Allicanto - Das Herz des Goldvogels - M.S. Kelts - E-Book

Allicanto - Das Herz des Goldvogels E-Book

M.S. Kelts

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Beschreibung

Tom genießt sein ganz normales und ruhiges Leben. Bis er eines Tages einen bewusstlosen Fremden im Wald findet – umgeben von unzähligen goldenen Federn. Fasziniert und besorgt nimmt Tom ihn auf, um ihn zu pflegen, und wird von Tag zu Tag mehr in seinen Bann gezogen. Während Amaro langsam wieder zu Kräften kommt, können beide ihre Gefühle füreinander bald schon nicht mehr leugnen. Doch eine gemeinsame Zukunft ist ihnen scheinbar nicht vergönnt, denn Amaro hütet ein großes Geheimnis, das Tom das Leben kosten könnte. Ist er bereit, alles zu riskieren, um seine Liebe zu retten?

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Seitenzahl: 365

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Neuauflage (ePub) März 2020

© 2017 by M.S. Kelts

Verlagsrechte © 2020 by Cursed Verlag

Inh. Julia Schwenk, Taufkirchen

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,

des öffentlichen Vortrags, sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile,

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit

Genehmigung des Verlages.

Bildrechte Umschlagillustration

vermittelt durch Shutterstock LLC; iStock

Satz & Layout: Cursed Verlag

Covergestaltung: Hannelore Nistor

Druckerei: CPI Deutschland

Lektorat: Anne Sommerfeld

ISBN-13: 978-3-95823-807-7

Besuchen Sie uns im Internet:

www.cursed-verlag.de

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vielen Dank, dass ihr dieses eBook gekauft habt! Damit unterstützt ihr vor allem die Autorin des Buches und zeigt eure Wertschätzung gegenüber ihrer Arbeit. Außerdem schafft ihr dadurch die Grundlage für viele weitere Romane der Autorin und aus unserem Verlag, mit denen wir euch auch in Zukunft erfreuen möchten.

Vielen Dank!

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Klappentext:

Tom genießt sein ganz normales und ruhiges Leben. Bis er eines Tages einen bewusstlosen Fremden im Wald findet – umgeben von unzähligen goldenen Federn. Fasziniert und besorgt nimmt Tom ihn auf, um ihn zu pflegen, und wird von Tag zu Tag mehr in seinen Bann gezogen. Während Amaro langsam wieder zu Kräften kommt, können beide ihre Gefühle füreinander bald schon nicht mehr leugnen. Doch eine gemeinsame Zukunft ist ihnen scheinbar nicht vergönnt, denn Amaro hütet ein großes Geheimnis, das Tom das Leben kosten könnte. Ist er bereit, alles zu riskieren, um seine Liebe zu retten?

1.

Ich biege in den Forstweg ein und lenke meinen Jeep vorsichtig um einen Holzstapel herum, dessen Enden fahrlässig weit in den Weg hineinragen. Noch immer regnet es heftig, obwohl bereits vereinzelte Sonnenstrahlen durch die dichte Wolkendecke hindurchbrechen und das Ende des Sommergewitters erahnen lassen.

Es ist Juli und endlich auch hier in Süddeutschland richtig heiß. Ich mag diese drückenden Sommertage, an denen die Luft vor Hitze schwirrt, und vor allem die klebrige Schwüle, die nach so einem ordentlichen Guss zu erwarten ist.

Lächelnd trete ich auf die Bremse und der Wagen kommt schlingernd zum Stehen. Okay, die tiefschwarze Wolke direkt über mir ist wohl doch noch nicht ganz leer. Meine Scheibenwischer kommen kaum gegen die herabprasselnden Tropfen an und ich will nicht blind bis zu meinem anvisierten Parkplatz mitten im Wald fahren.

Ich habe ja Zeit, es ist gerade mal kurz vor elf Uhr an einem Sonntagmittag. Niemand wartet auf mich, also kann ich den kräftigen Schauer gut hier aussitzen, da ich ohnehin kaum mehr als einen Meter weit sehen kann.

Eigentlich wollte ich heute ganz woandershin, aber ein innerer Drang führte mich hierher. Ein durchaus vertrautes Terrain. Ich bin Naturfotograf und treibe mich oft, mit der Erlaubnis der Waldpächter natürlich, in den unbefestigten Waldgebieten meiner Heimat herum, dort, wo es kein ausgebautes Wegenetz gibt und man keine Angst haben muss, dass einem Mountainbiker über die Zehen fahren.

Ich will das Ursprüngliche, das Wilde einfangen, das es hier trotz der Zivilisation noch reichlich gibt. Für mich müssen es auch nicht immer spektakuläre Aufnahmen sein wie ein Rudel Rehe oder ein Wasserfall, der tosend in die Tiefe stürzt. Das nehme ich natürlich mit, aber meine Bilder sind geprägt von Kleinigkeiten, winzigen Dingen, die man sonst gerne übersieht und die nur allzu oft in der Hektik der Zeit untergehen.

Tropfen auf einem sonnenbeschienenen Blatt, Moos, das den Jahreszeiten trotzt, ein schillernder Käfer, all die unbekannten Bewohner unserer Wälder.

Deshalb wollte ich heute ursprünglich weiterhin einer Fuchsfamilie folgen, die im Wald in der Nähe meines Hofs lebt. Die Welpen sind nun zwei Monate alt, freche Jungfüchse, voller Elan und Neugierde. Aber mein Herz lenkte mich hierher und da es mir schon oft genug ein guter Ratgeber war, folge ich ihm gern.

Dieser Wald hat etwas von einem Dschungel. Der Waldpächter, ein sehr engagierter junger Mann mit einem ausgeprägten Hang dafür, neue Dinge auszuprobieren, beteiligt sich seit drei Jahren an einer Studie, die erforscht, wie sich das Gelände renaturiert, wenn der Mensch nicht eingreift.

Es ist faszinierend, wie schnell sich die Natur verändert, wenn man sie machen lässt. Dieser Teil hier grenzt an einen versteckten, unzugänglichen Waldsee. Er ist für Badende völlig uninteressant, weil er gänzlich von Schilf umwachsen und bis auf eine Seite komplett versumpft ist. Näher als fünf Meter kann man nicht an das Ufer gelangen, aber für Wasservögel aller Art ist er ein Paradies.

Mein Ziel ist ein Hang an der schmalen Seeseite. Von dort aus hat man einen recht guten Blick auf das Wasser. Auch der Wald rundum ist beeindruckend. Direkt am sumpfigen Ufer wachsen mächtige Grauerlen, die mit dem sauerstoffarmen Boden gut klarkommen. Sie stehen an einer Stelle in einem fast perfekten Kreis, erinnern an einen alten, geheimen Kultort unserer keltischen Vorfahren.

Oft, wenn ich dort stundenlang sitze und darauf warte, dass die Bewohner des Waldes meine Anwesenheit akzeptieren, komme ich ins Träumen. Dann stelle ich mir vor, wie einst ein großes Feuer zwischen den mächtigen Stämmen brannte, Priester in langen, erdbraunen Kutten ihre magischen Rituale vollzogen, gefürchtet und verehrt von den abergläubischen Menschen in den verstreut liegenden Dörfern.

Ja, ich liebe meine Arbeit, die damit verbundene Einsamkeit, die Ruhe und das Gefühl, ein Teil des Waldes zu sein. Und heute, nach dem reinigenden Regen, wird es wieder völlig anders sein als sonst.

Wenn der Regen denn mal aufhören würde. Ich spähe durch die Windschutzscheibe nach oben und erhasche einen Blick auf deutlich größer gewordene, blaue Flecken, die die grauen Wolken verdrängen. Lange sollte es wohl nicht mehr dauern. Und tatsächlich, nur Sekunden später wird aus dem lauten Prasseln ein leises Tröpfeln und mein auf Hochtouren laufender Scheibenwischer quietscht über das fast trockene Glas.

Ich lasse das Seitenfenster herunter und die frische, mit den Gerüchen von Erde, Holz und Regen getränkte Luft herein. Ah, ich liebe es.

Abgesehen vom Tröpfeln des abfließenden Wassers ist es draußen völlig still. Als hole der Wald Atem, um sich für einen neuen Sommertag und die Hitze zu wappnen.

Zufrieden starte ich den Motor und setze vorsichtig meine Fahrt über den aufgeweichten Forstweg fort. Es geht noch gut einen Kilometer auf dem einigermaßen befestigten Weg geradeaus, dann biege ich rechts ab, öffne mit einem Schlüssel die provisorische Schranke und verschließe sie hinter mir wieder.

Bernd, der Waldpächter, hat ihn mir vor Monaten anvertraut. Das erleichtert meine Arbeit ungemein, auch wenn ich mich jedes Mal etwas schäme, sobald ich das Tor passiere. Er hat sich für diesen Freundschaftsdienst sicher mehr erhofft als hin und wieder ein Treffen im Wirtshaus. Aber leider ist er überhaupt nicht mein Typ. Nett, sehr intelligent und genauso begeisterungsfähig für unsere Heimat wie ich, aber mehr auch nicht. Er ist ein eher grobschlächtiger Mann, einer, der gern zupackt, hart arbeitet und trotz aller Widrigkeiten schon lange geoutet ist. Eigentlich perfekt, aber bei mir ist der Funke einfach nicht übergesprungen.

Leider.

Hinter der Schranke liegen noch gut fünfhundert Meter vor mir, bis ich an die Stelle komme, an der ich mein Auto stehen lassen muss.

Ich glaube, ich bin so ziemlich der Einzige, der den fast zugewachsenen ehemaligen Forstweg noch nutzt. Was auch Sinn ergibt, da vorne an der Sperre der eindeutige Hinweis angebracht ist, dass das Areal nicht betreten werden darf. Und wozu auch? Die meisten Touristen oder Sportler würden sich hier nur die Klamotten und Schuhe einsauen. Selbst ich, mit meiner Funktionskleidung, muss mir regelmäßig, vor allem im Sommer, einen Weg durch wuchernde Brombeeren bahnen und Umwege in Kauf nehmen, um an einen geeigneten Aussichtspunkt zu kommen.

Und wenn ich mich treiben lasse, so wie es heute wohl sein wird, gibt es gar nichts außer dem Kompass in meiner Tasche, das mich lenkt.

Ich bin wirklich gespannt, wo mich mein Gefühl heute hinführen wird. Ich spähe nach draußen und das Lichtspiel zwischen den tropfenden Bäumen entlockt mir ein Seufzen. Es dürfte interessant und ziemlich feucht werden.

Licht und Schatten, die Nässe des Regens... Ein wundervolles Zusammenspiel der Natur und Elemente.

2.

Langsam rutsche ich in meine Parkbucht und bin heilfroh, meine Ausrüstung dabeizuhaben, falls ich später in dem tiefen Boden festsitzen sollte. Ich mache mir nicht die Mühe, das Auto abzuschließen, und verstecke den Schlüssel im Fond unter der Fußmatte.

Mein Rucksack liegt gepackt im Kofferraum, ebenso meine Kamera. Ich brauche heute nicht viel, nur etwas zu trinken und ein Handtuch.

Als ich aufsehe, entdecke ich die ersten Mückenschwärme, die in den schräg einfallenden Sonnenstrahlen tanzen. Ich nutze keinen Schutz, weil ich den Geruch des chemischen Zeugs verabscheue und mich diese lecker duftenden Zitronencremes schon von Weitem den Wildtieren verraten. Lange Kleidung muss einfach reichen, sowie ein Hut und ein Handtuch, um meinen Nacken zu schützen.

Ich klappe behutsam den Kofferraum zu und sehe mich um. Dieses Aroma! Schwer, grün, lebendig. Der Dampf, der vom Waldboden aufsteigt, bildet dünne Schwaden und treibt wie Feenstaub zwischen den Bäumen umher. Langsam stimmen die Vögel ihren Gesang wieder an und kommen aus ihren Verstecken. Amseln und Buchfinken, das kurze Piepsen der Meisen, rechter Hand nimmt ein Specht seine Arbeit auf. Irgendwo keckert ein Eichelhäher und warnt die Waldbewohner vor einer Gefahr.

Ich finde es unglaublich schön, dass keine Alltagsgeräusche zu hören sind. Einige Sekunden habe ich das Gefühl, völlig allein auf der Welt zu sein. Nur ich, der Wald und die Tiere.

Ich spüre ein Lächeln auf meinem Gesicht und in mir drin. Eine tiefe Zufriedenheit. Jetzt bin ich völlig in meinem Element, nur die Natur, keine Menschen.

Ich weiß, ich bin ein Eigenbrötler, aber was soll's. Werden wir nicht alle oft genug enttäuscht? Irgendwann habe ich beschlossen, einfach allein zu bleiben. Meine Familie ist in alle Winde verstreut, meine Eltern sind tot. Und mit zweiunddreißig brauche ich niemanden mehr.

Was für seltsame Gedanken mich heute umtreiben. Normalerweise mache ich mir nicht so einen Kopf über mein Leben, sondern lebe es einfach.

Zweifel oder Sehnsüchte halten sich meist in Grenzen, da ich genau das Dasein führe, das ich mir wünsche.

Sicher gibt es hin und wieder den Gedanken, wie es wäre, zu lieben, zu jemandem zu gehören, aber ich verdränge das schnell. Das hier ist mir wichtig. Die Schönheit unserer Heimat in Bildern festzuhalten und sie auf Papier zu bannen. Zwischenmenschliche Dinge sind mir zu anstrengend und kompliziert, da bleibe ich lieber allein.

Meine Schuhe versinken im moosüberwachsenen, mit Wasser vollgesogenen Boden. Rechts haben sich kleine Tümpel zwischen den Bäumen gebildet, abgestorbene Äste liegen kreuz und quer im Wasser. Kröten in allen Größen hüpfen davon, als sie die Erschütterung meiner Schritte spüren. Putzige, winzige Dinger, nicht größer als die Kuppe meines kleinen Fingers.

Langsam klettere ich über die zugewachsenen, alten Stämme, berühre die seidige Oberfläche der Baumschwämme, die in Massen auf dem Totholz wachsen. Zunder, der sich gut zum Feuermachen verwenden lässt und ein schwach wirkendes Antibiotikum ist.

Gedankenversunken bemerke ich etwa hundert Meter weiter, dass ich vom kaum sichtbaren Weg abgekommen bin. Nicht weiter tragisch, aber eigenartig, da ich die Gegend doch recht gut kenne.

Der Hang, den ich als Beobachtungsposten beziehen wollte, liegt ein Stück weit links hinter mir. Soll ich zurück? Ich runzle verwirrt die Stirn, weil sich alles in mir dagegen sträubt.

Nein.

Mein Instinkt treibt mich weiter Richtung Baumkreis. Ich will den Hang hinabklettern, aber wieder fühlt es sich falsch an.

Hinter mir ist der Wald beinahe undurchdringlich und gut zwei Kilometer breit, ehe er an einer bewirtschafteten Wiese endet. Die Sonne findet vereinzelt ihren Weg auf den dick mit Tannennadeln bedeckten Boden, wo keine Pflanzen wachsen, weil es zu dunkel ist.

Dorthin? Okay.

Ich rücke meinen Rucksack zurecht und stutze abermals, bin aber gewillt, den Kampf gegen das Unterholz aufzunehmen.

Was war das? Ich halte den Atem an und bleibe stocksteif stehen.

Ich kenne alle Vogelstimmen der heimischen Arten, aber für einen Moment war mir so, als hätte sich ein gänzlich fremdartiger Gesang dazu gemischt. Anders, melodiöser, sanfter und ungemein verlockend, auch wenn ich über diese Beschreibung den Kopf schütteln muss.

Seltsam.

Ich mache einen Schritt in Richtung des Gesangs und verharre erneut. Etwa vierzig Meter entfernt, jenseits des Tannengürtels, in dem Bereich, wo sich zwischen die Nadelbäume wieder alte Eichen und Erlen mischen, glitzert etwas unnatürlich hell. Die Sonne? Mit Sicherheit, aber worin spiegelt sie sich? Dort gibt es kein Wasser, das sie reflektieren könnte, und das Aufblitzen war stärker als jeder Regentropfen es hätte hervorrufen können.

Da!

Schon wieder!

Der sanfte Wind versetzt das Laub in Bewegung, der Einfallswinkel des Lichtes ändert sich und erneut blitzt es so hell auf, dass ich wegsehen muss.

Jetzt kenne ich mein Ziel, genau da will ich hin. Ohne den möglichen Ursprung des Glitzerns aus den Augen zu lassen, mache ich mich auf den Weg. Neugierde treibt mich an, hinein in die Dunkelheit der Tannen und auch wenn es schwierig ist und ich ständig dürre Äste aus meiner Kleidung und meinen Haaren ziehen muss, will ich dort hin.

Meine Schritte sind kaum zu hören, es knistert lediglich, da ich mir langsam und bedächtig den Weg suche und es vermeide, auf trockene Äste zu treten. Nach kurzer Zeit erreiche ich den Rand des Tannenwaldes und orientiere mich erneut.

Der helle Fleck ist gerade nicht zu sehen, aber ich habe mir ein Wegzeichen eingeprägt. Ein junger Baum, dessen Stamm einen unnatürlichen Bogen macht. Wahrscheinlich ist die Pflanze nicht stark genug, um gegen die umliegenden, älteren Bäume zu bestehen und wird bald umstürzen. 

Das kommt mir gerade sehr gelegen. Ich muss einen Umweg in Kauf nehmen, weil der Boden durch den anhaltenden Regen so matschig ist, dass ich wohl bis zu den Knöcheln versinken würde. Immer wieder sehe ich auf und hoffe, dass sich das gleißende Licht noch mal zeigt, aber ich werde enttäuscht.

Habe ich mich geirrt? War es nur eine Sinnestäuschung? Mein Instinkt stemmt sich vehement dagegen und treibt mich weiter.

Plötzlich fällt mir die Stille ringsherum auf. Ich verharre und lausche gespannt. Nein, keine Vögel, kein Geraschel im Unterholz, gar nichts. Unwillkürlich stellen sich meine Nackenhaare auf und eine Gänsehaut überzieht unangenehm meinen Rücken. Trotzdem ist es nicht so, als stünde eine unmittelbare Gefahr bevor, sondern eher, als würde mich das Schicksal in diese Richtung schubsen und sich genüsslich die Hände reiben.

Für eine Sekunde überlege ich ernsthaft, umzukehren, aber mein Körper hält dagegen und meine Beine verweigern den Dienst. Nein, ich will nicht kneifen und außerdem bin ich viel zu neugierig.

Ich will wissen, was dort drüben ist, auch wenn es sich nur um eine verirrte Plastiktüte, oder etwas ähnlich Banales handelt. Zumindest kann ich dann gleich etwas für die Umwelt tun und sie einsammeln.

Ich gehe weiter. Noch immer umgibt mich absolute Ruhe, selbst der Wind hat sich gelegt, was dazu führt, dass es drückend heiß wird. Schweiß rinnt meinen Rücken hinab und verstärkt das eigenartige Gefühl.

Da!

Ich halte die Luft an und die Stille rauscht in meinen Ohren. Die Sonne hat den Gegenstand erneut getroffen und ich korrigiere meinen Weg weiter nach rechts. Ich platsche laut in eine wassergefüllte Vertiefung, die unter dichten Grasbüscheln verborgen liegt, und fluche verhalten, als mir das Wasser oben in den Schuh hineinläuft. Ich halte mich an einem Baum fest und schüttle den Fuß, was natürlich nichts bringt.

Die kurze Unterbrechung ärgert mich, da ich fast da sein muss.

Ein dichter Holunderbusch, durch das kalte Frühjahr noch über und über mit weißen, betörend duftenden Blütendolden bedeckt, verhindert, dass ich einen Blick auf die sonnenbeschienene, winzige Lichtung direkt vor mir werfen kann.

Eine Wolke zieht vor die Sonne, verdunkelt schlagartig den Himmel und für Sekunden wird es deutlich kühler und das Schimmern erlischt.

Der Holunderstrauch ist ziemlich alt und die Größe nicht zu verachten. Ich muss zwei Meter nach rechts ausweichen und dabei durch fast kniehohe Brombeeren stapfen, was meine Aufmerksamkeit völlig in Anspruch nimmt, weil ich keine Lust habe, hängen zu bleiben und mit dem Gesicht voran in den haarfeinen Dornen zu landen.

Dann ist es geschafft. Ich suche noch den Boden nach weiteren Fallstricken ab, als ich an meinem oberen Sichtfeld buschiges Gras und goldene Flecken auszumachen glaube. Ich quetsche mich um eine mächtige Eiche herum, die den direkten Weg auf die Lichtung versperrt, und bin endlich am Ziel.

Sprachlos, mit offenem Mund erstarre ich und blicke auf die winzige offene Fläche inmitten des Waldes.

Ich bin so verblüfft, dass ich meinen Rucksack ebenso fallen lasse wie meine Kamera, die Gott sei Dank auf meinem Gepäckstück landet und so keinen Schaden nimmt.

Was zur Hölle…?

Meine Kehle wird trocken, während ich mich mit einer Hand am Stamm hinter mir abstütze und versuche, den Anblick irgendwie zu verstehen.

Ich kneife mehrmals die Augen zusammen, reiße sie wieder auf und starre auf das sich mir bietende Bild.

Nein, offensichtlich träume oder halluziniere ich nicht. Weder verschwindet der Anblick, noch ändert er sich. Meine Kehle wird eng, mein Körper scheint wieder zu funktionieren und dennoch kann ich nicht fassen, was ich da sehe.

Was ich sehe, ist ausgesprochen exquisit, völlig verrückt und abwegig, aber von solch überwältigender Schönheit, dass ich total vergesse, normal und angebracht zu handeln und stattdessen dastehe und glotze.

Immerhin liegt vor mir auf der kleinen Grasfläche ein nackter, offensichtlich bewusstloser Mann.

Das allein ist im Grunde schon unmöglich und kaum zu toppen, aber das unwirkliche Bild wird von den Abertausenden goldfarbenen Federn verstärkt, die wirr um ihn herum auf dem Boden liegen, als sei ein Kopfkissen explodiert. Der Flaum der zarten Gebilde vibriert sachte im wieder aufgefrischten Wind, manche fliegen auf, wehen davon oder bleiben an seinem Körper haften.

Er selbst, ich schlucke den Kloß in meinem Hals hinunter, liegt wie hingegossen da, wie ein altgriechischer Gott, den ein sehr begabter Bildhauer in Marmor gemeißelt hat.

Langsam tröpfelt die Unmöglichkeit dieser Szene in mein Gehirn, ist aber, so absonderlich seine Anwesenheit auch ist, kein Störfaktor, sondern fügt sich in die umliegende Natur perfekt ein.

Wie soll ich es beschreiben? Er ist ein Teil dieses Waldes, der Natur. Mein Gefühl bestätigt sich, als unvermittelt die Vögel ihren Gesang aufnehmen, näher kommen und trotz meiner Anwesenheit die Bäume rings um die Lichtung belagern.

Ein winziger, unverfrorener Zaunkönig schnappt sich keine fünf Zentimeter von der kräftigen Hand des Bewusstlosen entfernt eine Flaumfeder und hüpft seelenruhig, ohne Angst oder Argwohn, auf die Schulter des Mannes.

Ich schüttle den Kopf und wische mir den Schweiß von der Stirn. Langsam spinne ich echt und frage mich, ob hier irgendwo eine versteckte Kamera ist. Einen Sonnenstich kann ich ausschließen, so lange bin ich noch nicht unterwegs. Seltsamerweise verspüre ich eine große Scheu, ihn direkt anzusehen, geschweige denn zu berühren. Was ich allerdings ziemlich bald tun sollte, da ich ihn wohl kaum hier liegen lassen kann.

Einen Rettungswagen zu holen, kommt nicht infrage, weil der es erstens nicht hierhin schaffen würde und ich zweitens gar nicht wüsste, wie ich den Weg beschreiben sollte. Und es erscheint mir wie ein Frevel, diesen Frieden hier zu stören, was natürlich Blödsinn ist, da er offensichtlich verletzt ist und Hilfe braucht. Über den Umstand, wie er überhaupt hierhergekommen ist, will ich erst gar nicht grübeln, da mir allein der Gedanke Kopfschmerzen beschert.

Ich atme tief durch, stehe auf und nähere mich dem regungslosen Mann. Meine vorsichtigen Schritte wirbeln die Federn auf und lassen sie in der Sonne glänzen. Zweifellos haben sie das Sonnenlicht reflektiert. Ich habe so etwas noch nie gesehen. Wahnsinn! Sie wirken wie aus massivem Gold gegossen, dennoch so leicht und filigran wie ganz gewöhnliche Federn. Ihr Glanz hingegen ist fremdartig und blendet mich. Eigentlich können sie nur künstlich sein, da so etwas selbst die Natur nicht zustande bekommt.

Ich seufze abermals und gehe in die Knie. Der Mann liegt halb auf dem Rücken, halb auf der linken Seite. Sein Kopf ruht auf dem linken Arm, der ausgestreckt fast bis an die stacheligen Brombeerbüsche reicht.

Himmel, er ist eine Schönheit. Genauso unwirklich wie die Federn. Hellblondes Haar fällt in ein markantes Gesicht mit hohen Wangenknochen und einem wunderschön geschwungenen Mund, der leicht offen steht. Seine Nase hat einen kleinen Höcker, vielleicht hat er sie sich irgendwann einmal gebrochen. Sein Körper ist schlank, aber muskulös wie der eines Athleten.

Ein Windstoß bringt die umliegenden Federn zum Tanzen, wirbelt sie auf und bläst die Haarsträhne über seinen Augen fort. Sie sind geschlossen und von unverschämt langen, hellblonden Wimpern umrahmt, die so dicht sind, dass sich darunter leichte Schatten bilden.

Eine Träne rinnt über seine Wange und ich kann gerade noch widerstehen, sie wegzuwischen. Sein Anblick ist hypnotisch, wie etwas, das man immer und immer wieder betrachten will, weil die Perfektion ein irrsinniges Glücksgefühl in einem auslöst.

Aber ich muss ihn hier wegbringen, so viel steht fest. Mein Blick gleitet über den wohlproportionierten Körper und ich frage mich, wie ich das anstellen soll. Mein Mund wird plötzlich trocken und ich kämpfe unvermittelt gegen gänzlich unangebrachte Lust.

Er dürfte circa einen Meter achtzig sein, also fast so groß wie ich, und… er ist völlig unbehaart. Mein Blick bleibt auf seinem Unterleib hängen, da nichts seinen Penis verbirgt.

Nicht gut. Gar nicht gut. Das Gegenstück in meiner Hose regt sich, was erstens völlig unpassend und zweitens reichlich störend ist.

Hastig lenke ich meine Aufmerksamkeit wieder nach oben.

Kräftige Oberschenkel und Waden, er wirkt gepflegt. Seine Füße sind völlig sauber, so der Rest seines Körpers, außer dort, wo er den Boden berührt. Ich runzle die Stirn. Wie ist das möglich? Er kann doch nicht... Unwillkürlich sehe ich nach oben zu den Baumwipfeln, verwerfe den Gedanken aber sofort wieder.

Der Mann scheint unverletzt zu sein. Zumindest sehe ich nirgends Blut, keine Wunden oder grotesk abstehende Gliedmaßen, die auf Knochenbrüche schließen ließen. Einfach nur bewusstlos. Vielleicht hat er am Rücken irgendwelche Verletzungen? Himmel, um dort nachzusehen, müsste ich ihn anfassen.

Ich bin so ein Idiot. Wenn ich ihn hier raus trage, muss ich ihn zwangsläufig anfassen.

Ein leises Stöhnen jagt mich auf die Beine. Sein Gesicht verkrampft sich für eine Millisekunde, eine Gänsehaut überzieht seinen Leib und lässt mich ebenfalls schaudern. Wacht er auf? Atemlos starre ich ihn an, aber nichts weiter passiert. Ein Schatten zieht über sein Gesicht, ein Hauch von Schmerz oder Angst, dann wird er wieder ruhig.

Einige Sekunden später ist sein Atem völlig gleichmäßig, seine Brust hebt und senkt sich in einem kraftvollen Rhythmus, der an tiefen Schlaf, aber nicht an einen Unfall erinnert.

Fasziniert betrachte ich seine ausgeprägte Brust und die zusammengezogenen Nippel, deren Hof dunkler ist als seine sonst recht blasse Haut.

Mich juckt es in den Fingern, diese unverschämt seidig wirkende Haut zu berühren. Mühsam reiße ich mich von seinem Anblick los und umrunde ihn, um an seinem Rücken nach möglichen Verletzungen zu suchen.

Was soll ich sagen? Es wird nicht besser. Tatsächlich macht mich seine Rückseite fast noch mehr an, vor allem die kleine Tätowierung auf dem Übergang zwischen seinem Rücken und dem wohlgerundeten Hintern. Eine tiefgoldene, sehr präzise gestochene Feder, die denen gleicht, die rund um ihn herum verstreut liegen. Sexy.

Auch dort finde ich keine Schrammen oder Schlimmeres.

Seufzend richte ich mich auf, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Es wird Zeit, endlich zu handeln. Ich kann jetzt hier stehen bleiben und mir stundenlang den Kopf darüber zerbrechen, wie zum Henker er hierhergekommen ist, oder ich beschäftige mich mit seiner Rettung.

Letzteres ist natürlich sinnvoller und eine Erklärung kann er mir geben, sobald er wieder bei Bewusstsein ist. Auf die bin ich echt gespannt, weil ich auch nirgends Kleidung, geschweige denn Gepäck oder so was in der Art sehe.

Als wäre er vom Himmel gefallen, schießt es mir erneut durch den Kopf, was ich lachend abtue, dennoch gleitet mein Blick abermals nach oben und sucht das Blau ab. Schwebt da irgendwo ein Ballon oder hängt vielleicht das Geschirr eines Fallschirms in den Bäumen? Allerdings würde das auch nicht erklären, warum er nackt ist.

Nichts davon ergibt irgendeinen Sinn, lässt mich aber nicht los. Jedoch findet sich leider rein gar nichts, was mir einen Hinweis auf das Wie geben könnte. Der blonde Adonis liegt hier wie hergebeamt, wunderschön, anmutig, rein, wie frisch geschlüpft. Toller Vergleich, passt hervorragend zu den Federn, stelle ich grinsend fest.

Ein Windstoß wirbelt durch die Blätter der dicht stehenden Bäume und verscheucht die unsinnigen Gedanken. Eine Rotbuche, noch mit dem glänzend hellgrünen Blätterkleid des Frühlings, streckt ihre Äste über die Lichtung. Auf den Blättern haben sich Regentropfen gesammelt, die nun als leichter Schauer auf den Mann hinabregnen und die Sonnenstrahlen in allen Regenbogenfarben widerspiegeln.

Atemlos betrachte ich, wie sie auf seine helle, zarte Haut prallen, sich zu perfekten kleinen Kugeln zusammenziehen, ehe einige über seinen Rücken rinnen.

Himmel, ist das erotisch! Dieses Glitzern, die feuchte Bahn des Regenwassers, wie es langsam, beinahe einer Liebkosung gleich, über seine Haut fließt… Mir läuft regelrecht das Wasser im Mund zusammen.

Mein Atem beschleunigt sich unvermittelt. Die Vorstellung, wie es wäre, dieses Bächlein aufzunehmen, wie meine Zunge über seinen Körper gleitet, ich ihn lecke… Wenn es statt Wasser seine Tränen wären, weil ihn seine Lust so verletzlich und weich macht, Lust, die ich ihm bereite…

Großer Gott! Was habe ich nur für Gedanken? Ehe ich zurückweichen kann, steigt mir ein fremdartiger Duft in die Nase. Wow! Was ist das nun wieder? Unwillkürlich beuge ich mich über den Mann und sauge die Luft tief in meine Lungen. Dort, wo seine Haut feucht geworden ist, entsteigt ihr ein süßes Aroma. Eine Mischung aus Kakao, Ananas und Vanille.

Ich knurre und beiße die Zähne zusammen. Als ob er nicht so schon zum Anbeißen wäre, duftet er auf unerklärliche Weise wie ein Weihnachtsplätzchen.

Es wird wirklich Zeit, dass ich aus der Sonne komme und ihn hier wegbringe. Auf einmal wird es dunkel und die Sonne verschwindet hinter einer Wolke.

Mein Blick nach oben entlockt mir einen hässlichen Fluch und treibt mich zur Eile. Aus der Richtung, in der mein Auto steht, zieht eine tiefgraue Wolkenbank heran. Anscheinend hat der Wettergott entschieden, dass es genug Sonne für heute war.

Hin- und hergerissen stehe ich mit ausgestreckten Armen über dem Mann und weiß nicht so recht, was ich tun soll. Okay, zuerst packe ich meine Kamera in den Rucksack und schultere ihn. Sollte es regnen, muss ich danach wenigstens nicht meine Ausrüstung entsorgen.

Ich zurre den Bauchgurt des Trekkingrucksacks fest und betrachte den Mann erneut, um abzuwägen, wie ich ihn am besten zu meinem Auto schaffe. Er dürfte nicht ganz leicht sein, aber ich bin recht kräftig, weil ich körperliche Arbeit genieße und auf meinem kleinen Biohof genügend davon habe.

Trotzdem zögere ich. Trödle rum, lasse meine Blicke immer wieder verstohlen über ihn gleiten. Irgendwann gestehe ich mir ein, dass die Vorstellung, ihn zu berühren und auf so intime Weise nackt zu tragen, ein Problem ist, beziehungsweise das, was es auslöst: Verlangen.

Er ist wie eine verbotene Süßigkeit, von der man weiß, dass sie einem nach dem Genuss schwer im Magen liegen wird. Und was bei ihm noch dazukommt: Er dürfte nicht nur schwer verdaulich sein, sondern mir auch ein blaues Auge verpassen, sollte ich meinen Gelüsten nachgeben.

Hilft aber alles nichts. Ich habe keine Wechselkleidung für ihn im Auto, der Hin- und Rückweg würde auch viel zu lange dauern und ihn hier allein liegen zu lassen, ist ohnehin keine Option.

Unwillkürlich muss ich lachen, was sich allerdings reichlich hysterisch anhört. Das Geräusch scheucht die Vögel auf, die frech die seltsamen Federn klauen. Ich könnte ihn mir ja über die Schulter werfen. Diese Art des Tragens ist ja lange nicht so, wie soll ich sagen, vertraulich, aber die Vorstellung, seinen entzückenden Hintern direkt neben meinem Gesicht zu haben, ist alles andere als hilfreich.

Großer Gott, was stimmt mit mir eigentlich nicht? Da liegt ein, wahrscheinlich verletzter, Mann und ich reagiere wie ein schwanzgesteuerter, notgeiler Vollidiot, der seine fünf Sinne nicht mehr beieinanderhat.

Ich presse die Fäuste auf meine Augen und atme bewusst tief durch. Was blöd ist, da mich sein Aroma aus exotischen Früchten und stimulierendem Kakao fast umhaut.

Verdammter Mist!

Jetzt stell dich doch nicht so bescheuert an, spreche ich mir selbst Mut zu und trete fest entschlossen näher an ihn heran. Er ist so, so… wunder, wunderschön.

Blödmann! Hör auf, wie ein Süchtiger zu reagieren, dem der Stoff das Gehirn weggepustet hat.

Ich umrunde ihn und seufze vernehmlich. Das wird einer der schwersten Gänge meines Lebens. Jetzt kann ich nur noch hoffen, dass er bitte, bitte so lange bewusstlos bleibt, bis ich ihn wenigstens in meinem Auto habe.

Nervös reibe ich mir die Hände und schlucke. Ganz behutsam versuche ich, ihn erst einmal auf den Rücken zu drehen, um ihn besser aufrichten zu können. Kaum liegt er gerade, stöhnt er erneut und verzieht schmerzerfüllt das Gesicht. Vielleicht hat es ihn irgendwo am Rücken erwischt, was ich bis jetzt durch seine Lage noch nicht sehen kann.

Als ich ihn endlich in halbwegs sitzender Position habe, sehe ich den Schlamassel und weiß jetzt, wo die Schmerzen herkommen. Keine offenen Wunden, aber unterhalb seiner Schulterblätter bilden sich riesige Hämatome, als hätte man mit einem Gegenstand von der Größe eines Esstellers auf ihn eingeprügelt. Das dürfte den Transport nicht wirklich angenehmer für ihn machen, aber ich kann ihn unmöglich tragen, ohne diese Stellen zu berühren.

Da muss er jetzt einfach durch. Wieder denke ich kurz daran, einen Krankenwagen zu rufen, da mit einer Trage der Transport weitaus einfacher gehen würde, aber wie soll ich den Sanitätern das hier erklären? Nein, das geht nicht, ohne mich selbst verdächtig zu machen.

Entschlossen beuge ich mich zu ihm. Ich lege seinen rechten Arm um meinen Nacken, umfasse seinen Rücken und greife mit meiner rechten Hand unter seine Knie. Als ich mich auf wackligen Beinen aufrichte, stöhnt er erneut erbärmlich, erwacht aber gnädigerweise nicht.

Ich schwanke leicht, da er leichter ist als erwartet. Sein Gewicht könnte das eines Jugendlichen sein, aber so jung ist er definitiv nicht mehr. Egal, das macht es für uns beide angenehmer.

Während ich leise flüstere und beruhigende Worte murmle, die gleichermaßen mir wie ihm gelten, suche ich einen leicht zu bewältigenden Weg zurück zu meinem Auto.

Da mich diese Aufgabe voll in Beschlag nimmt, bemerke ich erst nach etlichen Metern die ungewöhnliche Szene. Statt sich jetzt ungestört über die goldenen Federn herzumachen, bemerke ich, dass die Vögel uns begleiten. Irritiert registriere ich Amseln, Finken, Meisen und sogar ein paar kräftige Greifvögel, die eigentlich nur zum Ruhen in den dichten Wald fliegen.

Ich erreiche meinen Wagen schneller als gedacht. Über uns donnert es laut. Der Wind frischt deutlich auf und auch ohne den Verletzten würde ich mich angesichts der schwarzen Wolken auf den Heimweg begeben.

Jetzt stehe ich mit ihm auf dem Arm da und überlege, wie ich mein Auto aufbekomme. Es erscheint mir wie ein Frevel, ihn einfach wie eine Einkaufstasche auf dem Boden abzulegen, aber mit einer Hand bekomme ich den Kofferraum nicht auf. So ein Mist.

Schließlich ringe ich mich zu einem Kompromiss durch, knie mich mit ihm hin und bette seinen Oberkörper weiter an meiner Brust, damit ich seinem Rücken wenigstens den unebenen Untergrund erspare.

Es klappt, wenn auch mühsam. Mit viel Anstrengung kann ich die Klappe nach oben drücken und mich mit meiner Last wieder erheben. Da ich ein leichter Ordnungsfanatiker bin, herrscht in meinem Auto Sauberkeit und Leere, sodass ich ihn vorsichtig auf die mit Teppich ausgekleidete Ladefläche betten kann. Sachte lege ich ihn nieder, krame eine Decke hervor und breite sie über ihm aus. Sofort wird sein typischer Eigengeruch milder und ich kann wieder besser atmen und auch denken. Nicht, dass er mir nicht gefällt, nein. Eher deshalb, weil ein anderer, momentan völlig lästiger Körperteil so darauf anspringt und mich mit seiner Aufmerksamkeit ablenkt und wortwörtlich im Weg ist.

Seufzend richte ich mich auf und betrachte ihn mitfühlend. Der Mann leidet, das zeigt sich deutlich. Aber ich bin wohl nur am Rande schuld daran. Inzwischen geht sein Atem stoßweise und Schweißperlen glänzen auf seiner Stirn. Er scheint wirklich starke Schmerzen zu haben.

Er muss zu einem Arzt, das steht fest. Trotzdem… Ich weiß nicht, was es ist, aber obwohl alles dafür spricht, widerstrebt mir das. Hier gibt es zu viele Ungereimtheiten, seine fehlende Kleidung, der Fundort, seine körperliche Unversehrtheit… Was es auch ist, ich will ihn nicht in einem Krankenhaus abgeben, ohne irgendetwas über ihn zu wissen.

Jetzt fahre ich erst einmal zurück und verständige dann meinen Hausarzt, der ganz in der Nähe wohnt und auch sonntags Hausbesuche macht, wenn sie nötig sind.

Es kracht über mir, innerhalb von Sekunden wird es stockdunkel und der Wind wird unangenehm, treibt Blätter vor sich her. Ich sollte schauen, dass ich hier wegkomme.

3.

Zwanzig Minuten später erreiche ich meinen kleinen Hof. Wobei Hof etwas verwirrend klingt. Ich besitze keine Tiere, da ich als Fotograf oft unterwegs bin.

Stattdessen habe ich den angrenzenden Stall an eine junge Familie aus dem Nachbardorf verpachtet, die ihre Kaninchen und Zierhühner dort hält. Die umliegenden Wiesen werden von den Bauern der Umgebung bewirtschaftet. So habe ich hier meistens meine Ruhe. Mein einziges Faible sind exotische Pflanzen und Gemüse. Im ehemaligen Bauerngarten wachsen Blumen aus aller Herren Länder und hinter dem Haus, auf einer Wiese, die ich behalten habe, stehen zwei große Gewächshäuser für die empfindlicheren Mitbringsel und Orchideen.

Ich wende auf dem kleinen Vorplatz und fahre mit dem Heck so nah wie möglich an die Haustür heran. Leider schüttet es abermals wie aus Kübeln und ich werde ihn kaum ganz trocken hineinbringen.

Zehn Minuten später liegt er endlich auf dem Bett und ich kann seinen ansehnlichen Körper mit einer warmen Wolldecke verhüllen, da er im Gegensatz zu mir den Eindruck macht, er würde frieren.

Um ihm ein wenig Ruhe zu gönnen und mir zu überlegen, ob ich gleich den Arzt hole, parke ich mein Auto in der Garage und räume meine Ausrüstung weg, wobei ich gleich kontrolliere, ob sie bei dem Abenteuer etwas abbekommen hat.

Ich schinde Zeit und drücke mich um den Anruf, weil ich es aus einem mir unbekannten Grund falsch finde. Mehrmals gehe ich zur Treppe, finde aber immer wieder einen Grund, nicht zu ihm hinaufzugehen. Ich fürchte mich regelrecht, das Zimmer wieder zu betreten.

Warum? Ist meine unerklärliche Faszination für ihn wirklich der einzige Grund? Oder eher die Tatsache, dass alles, was mit ihm zusammenhängt, irgendwie nicht in die Realität passt? Der Fund und der Mann haben etwas Märchenhaftes, Magisches an sich. Das passt absolut und erklärt mein Zögern.

Ich mag es gern einfach und überschaubar, plane mein Leben recht minutiös, was auf andere schon mal exzentrisch oder gar leicht wahnhaft wirkt. Und mal ehrlich, dieser Mann samt seiner goldenen Federn, dem exquisiten Geruch und einem Körper, nach dem sich jeder die Finger ablecken würde, kann nur eines bedeuten: Schwierigkeiten.

Aber es hilft nichts. Ich habe meine Komfortzone in dem Moment verlassen, als ich beschloss, meiner Intuition zu folgen und in den Wald zu fahren. Jetzt ist er hier und ich muss mit den Konsequenzen leben und die Verantwortung für ihn übernehmen.

Ich seufze einmal laut und vernehmlich und koste es aus, mich so richtig in Selbstmitleid zu suhlen, ehe ich mit festen Schritten und neuer Entschlossenheit ins Bad gehe und eine Schüssel mit warmem Wasser fülle.

Erst mal will ich sehen, ob ich ihn nicht irgendwie wach bekomme, ehe ich meinen Arzt anrufe.

 Als ich in mein Schlafzimmer komme, rieche ich ihn sofort wieder. Seltsamerweise beruhigt mich sein ungewöhnlicher Duft, denn er macht diese ganze Sache realer und weniger verrückt. Er hat sich wie ein Baby zusammengerollt und liegt auf der rechten, mir abgewandten Seite. Sein Rücken ist inzwischen tiefblau, mit einem violetten Einschlag. Eigentlich eine hübsche Farbe, käme sie nicht von riesigen Blutergüssen.

Schließlich gelingt es meiner Vernunft, die Oberhand zu gewinnen und ich tue, was ich tun muss. Die stille Arbeit gibt mir Sicherheit und lässt mein Verlangen nach ihm in den Hintergrund weichen. Vorsichtig säubere ich seine Haut dort, wo er vorhin auf dem Waldboden gelegen hat. Die Bewusstlosigkeit ist so tief, dass er davon offensichtlich überhaupt nichts mitbekommt, auch wenn ich manchmal das Gefühl habe, dass er gleich aufwachen würde. Doch als ich ihn notgedrungen auf den Rücken drehe und mein Werk vollende, stöhnt er nur gedämpft, wehrt sich aber nicht.

Nach einer halben Stunde bin ich zufrieden und bette ihn wieder auf die rechte Seite. Von der breiten Glastür fällt mehr Licht in den Raum. Ich will so vermeiden, dass er in Panik gerät, weil er nicht weiß, wo er sich befindet, sollte er aufwachen.

Rund um den ersten Stock des Hauses verläuft ein Balkon und auf dieser Seite ist die Tür. Sollte er erwachen, hat er einen ungehinderten Blick auf eine weitläufige Wiese und den angrenzenden Wald.

Seufzend richte ich mich auf und weiß, dass ich nun nicht darum herumkomme, den Arzt zu verständigen. Sein Zustand ist einfach nicht normal und es wird Zeit, dass ich mir eine Ausrede für ihn einfallen lasse.

Ehe ich ihn ganz zudecke, reibe ich seinen Rücken behutsam mit einer selbst gemachten Salbe aus Arnika und Ringelblumen ein. Egal, wie vorsichtig ich auch bin, er wimmert leise und zuckt zusammen. Oh Mann, er muss echt Schmerzen haben. Ich hoffe, das wird nicht noch schlimmer.

Schließlich ist mein Werk vollbracht. Er liegt jetzt völlig entspannt da, seine Atemzüge zeigen mir, dass er wohl in einen tiefen Schlaf gefallen ist. Vorsichtig decke ich ihn ganz zu und verlasse das Zimmer, um die Schüssel zu leeren.

Als ich wiederkomme, betrachte ich den jetzt friedlich schlafenden Mann ein paar Minuten nachdenklich und zögere den Anruf weiter hinaus.

Seine Schönheit hat sich irgendwie… vertieft. Als käme sie jetzt erst richtig zum Vorschein, nachdem er in Sicherheit ist.

Ich kaue auf der Innenseite meiner Wange und mir wird eines klar: Ob bewusst oder unbewusst, dieser Mann wird mir das Herz brechen.

Zögernd sinke ich neben dem Bett auf die Knie und sehe ihn an. »Ich rufe jetzt einen Arzt«, flüstere ich und fühle mich ganz und gar nicht wohl dabei.

Zu meiner Überraschung scheinen meine Worte zu ihm durchzudringen, da er sich verkrampft und ein paar Mal den Mund öffnet und wieder schließt. Er stöhnt leise, kneift seine Augen zusammen, scheint aber immer noch weit weg zu sein.

Schnell komme ich auf die Beine und beuge mich über ihn. Als ich mein Ohr dicht an seine Lippen bringe, flutet sein Duft meine Sinne und mir wird beinahe schwindelig. Dennoch höre ich seine leisen, undeutlichen Worte: »Nicht… Arzt. Nur schlafen.«

Ich richte mich auf und lege meine Hand vorsichtig auf seine Stirn. Meine Finger zittern, aber das ist wohl verständlich. Antworten kann ich ihm nicht, da mir die Zunge am Gaumen festzukleben scheint und mich seine stockenden Worte mitten ins Herz treffen.

Kein Arzt also. Aus einem mir unerfindlichen Grund beschließe ich, ihm zu vertrauen und auf mein Gefühl zu hören.

Und dann heißt es warten. 

Stunden vergehen. Ich tigere rastlos durch das Haus, versuche, meine Arbeit zu erledigen und kehre dabei in regelmäßigen Abständen ins Schlafzimmer zurück. Seine reglose Anwesenheit macht mich unruhig, gleichzeitig erfüllt seine Präsenz den Raum mit Tiefe und einer nicht greifbaren Wärme. Als wäre er etwas Altes, ein Wesen, das eine unerklärliche greifbare Macht innehat.

Ich sehe schon, mein Verstand verabschiedet sich langsam, aber sicher. Nüchtern betrachtet liegt er genauso reglos im Bett, wie ich ihn vorhin abgelegt habe. Zumindest zeigt er nach wie vor keine Anzeichen von Verschlechterung.

Sein Rücken verändert sich allerdings auf erschreckende Weise: Die Blutergüsse vergrößern sich und bedecken inzwischen seine ganzen Schultern bis hinab auf gut die Hälfte seines Rückens. Würde mich echt interessieren, wie die entstanden sind. Vor allem, da der ansehnliche Rest seines Leibes völlig unversehrt ist.

Ich kann nichts anderes tun, als meine Visiten weiterzuführen und darauf hoffen, dass er irgendwann zu sich kommt, bis der Nachmittag schließlich in den Abend übergeht. Meine Pflanzen sind versorgt und der Gemüsegarten hat das Unwetter ohne gravierende Schäden überstanden. So langsam plagt mich Hunger, auch wenn ich ein schlechtes Gewissen habe, da mein Gast keine Anstalten macht, die Augen zu öffnen.

Vorsorglich habe ich neben seinem Bett eine Flasche Wasser und ein paar Kekse hingestellt, sollte sich das in meiner Abwesenheit ändern.

Nach einem neuerlichen Besuch an seinem Bett bemerke ich zumindest eine winzige Veränderung. Er hat sich im Schlaf etwas gedreht. Seine Hände bettet er nun unter seinem Kopf und das Kissen ist zusammengeschoben, als habe er es sich bequemer machen wollen.

Wie jung er wirkt, verletzlich und so erotisch wie ein Granatapfel. Dabei dürfte er in meinem Alter sein, oder höchstens ein wenig jünger.

Eine blonde Strähne hängt über seinen Augen und scheint ihn zu kitzeln, weil er auf hinreißende Weise die Nase rümpft. Kurz flattern seine hellen Wimpern und ich halte unwillkürlich den Atem an. Aber nichts geschieht.

In mir wird es warm, dieses sanfte, flauschige Gefühl von Fürsorge nimmt in meinem Herzen weiteren Raum ein und veranlasst mich, mit einem Finger vorsichtig die Haare beiseitezuschieben. Weich wie der Flaum dieser seltsamen goldenen Federn.

Seine Anziehungskraft ist gefährlich. Unwillkürlich weiche ich einen Schritt zurück und balle die Fäuste.

Nicht anfassen! Ein blöder Gedanke kommt mir in den Sinn. Wenn sein Geruch schon meine Sinne trübt, dann geht bei jeder Berührung sicherlich ein exotisches Gift auf mich über, dessen Ziel ein ganz bestimmter Körperteil ist: mein Herz!

Wenn ich ihn das nächste Mal verarzte, sollte ich eventuell diese gruseligen, blauen Latexhandschuhe tragen, die ich verwende, wenn ich mit giftigen Pflanzen hantiere. Würde Sinn machen, aber es erscheint mir wie eine Gotteslästerung, diesen Mann damit zu berühren. Und außerdem… Spätestens, wenn er erwacht, hat sich das mit der körperlichen Nähe ohnehin erledigt.

Mürrisch verlasse ich das Zimmer und kümmere mich um mein Abendessen. Eine Gemüsepfanne aus gelben und grünen Zucchini, Hähnchenfleisch und Reis. Ich mag das einfache Essen und da es aus dem eigenen Garten kommt, ist es gleich noch besser.

Mit einem vollen Teller beladen gehe ich eine dreiviertel Stunde später wieder nach oben. Aber selbst als ich ihm den Duft zufächele, reagiert er nicht.

 Gegen Mitternacht bin ich so müde, dass ich beschließe, ebenfalls eine Runde zu schlafen. Vorher lüfte ich das Krankenzimmer noch ausgiebig. Währenddessen trinke ich ein letztes Glas Rotwein auf dem Liegestuhl neben der Balkontür.

Da der Balkon nach hinten raus geht, kann man gut die nächtlichen Bewegungen der Wildtiere beobachten. Ein Fuchs schnürt über die Wiese, verharrt und macht diesen typischen Hüpfer, als er eine Scheermaus aufscheucht. Mit der fetten Beute im Maul, die er ein paar Minuten lang ausgiebig schüttelt, macht er sich auf den Rückweg in den Wald.

Weiter oben, gut dreihundert Meter entfernt, äst das ansässige Rehrudel, drei ausgewachsene Tiere und das diesjährige Kitz. Inzwischen ist es aus dem Gröbsten raus und tollt auf der Wiese umher.

Ich bin froh, dass das Jungtier heuer kein Opfer des Mähwerkes geworden ist. Letztes Jahr hat das Kitz leider nicht überlebt, obwohl der Bauer das Feld vor dem Mähen abgegangen ist. Ich hörte ihn fluchen, als er es überfuhr, und weiß, dass es ihm immer noch wahnsinnig zu schaffen macht.

 Dank des wolkenlosen Himmels und fehlenden künstlichen Lichtquellen im näheren Umkreis erkenne ich all diese wunderbaren Dinge hier draußen. Ich lehne den Kopf zurück und genieße mit allen Sinnen die Nacht. In der Luft hängt der schwere Duft von Erde und der würzige Geruch des Heus, das einen Kilometer entfernt auf dem Feld liegt und trocknet. Grillen zirpen laut und irgendwo in den Ästen der Bäume ruft ein Kauz.

Friede.

So wie bei meinem Patienten hinter mir.

Irgendwann ist mein Glas leer und mir fallen die Augen zu. Etwas wehmütig betrachte ich beim Hineingehen mein Bett. Aber ich kann mich ja schlecht zu ihm legen.

Mist. Die Bilder, die der Gedanke auslöst, sind nicht wirklich dazu geeignet, schnell einschlafen zu können.

Mit einem bedauernden Lächeln lass ich ihn allein und gehe ins Wohnzimmer zurück. Noch ein paar Handgriffe in der Küche, das Glas in die Spülmaschine geräumt und ich bin bettfertig. Aus Gewohnheit werfe ich noch einen letzten Blick zur Vordertür hinaus. Auch dort ist alles in Ordnung, zumindest auf den ersten Blick.

Eine Bewegung rechts von mir lässt mich jedoch zusammenzucken und ich sehe genauer hin. Am Rand der Wiese steht ein Metallgerüst, wo man früher Teppiche ausgeklopft hat und Wäsche aufhängte. Inzwischen dient es als Kletterranke für eine alte Rose. Und darauf sitzen sage und schreibe sechs Greifvögel, wahrscheinlich Weihen und Milane!