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Alma träumt von einem Leben in Freiheit und Unabhängigkeit. Wochenlang plant sie einen Wanderritt mit ihrer geliebten Stute Luzi – eine Reise zu sich selbst, ein Aufbruch ins Unbekannte. Doch am Morgen der Abreise stirbt Luzi plötzlich. Zurück bleibt Alma mit gebrochenem Herzen und der quälenden Frage: Warum verliere ich immer die, die ich liebe? Getrieben von Trauer, Schuld und einer tiefen inneren Sehnsucht begibt sie sich allein auf eine Reise, die alles verändert. Ihre Suche führt sie von Europa bis ans Ende der Welt: nach Patagonien, wo sie sich auf einen abenteuerlichen Ritt durch die wilde Weite der Anden einlässt. In der Begegnung mit Pferden, Menschen und spirituellen Kräften taucht sie immer tiefer in ihre eigene Seele ein. Botschaften aus einer unsichtbaren Welt weisen ihr den Weg – und zeigen ihr, dass Liebe den Tod überdauert. Und dass wahre Freiheit dort beginnt, wo wir bereit sind, loszulassen. Ein zutiefst bewegender Roman über Verlust, Vergebung und die Kraft, den eigenen Weg zu finden – eine Reise durch äußere und innere Wildnis – voller Wahrheit, Schmerz und Aufbruch in die Freiheit
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Seitenzahl: 201
Veröffentlichungsjahr: 2025
1. Auflage 2025Copyright © 2024 Solveig Schmidtwww.solveigschmidt.jetzt
Lektorat: Ich danke für ihre wertvolle Arbeit, die die Qualität des Textes verbessert hat.
Umschlaggestaltung: OOOGrafik, www.ooografik.de, Corina Witte-Pflanz
E-Book Konvertierung: Constanze Kramer, coverboutique.de
Herstellung und Verlag: im Auftrag der Autorintredition GmbH, An der Strusbeck 10, 22926 Ahrensburg, Deutschland
Softcover: 978-3-384-42189-0Hardcover: 978-3-384-43371-8E-Book: 978-3-384-43104-2
Alle Rechte vorbehalten. Das vorliegende Werk darf weder in seiner Gesamtheit noch in seinen Teilen ohne vorherige schriftliche Zustimmung der Rechteinhaber in welcher Form auch immer veröffentlicht werden. Das betrifft insbesondere jedoch nicht ausschließlich elektronische, mechanische, physische, audiovisuelle oder anderweitige Reproduktion oder Speicherung und oder Übertragung des Werkes sowie Übersetzungen. Davon ausgenommen sind kurze Auszüge, die zum Zwecke der Rezension entnommen werden.
Gewidmet meiner Stute Luzi und allen Pferdeseelen, die nicht müde werden, uns auf dem Weg zu unserem wahrhaftigen Sein zu leiten.
Im Jahr 2021 durfte ich nicht zu meinen Pferden nach Patagonien fliegen. Die Grenzen waren dicht – in Deutschland durfte ich nicht aus- und in Argentinien nicht einreisen. Zu Hause gefangen, scharrte ich ungeduldig wie ein wildes Pferd mit den Hufen und traf eine Entscheidung: Statt in die Anden zu reisen, schreibe ich die Abenteuer mit meinen Pferden auf. Ich meldete mich bei der Pegasus Schreibschule an und das Abenteuer Buch begann. Schnell entdeckte ich die Kraft, die im kreativen Ausdruck steckt – und ihre Eigendynamik.
Während der Plotentwicklung trat eine tiefere Geschichte ans Licht – die einer Frau, die den Mut findet, sich den Wunden ihrer Vergangenheit zu stellen – und zu heilen.
Natürlich ist die vorliegende Geschichte ein Roman – alle Figuren und Ereignisse sind frei erfunden. Dennoch spiegelt sie Erfahrungen wider, die mich entscheidend geprägt haben. Und so entstand nicht nur ein Roman, sondern auch ein Prozess der Selbstreflexion, mich mit meinen eigenen Wunden zu konfrontieren und Seite für Seite zu schreiben, zu weinen und zu heilen. Letzten Endes habe ich die Tastatur meiner Intuition überlassen und konnte heilen und frei werden vom Schmerz der Vergangenheit. Das ist der Sinn des Werkes für mich: Heilung als Aufbruch in die innere Freiheit.
Und wenn ich nur einen Menschen inspirieren kann, nicht im Schmerz der Vergangenheit stecken zu bleiben, sondern den Mut zu finden, loszulassen und den eigenen Weg in die Freiheit zu gehen, dann hat dieses Buch für mich seinen tiefsten Sinn erfüllt.
Und manchmal fühlt es sich wie Sterben an.Der Tod greift nach dir,seine Krallen bohren sich in dein Fleisch.Du fühlst Schmerz – unaushaltbar.Du spürst Traurigkeit.Dein Verstand liefert Gründe.Dann: bleibe Halte es aus.Fliehe nicht. Gehe nicht.Bleibe und spüre das Leid.Vielleicht ist es deins, vielleicht auch nicht.Fühle das Leiden.Spüre das Sterben.Weine, schreie, schreibe.Rufe um Hilfe.Aber bleibeDu stirbst nicht.Etwas in dir ist bereit zu sterben.Es ist nicht der Tod, der Schmerzen bereitet,es ist die Geburt.Wenn du bleibst,Kann sich das Wunder vollenden.Dein altes Ich stirbt,weil dein neues Ichden Weg ans Licht sucht.Den Zeitpunkt bestimmst du nicht.Es überrennt dich.
»Die Kühle des feuchten Bodens kriecht in ihren Körper und sie spürt, dass das Unvermeidliche ein Teil des irdischen Kreislaufs ist.«
Das Leben ist zu Ende. Es ist eingefroren. Alma spürt nicht die wärmenden Strahlen der Sonne. Sie hört nicht das Zwitschern der Vögel, nicht das Rascheln der Blätter an den Birken, die der laue Wind zum Rasseln bringt. Sie hört nicht das Schnauben der Pferde auf den Koppeln nebenan. Sie hört nicht die besorgten Stimmen der Menschen um sie herum. Alma hört nichts. Abgeschnitten von allem Lebendigen erscheint ihr die Welt wie hinter einer dicken Wand aus milchigem Glas. Doch plötzlich dringt die mahnende Stimme von Dr. Müller zu ihr durch: »Sie müssen sich entscheiden. Wir können nicht länger warten. Der Kreislauf wird immer schwächer.«
Almas Knie zittern, ein dicker Kloß im Hals blockiert ihre Atmung und treibt ihr Tränen in die Augen. »Bleib bei mir, bitte, bitte!«, fleht sie leise. »Verlass mich nicht, bitte, Luzi, bleib hier!«
Über ihrem Seelenpferd hängen zwei Beutel mit Infusionsflüssigkeit, die über Schläuche und einer Kanüle mit Luzis Halsvene verbunden sind. Tropfen für Tropfen rinnt die Flüssigkeit in den Körper des Pferdes.
Almas Blick folgt den Tropfen mechanisch. Ihre kalten, zitternden Finger streicheln immer wieder den Pferdekopf mit den hängenden Ohren. Mehr kann sie nicht tun. Sie fühlt sich so hilflos. »Bitte, Luzi, bleib, sonst bin ich wieder ganz allein.« Nur mit Mühe unterdrückt sie ein lautes Schluchzen. »Wir verschieben unseren Ritt, bis du wieder gesund bist«, flüstert Alma ihrem Liebling ins Ohr. Tränenerfüllt verschwimmt ihr Blick und taucht ihre Gedanken in eine Blase aus Erinnerungen.
Wochenlang saß sie vor Landkarten und dem Computer und plante den dreimonatigen Ritt. Vom Biberfluss in Sachsen quer durch Thüringen, durch Orte aus ihrer Kindheit und Jugend bis nach Ter Apel in Holland. Dort ist Luzi geboren – und Alma in Thüringen. Der Ritt immer westwärts, wie eine Zeitreise in die Vergangenheit sollte Klarheit in Almas Leben bringen. Mit der alten Singer-Nähmaschine flickte Alma die zerschlissenen Packtaschen. Sie kaufte schmales, leichtes Weideband für den Wanderreitzaun und organisierte einen Rastplatz mit gutem Gras für Luzi für die erste Nacht der langen Reise. Später hätte sie darauf vertraut, jeden Abend einen guten Platz für Luzis Koppel und ihr Zelt zu finden. Die Reisevorbereitungen wirkten wie eine Droge auf Alma. »Wir reiten in unsere Vergangenheit, sortieren uns dort und machen dann die Zukunft besser«, erzählte Alma euphorisch und entgegen ihrer sonst so stillen Art all ihren Freunden. »Das wird der Ritt in meine Freiheit. Nichts hält mich auf!«
Alma schaut auf die Infusionsbeutel. Jetzt ist der dritte fast leer. Aller guten Dinge sind drei, denkt Alma. »Luzi, du schaffst das! Wir schaffen das«, versucht Alma an Luzi gewandt sich selbst Mut zu machen.
Die mahnende Stimme von Dr. Müller zerreißt das dünne Band der Hoffnung: »Alma, Sie müssen jetzt eine Entscheidung treffen. Wir können nicht länger warten.« Dann wendet er sich seinem Patienten zu: »Ihr Kreislauf wird immer schwächer.«
ENT-SCHEI-DEN, hämmert es in Almas Kopf.
Almas letzte Entscheidung war die gegen Dirk und für diesen Ritt in die Freiheit gewesen. Zweifler ließ sie nicht zu Wort kommen. Die Planung des Wanderritts beanspruchte ihre ganze Kapazität. In ihrem Gehirn war kein Millimeter Platz für andere Gedanken. Abends fiel sie todmüde ins Bett und schlief sofort ein. Erst kurz vor Sonnenaufgang wachte sie vom hellen Gesang der Meisen wieder auf. Gott sei Dank! Sie konnte wieder schlafen. In den letzten Monaten vor der Trennung von Dirk plagten sie Albträume. Jede Nacht grübelte sie stundenlang, wie es weitergehen könnte.
Das ist jetzt vorbei. Dirk ist vorbei. Jetzt beginnt Almas neues Leben. »Luzi, unser neues Leben wartet auf uns. Du bist so stark, du schaffst das, ich weiß es«, flüstert sie immer noch mit einer leisen Hoffnung in der Stimme ihrem Pferd zu.
»Wir können nicht mehr warten!« Dr. Müllers entschlossene Stimme katapultiert Alma in die Gegenwart. In das neue Jetzt. Und das findet, ganz anders als Alma es sich vorgestellt hat, in der Tierklinik statt.
Alma hat kein Gefühl dafür, wie lange sie schon hier ist. Die beiden Tierärzte und die junge Assistentin kämpfen darum, den Kreislauf des Pferdes zu stabilisieren. Drei Liter Infusionen haben noch nicht den gewünschten Erfolg gebracht. Ohne einen stabilen Kreislauf ist die Operation unmöglich. Herz und Puls der Stute werden immer schwächer. Luzis schwarze Augen ruhen auf Alma. Traurig und leer. So leer, als würde sich Luzis Seele darauf vorbereiten, den Körper zu verlassen. Die weichen, behaarten Nüstern des Pferdes, die Alma so oft eine Gänsehaut über den Rücken zauberten, wenn sie ihren Nacken berührten, sind hochgezogen und gekräuselt. Luzi hat Schmerzen. Starke Schmerzen. Trotz Schmerzmittel.
»Gleich«, flüstert Alma. Wie ferngesteuert verlässt Alma den bis unter die Decke weiß gekachelten Flachbau mit der großen Schiebetür. Sie läuft vorbei am Pferdehänger, der direkt davor parkt. Die Klappe steht noch offen. Er ist leer. Luzi steht im Behandlungsstand der Tierklinik und wartet auf eine Entscheidung. Almas Entscheidung.
Wie von selbst tragen Almas Beine sie nach draußen. Sie fühlt sich seltsam abwesend. Ein Sog, der ihre Anbindung an die Erde zerreißt, trägt sie fort. »Erde, Mutter Erde«, fleht Alma. Sie spürt keinen Boden mehr unter ihren Füßen und sinkt auf die grüne, weiche Wiese. Zärtlich streicht sie über die Grasspitzen. »Erde, Mutter«, flüstert sie.
Die Kühle des feuchten Bodens kriecht in ihren Körper und sie spürt, dass das Unvermeidliche ein Teil des irdischen Kreislaufs ist. Hier. Hier wird Luzis Leben enden.
Alma wartet, bis sie die Kraft verspürt, wieder in die Halle zu treten.
Fragende Blicke erwarten sie. Alma vermeidet jeden Blickkontakt. Unter Tränen nickt sie kurz. Daraufhin befreit die junge Assistentin Luzi von Schläuchen und Kanülen. Die Metalltür des Behandlungsstandes wird geöffnet. Brutal scheppert Metall auf Metall, als die Tür gegen die Gitterstäbe schlägt. Versteckt hinter dem schützenden Tränenmeer führt Alma ihre Stute Schritt für Schritt auf die weiche, mit knallgelben Löwenzahnblüten bedeckte Wiese.
»Luzi, das ist unsere letzte gemeinsame Reise. Gleich bist du frei.«
Dr. Müller, ein erfahrener Tierarzt mit der richtigen Mischung aus Klarheit und Mitgefühl, setzt die erste Spritze an. »Vorsicht, sie wird fallen«, warnt er.
Alma steht ganz nah am Kopf von Luzi. So nah, dass sie fühlen kann, wenn die Seele ihres Herzenspferdes den schwarz-weißen, mit Punkten übersäten Körper verlassen wird. Luzis Beine knicken vorne ein, ihr Körper kippt zur Seite. Im gleichen Moment sinkt Alma zu Boden.
Dr. Müller wartet einen Moment und setzt die zweite, die Todesspritze.
Alma kauert schluchzend neben dem Kopf ihrer sterbenden Stute. Niemand spricht. Niemand drängt sie.
Sie ist allein. Allein mit ihrer toten Stute.
»Erklärungen trösten nicht.Nur Liebe kann trösten.«
Alma schreckt auf. Es ist stockfinster. Verwirrt greift sie nach der Taschenlampe am Kopfende. Da ist ein Brett. Wo ist das Zelt? Wo bin ich? Schlagartig ist sie wach.
Wie das Fallbeil einer Guillotine kracht der gestrige Tag in ihr Bewusstsein. Er schneidet sie aus ihrem Traum und katapultiert sie in die brutale Gegenwart. Bildfetzen rasen an ihrem inneren Auge vorbei: die Pferdekoppel, Luzi, die nicht aufstehen kann, der Sattel, die Packtaschen, Dr. Müller, Luzi …? Luzi! Sofort schießen Alma Tränen in die Augen. Es wird keinen Ritt in die Freiheit geben.
»Deshalb ist mein T-Shirt so nass«, flüstert Alma in die Dunkelheit und weint hemmungslos weiter. Warum verlassen mich alle, die ich liebe? Was will das Leben von mir? Welche Botschaft will Luzi mir bringen? Soll ich aufgeben? Meine Suche nach Freiheit und Liebe aufgeben? Wahrscheinlich. Luzi wollte nicht mit mir in die Freiheit und nach Holland gehen.
Alma erinnert sich an Luzis Geschichte, die ihr die Vorbesitzerin Vera erzählt hatte. Das kleine, schwarz-weiß gescheckte, mit Punkten übersäte Fohlen stand damals traurig in der letzten Box eines dunklen Stalls in Holland. Allein, verlassen, eingesperrt. Vera hatte es aus Mitleid gekauft. Und offenbar wollte Luzi nicht zurück nach Holland, in ihre traurige Kindheit in der dunklen Box.
Und ich? Was will ich, fragt sich Alma. Soll ich aufgeben?
Ein gewaltiger Druck lastet auf Almas Brust. Atmen wird fast unmöglich. Ihr Herz beginnt plötzlich unkontrolliert schnell zu schlagen. Der Puls rast. Alma kennt diesen beängstigenden Zustand. Es sei nichts Lebensbedrohliches, hatte sie der Kardiologe beruhigt, als sie ihre Herzrhythmusstörungen vor vier Monaten abklären ließ. Das empfand Alma damals, als sie um vier Uhr morgens in der Notaufnahme des Krankenhauses ankam, anders. Sie hatte Angst zu sterben.
Jetzt, als sie von diesem Herzrasen wieder überfallen wird, hat sie keine Angst. Jetzt gibt sie sich dem rasenden Klopfen hin. Tak-tak-tak – wie ein Trommelwirbel. Diese Trommelschläge versetzen sie in eine Trance. Sie sieht sich und Luzi vereint. Wenn mein Herz jetzt aufhört zu schlagen, bin ich bei Luzi, trommeln Almas Gedanken. Jetzt fühlt sich der Tod wie ein Verbündeter an, der sie auf die andere Seite bringt. Dorthin, wo auch Lene und Oma Linna sind. Alma schluchzt laut. Ein Strom aus Tränen schürt ihren Schmerz und gräbt Erinnerungen aus. Sie fühlt sich allein, so wie damals.
Damals ist Lene verschwunden. Von einem Tag auf den anderen war das Kinderbett neben ihr leer. Die Schwester kam nie wieder. »Lene ist jetzt beim lieben Gott«, versuchte die Mutter, die das Unfassbare selbst nicht fassen konnte, Alma zu trösten. Erklärungen trösten nicht. Nur Liebe kann trösten. Oma Linna konnte immer trösten, wenn Almas Kinderherz traurig war. Sie verschenkte Liebe, als würde sie an der Quelle sitzen.
Oma Linna hat mich auch verlassen, bemitleidet sich Alma. Ich bin allein. Mutterseelenallein. Verzweifelt ruft Alma: »Lene, Linna. Luuuzi!«
Mit voller Wucht steigt ein ekelhaft brennender Geschmack in Almas Speiseröhre hinauf. Mit der Hand vor dem Mund springt sie aus dem Bett, reißt die Badezimmertür auf und übergibt sich in die Kloschüssel. Viel kommt nicht. Seit gestern Morgen ist ihr Magen leer. Alma wischt sich den Mund mit Toilettenpapier ab, knipst das Licht an und spült sich den bitteren Geschmack aus dem Mund. Dabei erhascht sie einen Blick in den Spiegel: Rote, verquollene Augen starren sie finster an. Schrecklich. Sie sieht scheußlich aus. So scheußlich wie der ekelhafte Geschmack in ihrem Mund. So scheußlich wie ihr Leben.
Almas Herz rast nicht mehr. So plötzlich, wie das Rasen einsetzte, hat es wieder aufgehört. Schade, denkt Alma. Sie hätte es nicht stoppen wollen. Sie hätte es hämmern lassen und darauf gewartet, dass der Tod ihre Hand und sie mit sich nimmt. Doch jetzt schlägt ihr Herz ganz ruhig.
Sie ist jetzt beim lieben Gott, versucht eine Stimme in ihrem Kopf sie zu beruhigen.
Alma knipst das Licht aus und verlässt das Badezimmer. Wieder im Bett schläft sie erschöpft ein.
Im Traum hört sie Oma Linna: »Alma, du brauchst die Liebe nicht zu suchen, sie ist schon da.«
»Omi, Omi, wo bist du? Warum hast du mich verlassen?«
»Alma, ich habe dich nicht verlassen. Ich bin immer bei dir.«
Alma wacht auf. »Omi?« Dass sie die liebevollen Worte nur im Traum gehört hatte, wird ihr sofort bewusst.
Sie öffnet den Holzdeckel des kleinen Zen-Weckers mit dem schönen Klang. Gleich drei. Der kühle Nachtwind weht durch die weit geöffnete Balkontür neben Almas Bett. Sie fröstelt und kuschelt sich noch tiefer in die riesige Bettdecke. Zweimal zwei Meter, gemacht für zwei Menschen, die sich gegenseitig wärmen. Sogar diese blöde Decke erinnert sie daran, dass sie allein ist. Nein, Dirk weint sie keine Träne nach. Die Entscheidung, ihn zu verlassen, war goldrichtig und überfällig. Doch von Luzi getrennt zu sein, brennt unaushaltbar in ihrem Herzen.
Warum kann ich nicht einfach alles auslöschen, fragt Alma sich. Mit einem Knopfdruck alle Erinnerungen ausradieren und einfach ein leeres Blatt sein? Aber Alma ist nicht leer. Ihr Kopf ist voll mit quälenden Gedanken. Sie will nicht mehr denken. Sie will nichts mehr. Nichts außer Ruhe und Frieden. Alma ist am Ende ihrer Kraft. Sie atmet tief durch und hofft, dass der Schlaf sie von den quälenden Gedanken befreien wird. Einatmen. Ausatmen. Einatmen. Ausatmen. Eine gefühlte Ewigkeit verfolgt sie jeden einzelnen Atemzug, doch die Befreiung aus dem Gedankengefängnis will nicht gelingen.
Zum tausendsten Mal wälzt sie diesen einen Gedanken: Was ist in der Nacht vor Luzis Tod auf der Koppel passiert? Gedanklich rekonstruiert sie jede Minute, die sie am Tag vor der Katastrophe mit Luzi verbracht hatte. Sie hatten einen entspannten Ausritt durch den nahen Laubwald gemacht und galoppierten wild über die Wiesen zurück zum Stall. Trotz der chronischen Bronchitis war Luzi gut trainiert. Der Tierarzt hatte Alma zum Wanderritt ermutigt: »Reiten Sie los, die Bewegung und die frische Luft werden Luzi guttun.« Die Vorfreude auf den Ritt hatte Alma beflügelt und die freche Luzi angesteckt. Alles war leicht. Als Alma Luzi am Nachmittag zurück auf die Koppel brachte, rief sie ihr übermütig zu: »Bis morgen, Luzi. Morgen sind wir frei.«
Luzi ist frei. Luzi ist über die Regenbogenbrücke gegangen. Das klingt so tröstlich. So friedlich. So leicht. Sie ist über die Regenbogenbrücke in die Freiheit gegangen.
Kein Leid mehr, kein Schmerz, keine Bronchitis. Ausgelöscht. Alles ausgelöscht. Alma ist berührt von dieser Logik. Vom Gedanken an die Freiheit fühlt sie sich magisch angezogen. Scheu wagt sie den Gedanken: Was, wenn ich Luzi folge?
»Jetzt ist der alte Schmerz präsent, wie damals. Jetzt will er endlich gesehen, endlich gefühlt werden.«
Alma erwacht, als ein heller Lichtschein durch die Jalousie auf ihr Gesicht fällt. Sie kneift ihre verquollenen Augen zu und zieht sich die Decke über den Kopf. In der Dunkelheit kuschelt sie sich an die Erinnerung: Freiheit. Die Gedanken spinnen sich von selbst weiter: Wenn ich nicht mehr in diesem Körper bin, bin ich frei. Alma kennt diesen sich selbst reproduzierenden Gedanken …
Damals, als sie sich von Dirk zu dieser unverzeihlichen Entscheidung gedrängt fühlte, wollte sie von der Autobahnbrücke springen. Aus. Aus. Das Nichtaushaltbare auslöschen. Lotta war drei – sie hatte Alma das Leben gerettet. Einfach, weil sie da war. Für ihre kleine Tochter Lotta wollte Alma am Leben bleiben. Damals. Und jetzt?
Als müsse sie ihren inneren Raum gegen einen äußeren Druck verteidigen, hält Alma den Atem an und stemmt sich gegen die imaginäre Kraft, die ihren Brustkorb zu zerquetschen droht. Ein seltsames Glucksen verlässt ihren Körper. Als wollte sie jenes Schweigen bewahren und jeden Laut verhindern, presst sie mit aller Kraft ihre Lippen aufeinander. Die Luft bahnt sich einen anderen Weg und pufft stoßweise aus ihrer Nase. Schleusen bersten. Tränen schießen wie Sturzbäche dahin. Zäher Schleim tropft aus der Nase. Alma weint und weint und weint. Sie kann nicht mehr aufhören. Sie presst ihr Gesicht in das Kissen und kann nicht mehr zurückhalten, was jetzt aus ihr herausbricht. Hemmungslos wie ein kleines Kind schluchzt sie laut und kann diese Kraft, die in ihr explodiert, nicht mehr stoppen. Der über Jahrzehnte angestaute Schmerz klammert sich an diese Tränen und verlässt endlich ihren Körper. Was für eine Befreiung!
Im Laufe des Vormittags hat sich Alma leer geweint. Ein ganzer Ozean aus Fragen bevölkert nun diese Leere und breitet sich aus: Warum habe ich Dirks Spiel so lange mitgespielt? Warum habe ich mich verraten? Warum habe ich zugelassen, dass etwas in mir zerbricht? Warum wollte ich es nicht sehen? Oder konnte ich nicht? Mit den Erinnerungen an Dirk steigt eine Übelkeit nach der anderen in Alma auf. Wie beispielsweise die Enttäuschung am Sommerfest vor drei Jahren.
Alma war freudig aufgeregt und sehnte sich danach, mit Dirk endlich wieder als Paar eine gemeinsame Freude zu erleben, wie zu Beginn ihrer Beziehung. Alma ärgert sich rückblickend darüber, wie naiv sie damals war. Völlig gefangen in der Gunst des Mannes, den sie zu lieben glaubte. Das Fest endete anders, als sie gehofft hatte. Alma musste ertragen, wie Dirks tiefschwarze Augen mit den endlos langen Wimpern – die jede Frau flachlegten, wie er prahlte – ihrer attraktiven Kollegin Sylvia im knallroten Minikleid auf Schritt und Tritt folgten. Die ersehnte Freude blieb Alma im Hals stecken. Eine einzige Frage quälte sie: Wann würde Sylvia schwach werden?
Alma hasste sich selbst, wenn sie in diesem Wachhund-Modus jeden von Dirks Schritten verfolgte. Sie fühlte sich unterlegen, hilflos und ausgeliefert. »Hör auf, das ist schon peinlich«, zischte sie, um ihre Ehre kämpfend, Dirk zu.
»Peinlich?«, entgegnete Dirk. »Mir nicht. Und deiner Kollegin offensichtlich auch nicht. Schau, wie anmutig ihr schlanker Körper dahinschwebt. Vielleicht wird das meine neue Geliebte.« Unschuldig mit den Schultern zuckend stand er auf und schlenderte lässig in Richtung Bar, wo die plaudernde Sylvia saß.
Dirks Worte bohrten sich wie ein Speer in Almas wehrloses Herz. Verzweifelt füllte sie ihr Limonadenglas mit Rotwein, um den Schmerz zu betäuben. Abwesend und leer hingen ihre Augen eine ganze Weile an den tanzenden Paaren auf der Wiese im Garten. Alma sann darüber nach, ob diese Menschen wirklich glücklich waren. Wie sah Lebensfreude überhaupt aus? Sie hatte keine Ahnung.
Die Mischung aus Alkohol, Musik und Traurigkeit schlug Alma auf den Magen. Speiübel und leicht taumelnd tastete sie sich zur Toilette ins Haus. Nanu, warum lag Dirks neue beige Ziegenlederjacke im Flur auf dem Boden? Sein Lieblingsstück war ihm heilig. Elektrisiert zuckte ihr Körper zusammen. Urplötzlich war Alma hellwach und stocknüchtern. In den Gesprächsfetzen der tuschelnden Stimmen, die aus dem Nebenzimmer zu ihr drangen, erkannte sie Dirk und Sylvia.
Zitternd und beschämt schlich Alma auf die Gästetoilette. Lautlos rannen Tränen über ihr Gesicht. Wie im Zeitraffer raste ihre gemeinsame Zeit mit Dirk an ihrem inneren Auge vorüber. Das Kennenlernen, das abenteuerliche Zusammensein unter dem Mantel der Geheimhaltung – und viele demütigende Momente. Sie schnäuzte den Schmerz mit den Tränen ins Toilettenpapier. Nie würde er sich ändern! Nie! Diese Gewissheit ließ ihren Körper und alle Gefühle, die sie für diesen Mann jemals empfand, zu einem dicken Eispanzer gefrieren. Warum erkenne ich das erst jetzt, fragte sie sich vorwurfsvoll. Sie wünschte sich, mit dem Wasserschwall der Toilettenspülung von diesem Ort, diesem Fest und dieser Welt verschwinden zu können.
Augenblicke später raffte sie sich auf. Aus dem Spiegel über dem kleinen Waschbecken mit nur einem Hahn für Kaltwasser blickte ein Gesicht mit verschmierter Wimperntusche in ihre Seele und erinnerte sie daran: Nur du kannst das ändern.
Draußen steuerte die Party mit einer Polonaise auf ihren Höhepunkt zu. Alma füllte ihr Limonadenglas ein weiteres Mal mit Rotwein und nahm am Tisch neben Merle Platz. Alma wusste, dass Rotwein hilft, negative Gefühle weniger fühlen zu müssen. Das dumpfe Hämmern des Basses meißelte die Erkenntnis in ihr Gedächtnis: Nur du, nur du kannst das ändern!
Merle rückte dicht an Alma heran, legte ihren Arm um sie und nahm ihr das Glas aus der Hand. Sie schrie, um den Bass zu übertönen, in Almas Ohr: »Schieß den Kerl ab! Das hast du nicht nötig.«
War das Mitleid? Oder ermutigte Merle sie gerade, auf ihre innere Stimme zu hören? Nur du kannst das ändern! Da stand Alma entschlossen auf.
Merle nickte ihr augenzwinkernd zu: »Das hast du wirklich nicht nötig. Du bist eine starke Frau, Alma.«
Während Alma durch die Sommernacht schlenderte, drehten sich ihre Gedanken wie ein Karussell: Was hatte sie nötig? Dirk? Seine Nähe hatte ihr geholfen, sich ein wenig wertvoller zu fühlen. Ihre Unscheinbarkeit hatte sich im Glanz dieses charismatischen Mannes gesonnt. Ein Lächeln huschte über Almas Lippen.
Als sie sich sieben Jahre zuvor auf Dirk eingelassen hatte, war sie beeindruckt gewesen von seinem unglaublichen Selbstbewusstsein. Ständig flötete er: »Ich bekomme alles, was ich will.« Zwar nahm Alma dabei ein ungutes Gefühl wahr und wehrte sich einige Monate gegen das Flirten des verheirateten Mannes. Doch schließlich erlag sie seiner ausdauernden Werbung. Sein unglaublicher Charme hatte Alma entwaffnet und ihren Widerstand gebrochen.
Diese Naivität bereute sie jetzt bitter. Damals hatte sie sich gesehen und geliebt gefühlt. Doch sie musste erkennen, dass Dirk ein Trophäensammler war und sie nur ein weiteres Stück in seiner Kollektion. Eine Trophäe, ein Objekt, spukte es in Almas Kopf. Sie fühlte sich wie ein Stück leblose Knete, das in den Händen von Menschen, denen sie vertraute, geformt wurde. Jeder hinterließ Spuren. Sie formten, verformten sie, bis alle Unebenheiten plattgedrückt waren.
Aber ich bin doch kein willenloser Klumpen, bäumte sich Alma auf und schrie in die Stille der Nacht: »Warum habe ich mich nie gewehrt?« Ihr Versagen machte sie fassungslos. Dabei verwandelte sich ihre Übelkeit in Wut. Wut auf Dirk. Vor allem aber auf sich selbst. Warum hat sie diese unwürdigen Szenen so lange ertragen? Immer wieder hatte sie den Schmerz verdrängt, um nicht fühlen zu müssen, was ihr so wehtat.
Und nun? In dieser aktuellen Situation ergriff ein ganz alter Schmerz seine Chance und nutze Almas Schwäche aus. Er riss ihren Schutzwall nieder und war jetzt präsent – wie damals. In diesem Moment wollte er endlich gesehen und gefühlt werden. Alma wurde still. Sie fühlte sich wie eine Schlange nach der Häutung: ungeschützt, roh, verletzlich.