Alles trägt den einen Namen - Richard Rohr - E-Book

Alles trägt den einen Namen E-Book

Richard Rohr

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Beschreibung

Was wäre, wenn der Name „Christus“ die transzendente Wirklichkeit in allen Dingen bezeichnete? Wenn dieser Name den Horizont benennt, in dem wir sind und auf den wir uns zubewegen? Wenn er eine Erkenntnis zum Ausdruck bringt, in dem alle Dualismen, Bewertungen und Unterscheidungen überwunden sind und der Mensch zur Einheit mit sich selbst, mit anderen und mit der Schöpfung findet? Was wäre, wenn der Name „Christus“ eine lebensverwandelnde Wahrheit für alle Menschen - ob religiös oder nicht – benennt?

In diesem Buch erschließt Richard Rohr auf eine völlig neue Weise, was es heißt, von Jesus als dem Christus zu sprechen. In der Geschichte des Christentums und der Welt, im Gespräch mit Psychologen und spirituellen Lehrern vieler Traditionen und – vor allem – in der Bibel entdeckt der berühmte spirituelle Lehrer die Gründe, die ihn zu einem neuen Verständnis der Bedeutung des Jesus von Nazareth führen.

Ein Buch, das das Christentum in einer nachchristlichen Welt neu begründet als eine Religion für alle, die sich nach einer besseren Welt sehnen und danach handeln wollen.

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Seitenzahl: 398

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Richard Rohr

Alles trägt den einen Namen

Die Wiederentdeckung des universalen Christus

Aus dem Englischen vonAndreas Ebert

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.

Originaltitel:

Richard Rohr: THE UNIVERSAL CHRIST: How a Forgotten Reality Can Change Everything We See, Hope For, and Believe

© The Crown Publishing Group, 2018.

This translation published by arrangement with Convergent Books, an imprint of the Crown Publishing Group, a division of Penguin Random House LLC

Copyright © 2019 Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlagmotiv: www.pixabay.com

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-641-24876-5V004

www.gtvh.de

Ich widme dieses Buch meiner geliebten Labradorhündin Venus. 15 Jahre hat sie mich begleitet, und ich musste sie in Gottes Hände geben, als ich gerade mit dem Schreiben anfing. Ohne Selbstrechtfertigung, theologische Floskeln oder Angst vor Häresie kann ich mit Fug und Recht sagen, dass auch Venus für mich Christus war.

Die biblischen Texte in diesem Buch folgen keiner einheitlich vorgegebenen Übersetzung, sondern sind zumeist Paraphrasen, bei denen der Übersetzer versucht, den bereits vom Autor paraphrasierten Inhalt wiederzugeben.

Die einzig wirklich absoluten Mysterien des Christentums sind die Selbstmitteilung Gottes in der Tiefe des Seins, die wir Gnade nennen, und in der Geschichte, die wir Christus nennen.

Nach Karl Rahner, Jesuitenpater und Theologe, 1904-1984

Ich bete die Materie nicht an. Ich bete den Gott der Materie an, der um meinetwillen Materie wurde und sich herabließ, der Materie innezuwohnen, der mein Heil durch die Materie wirkte. Ich werde nicht aufhören, diese Materie zu ehren, die mein Heil bewirkt.

St. Johannes von Damaskus, 675-753

Keine Verzweiflung unsererseits kann die Dinge ändern, wie sie sind, oder die Freude des kosmischen Tanzes beflecken, die immer vorhanden ist.

Thomas Merton, 1915-1968

INHALT

Bevor wir beginnen

TEIL 1 EIN ANDERER NAME FÜR ALLES

1 Christus ist nicht der Nachname Jesu

2 Annehmen, dass du ganz und gar angenommen bist

3 Offenbart in Uns – als Wir

4 Am Anfang war alles gut

5 Liebe ist der Sinn

6 Heilige Ganzheit

7 Unterwegs zu einem guten Ziel

TEIL 2 DAS GROSSE KOMMA

8 Handeln und Reden

9 Die Tiefe der Dinge

10 Die weibliche Inkarnation

11 Das ist mein Leib

12 Warum ist Jesus gestorben?

13 Man kann es nicht alleine tragen

14 Der Weg der Auferstehung

15 Eine Zeugin und ein Zeuge Jesu und Christi

16 Transformation und Kontemplation

17 Jenseits bloßer Theologie: Zwei praktische Übungen

Epilog

Nachwort: Die Liebe nach der Liebe

ANHÄNGE

Anhang I Die vier Weltbilder

Anhang II Das Muster der spirituellen Transformation

Zitierte und weiterführende Literatur in Auswahl

Endnoten

TEIL 1

EIN ANDERER NAME FÜR ALLES

1

CHRISTUS IST NICHT DER NACHNAME JESU

Am Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde.

Die Erde aber war ohne Gestalt und leer,

finster war es über dem Antlitz des Ur-Chaos,

und die göttliche Geistkraft brütete über den Wassern.

Gott sprach: »Licht!«, und da war Licht.

Genesis /1. Mose 1,1-3

Quer durch die Reihen der etwa 30 000 existierenden Varianten des Christentums gibt es Gläubige, die Jesus lieben und (zumindest theoretisch) kein Problem damit haben, sowohl sein Menschsein als auch seine Göttlichkeit zu akzeptieren. Viele von ihnen bringen zum Ausdruck, dass sie eine persönliche Beziehung zu Jesus haben – vielleicht als Antwort auf seine Inspiration, Nähe und Gegenwart in ihrem Leben, vielleicht aber auch aus Furcht vor seinem Urteil oder Zorn. Andere vertrauen auf sein Erbarmen oder benutzen ihn als Rechtfertigung für ihre Weltanschauungen und ihre Politik. Wie aber könnte der Begriff Christus die gesamte Gleichung ändern? Ist Christus einfach der Nachname Jesu? Oder handelt es sich um einen Offenbarungstitel, der unsere ganze Aufmerksamkeit verdient? Inwiefern unterscheiden sich die Funktion und die Rolle Christi von denen, die Jesus hat? Was meint die Bibel damit, wenn Petrus nach Pfingsten in seiner ersten Ansprache an die Menschenmenge sagt: »Gott hat diesen Jesus … zum Herrn und zum Christus gemacht« (Apostelgeschichte 2,36)? Waren beide nicht schon immer ein und dasselbe, beginnend mit der Geburt Jesu?

Um diese Fragen zu beantworten, müssen wir weit ausholen und fragen: Was hatte Gott in den ersten Augenblicken der Schöpfung im Sinn? War Gott völlig unsichtbar, bevor das Universum seinen Anfang nahm? Gibt es denn so etwas wie ein »Davor«? Weshalb hat Gott überhaupt etwas erschaffen? Was war Gottes Absicht mit der Schöpfung? Ist das Universum selbst ewig? Oder ist das Universum eine Schöpfung innerhalb der Zeit – wie auch Jesus?

Wir müssen zugeben, dass wir vermutlich nie das »Wie« oder auch nur das »Wann« der Schöpfung ergründen werden. Die Frage, die jede Religion zu beantworten versucht, ist meist das »Warum«. Gibt es einen Hinweis darauf, warum und wozu Gott den Himmel und die Erde gemacht hat? Lag dabei irgendeine göttliche Absicht vor, gab es ein Ziel? Und brauchen wir wirklich einen »Schöpfergott«, um die Existenz des Universums zu erklären?

Die meisten Traditionen, die sich lange Zeit behaupten konnten, haben auf diese Fragen Antworten gegeben, und für gewöhnlich lauten die etwa so: Alle existierende Materie ist Ausfluss einer Ersten Quelle, die ursprünglich nur als Geist existierte. Diese unerschöpfliche Primärquelle verströmte sich irgendwie in endliche, sichtbare Formen, erschuf alles vom Felsgestein bis hin zum Wasser, zu Pflanzen, Organismen, Tieren und Menschen – alles, was wir mit dem Auge sehen können. Dieser Selbsterweis jener ewigen Quelle, den man Gott nennt, war die erste Inkarnation (der gebräuchliche Begriff für die Materialisierung oder »Fleischwerdung« des Geistes). Sie fand lange vor der zweiten Inkarnation statt, die personalen Charakter hatte und sich, wie Christen glauben, in und mit Jesus ereignete. Die franziskanische Tradition sagt: Die Schöpfung ist die erste Bibel, und sie existierte bereits 13, 7 Milliarden Jahre, bevor die zweite Bibel geschrieben wurde.5

Wenn Christenmenschen das Wort »Inkarnation« hören, denken die meisten von uns sofort an die Geburt Jesu, die Gottes totale und persönliche Vereinigung mit der Menschheit manifestiert hat. Aber in diesem Buch möchte ich den Vorschlag machen, dass die allererste Inkarnation jener Moment war, der in Genesis/1. Mose 1 beschrieben wird, wo sich Gott mit dem physischen Universum vereinigt und zum Licht wird, das in allem leuchtet. (Dies ist meines Erachtens der Grund, weshalb das Licht Gegenstand des ersten Schöpfungstages ist. Seine Geschwindigkeit ist inzwischen als die einzige universale Konstante anerkannt.) Die Inkarnation ist dann eben nicht ausschließlich »Gott, der irgendwann zu Jesus wird«. Es handelt sich um ein wesentlich umfassenderes Ereignis, weshalb Johannes Gottes Präsenz zunächst mit dem Allgemeinbegriff »Fleisch« umschreibt (Johannes 1,14). Johannes spricht von jenem allgegenwärtigen Christus, den Caryll Houselander so hautnah erfahren hat, von dem Christus, dem auch wir anderen alle ständig in unseren Mitmenschen, in einem Berg, in einem Grashalm oder in einem Vogel begegnen.

Alles, was sichtbar ist, ist Selbstmitteilung Gottes. Ohne Ausnahme. Was sonst könnte es sein? »Christus« ist eine Bezeichnung für die ursprüngliche Matrix (den »Logos«), durch die »alle Dinge entstanden sind. Und kein einziges Ding ist ohne den Logos da« (Johannes 1,3). Die Dinge so sehen zu können hat meinem eigenen Glauben eine neue Dimension gegeben, ihn mit neuer Energie erfüllt und ihn weiter gemacht, und ich glaube, genau dies könnte der ganz besondere Beitrag des Christentums unter den Weltreligionen sein.6

Wenn man darüber hinwegsehen kann, dass Johannes ein männliches Pronomen benutzt, um etwas zu beschreiben, was eindeutig jenseits von Geschlechterdefinitionen existiert, kann man sehen, dass er uns in seinem Prolog (1,1-18) eine heilige Kosmologie7 anbietet und nicht nur eine Theologie. Lange vor der Inkarnation in der Person Jesus war Christus zutiefst in alle Dinge eingebettet – als alle Dinge! Die ersten Zeilen der Bibel betonen, dass »die göttliche Geistkraft über den Wassern der Urflut« beziehungsweise der gestaltlosen Leere »brütete«, und schlagartig wurde das materielle Universum in seiner gesamten Tiefe und Bedeutung sichtbar (Genesis 1,1ff.). »Zeit« bedeutet an dieser Stelle selbstverständlich noch nichts. Das Christusgeheimnis ist der neutestamentliche Versuch, jener Greifbarkeit und Anschaulichkeit einen Namen zu geben, die sich bereits am ersten Schöpfungstag ereignet hat.

Ich erinnere daran: Licht ist nicht so sehr das, was man sieht, sondern das, wodurch man alles andere sieht. Deswegen macht Jesus Christus im Johannesevangelium die fast überheblich klingende Aussage: »Ich bin das Licht der Welt« (Johannes 8,12): Jesus Christus ist das Verschmelzen von Materie und Geist an einem konkreten Ort, damit auch wir fähig werden, beides immer und überall zusammenzufügen und die Dinge in ihrer ganzen Fülle wahrzunehmen und zu genießen. Das kann so weit gehen, dass wir fähig werden, sozu sehen, wie Gott sieht, falls das keine allzu hochfliegende Erwartung ist.

Naturwissenschaftler haben entdeckt, dass alles, was für das menschliche Auge wie Finsternis aussieht, in Wahrheit von winzigen Teilchen erfüllt ist, die »Neutrinos« genannt werden. Es handelt sich um Lichtpartikel, die im gesamten Universum unterwegs sind. Offenbar gibt es nirgends so etwas wie absolute Dunkelheit, obwohl das menschliche Auge meint, dass es so sei. Das Johannesevangelium ist genauer als unsere Vorstellungen, wenn es Christus »ein Licht« nennt, »das von der Finsternis nicht überwältigt werden kann« (1,5). Zu wissen, dass jenes innere Licht nicht ausgeknipst oder eliminiert werden kann, stimmt zutiefst hoffnungsvoll. Und als sei das nicht genug, zeigt das aktive Verb, das Johannes benutzt (»Das wahre Licht … kam in die Welt«, 1,9), dass das Christusgeheimnis kein einmaliges Ereignis ist, sondern ein Prozess, der im Lauf der Zeit fortdauert – ebenso konstant wie das Licht, das das All erfüllt. Und »Gott sah, dass das Licht gut war« (Genesis 1,3). Ich bitte darum, das festzuhalten!

Aber die Metaphorik wird noch tiefsinniger und dichter. Christinnen und Christen gehen davon aus, dass diese universale Präsenz zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt »von einer Frau unter dem Gesetz« geboren wurde (Galater 4,4). Dies ist der gewaltige christliche Sprung des Glaubens, den nicht alle nachvollziehen können oder wollen. Wir behaupten mit einer gewissen Dreistigkeit, dass ein konkretes Individuum so von der Gegenwart Gottes erfüllt wurde, dass man an und in ihm ablesen kann, wie Menschheit und Gottheit vereint zusammenwirken können – und deshalb auch in uns! Anstatt allerdings zu sagen, dass Gott durch Jesus in die Welt kam, wäre es vielleicht richtiger zu sagen, dass Jesus aus einer von Christus erfüllten Welt kam. Die zweite Inkarnation war Ausfluss der ersten und entsprang Gottes Liebesvereinigung mit der physischen Schöpfung. Für wen sich das noch immer schräg anhört, möge mir noch ein Weilchen Vertrauen vorschießen. Ich verspreche, dass meine Ausführungen den Glauben an Jesus und den an Christus vertiefen und erweitern wird. Es handelt sich um eine gewichtige neue Umschreibung dafür, wer oder was Gott sein könnte und was ein so verstandener Gott tut. Möglicherweise brauchen wir einen solchen Gott, um angemessener auf jene Fragen eingehen zu können, die Ausgangspunkt dieses Kapitels gewesen sind.

Der springende Punkt ist für mich folgender: Wenn ich weiß, dass die mich umgebende Welt zugleich Versteck und Offenbarung Gottes ist, kann ich nicht mehr behaupten, dass es einen wichtigen Unterschied zwischen dem Natürlichen und dem Übernatürlichen, dem Heiligen und dem Profanen gibt. (Eine göttliche »Stimme« macht in Apostelgeschichte 10 einem ziemlich widerborstigen Petrus ebendies klar.) Alles, was ich sehe und erkenne, ist in der Tat ein »Uni-Versum« (wörtlich: »das in Eins Gekehrte«), das sich um ein kohärentes Zentrum bewegt. Die göttliche Gegenwart sehnt sich nach Verbindung und Gemeinschaft, nicht nach Trennung und Teilung – es sei denn, um einer noch tieferen künftigen Ebene von Einheit willen.

Was für einen Unterschied macht das aus für die Art und Weise, wie ich durch die Welt gehe und wie ich alle meine Mitmenschen sehe, denen ich im Lauf des Tages begegne! Es ist jetzt so, als könne alles, was bisher enttäuschend und »verfallen« gewirkt hat, einschließlich all der riesigen Rückschläge im Blick auf einen positiven Verlauf der Geschichte, als Teil einer Gesamtbewegung gesehen werden, die nach wie vor begeistern kann und durch Gottes Liebe eine dienende Funktion hat. Das alles muss irgendwie brauchbar und voll von ungenutztem Potenzial sein, einschließlich jener Dinge, die sich wie Betrug oder gar wie Kreuzigung anfühlen. Weshalb und wie könnten wir die Welt sonst lieben? Nichts und niemand muss außen vor bleiben.

Die Art von Ganzheit, die ich beschreibe, ist etwas, was unsere postmoderne Welt nicht mehr zu schätzen vermag und sogar vehement leugnet. Ich frage mich immer, weshalb wir nach dem Triumph des Rationalismus während der Zeit der Aufklärung solch eine Zusammenhangslosigkeit vorziehen. Ich war einmal der Meinung, wir seien uns alle einig, dass die Suche nach Zusammenhängen und nach einer Art von letztem Sinn erstrebenswert ist. Aber im vergangenen Jahrhundert haben zahlreiche Intellektuelle die Existenz und den Erweis solch umfassender Ganzheit geleugnet – und im Christentum haben wir den Fehler begangen, die Gegenwart des Schöpfers in der gesamten Schöpfung auf eine einzige Manifestation in menschlicher Gestalt zu reduzieren, auf Jesus. Die Folgen unserer extrem selektiven Wahrnehmung für die Geschichte und die Menschheit waren geradezu desaströs. Die Schöpfung wurde als etwas Profanes hingestellt, als ein hübscher Zufall, als bloße Kulisse für das eigentliche Schauspiel der göttlichen Absicht – in dem immer und ausschließlich nur wir selbst die Hauptrolle gespielt haben. (Oder, noch prekärer, Er!) Es ist unmöglich, dass sich Menschen innerhalb eines profanen, leeren oder zufälligen Universums als spirituelle Wesen erleben. Diese Sichtweise vermittelt uns vielmehr eine Grundstimmung von Getrenntein und Konkurrenz; wir streben nach Überlegenheit, anstatt zutiefst verbunden zu sein und dieser Einheit zu erlauben, immer weitere Kreise zu ziehen.

Aber Gott liebt Dinge, indem er sie wird.

Gott liebt Dinge, indem er eins wird mit ihnen,

nicht indem er sie ausstößt.

Durch den Schöpfungsakt hat Gott gezeigt, dass und wie sich die göttliche Gegenwart in die physische und materielle Welt verströmt.8 Gewöhnliche Materie ist das Versteck des Geistes und insofern der Körper Gottes. Was könnte das denn sonst sein, wenn wir – mit allen rechtgläubigen Juden, Christen und Muslimen – annehmen, dass »ein Gott alle Dinge erschaffen hat«? Seit Anbeginn der Zeit hat Gottes Geist durch die physische Schöpfung seine Ehre und Güte offenbart. Zahlreiche Psalmen bestätigen das bereits, wenn sie davon reden, dass »Flüsse in die Hände klatschen« und »Berge singen vor Freude«. War Paulus, als er geschrieben hat: »Es gibt nur Christus. Er ist alles und er ist in allem« (Kolosser 3,11), ein naiver Pantheist, oder hat er tatsächlich schon das volle Ausmaß des Evangeliums von der Inkarnation Gottes verstanden?

Gott hat anscheinend beschlossen, dem Unsichtbaren eine Gestalt zu verleihen in dem, was wir »sichtbar« nennen, so dass alle sichtbaren Dinge Offenbarung der einen spirituellen Energie Gottes sind, die sich endlos verströmt. Sobald das ein Mensch einmal begriffen hat, ist es schwierig, je wieder einsam zu sein in dieser Welt.

EIN UNIVERSALER UND PERSÖNLICHER GOTT

Zahlreiche Bibelstellen betonen sehr deutlich, dass dieser Christus »von Anfang an« existiert hat (Johannes 1,1-18, Kolosser 1,15-20 und Epheser 1,3-14 sind die Hauptquellen), so dass Christus und Jesus nicht einfach denselben Bedeutungsraum einnehmen können. Indem Christen das Wort »Christus« an Jesus angeklebt haben, als sei dies sein Nachname und nicht jenes Mittel, durch das Gott die gesamte Materie im Verlauf der Geschichte verzaubert hat, wurde das christliche Denken ziemlich schludrig. Unser Glaube wurde zu einem theologischen Wettstreit zwischen verschiedenen kleinkarierten Erlösungstheorien anstatt zu einer universalen Kosmologie, in der wir alle mit der uns innewohnenden Würde Platz finden können.

Gerade heute brauchen wir, vielleicht mehr denn je zuvor, einen Gott, der so groß ist wie das noch immer expandierende Universum. Sonst werden gebildete Menschen Gott nach wie vor als bloßes Anhängsel an eine Welt sehen, die in sich selbst fantastisch, wunderschön und lobenswert ist. Wenn Jesus nicht auch als Christus präsentiert wird, dann prophezeie ich, dass immer weniger Menschen aktiv gegen das Christentum rebellieren werden, während es für immer mehr Menschen im Laufe der Zeit uninteressant wird. Zahlreiche naturwissenschaftliche Forscher, Biologen und Sozialarbeiter haben das Christusgeheimnis gewürdigt, ohne dass sie dafür irgendwelche Jesus-Sprache verwenden mussten. Das Göttliche war anscheinend niemals besonders erpicht darauf, dass wir seinen oder ihren exakten Namen auf die Reihe kriegen (siehe Exodus/2. Mose 3,14). Jesus selbst sagt: »Vertraut nicht denen, die ›Herr, Herr‹ sagen« (Matthäus 7,21; Lukas 6,46). Er selbst sagt, es käme auf die an, die das »Richtige tun« und nicht auf die, die »das Richtige sagen«. Aber verbale Rechtgläubigkeit ist eine Lieblingsbeschäftigung des Christentums und hat uns zu manchen Zeiten legitimiert, Menschen auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen, weil sie nicht »das Richtige gesagt« haben.

Das passiert, wenn wir uns auf einen exklusiven Jesus fixieren, zu dem wir eine »persönliche Beziehung« haben, und darauf, wie er dich und mich vor einer irgendwie gearteten ewigen feurigen Folter retten kann. In den ersten zwei Jahrtausenden der Christenheit haben wir unseren Glauben in Gestalt eines Problems und einer Drohung formuliert. Aber wenn du meinst, das Hauptziel Jesu bestünde darin, ein Heilmittel für deine persönliche und individuelle Erlösung zur Verfügung zu stellen, liegt der Gedanke nahe, dass er mit der Menschheitsgeschichte insgesamt rein gar nichts zu tun hätte – mit Krieg und Ungerechtigkeit, mit der Zerstörung der Natur oder mit irgendetwas, was den Begierden unserer Egos oder unseren gesellschaftlichen Vorurteilen widerspricht. Am Ende haben wir unter der Rubrik »Jesus« unsere Nationalkulturen verbreitet, anstatt im Namen Christi eine Botschaft der universellen Befreiung zu verkünden.

Wenn wir keine Ahnung davon haben, dass die Welt in sich geheiligt ist – jedes noch so winzige Bruchstück des Lebens und des Todes –, fällt es uns schwer, Gott in unserer eigenen Lebenswirklichkeit zu sehen, geschweige denn die gesamte Wirklichkeit zu achten, zu schützen oder zu lieben. Die Folgen dieser Ignoranz umgeben uns überall; sie zeigen sich darin, wie wir unsere Mitmenschen bis heute ausbeuten und ihnen Schaden zufügen, aber auch die lieben Tiere, das Gewebe all dessen, was wächst, das Land, die Gewässer und besonders die Luft. Es hat bis zum 21. Jahrhundert gedauert, bis ein Papst das so deutlich ausgesprochen hat wie Papst Franziskus in seinem prophetischen Dokument Laudato Si. Möge es nicht zu spät sein und möge der Graben zwischen praktisch-konkreter Sichtweise (Wissenschaft) und holistischer Sichtweise (Religion) vollständig überwunden werden. Beide brauchen einander noch immer.

Das, was ich in diesem Buch als inkarnatorisches Weltbild bezeichne, ist das tiefe Erkennen der göttlichen Gegenwart in buchstäblich allem und allen. Das ist der Schlüssel zu geistiger und geistlicher Gesundheit und auch zu einer bestimmten Grundzufriedenheit und Lebensfreude. Eine inkarnatorische Weltsicht ist die einzige Möglichkeit, wie wir unsere inneren Welten mit der Außenwelt versöhnen können, Einheit mit Vielfalt, das Materielle mit dem Spirituellen, das Individuelle mit Kollektivem und das Göttliche mit dem Menschlichen.

Im frühen 2. Jahrhundert fing die Kirche an, sich »katholisch« zu nennen, das so viel bedeutet wie global oder universal. Das geschah, nachdem sie den eigenen universalen Charakter und die Universalität ihrer Botschaft begriffen hatte. Erst als die Kirche das Bewusstsein dafür wieder verloren hatte, eine unteilbare und inklusive Botschaft zu verkünden, wurde der Begriff »katholisch« mit Hilfe des Adjektivs »römisch« eingefriedet. Schließlich fuhren wir nach der bitter nötigen Reformation 1517 damit fort, uns in immer kleinere, miteinander konkurrierende Fraktale aufzusplittern. Davor hatte schon Paulus die Korinther gewarnt, indem er eine Frage stellte, die uns noch immer ausbremsen sollte: »Kann Christus aufgeteilt werden?« (1. Korinther 1, 13)? Aber wir haben in den Jahren, seit diese Worte geschrieben wurden, munter weiter gespaltet.

Das Christentum ist, um es milde auszudrücken, zu einem Sammelsurium von Stammeskulturen geworden. Aber das muss es nicht bleiben. Der eigentliche und ganze christliche Sprung des Glaubens besteht darin, dass wir darauf vertrauen, dass uns Jesusgemeinsam mit Christus ein menschliches, aber dennoch völlig passgenaues Fenster in jenes Ewige Jetzt geschenkt hat, das wir Gott nennen (Johannes 8,58; Kolosser 1,15; Hebräer 1,3; 2. Petrus 3,8).

Christus ist Gott, und Jesus ist die historische Gestaltwerdung des Christus in der Zeit.

Jesus ist ein Dritter, nicht nur Gott und nicht nur Mensch, sondern Gott und Mensch vereint.

Dies ist die einzigartige und zentrale Botschaft des Christentums, und sie hat massive theologische, psychologische und politische Konsequenzen – und zwar überaus positive. Aber wenn wir unfähig sind, diese beiden scheinbaren Antipoden Gott und Mensch in Jesus Christus zusammenzudenken, können wir beides meist auch nicht in uns selbst oder im restlichen materiellen Universum vereinen. Das ist bisher unsere Hauptsackgasse gewesen. Jesus sollte den Code knacken, aber weil wir ihn nicht mit Christus verbunden haben, haben wir den Kern dessen verloren, was das Christentum hätte sein können.

Ein ausschließlich persönlicher Gott wird zum Kitschgötzen einer Stammeskultur, und ein ausschließlich universaler Gott verlässt niemals den Raum abstrakter Theorie und philosophischer Prinzipien. Aber wenn wir lernen, beide zu verbinden, dann schenken uns Jesus und Christus einen Gott, der sowohl persönlich als auch universal ist.

Das Christusgeheimnis segnet und salbt von Anfang an die gesamte physische Materie mit einer ewigen Berufung. (Es sollte nicht überraschen, dass das Wort, das wir aus dem Griechischen [Χριστός] mit Christus übersetzen, von dem Hebräischen mesach kommt, was »der Gesalbte« oder der Messias bedeutet. Er offenbart, dass alles »gesalbt« ist!) Viele beten noch immer für etwas und warten noch immer auf etwas, was uns bereits dreimal geschenkt worden ist: zunächst in der Schöpfung; zweitens in Jesus, »damit wir ihn hören konnten, ihn sehen mit eigenen Augen, ihn schauen und mit unseren Händen berühren, das Wort, das das Leben selbst ist« (1. Johannes 1,1); und drittens in jener fortwährenden Liebesgemeinschaft (von Christen als der »Leib Christi« bezeichnet), die sich im Lauf der gesamten Menschheitsgeschichte allmählich entfaltet (Römer 8,18ff.). Wir befinden uns noch immer in diesem Fluss.

Angesichts unserer gegenwärtigen Bewusstseinsentwicklung und insbesondere des historischen und technologischen Zugangs, den wir heutzutage zum »Gesamtbild« haben, frage ich mich, ob ein aufrechter Mensch eine heile und heilige »persönliche« Beziehung zu Gott haben kann, wenn ihn dieser Gott nicht zugleich mit dem Universalen verbindet. Ein persönlicher Gott, das kann ja nicht bedeuten, ein kleinerer Gott, und ebenso kann dich auch Gott auf keine Weise kleiner machen – oder es wäre nicht Gott.

Paradoxerweise haben Millionen der sehr Frommen, die auf die »Wiederkunft« warten, weitgehend das erste Kommen verpasst – und auch das dritte! Ich wiederhole: Gott liebt Dinge, indem er sie wird. Und wie wir soeben gesehen haben, hat dies Gott mit der Erschaffung des Universums und mit Jesus so gemacht, und Gott tut es noch immer im realen und menschlichen Leib Christi (1. Korinther 12,12ff.) und sogar in schlichten Elementen wie Brot und Wein. Leider Gottes gibt es im Christentum eine ganze Sektion, die nach einem Fluchtweg aus Gottes kontinuierlicher Schöpfung sucht – und sogar darum betet –, zugunsten einer Art von Harmagedon oder Entrückung. Soviel zum Thema: den springenden Punkt verpasst! Die wirkungsvollsten Lügen sind häufig die wirklich großen.

Das sich entfaltende allumfassende Christusgeheimnis, an dem wir alle teilhaben, ist das Thema dieses Buches. Jesus ist eine Landkarte für die zeitgebundene persönliche Lebensebene, und Christus ist die Blaupause für alle Zeiten und alle Räume und für das Leben selbst. Beide offenbaren das universale Muster von steter Selbstentäußerung und neuer Erfüllung (Christus) beziehungsweise von Tod und Auferstehung (Jesus). Das ist jener Prozess, den wir in verschiedenen Epochen unserer Geschichte »Heiligkeit«, »Erlösung« oder einfach »Wachsen und Reifen« genannt haben. Christen können sehen, wie das universale Muster auf vollkommene Weise das innere Leben der Trinität nachahmt, wie es in der christlichen Theologie9 formuliert wurde und wird. Die Trinität ist unsere Matrix dafür, wie sich die Realität insgesamt entfaltet, da alle Dinge »nach dem Bild und Gleichnis« Gottes erschaffen sind (Genesis/1. Mose 1,26-27).

Für mich ist das Begreifen des vollen Christusgeheimnisses der Schlüssel zu einer grundlegenden Reform der christlichen Religion, die uns über alle Versuche hinausführen wird, Gott in unserer exklusiven Gruppe einzusperren oder gefangen zu halten. Das Neue Testament beschreibt es dramatisch und eindeutig: »Bevor die Welt erschaffen wurde, wurden wir in Christus auserkoren, … von Gott als Eigentum beansprucht und von Anfang an auserwählt« (Epheser 1,3.11), »so dass er unter dem Oberhaupt Christus alles vereinen könnte« (1,10). Sollte das alles stimmen, dann wäre das eine theologische Grundlage für sehr natürliche Religion, die jeden und jede einschließt. Das Problem war von Anfang an gelöst. Schraub deinen christlichen Kopf ab, schüttle ihn einmal kräftig durch und setz ihn wieder auf!

JESUS CHRISTUS UND DIE LIEBESGEMEINSCHFT

Der franziskanische Philosoph und Theologe Johannes Duns Scotus (1266-1308), dessen Gedankenwelt ich vier Jahre lang gründlich studiert habe, versuchte, diese ursprüngliche und kosmische Sicht zu formulieren, als er schrieb: »Gott will Jesus Christus vor allem als das summum opus deum, das höchste Werk Gottes haben.«10 Mit anderen Worten: Gottes »erste Idee« und Gottes Priorität bestanden darin, das Wesen Gottes sowohl sichtbar als auch mitteilbar zu machen. Der Terminus, der in der Bibel für diese Idee benutzt wurde, ist Logos und entstammt der griechischen Philosophie. Ich würde den Begriff mit »Blaupause« oder »Ur-Muster der Wirklichkeit« übersetzen. Die gesamte Schöpfung – nicht nur Jesus – ist Liebesgemeinschaft, Partnerin im göttlichen Tanz. Alles ist »Kind Gottes«. Keine Ausnahmen. Wenn man es recht bedenkt – was sonst sollte alles sein? Alle Geschöpfe müssen auf irgendeine Weise die göttliche DNA ihres Schöpfers in sich tragen.

Unglücklicherweise war das Konzept von Glauben, das im Abendland Gestalt annahm, viel eher eine rationale Zustimmung dazu, dass gewisse Glaubensformeln wahr sind, als ein relaxtes und hoffnungsvolles Vertrauen darauf, dass Gott in allen Dingen wohnt und dass die gesamte Wirklichkeit unterwegs ist zu einem guten Ziel. Es war vorhersagbar, dass wir schon bald intellektuellen Glauben (der dazu neigt, zu zergliedern und einzugrenzen) von Liebe und Hoffnung getrennt haben (die verbinden und insofern verewigen). Paulus sagt in seinem grandiosen Hymnus an die Liebe: »Es gibt nur drei Dinge, die Bestand haben – Glaube, Hoffnung und Liebe« (1. Korinther 13,13). Alles andere vergeht.

Glaube, Hoffnung und Liebe sind das Wesen Gottes und demzufolge das Wesen des gesamten Seins. So etwas Gutes kann nicht sterben. (Das meinen wir, wenn wir »Himmel« sagen.)

Jede dieser Drei Großen Tugenden muss jeweils die anderen beiden enthalten, um authentisch zu sein: Liebe ist immer voller Hoffnung und treu, Hoffnung ist immer liebevoll und beständig, und Glaube ist immer von Liebe und Hoffnung erfüllt. Sie sind das Wesen Gottes und insofern das Wesen des gesamten Seins. Diese Ganzheit ist im Kosmos personifiziert als Christus und in der Menschheitsgeschichte als Jesus. Gott ist also nicht nur Liebe (1. Johannes 4,16), sondern auch die absolute Glaubenstreue und die Hoffnung in Person. Und die Kraft dieser Glaubenstreue und Hoffnung fließt vom Schöpfer aus zu allen Geschöpfen und bewirkt jedes Wachstum, jede Heilung und jeden Frühling.

Keine Einzelreligion wird je die ganze Tiefe solch eines Glaubens ganz umfassen.

Kein Volk hat ein Monopol auf solch eine Hoffnung.

Keine Nation kann den Strom solch universaler Liebe kontrollieren oder aufhalten.

Dies sind die allgegenwärtigen Gaben des Christusmysteriums, verborgen in allem, was je gelebt hat, was je gestorben ist und was wieder leben wird.

Ich hoffe, die Vision wird deutlicher. Sie ist in gewisser Weise so einfach und einleuchtend, dass man sie nur schwer lehren kann. Es handelt sich vor allem um eine Sache des Ver-Lernens, damit du lernst, deinem gesunden christlichen Menschenverstand zu trauen, wenn ich das einmal so sagen darf. Christus ist eine gute und einfache Metapher für absolute Ganzheit, vollständige Inkarnation und für die Bewahrung der Schöpfung. Jesus ist der archetypische Mensch (Hebräer 4,15), der uns gezeigt hat, wie echtes Menschsein aussehen könnte, wenn wir uns vollständig in es einleben könnten (Epheser 4,12-16). Offen gesagt ist Jesus viel eher gekommen, um uns zu zeigen, wie wir menschlich sein können, als um uns zu sagen, wie wir spirituell sein können, und dieser Prozess befindet sich, wie es scheint, noch immer in seinen frühen Phasen.

Ohne Jesus ist der schiere Umfang und Sinn unseres tief verstandenen Menschseins zu groß und zu gut, als dass sie unser Verstand sich vorstellen könnte. Aber wenn wir wieder Jesus und Christus zusammenfügen, können wir eine Große Vision und ein Großartiges Werk in Gang setzen.

2

ANNEHMEN, DASS DU GANZ UND GAR ANGENOMMEN BIST

Ich mache die gesamte Schöpfung neu …

Es wird wahr werden …

Es ist schon vollbracht!

Ich bin das Alpha und das Omega,

sowohl der Anfang als auch das Ende.

Offenbarung 21,5-6

Ich erkläre euch feierlich: Bevor Abraham da war, BIN ICH.

Johannes 8,58

Wer spricht da in diesen beiden Bibelstellen? Ist es Jesus von Nazareth oder jemand anderes? Wir müssen auf jeden Fall zu dem Schluss kommen, dass, wer auch immer hier redet, einen riesigen und optimistischen Bogen zur Gesamtgeschichte spannt, und dass hier nicht einfach der kleine galiläische Zimmermann spricht. »Ich bin sowohl der Erste als auch der Letzte«, sagt die Stimme in Offenbarung 22,14 und beschreibt damit einen schlüssig nachvollziehbaren Verlauf vom Anfang bis zum Ende aller Dinge. Das zweite Zitat aus dem Johannesevangelium ist sogar noch erstaunlicher. Wenn nur Jesus es wäre, der hier spricht – und sich Gott nennt, während er in Jerusalems einzigartigem Tempel steht –, hätte das anwesende Volk jeden guten Grund, ihn zu steinigen!

Auch wenn ich nicht meine, dass Jesus jemals seine reale Einheit mit Gott angezweifelt hat, hat Jesus von Nazareth zu seinen Lebzeiten normalerweise nicht in göttlichen »ICH BIN«-Statements geredet, wie sie sich siebenmal und ausschließlich nur im Johannesevangelium finden. In den Evangelien nach Matthäus, Markus und Lukas nennt sich Jesus fast durchgehend den »Menschensohn« beziehungsweise den »Jedermann«, wobei er diesen Ausdruck insgesamt siebenundachtzigmal benutzt.11 Aber im Johannesevangelium, das irgendwann zwischen 90 und 110 nach Christus datiert wird, tritt die Stimme Christi in den Vordergrund, um fortan fast alles Reden zu übernehmen. Das hilft, einige Aussagen zu verstehen, die aus dem Munde Jesu untypisch wirken, wie zum Beispiel »Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben« (Johannes 14,6) oder »Bevor Abraham wurde, bin Ich!« (Johannes 8,58). Jesus von Nazareth hätte vermutlich nicht so gesprochen, aber wenn dies die Worte des Ewigen Christus sind, dann ist »Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben« eine durchaus berechtigte Aussage, die niemanden kränken oder bedrohen dürfte. Schließlich spricht Jesus nicht davon, dass man irgendeiner Gruppe von Menschen beitreten oder sie ausschließen soll. Er beschreibt vielmehr den »Weg«, auf dem alle Menschen und alle Religionen zulassen müssen, dass Materie und Geist gemeinsam und vereint handeln.

Sobald wir sehen, dass es der Ewige Christus ist, der in diesen Passagen spricht, erscheinen Jesu Worte über das Wesen Gottes – und über das Wesen derer, die nach Gottes Ebenbild erschaffen sind – von einer tiefen Hoffnung und einer weitreichenden Vision für die gesamte Schöpfung erfüllt zu sein. Die Geschichte ist nicht ziellos, kein bloßes Produkt rein zufälliger Bewegungen und kein Wettlauf zu einem apokalyptischen Ziel. Das ist eine gute und universelle Wahrheit, und sie ist auf keine spezifische Gruppe angewiesen, die sich im Besitz einer exklusiven »Göttlichen Offenbarung« wähnt. Wie sehr unterscheidet sich das doch von jener Stammesmentalität, die Religion häufig entwickelt – oder von jener blutarmen Auffassung von einem individuellen Seelenheil für einige Wenige auf einem ziemlich kleinen Planeten in einem noch immer expandierenden Universum. Und der Ausgangspunkt dieser Geschichte rankt sich um eine einzige Sünde, die in grauer Vorzeit irgendwo zwischen Euphrat und Tigris begangen wurde!

Der Sprung des Glaubens, den rechtgläubige Christen von Anfang an gewagt haben, war die Annahme, dass diese ewige Gegenwart des Christus tatsächlich durch die Person Jesus gesprochen hat. Göttliches und Menschliches müssen irgendwie in der Lage sein, aus einem Mund zu sprechen, denn nur, wenn die Einheit von Gott und Mensch in Jesus »wahr« ist, besteht Hoffnung, dass sie auch in uns allen wahr sein könnte. Das ist der großartige Mitnahmeeffekt, wenn man Jesus zugleich als den Ewigen Christus reden lässt. Er ist in der Tat »der Anfänger und Vollender unseres Glaubens«, wie es der Hebräerbrief ausdrückt (12,2), der ein recht vollkommenes Modell des menschlichen Lebenswegs darstellt.

Ich fasse zusammen, weil ich weiß, dass das Gesagte für die meisten von uns einen gewaltigen Perspektivwechsel beinhaltet:

Die vollständige christliche Geschichte sagt, Jesus sei gestorben und Christus sei »erstanden« – ja, immer noch als Jesus, aber nun zugleich als die kollektive Persönlichkeit, die den vollen Sinn und Zweck der gesamten Schöpfung einschließt und offenbart. Oder, wie der Heilige Athanasius (296-373), der »Vater der Rechtgläubigkeit«, schrieb, als die Kirche noch ein sozialeres, geschichtlicheres und revolutionäreres Selbstverständnis hatte: »Gott blieb sich treu, indem er durch einen Menschen gewirkt hat, um sich überall zu offenbaren und zugleich durch die anderen Teile seiner Schöpfung, damit nichts von seiner Göttlichkeit und seinem Selbstbewusstsein ausgenommen würde … sodass ›das gesamte Universum mit der Erkenntnis Gottes erfüllt war, wie die Gewässer das Meer erfüllen‹.«12Dieses gesamte Buch könnte man als Fußnote zu den Worten des Athanasius verstehen – und nichts sonst!

Die Kirche des Orients hat ein heiliges Wort für diesen Prozess, den wir im Abendland »Inkarnation« oder »Heil« nennen. Sie nennt ihn »Vergottung« (theosis). Wer das provozierend findet, sollte zumindest wissen, dass sie dies mit 2. Petrus 1,4 begründet, wo der Autor sagt: »Er hat uns etwas sehr Großartiges und Wunderbares geschenkt … ihr seid fähig, am Wesen Gottes Anteil zu haben!« Dies ist der Kern der guten Nachricht des Christentums und seine einzigartige transformative Botschaft.

Die meisten Katholiken und Protestanten halten die Inkarnation nach wie vor für ein einmaliges und auf eine einzige Person bezogenes Ereignis, bei dem es ausschließlich um die Person Jesu von Nazareth geht, anstatt für ein kosmisches Ereignis, das die gesamte Geschichte von Anfang an mit göttlicher Gegenwart durchtränkt hat. Letzteres hat zur Folge,

dass Gott kein alter Mann auf einem Thron ist. Gott ist Beziehung, die Dynamik unendlicher Liebe zwischen der Göttlichen Vielfalt, wie es die Trinitätslehre zeigt. (Man beachte, dass 1. Mose/Genesis 1,26-27 zweimal das Pronomen im Plural verwendet, um den Schöpfer zu beschreiben: »Lasst uns Menschen machen nach unserem Ebenbild.«)