Alles muss versteckt sein - Wiebke Lorenz - E-Book
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Alles muss versteckt sein E-Book

Wiebke Lorenz

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Beschreibung

»Ein psychologisch meisterhaftes und hoch spannendes Schreckensszenario. (Alb)traumhaft gut!« Sebastian Fitzek Steckt in jedem Menschen ein Mörder? In Gedanken hat Marie schon erschlagen, erwürgt und zerstückelt. Die furchtbar realen Gewaltfantasien kommen ohne Vorwarnung und machen ihr unaussprechliche Angst. Doch denken heißt nicht tun. Glaubt Marie. Bis ein grausamer Mord geschieht, der genau dem Horror-Drehbuch ihres Kopfes entsprungen zu sein scheint. Alle halten Marie für eine Mörderin. Auch sie selbst. Sie wird verurteilt, eingewiesen, weggesperrt. Ein junger Arzt hilft ihr dabei, die Wochen vor der Mordnacht zu rekonstruieren, und in Marie wachsen die Zweifel. Ist die Wahrheit noch viel furchtbarer als ihre Fantasie? »Mit ihrem Psychothriller raubt Wiebke Lorenz einem dem Atem.« Cosmopolitan

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ALLES MUSS VERSTECKT SEIN

THRILLER

WIEBKE LORENZ

INHALT

Ohne Titel

Ohne Titel

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Nachwort

Danksagung

ISBN: 978-3-75578-141-7

ISBN der TB-Druckausgabe: 978-3-98683-002-1

1. Auflage der überarbeiteten Ausgabe November 2021

© couchbooks ®, Hamburg 2021

Copyright 2012 by Wiebke Lorenz

Originalausgabe: Alles muss versteckt sein, Blessing Verlag, 2012

Covergestaltung: Fiverr International Ltd.

Covermotiv: Depositophotos TM

Lektorat: couchbooks ®

Autorenfoto: © pressebild.de

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

Bei Anmerkungen, Lob oder Kritik wenden Sie sich gern an [email protected]

Postfach 20 18 04

20208 Hamburg

www.couchbooks.de

Über den Roman:

Ihre Gedanken sind mörderisch, ihre eigene Angst davor unaussprechlich: Nach einem Schicksalsschlag erkrankt Marie an aggressiven Zwangsgedanken, die so real sind, dass sie glaubt, zur Gefahr für sich und andere zu werden – vor allem für die Menschen, die sie liebt. Niemand ahnt, dass Marie monatelang gegen grauenhafte Mordfantasien ankämpft, die wie Kobolde durch ihren Kopf spuken. Und mit jedem Tag wächst in ihr die Panik vor dem Moment, an dem sie diese Gedanken nicht mehr kontrollieren kann und in die Tat umsetzt. Und dieser Tag kommt, als Marie eines Morgens im Blut ihres Geliebten Patrick aufwacht, der mit einem Messer auf grausamste Weise im Schlaf niedergemetzelt wurde. Am Ende eines Gerichtsprozesses wird Marie aufgrund ihrer Schuldunfähigkeit in die geschlossene Psychiatrie eingewiesen. Hinter Gittern sucht sie verzweifelt nach Erinnerungen an die Tat. Denn für Marie selbst sind die Geschehnisse wie ausgelöscht. Nur ihr Arzt Jan scheint sie zu verstehen und will ihr helfen, die Erinnerung an die Mordnacht zurückzugewinnen. Aber schon bald wächst in Marie der Verdacht, dass in Wahrheit vielleicht alles ganz anders war.

Über die Autorin:

Wiebke Lorenz, geboren 1972 in Düsseldorf, studierte in Trier Germanistik, Anglistik und Medienwissenschaft und lebt in Hamburg. Mit ihrer Schwester schreibt sie unter dem Pseudonym Anne Hertz Bestseller mit Millionenauflage, auch ihre Romane als Charlotte Lucas sind erfolgreich. Infos: www.wiebke-lorenz.de

Personen, Handlung sowie Handlungsorte dieser Geschichte sind frei erfunden, Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Auch wenn mein besonderer Dank Dr. Guntram Knecht von der Asklepios Klinik Nord gilt, der mir einen Einblick in den Alltag der forensischen Psychiatrie gewährte und mich darüber hinaus exzellent beraten hat, möchte ich ausdrücklich darauf hinweisen, dass dieser Roman nicht die Gegebenheiten in der Forensik Hamburg Ochsenzoll wiedergibt, sondern rein fiktionaler Natur ist.

»Wenn ich mir vorstelle, was in meinem Kopf manchmal los ist, und davon ausgehe, dass es noch viel schlimmere Köpfe alsmeinen gibt, ist es ganz erstaunlich, dass nicht viel mehr passiert.«

Roger Graf, »Zürich bei Nacht«

Mit Schaudern denken wir an dieses geheimnisvolles Etwas in unserer Seele, das kein menschliches Urteil anerkennt und selbst die unschuldigsten Menschen Schreckliches träumen lässt und ihnen unaussprechliche Gedanken einflüstert.

Herman Melville (1819–1891)

Für Peter – worüber man nicht reden kann,

darüber muss man schreiben.

PROLOG

Weißt du, wozu du fähig bist? Ahnst du es auch nur ansatzweise?

Du liest die Zeitung oder schaltest den Fernseher ein und siehst die Nachrichten, Meldungen von Mord und Totschlag rieseln auf dich nieder wie der Wetterbericht oder die Aktienkurse, du merkst nicht einmal auf, wenn du hörst, dass ein Kind entführt und missbraucht wurde oder ein Mann erschossen, eine Frau gequält, enthauptet, zerstückelt, eine ganze Familie in Raserei ausgelöscht.

Ja, sicher, einen leichten Schauer verspürst du, der dir durch die Glieder fährt, ein fast köstliches Unbehagen, das von dir Besitz ergreift, sich aber sofort wieder verflüchtigt, denn du weißt ja: Das hat nichts mit dir zu tun. So etwas passiert woanders, nicht in deinem ganz normalen Leben, in dem du morgens jeden Tag zur Arbeit fährst und abends wieder nach Hause kommst, in dem du dich mit Freunden triffst, mit der Familie nach Spanien in den Urlaub fährst und zu Weihnachten die Schwiegereltern besuchst. So ist dein Leben, Tag für Tag. Die Welt da draußen ist manchmal krank, aber dich geht das nichts an.

Bist du sicher?

Ganz sicher?

Was, wenn es dich doch betrifft?

Was, wenn du eines Tages aufwachst und entdeckst, dass in dir einMonster lebt? Und sosehr du dich auch bemühst, es lässt sich nicht vertreiben oder beherrschen, es hat von dir Besitz ergriffen und lässt dich nicht mehr los.

Was tust du dann?

1

Am schlimmsten ist die Ungewissheit.

Dass sie nicht sagen kann, ob sie es wirklich getan hat oder nicht, nicht mit vollkommener, nicht mit endgültiger Sicherheit. Denn da ist keine Erinnerung, nicht das kleinste Überbleibsel in ihrem Gedächtnis von dieser Nacht, in der es passiert ist. Nur Beweise. Erdrückende Beweise und Indizien, die allesamt dafür sprechen, dass sie es gewesen ist, dass da nicht der geringste Zweifel an ihrer Schuld besteht.

Die klebrige rote Lache, in der sie neben Patrick erwachte, das verkrustete, geronnene Blut, tiefschwarz wie Öl saß es unter ihren Nägeln, steckte in jeder Pore ihrer Haut, als hätte sie mit bloßen Händen ein Tier geschlachtet.

Dann der Geruch, nein, dieser metallische Gestank, den sie regelrecht schmecken konnte und den sie nie wieder würde vergessen können. Ihre Fingerabdrücke auf dem Messer, mit dem sie Patrick erst die Kehle durchgeschnitten hat, um ihn anschließend mit weiteren siebenundzwanzig Stichen niederzumetzeln.

Heimtückisch. Während er ahnungslos und friedlich schlief und sich nicht wehren konnte.

Genau so hat sie es gemacht. Genau so, wie sie es schon oft in ihrer Vorstellung getan hatte, hat sie ihn abgestochen wie ein Schwein. Aber doch nur in ihrer Vorstellung, in ihren Gedanken, in ihrem Kopf; und verewigt in den Aufnahmen, die auf ihrem iPhone sind und mit deren Hilfe sie sich ihre kranken Fantasien von der Seele geredet hatte. Doch nur da, sonst nirgends. Alles sichergestellt und beschlagnahmt, ihre geheimsten Ängste und Befürchtungen, ihre Horrorfantasien. Das, was sie immer verheimlichen wollte, niemandem anvertrauen oder eingestehen, am liebsten nicht einmal sich selbst – jetzt hatte es sie letztlich verraten.

»Denken ist nicht tun!« Das hatte Elli ihr immer wieder versichert. Aber dann hatte sie es doch getan. Hatte den, den sie am meisten liebte, auf bestialische Art und Weise ermordet. Und sich selbst gleich mit. Denn in ihrem Innern ist sie jetzt auch tot. Abgestorben. Nun muss sie nur noch darauf warten, dass ihr Leben ein Ende nimmt. Sie hofft, dass es bald sein wird, dass sie nicht mehr allzu lange darauf warten muss. Aber so leicht werden sie es ihr nicht machen, so leicht nicht. Sie werden sie hier festhalten, Tag für Tag, Nacht für Nacht, für Wochen, Monate und Jahre, werden ihr nicht erlauben, dass sie vor sich selbst flieht. Vor sich selbst und vor dem, was sie nun ist.

* * *

Das Klacken. Zu Anfang fällt es noch jedes Mal auf, lässt einen hochschrecken oder zusammenzucken, wenn es alle paar Minuten zu hören ist. Doch mit der Zeit verkommt es mehr und mehr zu einem Hintergrundgeräusch, bis es schließlich fast vollständig verklingt. Macht der Gewohnheit, Adaption, der Mensch gewöhnt sich schnell an das, was ihm ständig gegenwärtig ist, und hier ist es eben das permanente Klacken – klack, klack, klack – das Geräusch drehender Schlüssel in den Türen, schnappender Schlösser. Aufschließen, Tür öffnen, durchgehen, zuziehen, abschließen. Eine wichtige, eine notwendige Sicherheitsvorkehrung im Maßregelvollzug. Hier, wo sie alle weggesperrt, wo sie alle gemaßregelt sind. Klack, klack, klack – daran sind sie zu erkennen, die Ärzte, Pfleger und Therapeuten, immer ihr Schlüsselbund in der Hand, Türen auf- und abschließend. Dazu der Pieper, angesteckt am Hosenbund, der Notfallknopf für den – ja! – Notfall, denn schließlich sind sie alle, sie alle hinter diesen geschlossenen Türen gemeingefährlich.

Wegschließenswürdig.

Maßregelvollzugspflichtig.

»Was hast du gemacht?« Marie sitzt beim Mittagessen an einem kleinen Vierertisch im privaten Speisesaal von Station 5 in Haus 20. Eine gemischte Abteilung, Männer und Frauen, deutschlandweit eine absolute Seltenheit, aber für den Resozialisierungsprozess angeblich ungemein förderlich. Gemischt also, gemischt gemein und gefährlich. Sie blickt auf und sieht in das Gesicht von Günther, der ihr gegenüberhockt, beide Ellbogen auf den Tisch abgestützt, mit der Gabel schaufelt er sich Pasta in den Mund und schmatzt. Günther, zweiundfünfzig, seit dreizehn Jahren hier, hat seinem Nachbarn nach einem Streit mit einer Schrotflinte den halben Kopf weggeschossen, die Leiche dann mit einer Axt zerhackt und im Garten verscharrt. Keine Chance auf Entlassung für Günther. Niemals, nie.

»Bitte?«, fragt sie.

»Du sprichst ja kaum.« Wieder Schmatzen. »Will nur wissen, warum du hier gelandet bist.« Er sollte auch nicht sprechen, denkt sie. Seine Stimme ist schleppend, müde, die Worte kommen lallend, kaum artikuliert, dazu die verstopfte Nase, die tränenden Augen, der dämmrige, gebrochene Blick. So sehen die meisten auf dieser Station hier aus, medikamentös sediert, mit psychotropen Substanzen stillgelegt, jeder Handlungsfähigkeit beraubt, schlurfen sie durch die Gänge oder draußen durch den abgesicherten Innenhof.

Marie hat Glück. Sie selbst muss nur manchmal, wenn Kummer und Schmerz sie zu überwältigen drohen, ein paar Beruhigungsmittel schlucken. Ansonsten harmlose, aber hoch dosierte Antidepressiva, das Dreifache der normalen Menge. Die lähmen nicht, aber sie sollen helfen, den Zwang in den Griff zu bekommen. F42.0 nach ICD-10, vorwiegend Zwangsgedanken, Maries Diagnose laut »Internationaler statistischer Klassifikation der Krankheiten und verwandten Gesundheitsprobleme«.

So hat ihr Anwalt es ihr erklärt, ein simpler Buchstaben- und Zahlencode für diesen unbegreiflichen Dämon, der Marie schon so lange quält, ein Buchstabe und ein paar Ziffern für die Schreckensbilder und -gedanken, die ihren Kopf, ihre Seele, ihr gesamtes Leben beherrschen und es in Schutt und Asche gelegt haben. Dazu noch ein bisschen F33 für die rezidivierende depressive Episode, F61 für die kombinierte Persönlichkeitsstörung, von der niemand bisher so recht weiß, welche genau es ist (histrionisch? passiv-aggressiv? dissozial? Nun, das wird man mit der Zeit in dieser Einrichtung schon herausfinden), F44.0 für die dissoziative Amnesie, denn sie kann sich ja nicht daran erinnern, wie sie Patrick ermordet hat. Dass sie ihn überhaupt ermordet hat. Dann noch F43.1, eine posttraumatische Belastungsstörung hat sie schließlich auch, überhaupt sind die Diagnosen überlappend. Komorbidität, auch so ein Wort, das Marie von ihrem Anwalt gelernt hat. »Man kann auch Läuse und Flöhe haben«, hatte er ihr erklärt, als sie verwirrt wissen wollte, was das bedeutet.

Gelandet ist sie hier nach Paragraf 63 StGB, Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, nicht nach Paragraf 64 StGB, Unterbringung in einer Entziehungsanstalt. Sie war zwar angetrunken in der Nacht, in der es geschah, aber eine von den »Suchtis«, das ist sie nicht, da gehört sie nicht hin. Die sind in einem anderen Gebäude und bekämpfen neben den unwillkommenen Geistern in ihrem Kopf noch Koks, Heroin, Cannabis, Benzodiazepine, Alkohol und was man sonst noch alles einnehmen kann, um die Unerträglichkeit des Seins ein wenig zu dämpfen, um sich selbst daran zu hindern, sich einfach umzubringen.

Warum Marie also hier ist? Sie könnte Günther all diese Kennziffern nennen, um seine Frage zu beantworten. Aber keine von ihnen verrät die ganze Wahrheit, die Wahrheit darüber, was sie ist: ein Monster. So wie er, Günther. So wie sie alle hier. Trotzdem ist Marie eben nicht ausgeschaltet wie ein Großteil der anderen Patienten, nach der Beobachtungsphase auf der Akutstation gilt sie nicht als selbst- oder fremdgefährdend, also wird sie nicht medikamentös ruhiggestellt. Da hat Marie wirklich, wirklich Glück.

Oder auch nicht, denkt sie, während sie nun Günther betrachtet, der noch immer den Blick unverwandt auf sie gerichtet hält. Seine Nase läuft, mit dem Handrücken wischt er sich den Schnodder weg und streift ihn an seiner abgestoßenen Cordhose ab, um eine Sekunde später geräuschvoll den restlichen Rotz hochzuziehen. Rotz, der sich mit Pasta vermischt, eine zähe, breiige Masse, die er beim Kauen mit offenem Mund hin und her wälzt.

Wäre Marie wie er, eine von den Lahmgelegten, müsste sie jetzt nicht wegsehen, sich abwenden und den Würgereiz niederkämpfen, den Kopf senken und auf ihren Plastikteller mit der Lasagne starren. Sie hat so gut wie nichts davon angerührt, das tut sie fast nie. Wozu essen, wenn man keine Energie mehr braucht, wozu den Körper erhalten, wenn die Seele schon tot ist?

Maries Blick wandert neben den Teller zu ihrer zitternden Hand, mit der sie ihre Gabel hält. »23« steht auf dem Griff, die gleiche Zahl ist ins Messer eingraviert. Das ist Maries Nummer, die 23, auch das Besteck wird hier mit Zahlen versehen, genau wie die Erkrankungen seiner Benutzer. Nach dem Essen wird sie es beim Küchenpersonal abgeben, denn immer muss peinlich genau darauf geachtet werden, dass jeder Patient alles abgeliefert hat. Keine Gabel, kein Löffel und erst recht kein Messer darf einbehalten werden, Maries 23 wird jeden Tag dreimal kontrolliert, morgens, mittags, abends.

Manchmal kommt es vor, dass einer der Patienten ein Teil verschwinden lässt, es unter den Pulli steckt oder in irgendeine Körperöffnung schiebt, vaginal, rektal, ganz egal. Oder sein Besteck aus reiner Boshaftigkeit in einen Mülleimer wirft. Dann heißt es »Alarmstufe Rot«, die gesamte Station wird gesperrt, alle Zimmer abgeschlossen, und eine hektische Suche beginnt. So lange, bis das fehlende Teil gefunden wird, ist das Pflegepersonal im Ausnahmezustand. Denn die Gefahr ist zu groß, dass ein Messer oder eine Gabel später in einem ihrer Rücken wieder auftaucht oder einer der Insassen – nein, Patienten! – versucht, sich damit seinen Weg in die Freiheit zu erzwingen. Allein den Versuch findet Marie absurd. Welche Freiheit kann das schon sein? Sie alle sind in ihrem inneren Gefängnis lebenslänglich eingesperrt, dazu braucht es keine Mauern, Zäune, Stahltüren oder Fenster aus Panzerglas, eine zerrissene Seele ist ein verlässlicherer Kerker als jeder Hochsicherheitstrakt.

»Kein Bock zu reden, oder was?« Marie betrachtet Günthers Teller, seine Lasagne, und seine Nummer. 5. »Nummer 5 lebt«, denkt sie. Und als Nächstes »23«, das war auch ein Film, da ging es um eine Verschwörungstheorie, daran erinnert sie sich, sie hat ihn damals im Kino zusammen mit ihrem Mann Christopher gesehen. Marie hebt den Kopf und blickt in Günthers aufgedunsenes Gesicht. Sie also nun hier, in diesem Raum, mit diesem Menschen – muss das nicht auch eine Verschwörung sein? Elli hatte es doch wieder und wieder behauptet: »Denken ist nicht tun.« Also kann es doch gar nicht sein, dass sie etwas »gemacht« hat, es kann doch einfach nicht sein!

»Das ist alles nur in meinem Kopf«, ein Song von Andreas Bourani, das Lieblingslied der Sonnenblumengruppe. Das war ihre Gruppe im Kindergarten Mansteinstraße, fünfundzwanzig süße Mäuse, mit denen sie als Erzieherin »gearbeitet« hat: hat mit ihnen gebastelt, geturnt, Waldtag, schwimmen gehen, Gedichte lernen, Theaterstücke für Weihnachten einstudieren, alles, was kleine Kinder lieben.

Und sie hat diese Kinder geliebt, das hat Marie, wirklich, und das tut sie noch. Wenn sie jetzt daran denkt, wie glücklich sie war, glücklich in ihrem Unglück, wenigstens das war sie – und sie hat es dabei nicht einmal gemerkt. Dazu musste erst das hier passieren, musste sie erst auf dieser Station landen, um zu begreifen, dass sie doch eigentlich glücklich war. Das ist alles nur in meinem Kopf, alles nur in meinem Kopf … Aber eben das stimmt nicht, es ist nicht in ihrem Kopf geblieben, sonst wäre sie ja nicht hier.

»Was glotzt du denn so blöd?« Günther lässt seine Gabel klirrend auf den Tisch fallen und starrt sie angriffslustig an, sucht wieder Streit mit einem Nachbarn, wenn auch nur am Tisch. Sofort kommt ein Pfleger herbeigeeilt und stellt sich direkt hinter ihn, alle Muskeln im Körper zum sofortigen Einsatz angespannt.

»Alles in Ordnung?«, fragt er. Günther zieht den Kopf ein wie ein geprügelter Hund, fehlt nur ein gequältes Jaulen oder Fiepen. Dann greift er wieder nach seiner Gabel und schaufelt weiter Pasta in seinen Mund, als wäre nichts.

Marie steht auf, nimmt ihr Tablett, geht wortlos rüber zu den Rollcontainern und schiebt es in eine freie Schiene. Ihr Besteck wirft sie in den Sammeleimer, neben dem eine junge Schwester steht und die Rückgabe überwacht. Schlafen, denkt sie, als sie draußen durch den langen Flur in Richtung ihres Zimmers geht, sie will einfach nur ein bisschen schlafen, so, wie sie es die meiste Zeit tut.

Wer schläft, sündigt nicht. Ein nächster Gedanke, und sie muss fast lachen. Auch das ist falsch, so falsch wie die Dinge, die nur in ihrem Kopf sind. Denn es ist ja im Schlaf passiert, nachts, da hat sie es getan. Hat das Messer genommen, Patrick die Kehle durchgeschnitten und dann auf ihn eingestochen. Sünde im Schlaf. Patrick hatte keine Chance gegen die »scharfe Gewalt«, so der Fachbegriff für das, was Marie getan hat. Im Gegensatz zu »stumpfer Gewalt«, wenn sie ihm mit einem Kristallaschenbecher oder einem Kerzenleuchter den Schädel eingeschlagen hätte. Aber das hat sie eben nicht, sie hat das Messer benutzt.

Heimtückisch, das hat der Richter gesagt, ja, ganz heimtückisch hat sie ihn ermordet. Nur das Warum, das konnte sich niemand erklären. Am wenigsten Marie selbst, denn sie hat Patrick ja geliebt, genau wie die Kinder, wenn auch natürlich auf eine andere Art und Weise. Er war es gewesen, der sie zum ersten Mal seit langer Zeit wieder zum Lachen hatte bringen können. Zum Leben. Und zum Lieben.

Also gab es für die Tötung keinen Grund, jedenfalls keinen, der verständlich, der nachvollziehbar wäre. Nicht für einen normalen Menschen, es muss ein psychotischer Schub gewesen sein. F63.8, Störung der Impulskontrolle. Impuls und Kontrolle, Kontrolle, Kontrolle und Rolle; genau diese Rolle spielt es nicht mehr, denn auch ein Darum wird Patrick nicht wieder zum Leben erwecken, Maries mörderische Hände nicht von ihrer Schuld reinwaschen.

* * *

»Gucken Sie mal, die Karte kann man aufklappen, und dann geht da so ein Bild hoch!« An Schlaf ist nicht zu denken, Maries Zimmergenossin Susanne steht mitten im Raum und redet gerade auf Dr. Jan Falkenhagen, Oberarzt der Station, ein. Er begrüßt Marie mit einem kurzen Nicken und wendet sich dann wieder seiner Patientin zu. Aufgeregt zeigt sie ihm ihre gestrige Bastelarbeit, eine Glückwunschkarte für ihre jüngste Tochter Emma, die am Wochenende neun wird. Neun würde.

Jetzt klappt sie die Karte wieder und wieder auf und zu, demonstriert Dr. Falkenhagen stolz den Mechanismus, denn beim Aufklappen stellt sich ein bunter Schriftzug hoch. »Happy Birthday!« steht auf der Pappe, eine der Schwestern hat Susanne beim Beschriften geholfen, ihr eine Schere geliehen und sie ihr später, nach dem Basteln, wieder weggenommen.

Marie geht rüber zu ihrem Bett auf der rechten Seite und setzt sich darauf, hoffend, dass die Audienz im Zimmer nicht lange andauern wird und sie sich gleich in den Schlaf flüchten kann.

»Die ist sehr hübsch«, sagt Dr. Falkenhagen und lächelt Susanne nachsichtig an. Nachsichtig, so werden die meisten Patienten hier vom klinischen Personal betrachtet. Wie man es bei kleinen Kindern tut, so, wie Marie es auch viele Jahre lang gemacht hat, in ihrem alten Leben mit der »Sonnenblumengruppe«. Die Kinder ermutigen, sie loben, ihnen das Gefühl geben, dass sie wichtig sind und von den Erwachsenen ernst genommen werden, positive Verstärkung nennt man das. Genau diesen Blick sieht Marie jetzt bei Dr. Falkenhagen, der fast andächtig Susannes selbst gebastelte Glückwunschkarte begutachtet und sie dann sogar in die Hand nimmt.

Maries Mitpatientin strahlt ihn an, als würde ihr gesamtes Glück von seinem Urteil abhängen. Dabei federt sie unmerklich mit den Fußballen auf und ab, ein verhaltenes Hüpfen, auch das kennt Marie von den Kindern. Doch bei einer Frau von Anfang vierzig, wie Susanne es ist, wirkt diese Bewegung seltsam, unpassend. Unangebracht, genau wie der abwartende, fast flehende Blick, bitte, bitte, sag mir, dass ich ganz brav gewesen bin, sag mir, dass es dir gefällt!

Auch das sind die Medikamente, sie brechen den Willen, umnebeln das Gehirn, verwandeln Erwachsene in quengelnde Rotznasen, die den Ärzten und Pflegern am Rockzipfel hängen, als hätten sie Angst, verloren zu gehen oder zurückgelassen zu werden wie ein lästiges Haustier zu Beginn der Urlaubszeit an einer Autobahnraststätte.

»Das haben Sie wirklich sehr schön gebastelt«, betont Dr. Falkenhagen nun noch einmal und gibt Susanne die Karte zurück. Fein, das hast du feiiiin gemacht!

»Meinen Sie«, fragt Susanne, »dass ich am Wochenende nach Hause darf?« Aus dem flehenden Blick wird ein hoffnungsvoller. Der Arzt seufzt. Er fährt sich mit einer Hand durch die schwarzen Haare, die hier und da von ein paar silbernen Strähnen durchzogen sind, rückt seine Brille zurecht und lässt die andere Hand in seiner Hosentasche verschwinden.

Wie ein Arzt sieht er nicht aus, schon gar nicht wie ein Oberarzt. Marie schätzt ihn auf ihr Alter, Ende dreißig vielleicht, eigentlich zu jung, um eine so wichtige, eine so gefährliche Anstalt zu leiten. Überhaupt, wie krank muss Dr. Falkenhagen sein? Wie krank, dass er sich täglich und freiwillig mit Kranken beschäftigt? Nicht mit »normal Kranken«, die irgendwann wieder gesund werden und dann nach Hause dürfen. Sondern mit hoffnungslos Kranken, unheilbaren Fällen, mit Abnormen, anders gesagt: Verrückten. Verrückten Straftätern noch dazu!

Der Arzt trägt Jeans, blaues Hemd unter dem dunklen Wollpullover mit V-Ausschnitt, seine Füße stecken in teuren braunen Lederschuhen, rahmengenäht. Einzig der Pieper, das kleine schwarze Kästchen am Hosenbund, weist ihn als Mitarbeiter dieser Anstalt aus, kein weißer Kittel, kein Stethoskop um den Hals oder wie man sich sonst einen Mediziner vorstellt. Niemand auf der Station trägt Klinikkleidung, alle sehen aus, als würden sie in irgendeinem Büro arbeiten, vielleicht ein Versuch, gerade hier so etwas wie Normalität zu vermitteln. Vermutlich sollen die Patienten nicht jeden Tag daran denken, wo sie eigentlich sind.

»Darf ich?«, wiederholt Susanne ihre Frage und wirkt nicht mehr ganz so hoffnungsvoll, nachdem Dr. Falkenhagen ihr noch nicht geantwortet hat.

»Sie wissen doch, dass das nicht geht«, teilt er ihr nun, wie nicht anders zu erwarten, mit, auch sein Tonfall ein Muster an Nachsichtigkeit.

»Aber ich mache doch jetzt alles, was Sie wollen«, sagt Susanne, nun schon leicht bockig, ein bald folgendes Aufstampfen mit dem Fuß schwingt bereits deutlich mit.

»Ja, Frau Krüger, das weiß ich. Aber wir müssen einfach noch etwas länger warten, das verstehen Sie doch, oder?« Statt zu antworten, lässt Susanne die Glückwunschkarte achtlos auf den Boden fallen, marschiert aus dem Zimmer, wobei sie auf die Bastelarbeit tritt und sie zerknickt, dann knallt sie die Tür hinter sich ins Schloss. Ätsch, dann eben nicht! Der Arzt seufzt ein weiteres Mal. Dann wendet er sich an Marie.

»Und wie geht es Ihnen heute, Frau Neumann?« Wenigstens fragt er nicht, wie es »uns« geht.

»Alles in Ordnung«, lügt sie. »Danke«, schiebt sie dann noch hinterher, denn sie hat ja immerhin Erziehung genossen.

»Wollen Sie heute Nachmittag mit mir reden?« Jeden Tag fragt er sie das, jeden einzelnen Tag in den vergangenen zwei Monaten, die sie schon hier in Haus 20 auf Station 5 ist. Seit sie von der Aufnahme, von der Akutstation, hierher verlegt wurde, möchte er ständig mit ihr reden. Aber Marie will nicht und schüttelt wie immer den Kopf. Sie hat nichts zu sagen, denn die Vergangenheit ist unaussprechlich, die Zukunft nicht existent. Worüber dann reden? Reden ändert nichts an Taten.

Drei Mal hat sie in seinem Büro schon vor ihm gesessen, eine Stunde lang geschwiegen, seine Fragen unbeantwortet gelassen, bis sie wieder in ihr Zimmer durfte. Seitdem holt Dr. Falkenhagen sie nicht mehr, sondern fragt Marie täglich – außer am Wochenende, da ist keine Rede-, sondern Verwahrzeit –, ob sie ein Gespräch mit ihm führen will. Stetes Wasser höhlt den Stein, denkt er vielleicht, irgendwann wird sie es wollen. Soll er das denken. Sie hat Zeit. Alle Zeit der Welt in diesem zeitlosen Raum.

»Ich möchte bitte ein bisschen schlafen«, sagt Marie, als er sie noch immer abwartend ansieht.

»Dann lasse ich Sie allein. Denken Sie einfach darüber nach, Sie können jederzeit zu mir ins Büro kommen.« Er verlässt das Zimmer, Marie bleibt auf ihrem Bett sitzen und starrt vor sich hin. Nachdenken. Als hätte sie das nicht schon genug getan, seit Wochen, Monaten, Jahren tut sie nichts anderes. Nachdenken, Grübeln, Gedanken hin und her wälzen, ohne zu einer Lösung, zu einem Ergebnis zu kommen. Das ist alles nur in meinem Kopf, nur in meinem Kopf.

Marie steht auf, geht rüber zu dem kleinen Waschbecken, das sie sich mit Susanne teilt, lässt kühles Wasser über die Innenseiten ihrer Handgelenke laufen, trocknet sie mit einem Handtuch ab und betrachtet sich dann im Spiegel. Ein richtiger Spiegel ist es natürlich nicht, das wäre viel zu gefährlich, blank poliertes Metall reflektiert Maries Gesicht, diesen Kopf, in dem alles ist.

Grüne Augen, links und rechts davon feine Krähenfüße, nichts Ungewöhnliches für ihr Alter von achtunddreißig, die blonden Locken in einem losen Zopf versteckt, der Mund klein mit dennoch vollen Lippen. Eine ganze normale Frau, eine, wie man sie an jeder Ecke trifft. Marie kneift die Augen zusammen und beugt sich näher zu ihrem Spiegelbild, so nah, dass sie nur noch ihre eigenen Augen sieht. Das Grün der Iris ist beinahe Neonfarben, umrundet von einem schwarzen Ring, die Pupillen flackern leicht, weiten sich unmerklich und ziehen sich wieder zusammen, pulsieren im Rhythmus ihres Herzschlags. Tadamm, tadamm, tadamm, ruhig und beständig.

Sie tritt zwei Schritte zurück, um sich ganz anzusehen, ihre schmalen Schultern, der zierliche Oberkörper, der in einem viel zu großen Sweatshirt steckt, das ihr irgendwann – das war in einer anderen Zeitrechnung – mal gepasst hat. Schon will sie wieder zum Bett gehen, als draußen im Flur ein ohrenbetäubender Lärm erklingt. Schreie, Poltern, eilige Schritte, ein dumpfes Geräusch, als würde jemand fallen. Marie geht zur Zimmertür und sieht hinaus.

»Lasst mich los!«, brüllt Susanne und kämpft mit zwei Pflegern, die sie links und rechts an den Armen gepackt halten. Wütend tritt sie um sich, das Gesicht verzerrt, Speichel tropft ihr aus dem rechten Mundwinkel. »Scheiße, ihr Wichser, loslassen!« Wieder tritt sie zu, doch sie trifft nicht, die Männer greifen ihr unter die Achseln, zerren sie hoch, ihre Füße strampeln in der Luft wie bei einer Marionette.

Dr. Falkenhagen eilt herbei, ruft den Pflegern etwas zu, die Susanne den Flur runter zum Ende des Ganges schleifen. Wie ein wild gewordenes, tollwütiges Tier, Susannes Speichel spritzt durch den Flur, während sie weiterbrüllt, brüllt, brüllt, Spucke landet auf den selbst gemalten Bildern an den Wänden. Abstrakte Kleckse aus der Kunsttherapie, die hier alles ein bisschen »schöner« und »freundlicher« machen sollen.

Das Vandalenzimmer, da wird Susanne nun landen, bis sie sich wieder beruhigt hat, bis sie wieder »vernünftig« ist, in ein, zwei oder drei Tagen, vielleicht dauert es auch länger. Eine schlichte feuerfeste Matratze auf dem Boden, das Bettzeug ohne Knöpfe, abschließbare Toilette, ein milchiges Fenster aus Panzerglas, in der Stahltür eine Durchreiche für Essen und Medikamente, hier kann sie toben, ohne sich selbst, jemanden vom Personal oder einen Mitpatienten zu verletzen. Das ist das Wichtigste, schließlich trägt die Einrichtung Verantwortung für Susanne und all die anderen.

Marie macht die Tür wieder zu, Susannes Schreie werden leiser und verstummen schließlich ganz, jetzt ist sie im Vandalenzimmer eingesperrt und darf da nach Herzenslust randalieren.

Auf dem Weg zum Bett fällt Maries Blick auf die Glückwunschkarte, die zerknickt auf dem Fußboden liegt. Sie hebt sie auf, streicht sie glatt und räumt sie auf den Nachttisch ihrer Zimmernachbarin. Neben das Foto von Emma und Johnny, Susannes Kinder.

Die Kinder, die sie vor vier Jahren getötet hat, erst mit Schlafmitteln betäubt und dann in der Badewanne ersäuft wie Katzenbabys. Weil eine Stimme es von ihr verlangt hatte, weil es nötig war, um »den großen Plan« zu erfüllen, wie Susanne es manchmal nennt. Auch der nur in Susannes Kopf, dieser große Plan, dem sie sogar ihre eigenen Kinder geopfert hat, um die Welt vor ihrem Untergang zu bewahren. Weil es eben sein musste, so erklärt sie Marie in ihren verwirrten, schizophrenen Momenten, denn ihre Kinder gehörten zu »denen«, »die« hatten Besitz von ihnen ergriffen.

In klaren Momenten weint Susanne, denn dann weiß sie nicht einmal mehr, wer »die« eigentlich sind, für die sie Emma und Johnny umgebracht hat. Und im nächsten Augenblick vergleicht sie sich selbst mit Abraham. Mit dem Unterschied, dass sie nicht verschont wurde, dass da kein Engel aufgetaucht ist, um die Kindstötung im letzten Moment zu verhindern.

Emma und Johnny, auf dem Bild sind sie acht und fünf, und so werden sie es in Susannes Erinnerung auch immer bleiben, die meiste Zeit leben sie sogar noch, und Susanne will zu ihnen nach Hause, hat Heimweh nach ihren Kindern und ihrem alten Leben. Aber sie kommt nicht mehr dahin, nach Hause, denn das gibt es nicht mehr.

Genauso wenig wie meins, denkt Marie, streicht mit einem Finger über das Plexiglas, hinter dem die Gesichter der zwei Kinder sie anlächeln. Und dann denkt sie an Celia.

* * *

Am Nachmittag ist es Zeit für die Hofrunde. Eine Stunde täglich dürfen die Patienten von Station 5 nach draußen, um dort »frische Luft« zu schnappen. »Käfig« nennen sie den Innenhof, zehnmal zehn Meter groß ist er, dieser Käfig voller Narren. Ein paar von denen, die schon länger hier sind, können manchmal in Begleitung die Klinik verlassen, vereinzelt sogar ohne Aufsicht. Vollzugslockerung, ein bisschen normales Leben führen, zum Zahnarzt gehen, etwas einkaufen, Verwandte oder Bekannte besuchen.

Aber das ist nur den wenigsten erlaubt, den meisten bleibt pro Tag eben nur diese eine Stunde im Hof. Die Zigarettenpausen nicht mit eingerechnet, die zählen extra, wer sich abmeldet, darf kurz vor die Tür in den abgesperrten Bereich.

Bevor Marie hier gelandet ist, hat sie nicht geraucht, aber sie hat es sich von den anderen abgeguckt und tut es jetzt mit großer Leidenschaft, als hätte sie ihr ganzes Leben lang nichts anderes gemacht, als zu qualmen. So wie eigentlich alle Patienten hier quarzen, als würden sie dafür bezahlt. »Wer die Psychiatrie überlebt«, hat Marie neulich zwei Pfleger miteinander scherzen gehört, »stirbt später garantiert an Lungenkrebs.« Das mag sein, durchaus, nur was soll man hier auch sonst machen außer rumsitzen und rauchen?

Eine kleine Ablenkung, ein Zeitverkürzer sind diese Zigaretten, so lässt sich das Leben in Einheiten aufteilen. Jede Kippe hat vierzehn Züge, die Marie alle einzeln mitzählt, fast andächtig raucht sie, wie bei einem heiligen Ritual. Etwa siebeneinhalb Minuten pro Stück, macht bei einer Stunde Hofgang acht Zigaretten, wenn sie sich eine nach der nächsten anzündet. Und das tut sie, sobald Marie eine Kippe austritt, greift sie für die nächste schon wieder zum Feuerzeug. Auch das muss sie immer wieder bei den Pflegern holen und abgeben.

Sie tritt Zigarette Nummer vier aus und entzündet die fünfte. Darum wird Marie beneidet, dass sie sich so viele Zigaretten leisten kann, wie sie will, im Gegensatz zu den anderen wird ihr wöchentlich ein kleines Vermögen von ihrem Geld zugeteilt. Die meisten hier sind arbeitslos, vom Leben schon lange aussortiert, ins Abseits geschoben, bevor sie im Maßregelvollzug endeten. Ein ständiges Streiten um Kippen, das ist eines der Hauptthemen hier auf der Station. Und wer über das Fernsehprogramm bestimmen darf, denn es gibt nur ein einziges Gemeinschaftsgerät. Genau wie das Telefon im Flur, wer überhaupt noch jemanden hat, den er anrufen kann, tut es gern und oft, der Apparat ist meistens belegt. Doch bei Telefon und Fernsehprogramm können die Patienten sich meistens einigen, um Zigaretten herrscht dagegen oft ein regelrechter Krieg. Einige erhalten hin und wieder einen Beutel Sozialtabak, mit vierzig Euro im Monat kommt man eben nicht weit.

»Gibst du mir eine?« Wie in jeder Freistunde kommt Gertrud zur ihr und schnorrt. Marie hält ihr die Packung West Silver hin.

»Aktive«, so heißen fertige Filterzigaretten hier, ein echter Luxus für die meisten, die sich ihre Glimmstängel mit Tabak selbst drehen. Gertrud zieht drei Zigaretten heraus und geht schnell davon. Marie blickt ihr nach, wie sie in gebückter Haltung, als wolle sie einen Schatz hüten, auf die andere Seite des Innenhofs eilt, sich in eine windgeschützte Ecke stellt, die erste Kippe entzündet, den Rauch tief inhaliert und dann in kleinen Ringen in die Luft pustet.

Die kreisförmigen Schwaden lösen sich auf, werden vom Wind zerstoben und wabern an der Betonmauer entlang nach oben. Sechs Meter hoch sind die Wände des Hofs, oben auf der Kante sind sie mit Stacheldrahtrollen und Glasscherben gesichert. Und sie sind bemalt. Mit blauem Himmel und Wolken, ein Illusionskünstler hat sich an dem nackten Beton zu schaffen gemacht. Als würde ein bisschen Farbe reichen, um sie alle hier zu verarschen.

Arsch sagt man nicht!, erklingt eine Kinderstimme in Maries Kopf, keine Halluzination, mehr eine Erinnerung. »Ich weiß«, erwidert sie leise. »Ich weiß.«

Ihr Blick wandert zu Markus, mit Mitte zwanzig einer der jüngsten Männer in der Forensik. Allerdings ist er nicht auf ihrer Station, nur hin und wieder darf er mit zwei Pflegern in den Käfig von Haus 20, weil es dort, wo er untergebracht ist, nicht mal einen Innenhof gibt. Sein Oberkörper pendelt in langsamem Rhythmus vor und zurück, Markus »webt« wie ein eingesperrtes Pferd. Direkt nach ihrer Stationsaufnahme hat Susanne Marie vor dem gelegentlichen Gast im Innenhof gewarnt. Ein Frauenmörder sei er, ein gemeiner Psychopath ohne jede Gefühlsregung, was er aber mit seinem Charme überspielen könne.

Gefährlicher Charme, dem seien mehr als zehn Frauen zum Opfer gefallen, die er erst zum Essen ausgeführt und danach in einem Wald brutal vergewaltigt und erdrosselt hatte. Die Köpfe seiner Leichen hätten sie bei ihm zu Hause in einer Tiefkühltruhe gefunden, hat Susanne behauptet und dabei so verächtlich geguckt, als sei sie nicht selbst eine Mörderin. Wenn auch ohne den Charme von Markus, ihre Kinder hatten ihr auch so vertraut, wie Kinder eben einer Mutter vertrauen können. Können sollten, denkt Marie und betrachtet die Zigarette in ihrer Hand, die schon wieder bis auf den Filter runtergebrannt ist. Und als Nächstes denkt sie: zu spät. Dann tritt sie die Kippe aus, zündet die nächste an und sieht wieder rüber zu Markus, dem charmanten Frauenmörder.

Jetzt, wie er da so auf dem feuchten Rasen hockt, von zwei Aufpassern bewacht, die aschblonden, fettigen Haare wirr vom Kopf abstehend, Trainingsjacke und Jeans unordentlich und schmutzig, stumm vor sich hinstarrend und webend, ist von seinem angeblichen Charme nichts mehr zu erkennen. Hospitalismus, psychische Deprivation, daran können auch die Wölkchen auf der Mauer nichts ändern, Markus ist zerbrochen. Welch ein Glück für die Menschen da draußen, der wird ihnen keine Scherereien mehr machen, der nicht, der ist fertig, für immer und ewig. Marie nimmt einen weiteren Zug von ihrer Zigarette, schließt die Augen und lehnt sich gegen die Wand in ihrem Rücken.

Aber sie hat nur eine Sekunde Ruhe, schon wackelt die Bank, auf der sie sitzt, und Marie blickt auf. Günther hat direkt neben ihr Platz genommen, immer noch läuft ihm die Nase, wieder sieht er sie so aggressiv an wie beim Mittagessen.

»Ich krieg noch ’ne Antwort von dir«, raunzt er. Diesmal ist kein Pfleger in Sicht, zwei der Betreuer sind auf der anderen Seite des Hofs miteinander ins Gespräch vertieft. Marie überlegt, was sie tun soll, damit Günther sie in Ruhe lässt. Jetzt sieht er lauernd aus, für den Bruchteil einer Sekunde bekommt sie Angst vor ihm.

»Willst du eine?«, fragt sie und hält ihm ihr Päckchen Zigaretten hin. Er grapscht sich eine Kippe, zündet sie aber nicht an, sondern mustert Marie weiterhin mit abwartender Miene. Er stinkt nach Pisse und altem Schweiß, sauer und zur gleichen Zeit süßlich und klebrig. Ein leichter Windstoß treibt ihr den Geruch direkt in die Nase, die Stationsmitarbeiter müssten dringend dafür sorgen, dass er mal wieder duscht. Aber meistens kümmern sie sich nicht darum, sondern halten sich lieber so fern wie möglich von ihm. Die paar Minuten bei der Blutabnahme, der Tablettenausgabe oder was sonst an pflegerischen Diensten nötig ist, kann man auch gut durch den Mund atmen.

»Was ist?«, schnauzt Günther. Jetzt läuft ihm der Rotz über die Lippen, er leckt ihn mit der Zungenspitze fort, Marie spürt wieder Übelkeit und einen Würgereiz in sich aufsteigen und will aufstehen, doch er hält sie mit einer schnellen Handbewegung fest, seine schwielige Pranke ruht schwer auf ihrem Arm. Die Hölle, das sind die anderen, Sartre. Patrick hat ihr einmal abends daraus vorgelesen, aus der »Geschlossenen Gesellschaft«, weil sie das Drama nicht kannte. Woher auch? Sie hat ja nur einen Realschulabschluss, und während ihrer Ausbildung als Erzieherin stand Literatur auch nicht gerade auf dem Plan.

»Alles muss versteckt sein«, flüstert Marie.

»Was?«

»Alles muss versteckt sein«, sagt Marie noch einmal lauter.

Günther nimmt seine Hand weg, schüttelt den Kopf und steht auf. »Du bist ja irre.«

2

Der nächste Tag beginnt wie der davor. Und der davor und der davor und der davor.

6.45 Uhr Wecken, Duschen in den Gemeinschaftswaschräumen, Anziehen, 7.30 Uhr bis 8.00 Uhr Frühstück, danach Morgenrunde mit allen fünfzehn Patienten der Station im Gruppenraum, denn auch die Anwesenheit muss täglich kontrolliert werden (als könnte einer von ihnen nicht anwesend sein; wobei, einmal, vor Jahren, ist angeblich einer von Station 5 getürmt, eine Therapeutin hatte ihm dabei geholfen, nach ein paar Wochen hatten sie ihn wieder geschnappt und zurückgebracht; hat wohl auch einen gewissen Charme gehabt, diesen bösen, manipulativen Charme; aber der ist jetzt nicht mehr hier, der wird woanders mit höherer Sicherheitsstufe verwahrt). Dann Gruppentherapie oder Kunsttherapie oder Sporttherapie oder Arbeiten im Gewächshaus oder in der Wäscherei, für ein paar Cent pro Stunde Kugelschreiber oder Aktenordner zusammenbauen oder einfach stumpfsinnig auf dem Zimmer sitzen und vor sich hin starren. Einschluss um 21.00 Uhr und kurz danach Nachtruhe, bis am nächsten Morgen um 6.45 Uhr die Türen erneut geöffnet werden.

Anfangs hatte Marie noch einen Kalender an der Wand, hat einen Tag nach dem nächsten durchgestrichen. Nach drei Wochen hat sie ihn abgehängt. Sie müsste wissen, wie alt sie wird, dann könnte sie die Tage rückwärts ausmerzen und ihrem Ende entgegenfiebern. Aber so hat es keinen Sinn, wozu soll sie wissen, welcher Tag, welcher Monat, welche Jahreszeit ist? Sie ist in einem Vakuum, alles steht, nichts bewegt sich mehr »hier drinnen«, nichts hat mehr eine Bedeutung, nichts von dem, was in der Welt »da draußen« einmal wichtig war, spielt noch eine Rolle.

Das Adventsgesteck im Glaskasten am Anfang des Flurs, in dem die Schwestern und Pfleger sich aufhalten, weist darauf hin, dass bald Weihnachten ist. Das Fest der Liebe und der Familie, das ohne das eine oder andere nun wirklich überhaupt keinen Sinn hat.

Wieder sitzt Marie auf der Bank im Käfig, wieder hat Gertrud von ihr drei Zigaretten geschnorrt, nur Günther hält sich glücklicherweise fern und spricht lieber mit Susanne, die seit heute früh zurück in ihr Zimmer durfte. Sie hat sich beruhigt, hat versprochen, ab sofort ganz brav zu sein, alles zu tun, was man ihr sagt, damit sie vielleicht doch eines Tages wieder nach Hause darf. Träum weiter. Noch so ein Kindersatz, der Marie durch den Kopf hallt. Damit haben sich die Kleinen gegenseitig aufgezogen, träum weiter, das klang so unheimlich lässig und erwachsen. Und süß, wenn es von einem Fünfjährigen kam, der sich vor einem anderen aufbaute und ihm erklärte, dass er ganz sicher nicht sein Spielzeug rausrücken würde. Träum weiter. Marie träumt. Von früher. Mehr als Träume sind nicht geblieben.

»Frau Neumann?« Hier in der Wirklichkeit steht Dr. Falkenhagen nun vor ihr und blickt auf sie herab. Seine dunkelbraunen Augen hinter den entspiegelten Gläsern seiner Designerbrille mustern sie wach, interessiert.

Schon will sie den Kopf schütteln, ihm damit wie immer bedeuten, dass sie nicht mit ihm reden möchte. Nicht heute, nicht morgen, gar nicht. Doch er scheint etwas anderes zu wollen. Was sie für wach und interessiert hält, entpuppt sich auf den zweiten Blick als ein wenig aufgeregt, erfreut.

»Ja?«, fragt sie.

»Sie haben Besuch, kommen Sie mit rein?« Besuch?

* * *

»Hallo, Marie! Wie geht es dir?« Fast knicken ihr die Knie weg, als der Oberarzt sie in sein Büro führt, wo der Besucher auf sie wartet. Christopher, Maries Mann. Genauer gesagt ihr Exmann.

Er sieht genau so aus, wie sie ihn in Erinnerung hat, immer noch der gleiche Sonnyboy, ein erwachsener Surfertyp; die Haut vielleicht ein bisschen dunkler als früher, die Sommersprossen treten deutlicher hervor, die blonden Haare sind etwas heller und länger als sonst. Aber mehr hat sich an ihm nicht verändert, als hätte Marie ihn erst gestern noch gesehen. Dabei ist ihre letzte Begegnung mehr als ein Jahr her, im Amtsgericht am Sievekingsplatz, in einem sterilen Verhandlungszimmer, wo der Richter ihre einvernehmliche Scheidung ausgesprochen hatte. Die Ehe sei zerrüttet, so war es in der Urteilsbegründung zu lesen gewesen.

»Christopher?«, fragt sie, als sei er eine Halluzination, wie er da an dem weißen Besprechungstisch sitzt. Mit verschränkten Armen, seine Finger trommeln im nervösen Rhythmus auf seinen Ellbogen herum. In einer kleinen Plastikschale vor ihm liegen seine Sachen wie Portemonnaie, Auto- und Wohnungsschlüssel, die er an der Sicherheitsschleuse am Eingang aus den Taschen hatte nehmen müssen. Wie am Flughafen wird hier jeder Besucher vor dem Einlass kontrolliert und durchleuchtet, damit er keine Waffen oder Drogen einschmuggeln kann.

»Marie!«, wiederholt er, steht auf und kommt zaghaft ein paar Schritte auf sie zu, hält aber kurz vor ihr inne, als wolle er einen Sicherheitsabstand zu ihr wahren.

»Ich lasse Sie einen Moment allein«, erklärt Dr. Falkenhagen und verlässt sein Büro. Zurück bleiben Marie und Christopher, stehen schweigend und unsicher voreinander, keiner scheint so recht zu wissen, was er nun tun soll. Ob es in diesem Besprechungsraum eine versteckte Kamera gibt?, fragt Marie sich unwillkürlich. Schließlich hat sie bereits einen Menschen getötet – das heißt, eigentlich hat sie sogar zwei auf dem Gewissen – da werden sie wohl nicht eine erneute Bluttat riskieren.

»Marie«, sagt Christopher dann ein drittes Mal, jetzt fast seufzend, fast ein bisschen wehmütig. Oder mitleidig? Ehe sie noch zu einem Schluss kommen kann, wie sie den Tonfall ihres geschiedenen Mannes interpretieren soll, hat er zwei weitere Schritte auf sie zu gemacht, legt seine Arme um sie und zieht sie an sich. Sie lässt es geschehen, lässt zu, dass er sie an sich drückt, ihre Wange die seine streift. Angst scheint er nicht vor ihr zu haben. Wie im Reflex erwidert Marie Christophers Umarmung, legt eine Hand auf seinen Rücken, während sie mit der anderen flüchtig über seinen Kopf streichelt. Sie spürt die Wärme seines Körpers, sogar seinen Herzschlag, so etwas hat sie lange nicht mehr gefühlt. Ich fühle, denkt sie beinahe überrascht, ich fühle tatsächlich etwas!

Nur ein paar Sekunden dauert die Berührung an, dann lässt Christopher sie los und nimmt wieder Abstand von ihr.

»Rauchst du?«, will er irritiert wissen, doch ehe sie ihm antworten kann, schüttelt er den Kopf, als würde ihm selbst in diesem Moment klar werden, wie unwichtig seine Frage ist. »Warum hast du mich nicht angerufen?«, fragt er stattdessen.

»Weshalb sollte ich?«

»Weshalb?« Wieder ein Kopfschütteln, diesmal ungläubig.

»Marie, du hättest dich bei mir melden sollen, ich wäre doch für dich da gewesen!« Für sie da gewesen. Wäre er das? »Ich habe erst gestern gehört, was passiert ist«, erklärt er, als wolle er sich dafür entschuldigen, dass er eben nicht da gewesen ist. »Die letzten drei Monate war ich in Australien, da habe ich nichts mitbekommen, und mir hat auch niemand davon erzählt.«

»Dann hätte ich dich ja auch nicht anrufen können«, erwidert Marie.

»Sicher hättest du das!«

»Aber was hätte es genutzt, wenn du doch auf der anderen Seite der Welt warst?« Und nicht nur das, Christopher ist nicht nur auf der anderen Seite, sondern in einer völlig anderen Welt, seit mehr als zwei Jahren schon.

»Ich wäre sofort zurück nach Deutschland geflogen.« Hätte, hätte, Fahrradkette, singen die Kinderstimmen in Maries Kopf. Christopher wirkt jetzt fast ungehalten. »Ich fasse es nicht, dass sich niemand bei mir gemeldet hat, um mir zu erzählen, was mit dir los ist!« Wieder ein leichtes Kopfschütteln, so, als könne er wirklich nicht verstehen, dass offenbar keiner auf die Idee gekommen war, ihn über Maries Verbleib zu informieren.

Aber wer hätte das auch tun sollen? Seine Freunde? Kollegen? Seine Familie? Die waren sicher alle froh, dass Marie aus Christophers Leben verschwunden war. Vor allem nachdem es in fast allen Zeitungen gestanden hatte. Sie, eine Mörderin. Nein, mit so jemandem pflegt man keinen Umgang. Schon gar nicht in Christophers Position als erfolgreicher, weltweit gefragter Ingenieur hat er einen Ruf zu verlieren, da passt eine wahnsinnige Exfrau, die wegen Mordes in der Klapse sitzt, nicht sonderlich gut ins Bild.

»Ich verstehe nicht, wie du hier gelandet bist!«, dringt Christophers Stimme durch den Nebel ihrer Gedanken.

»Ist doch egal.«

»Das ist doch nicht egal! Was ist denn bloß los mit dir?«

Sie zuckt mit den Schultern. »Ich weiß es selbst nicht.«

»Komm!« Er fasst nach ihrer Hand und zieht sie rüber zu dem kleinen weißen Tisch. »Setzen wir uns.« Gehorsam nimmt sie auf einem der drei Stühle Platz, Christopher setzt sich ihr gegenüber und greift sofort wieder nach ihrer Hand.

Maries Blick wandert über ihre Finger, die nun mit seinen verschränkt sind. Orangegelbe Flecken an Zeige- und Mittelfinger beider Hände, die Nägel heruntergekaut, die Haut rissig, spröde und rau. Kein schöner Anblick, aber Christopher scheint es nicht zu stören, er bemerkt es nicht einmal, sondern hält Maries Hände mit warmem, festem Druck.

»Bitte erzähl mir genau, was passiert ist.«

»Ich habe einen Mann getötet«, erklärt sie und wundert sich selbst, wie teilnahmslos sie bei dieser Aussage klingt.

»Ja, das weiß ich, ich habe seit meiner Rückkehr gestern Abend schon alle Berichte gelesen, die ich darüber im Internet finden konnte. Patrick Gerlach, den Schriftsteller.« Jetzt nickt Marie.

»Du warst mit ihm zusammen, habe ich gelesen.« Wieder ein Nicken. »Warum hast du ihn umgebracht?« Sie zuckt mit den Schultern, starrt wieder auf ihre Hände.

Sie bräuchte ein bisschen Zitronensaft, um die Nikotinflecken zu entfernen. Und Handcreme gegen die raue Haut, so etwas hat sie früher täglich benutzt, da hat sie sich sogar noch die Nägel lackiert, auch wenn sie nach einem Tag im Kindergarten häufig mit Farbe bekleckert oder vom Toben im Wald verschmutzt waren. Schlamm, fällt ihr dabei ein, das ist der letzte aktuelle Ton, die letzte Trendfarbe, an die sie sich erinnern kann. Jetzt ist es nicht mehr Schlamm, sondern Dreck. Nicht wie der aus dem Wald, dafür klebriger, widerlicher, verrauchter Dreck. Ob ihr einer von den Patienten, die die Station verlassen dürfen, eine Tube Creme und eine Feile mitbringen würde? Nein, eine Feile ist verboten, so etwas kann sie nur unter Beobachtung im Schwesternzimmer ausleihen. Aber wenigstens die Creme, die müsste doch erlaubt sein.

Hätte sie gewusst, dass Christopher kommt, hätte sie ihn darum gebeten, ihr Creme mitzubringen. Aber er ist ja überraschend und ohne jede Vorwarnung aufgetaucht. Überhaupt sind in den vergangenen Monaten entschieden zu viele Dinge ohne jede Vorwarnung passiert.

Gedankenverloren schüttelt Marie den Kopf, nur ganz leicht und für sich selbst. Denn das stimmt ja gar nicht, es war nicht ohne Vorwarnung passiert, in Wahrheit hatte es sogar jede Menge Warnungen gegeben. Nur hatte sie nicht gewusst, dass es welche waren, sie hatte sich doch immer darauf verlassen, dass nie etwas passieren könnte, dass alles, was in ihrem Kopf vor sich ging, nichts weiter als harmlose Hirngespinste waren. Erschreckend und grauenhaft, sicher, aber doch nur für sie, völlig ungefährlich für jeden anderen. Sonst hätte Marie sich ganz anders verhalten, hätte irgendwelche Sicherheitsvorkehrungen getroffen, sich zur Not selbst weggesperrt oder eingeliefert, verdammt, das hätte sie doch getan!

»Hat er dich bedroht oder dich irgendwie verletzt?«, geht Christopher in ihre Überlegungen dazwischen, drückt ihre Hände noch ein wenig fester und bringt sie so dazu, ihn wieder anzusehen. Jetzt klingt er so aufgeregt wie die Polizisten damals beim ersten Verhör. Auch sie haben nicht fassen können, dass diese kleine, zierliche Frau, die da vor ihnen saß, für das Gemetzel in Patricks Schlafzimmer verantwortlich sein soll.

»Ich weiß es nicht«, sagt Marie.

»Hattest du etwas getrunken?« Unverwandt hat er den Blick auf sie gerichtet. Vor über zwölf Jahren hat Marie zum ersten Mal in seine grauen Augen mit den vielen kleinen braunen Sprenkeln gesehen, die so gut zu Christophers Sommersprossen passen. Er hatte den Sohn seiner Schwester vom Kindergarten in der Mansteinstraße abgeholt, hatte sich Marie als »Superonkel« vorgestellt und sie angelächelt, wobei das Grübchen in seiner linken Wange deutlich zum Vorschein getreten war.

Liebe auf den ersten Blick war es damals nicht gewesen, aber nachdem Christopher seinen Neffen immer öfter abgeholt und jedes Mal einen kleinen Plausch mit Marie gehalten hatte, war sie irgendwann mit ihm ausgegangen und hatte sich mit der Zeit in ihn verliebt. Sie hatte kaum glauben können, dass so ein attraktiver, intelligenter und erfolgreicher Mann wie Christopher ausgerechnet sie, die einfache Erzieherin, wollte. Aber so war es gewesen, nur ein Jahr später hatten sie geheiratet, und schon in der Hochzeitsnacht hatte Christopher ihr ins Ohr geflüstert, dass er sich bald einen ganzen eigenen Kindergarten oder wenigstens eine Fußballmannschaft von ihr wünschen würde.

Dazu war es nie gekommen, nur einer einzigen Tochter hat sie das Leben geschenkt. Und dieses Leben liegt nun auf dem Friedhof in Hamburg-Ohlsdorf begraben, unter einem weißen Marmorstein mit der Aufschrift »Celia«. Kleine gelbe Teerosen hat Marie auf die Stätte gepflanzt, weil ihre Tochter diese Blumen immer geliebt hatte. Zwei Monate früher wären sie noch rosa gewesen, doch seit der Einschulung war Celia der Meinung, diese Farbe sei etwas für »Babys«, und hatte darauf bestanden, all ihre Sachen in Rosa und Pink wegzuwerfen.

Deshalb also gelbe Rosen, wie ein kleiner Sonnenstrahl auf Celias Grab, ein Lichtschein in ewiger Dunkelheit. Marie hofft, dass ihre eigene Mutter Regina sich nun darum kümmert, dass die Blumen weiter blühen. Wenn sie auch Marie, ihre Tochter, nach den Ereignissen der letzten Wochen aufgegeben hat – ihre Enkelin hatte sie schließlich immer geliebt.

Was für ein Stein wohl auf Patricks Grab steht? Marie vermisst ihn, vermisst ihn sogar sehr und hätte ihn gern noch einmal gesehen, wenn auch nur bei seiner Beerdigung. Man hat sie nicht dazu eingeladen, aber sie hätte ja auch gar nicht kommen können, dafür hätte man sie nicht rausgelassen. Und weder Vera noch Felix haben sich je wieder bei ihr gemeldet. Natürlich nicht, etwas anderes war auch nicht zu erwarten gewesen.

Im Gerichtsaal hatten Patricks Geschwister nur stumm auf ihren Plätzen gesessen und Marie angestarrt, hatten den Ausführungen des Staatsanwaltes und der Gutachter, dem Plädoyer von Maries Verteidiger wortlos gelauscht. Einzig für ihre Zeugenaussagen hatten sie den Mund aufgemacht. Ansonsten wie bei allen anderen Anwesenden auch bei ihnen sprachlose Fassungslosigkeit, die nach dem Urteilsspruch in schweigende Resignation übergegangen war.

»War es im Affekt? Notwehr? Hattest du eine Panikattacke? Wollte er dich vergewaltigen?«, bestürmt Christopher sie weiter mit Fragen, auf die Marie keine Antwort weiß, nicht eine einzige. Sie kann sich doch an nichts erinnern. An rein gar nichts. Nur daran, wie sie morgens neben Patrick erwachte, noch ein bisschen benommen und benebelt vom Abend davor, ein leichtes Pochen in beiden Schläfen, vermutlich vom schweren Rotwein und vom Sekt, den sie Stunden zuvor getrunken hatte. Und wie alles voller Blut war. Voll mit dunkelrotem, fast schwarzem, klebrigem und stinkendem Blut, überall. Im Bett, auf dem Boden, dicke Spritzer und Kleckse an den Wänden, über Patricks Körper verteilt und an der Klinge des großen Fleischermessers, das sie mit ihrer rechten Hand noch so fest umklammert hielt, als wolle sie im nächsten Moment wieder zustechen.

»Ich weiß es nicht«, wiederholt Marie, »ich kann mich an nichts erinnern.« Und deshalb weiß sie es eben wirklich nicht.

»Du kannst dich nicht erinnern?«

Sie schüttelt den Kopf.

»Dann glaube ich das einfach nicht!«

»Was glaubst du nicht?«

»Dass du so etwas getan hast! Doch nicht du, nicht ausgerechnet du, dazu bist du doch gar nicht fähig!«

»Sie sagen aber, dass ich es gemacht habe«, gibt sie trotzig zurück. Wer konnte schon wissen, wozu sie fähig war? »Und ich glaube es auch.«

Auch wenn sie per Gesetz zur Tatzeit nicht ganz bei sich gewesen war, nicht alle Tassen im Schrank gehabt hatte. So hatte es ihr der Anwalt erklärt, Paragraf 20, Strafgesetzbuch: Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störung. Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tief greifenden Bewusstseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln. Schwachsinn, dieser Begriff hatte es ihr besonders angetan. Er klang so schön … schwachsinnig. Ja, sie war schwach. Nicht nur im Sinn, auch in Herz und Seele.

Neben den Beweisen, die keinen Zweifel an ihrer Mordtat ließen, neben den Gutachten der Experten, die ihr im Zuge des Verfahrens eine vorübergehende Unzurechnungsfähigkeit und Amnesie infolge der Tat bescheinigten, hatte sie doch genau dieses Szenario in ihrem Kopf schon vorher zigfach durchexerziert, wieder und wieder. Wie sie neben Patrick liegt, der ahnungslos schläft, wie sie in die Küche schleicht, das große Messer aus dem Holzblock neben dem Herd zieht und es im Schlafzimmer gegen Patricks Kehle drückt.

Dann ein einziger, kräftiger Schnitt, direkt über dem Adamsapfel, quer über den Hals, von links nach rechts fetzt es tief durchs Fleisch, durchtrennt alles, Luftröhre, Sehnen, die Halsschlagader. Und Patrick, der erschrocken die Augen aufreißt, nicht verstehend, wie ihm gerade geschieht. Ein starrer, ungläubiger und entsetzter Blick, dann das Röcheln, das Blut, das aus seiner Aorta sprudelt und spritzt, sich rechts und links von seinem Kopf übers Kissen verteilt, ergießt wie ein Strom aus Lava, Patricks Hände, die hilflos in der Luft herumrudern und versuchen, Maries Arme zu ergreifen.