögen und mit dem alle zusammen sein wollen. Und wenn es eines gab, was Greta alle Welt wissen ließ, dann war das, dass es für mich, die Säuglingsertränkerin, in ihrem Dunstkreis keinen Platz gab.

Die Schlauberger

OHNE FREUNDE verbrachte ich meine Nachmittage wieder im Foyer des Hotels.

Das Foyer hatte sich vermutlich nicht mehr verändert, seit das Gebäude 1884 errichtet worden war. Die Wände waren senfgelb, so wie die hohe Decke auch, und mit Gemälden derzeitiger und ehemaliger Bewohner behängt. An einer Wand hing ein Gemälde von Joe Andoe, das ein weißgraues Pferd zeigte. Hoch über dem braunweißen Marmorfußboden auf einer Schaukel saß eine fettleibige, pinkfarbene Frau, deren dicke Beine neckisch baumelten und uns in die Welt darunter einluden.

Das Schönste am Foyer war, dass man nie alleine war. Es herrschte ein ständiges Kommen und Gehen von Bewohnern und Gästen und ehrfürchtigen Besuchern, die hereinschauten, um Fotos von den Berühmtheiten und den schrägen Vögeln zu machen. Vielleicht trafen sich die Bewohner im Foyer, um mal aus ihren kleinen Zimmern (viele davon hatten nicht mal ein eigenes Bad) herauszukommen. Oder vielleicht trafen sie sich dort, weil es der einzige Ort im Hotel war, wo es WLAN gab.

Einer der ersten Menschen, die ich im Foyer kennenlernte, war ein attraktiver Mann in den Vierzigern. Er war erst kurz zuvor nach New York gezogen, nachdem er viele Jahre in Paris gelebt und dort für Modezeitschriften fotografiert hatte. Er war charmant, hatte ergrauendes Haar und ein spitzes Kinn.

Wie es der Zufall wollte, kannte meine Mutter ihn aus Paris, wo sie in den Achtzigern als Model gelebt und gearbeitet hatte. Inzwischen hatten sie beide ihre Jobs in der Modewelt aufgegeben und malten stattdessen im Chelsea Hotel.

Kurz nachdem der Freund meiner Mom ins Chelsea gezogen war, folgte ihm jemand, den er seit seiner Kindheit kannte. Dieser Kindheitsfreund schrieb ausgezeichnete Erzählungen, und die beiden saßen in Armsesseln nebeneinander und unterhielten, stritten und beleidigten sich. Ihre Diskussionen zogen bald auch andere an.

Einmal nannte der Freund meiner Mom, der Maler, den anderen, den Drehbuchautor, «Mr. Schlauberger», worauf der Autor erwiderte, der Maler sei viel schlimmer – ein «Oberschlauberger». Als zwei weitere Leute sich einmischten und Partei ergriffen, wurden sie alsbald zu «Schlauberger eins» und «Schlauberger zwei» erklärt.

Mr. Schlauberger, der Autor, hatte einen Spitzbart und trug eine schwarze Brille mit blauen Gläsern. Alles, was er tat, tat er langsam und bedacht. Neben ihm stand sein hölzerner Gehstock.

Mr. Schlauberger war teilweise gelähmt, nachdem er einen Schlaganfall erlitten und zwei Tage halluzinierend mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden seines Hotelzimmers gelegen hatte. Wenn ihn nicht ein Hotelpage entdeckt hätte, wäre er dort gestorben – eine Geschichte, die er oft erzählte.

Mit der Zeit hatte die Geschichte ein gewisses Eigenleben entwickelt: Mr. Schlauberger baute gern die Geschichten anderer Leute in seine eigene ein, so als hätte er sie selbst erlebt, wobei er sie so fugenlos einpasste, dass man kaum mehr hätte sagen können, ob es Mr. Schlauberger gewesen war, der sich durch Kambodscha gekämpft hatte, oder der Mann aus dem achten Stock, ob es Mr. Schlauberger gewesen war, der mit den Wiener Philharmonikern gespielt hatte, oder die Frau, auf deren Bild er am Morgen in der Zeitung gestoßen war.

Niemand beschwerte sich darüber, denn alle begriffen, dass der Schlaganfall Mr. Schlaubergers Erinnerung hatte vertrocknen lassen und er sie durch das wiederholte Erzählen seiner Geschichte, und sei es in noch so verzerrter Form, wässerte und wieder zum Leben erweckte.

Die beiden Schlauberger ließen sich verlässlich Tag für Tag in die müden Sessel im Foyer sinken. In meiner Vorstellung war ich das «Schlaubergerchen», die Juniorin in ihrem Team, und meine Vergangenheit als Babyertränkerin scherte die beiden genauso wenig, wie mich ihre beschädigten Lebensgeschichten scherten.

Halloween

EINIGE MEINER LIEBSTEN ERINNERUNGEN an das Chelsea Hotel drehen sich um Halloween.

Die Leute im Chelsea verbrachten Monate damit, ihre Kostüme zu gestalten. Da es Designer, Schneider und Schauspieler im Hotel gab, sowohl Männer als auch Frauen, war schon die Alltagskleidung der Bewohner eher ungewöhnlich – ein junger Asiate etwa spazierte regelmäßig mit an den Rücken geklebten großen Flügeln, vielfarbigem Make-up und einer Art viktorianischer Windel durch die Flure. Doch Halloween hob das Ganze noch mal auf eine andere Ebene.

Mein Pate Tom, ein herzlicher, einen Meter achtzig großer Mann mit ergrauendem Haar, schneiderte mir meine Kostüme so fachkundig wie ein Profi. Und während meine Eltern sich am 1. November nach durchfeierter Nacht ihrem Kater widmeten, saßen Tom und ich in meinem winzigen Zimmerchen und schmiedeten bereits Pläne für das nächstjährige Kostüm. Wir verbrachten das ganze Jahr damit, originelle, gruselige und, als ich älter wurde, auch hübsche Kostüme zu entwerfen. Im Oktober trat dann meine Mom mit den Schmink- und Frisierkünsten, die sie als Model erworben hatte, auf den Plan, um mich zu verwandeln.

Als ich in der ersten Klasse war, beschloss ich, mich als Groucho Marx zu verkleiden, mein Idol. Ich trug einen alten Anzug von meinem Vater, den Tom für mich abgeändert hatte, und meine Mom klatschte mir mit Gel das Haar an und schminkte mir dicke Augenbrauen und einen Schnurrbart. Die Marx Brothers hatte ich über ein Boxset mit Videos vom Flohmarkt in Chelsea kennengelernt. Meine Eltern glaubten nicht an den Segen des Kabelfernsehens (so wie andere Menschen nicht an die Mondlandung glauben), aber immerhin besaßen sie einen alten Fernseher und einen Videorekorder. Ich saß stundenlang vor diesem Fernseher und schaute mir Videos von Lucille Ball, Fred Astaire und Ginger Rogers, Abbott und Costello und natürlich Groucho Marx an. Meine Eltern schenkten mir einen Ausflug zu dem Haus in L. A., in dem Groucho gewohnt hatte (als wir kamen, wurde es gerade abgerissen), und in eine Bar, in der Groucho gern getrunken hatte (Dads Idee). Meine Grouchomanie steigerte sich noch, als ich feststellte, dass er an meinem Geburtstag verstorben war. Ich tröstete mich (und schmeichelte mir) mit dem Gedanken, dass seine Seele jahrelang umhergeirrt war, bis sie schließlich an seinem Todestag im Körper eines kleinen Mädchens, nämlich meinem, Ruhe gefunden hatte.

In den Tagen vor Halloween war die relative Normalität unseres Alltags dahin. In Vorbereitung auf die vielen Mottopartys, die jedes Jahr veranstaltet wurden – verstorbene Royals, Stummfilmstars, Zirkus –, wurden die Röcke kürzer, die Frisuren wilder und das Make-up greller. Im Hotel herrschte freudige Aufregung, das Gefühl, dass die Bewohner eine Nacht lang für das bewundert werden würden, was sie sonst isolierte.

Diejenigen Hotelbewohner, zu denen die Kinder des Hotels kommen durften, um Süßes oder Saures zu fordern, hinterließen ihren Namen an der Rezeption. Zu einer festgelegten Zeit versammelten sich die Kinder im Foyer und wurden dann von einem Hotelangestellten durch das Gebäude geführt. Die Menge an Süßigkeiten, die wir bekamen, schwankte je nach allgemeiner wirtschaftlicher Lage, aber meist war sie üppig.