Alpenverschwörung - Martin Rüfenacht - E-Book

Alpenverschwörung E-Book

Martin Rüfenacht

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Beschreibung

Was als harmlose Stellvertretung für einen lädierten Kollegen beginnt, führt Kantonspolizist Bernauer und sein Team auf einen halsbrecherischen Roadtrip durch die Alpen. Verfolgt von skrupellosen Verbrechern versucht Bernauer, das Geheimnis eines sagenumwobenen Buchs aus dem Kloster Muri zu lüften. Er ahnt nicht, dass er bloß eine Figur in einem perfiden Spiel um Macht und Reichtum ist. Als er merkt, dass er niemandem vertrauen kann, nimmt Bernauer sein Schicksal selbst in die Hand. Doch die Dinge sind nicht so, wie sie scheinen.

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Seitenzahl: 307

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Martin Rüfenacht

Alpenverschwörung

Alpen-Krimi

Zum Buch

Gefährlicher Roadtrip Kantonspolizist Stephan Bernauer wird ans Spitalbett eines Berufskollegen gerufen. Dieser fordert ihn auf, seine Stellvertretung zu übernehmen und einem mysteriösen Fall nachzugehen. Bernauer, zunächst skeptisch, lässt sich dennoch auf das Abenteuer ein und schnell wird klar, dass der Fall verworrener ist, als er anfangs scheint. Spätestens als der Innovationsverantwortliche eines lokalen Pharmaunternehmens ermordet wird, gerät Bernauer in ungewollte Verwicklungen. Könnte ein mysteriöses Buch aus dem Kloster Muri der Schlüssel zum Mordfall sein? Gerade als die Ermittler auf eine heiße Spur stoßen, die mit der 1.000-jährigen Geschichte des Klosters verknüpft ist, wird ihr Informant tot aufgefunden. Auf der Suche nach der Wahrheit begeben sich Bernauer und sein Team auf eine waghalsige Reise, die sie bis ins Südtirol führt. Verfolgt von Verbrechern und gejagt vom unbedingten Willen, den Fall zu lösen, riskiert Bernauer viel, vielleicht zu viel.

Martin Rüfenacht ist in Zufikon bei Bremgarten im schweizerischen Freiamt aufgewachsen. Der Jurist lebt mit seiner Familie im schönen Reusstal. Seine Bücher zeichnen sich durch Spannung und eine gute Portion Schalk aus. Er kennt die Schauplätze und Geschichten der Region seit seiner Kindheit, was seinen Krimis Lokalkolorit und Authentizität verleiht. »Alpenverschwörung« ist nach »Reussschlinge«, »Reussstrudel« und »Reussgold« sein vierter Kriminalroman um den charismatischen Kantonspolizisten Stephan Bernauer und sein Team.

Impressum

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Susanne Tachlinski

Satz/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Flüelapass Richtung Engadin Marco Camenisch / iStock.com

ISBN 978-3-7349-3432-2

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Prolog

Die Zahlen sahen wirklich alles andere als rosig aus, da hatte Schumacher recht. Die Umsatzkurve zeigte, wenn auch nicht steil, so aber doch stetig und unweigerlich abwärts. Wenn es so weiterginge, würde ihr Unternehmen zu einem ernsthaften Übernahmekandidaten.

Jordan Müller lehnte sich in seinem Bürostuhl zurück und verfolgte die Präsentation seines Vorgesetzten auf dem Bildschirm. Eines der kleinen Bilder auf der rechten Seite zeigte seinen wild gestikulierenden Chef. Der sonst so besonnene, nüchterne Mathematiker musste ziemlich unter Druck stehen. Kein Wunder bei den Zahlen. Müller machte sich einen Spaß daraus, den Ton auszuschalten, Schumacher zu beobachten und ihm dabei in Gedanken andere Worte in den Mund zu legen. Er musste schmunzeln und schaltete dann den Ton wieder ein.

Von den anderen Mitarbeitenden hatten nicht alle die Kamera eingeschaltet. Ihre mehr oder weniger gelungenen Profilbilder blickten Jordan Müller mit starrem Blick an. Eigentlich gebot es der firmeninterne Videokonferenz-Knigge, die Kamera einzuschalten. Anscheinend war der CEO aber zu beschäftigt mit seinem Vortrag, um darauf zu bestehen.

Müller zog sein Smartphone auf der Tischplatte näher zu sich heran. Er scrollte die neuesten Nachrichten eines Onlineportals durch und überflog einen Artikel über einen Beinahe-Zusammenstoß zwischen einer S-Bahn und einer Kuhherde, die im allerletzten Moment von den Gleisen gescheucht werden konnte. Er zog die Augenbrauen nach oben und merkte plötzlich, dass etwas nicht stimmte.

Der CEO hatte aufgehört zu sprechen. Ein kurzer Anflug von Panik überkam Müller. Galt diese Unterbrechung ihm? Hatte der Chef bemerkt, dass er nicht aktiv zuhörte? Vorsichtig hob er den Blick und begriff zuerst nicht, was gerade geschah. Erleichtert stellte er fest, dass der Chef dem Innovationsverantwortlichen das Wort übergeben hatte. Dieser sprach zwar, das konnte man sehen, hatte aber sein Mikrofon immer noch auf stumm geschaltet.

Müller schnaubte verächtlich und sank in seinen Bürostuhl zurück. Es war ihm unerklärlich, warum dies den Teilnehmenden immer wieder passierte. Als hätte man nicht täglich in etlichen Videokonferenzen die Gelegenheit zu üben. Dass es diesmal den Innovationschef betraf, sprach für Müller Bände. Staudacher, der Chief Innovation Officer, kurz CINO, war ein etwas untersetzter Mann Anfang 50. Sein ausgesprochen schlechter Modegeschmack und das schüttere Haar, das er zu einem Seitenscheitel gekämmt trug, verliehen ihm die Erscheinung eines Fernsehmoderators aus den 70er-Jahren. Müller kannte ihn nur vom Sehen, konnte sich aber nicht so recht vorstellen, wie er das Unternehmen durch Innovation voranbringen sollte. Im Falle von Staudacher stand CINO wahrscheinlich für »Cappuccino«, denn Müller beobachtete ihn des Öfteren, wie er scheinbar ziellos um den Kaffeeautomaten herumschlich.

Der CINO fand den Mikrofonknopf schließlich doch noch. Er räusperte sich, entschuldigte sich beiläufig und kam endlich zur Sache: »Nun, wie Sie alle sehen, ist unser Unternehmen in einer Schief…«, er vergewisserte sich mit einem Seitenblick auf das Bild des CEO, dass er nichts Falsches sagte. Dieser gab ihm mit einem angedeuteten Nicken zu verstehen weiterzusprechen.

»Also die Zahlen sehen nicht gut aus«, beendete Staudacher seinen Satz.

Überraschend schaltete der Finanzchef sein Mikrofon ein und sprach dazwischen: »Wenn ich hier ergänzen darf …«

»Nein, dürfen Sie nicht, Jegerlehner«, herrschte Schumacher ihn an. »Sie hatten Ihre Chance.« Und nach einer kurzen Pause fügte er etwas sanfter, fast schon resignierend hinzu: »Sie hatten weiß Gott Ihre Chance. Wie viele Monate haben Sie versucht, das Ruder herumzureißen? Alles vergebens.«

Irgendwie tat Schumacher Müller leid. Das hatte der CEO nicht verdient, fand er. Auf der anderen Seite hatten sie in der Vergangenheit sehr gute Jahre gehabt, da konnten sie sich nicht beklagen. Auf die fetten Jahre waren auch einmal ein paar magere gefolgt, auch wenn diese goldene betriebswirtschaftliche Regel in der Pharmabranche nicht immer griff. Normalerweise kannten die finanziellen Trends nur eine Richtung: Jahr für Jahr steil nach oben.

»Sprechen Sie weiter, Staudacher«, unterbrach Schumacher seine Gedankengänge.

Es entstand ein unangenehmer Moment der Stille. Der Finanzchef machte eine beleidigte Miene, während der CINO fortfuhr: »Konkret: Wenn kein Wunder geschieht, hat die Freimupharm vielleicht noch ein halbes Jahr, wenn wir Glück haben, ein Jahr.«

Nun hatte Staudacher die volle Aufmerksamkeit der Teilnehmenden. Alle Kameras waren auf einmal eingeschaltet. Die Leute starrten gebannt auf ihre Bildschirme. Was hatte er gerade gesagt? Die Firma würde es bald nicht mehr geben? Man konnte förmlich sehen, wie die Gedanken in den Köpfen der Mitarbeitenden kreisten. Staudachers Formulierung klang so endgültig. Als säßen sie alle in einer Arztpraxis und vernähmen die schreckliche Diagnose einer Krebserkrankung im Endstadium. Arbeiteten sie nicht alle bei einem Unternehmen, das sich Tag für Tag dafür einsetzte, dass es den Leuten besser ging? Und jetzt sollte die Freimupharm zu Grabe getragen werden? Das konnte doch nicht sein! Jordan Müller musste sich verhört haben. Was sollte aus seiner Frau und den Kindern werden, wenn er seinen Job verlöre? Wer sollte die offenen Rechnungen bezahlen? Mussten sie aus dem Haus ausziehen? Den Urlaub absagen? Und seine Altersvorsorge? Die Gelder waren doch gesichert, oder? Er zwang sich, sich wieder zu konzentrieren.

Den anderen in der Videokonferenz schien es ähnlich zu gehen. Jetzt wollten alle mehr wissen. Zahlreiche Mikrofone wurden eingeschaltet und ein kollektives Gemurmel war zu vernehmen. Staudacher ließ sich davon nicht beirren. Im Stile eines Politikers, der den Staatsbankrott anzukündigen hatte, blieb er staatsmännisch kühl. Müller musste zugeben, dass er Staudacher vielleicht unterschätzt hatte. Er wusste nicht, ob er an dessen Stelle derart souverän hätte auftreten können.

Offenbar dachten nicht alle so. Der CEO forderte Staudacher eindringlich auf, endlich zur Sache zu kommen: »Und dieses Wunder haben Sie gefunden, nicht wahr, Staudacher?«

Erwartungsvolle Stille.

»Nun, es ist noch in der Versuchsphase, aber wir sind da auf etwas gestoßen, was uns vielleicht helfen könnte.« Der CINO machte ein bedeutungsvolles Gesicht. »Es handelt sich um …«

Mit einer ruckartigen Bewegung wandte sich der Innovationschef plötzlich nach links. Er warf die Arme nach oben und hielt sie schützend über seinen Kopf. In seinen Augen war für einen kurzen Moment blankes Entsetzen zu erkennen. Seine Kamera ruckelte zuerst ein bisschen, dann fiel sie offensichtlich auf die Tischplatte und das Bild wurde grauschwarz. Im Hintergrund waren gedämpfte Stimmen und laute Geräusche zu vernehmen. Es war den überraschten Teilnehmenden der Videokonferenz nicht möglich, etwas zu verstehen, aber es musste sich um einen heftigen Streit handeln.

Plötzlich wurde die Kamera angehoben. Man erkannte schemenhaft eine Computertastatur. Eine rote Flüssigkeit lief zäh über die Linse. Jemand schrie etwas Unverständliches aus dem Hintergrund.

Dann wurde es dunkel.

Kapitel 1

Kantonspolizist Stephan Bernauer stand unschlüssig in dem abgedunkelten Raum. Die Jalousie war an mehreren Stellen eingedellt. Die dünnen Lamellen hingen in der Mitte durch. Ihr Verschmutzungsgrad ließ darauf schließen, dass sie schon länger nicht mehr geöffnet worden waren. Die Fenster mussten aus den 70ern stammen. Die Holzrahmen waren offensichtlich bereits mehrere Male überstrichen worden, zuletzt laienhaft mit einer etwas zu dicken weißen Lackfarbe. Die Fenstergriffe bestanden aus dünnem Aluminium.

Bernauer sah sich im Raum um. Der Boden war mit einem Linoleumbelag ausgelegt, der sich an den Wänden als Sockelleiste fortsetzte. Die Wände selbst waren mit einer Raufasertapete beklebt, die auch schon bessere Tage erlebt hatte. Ein dunkelgrüner Vorhang verdeckte die Sicht auf den hinteren Teil des Raums.

Der Polizist fuhr herum, als sich die Zimmertür mit einem lauten Klacken hinter ihm schloss. Im selben Moment ertönte ein heiseres Stöhnen hinter dem Vorhang. Bernauer machte einen großen Schritt vorwärts und lugte um die Vorhangkante herum.

Das Bett wirkte riesig, oder der Patient darin winzig klein. Der Bemitleidenswerte hob behutsam die Hand zum Gruß. »Stephan, guten Morgen.« Er senkte die Hand wieder auf die Bettdecke. Er wirkte schwach. So kannte ihn Bernauer nicht. Sein Kollege war einer jener Menschen, die jeden Tag voller Tatendrang angingen und scheinbar über unendliche Energiereserven verfügten. Ihn so zu sehen, machte Bernauer betroffen.

»Guten Morgen«, antwortete er und zog den unbequem aussehenden Holzstuhl zu sich heran, um neben dem Bett Platz zu nehmen.

»Blöde Situation.« Der Patient lächelte müde.

»Kann man wohl sagen«, erwiderte Bernauer und rückte mit dem Stuhl näher heran, um einen Blick auf das Gesicht des Patienten erhaschen zu können. Die Wangen wirkten eingefallen, die Gesichtsfarbe fahl und grau. Bernauer erschrak, was seinem Gegenüber nicht entging: »So liegt der Adonis danieder.« Wieder dieses zögerliche Lächeln. Ob er Schmerzen hatte? Wenigstens hatte er seinen Humor nicht verloren.

Erst jetzt fiel Bernauer auf, dass sich die Bettdecke am Fußende wölbte.

Der Patient folgte Bernauers Blick. Mit einem Nicken forderte er ihn auf nachzuschauen. »Du kannst die Decke ruhig anheben. Aber es wird dir nicht gefallen.«

Bernauer zögerte. Er war froh, als der Patient sagte: »Schon gut, lass mal. Ich kann dir auch einfach sagen, was dich unter der Decke erwarten würde.« Und ohne eine Reaktion Bernauers abzuwarten, führte er aus: »Doppelter, komplizierter Beinbruch links. Rechts: Riss des vorderen und hinteren Kreuzbands. Dazu ein Beckenbruch. Der ist aber immerhin stabil.«

Bernauer machte große Augen.

»Ich musste für Olympia kurzfristig absagen.« Dieses Mal lachte er laut und Bernauer war erleichtert. »Sie wussten beim IOC nicht, unter welcher Kategorie ich mich einschreiben sollte.« Wieder dieses befreiende Lachen.

»Im Ernst, wie geht es dir, Thomas?«, fragte Bernauer vorsichtig.

»Wie man’s nimmt. Die Ärzte sagen, ich dürfe noch eine Weile hierbleiben. Wenn alles gut verläuft, kann ich in etwa einem Jahr wieder ohne Krücken gehen.«

Bernauer machte ein verkniffenes Gesicht.

»Vielleicht haben sie bis dann einen Bürojob für mich.«

»Thomas Strebel, der Bürohengst?« Bernauer konnte sich seinen Freund beim besten Willen nicht in dieser Rolle vorstellen. »Wie lange musst du noch bis zum Ruhestand?«

»Zu lange für eine Frühpensionierung und zu kurz, um im Büro zu versauern.« Das Lachen war aus Strebels Miene verschwunden.

»Wir machen dich wieder fit«, behauptete Bernauer in einem Anflug von übersteigertem Enthusiasmus.

»Danke, Stephan. Ich weiß es zu schätzen. Aber wir müssen realistisch bleiben. Die wilden Tage sind wohl vorbei.« In sein Lächeln mischte sich Verbitterung.

Es entstand ein für Bernauer unangenehmer Moment der Stille, den er zu überbrücken versuchte: »Wie ist das überhaupt passiert?«

Strebel schaute zur Decke. »Eine Mischung aus postjugendlichem Übermut und großer Dummheit.«

Jetzt lächelte Bernauer. Er wartete auf weitere Erläuterungen Strebels, als diese jedoch ausblieben, ließ er es vorerst dabei bewenden. Er wollte seinen Kollegen, den er sehr schätzte, nicht zu etwas drängen.

»Du musst übernehmen«, sagte Strebel unvermittelt.

»Wie meinst du das?«

»So, wie ich es sage, du musst mich stellvertreten.«

»Ich?« Bernauer wusste nicht, ob er Strebels Bitte richtig verstanden hatte. Natürlich hatte er die Worte gehört, konnte sich aber nicht vorstellen, dass sein Kollege sie ernst gemeint hatte. Immerhin arbeitete Bernauer in einem anderen Bezirk.

Strebel deutete Bernauers Skepsis richtig: »Ich bitte dich. Du bist der Einzige, der diese Sache zu Ende bringen kann.«

Bernauer starrte ihn an.

»Ich bin da an einem spannenden Fall dran. Und ich kann mir nicht vorstellen, wer diesen sonst betreuen könnte.«

»Ich weiß nicht …«

»Du kennst die personelle Situation nur zu gut. Wir kriegen einfach keine guten Leute. Der Fachkräftemangel greift um sich.«

»Ja, da hast du wohl recht. Und was ist mit deinen jungen Kollegen?« Beim Aussprechen dieses Satzes hätte sich Bernauer am liebsten auf die Zunge gebissen. Er erntete denn auch lediglich einen mitleidigen Gesichtsausdruck seines Gegenübers.

»Außerdem schuldest du mir noch einen Gefallen, falls du das vergessen haben solltest.« Strebel schaute emotionslos und mit festem Blick direkt in Bernauers Augen.

Dieser senkte seinen Blick und wollte zu einer Replik ansetzen, als sie durch das Vibrieren von Strebels Smartphone auf dem kleinen Beistellmöbel neben dem Bett unterbrochen wurden. Das Display war auf die Tischplatte gerichtet, weshalb Bernauer nicht erkennen konnte, welcher Anrufer angezeigt wurde. Bernauers Kollege ließ sich durch das lautlose Klingeln nicht beirren.

»Willst du nicht rangehen?«

Strebel winkte ab. Nach ein paar weiteren Vibrationen verstummte das Handy.

Bernauer nahm den Faden wieder auf: »Und wie stellst du dir das vor?«

Jetzt lächelte Strebel wieder. »Ich habe da schon einmal vorgespurt. Meine Chefin ist damit einverstanden. Am besten gehst du direkt auf sie zu.«

Bernauer war es unangenehm, dass sein vermeintlich harmloser Spitalbesuch bei seinem verletzten Freund zu einem Rekrutierungsgespräch wurde. Trotzdem konnte er Strebel die Bitte nicht abschlagen. Zu viel hatten sie schon zusammen erlebt. Strebel war über die Jahre zu einem Sparringspartner geworden, jemand, mit dem Bernauer Fälle diskutieren konnte. Nicht selten hatte Strebel ihm einen Rat in der Ermittlungsarbeit gegeben, der Bernauer weiterbrachte. Manchmal war es aber auch einfach gut, jemanden zu kennen, mit dem man sich bezüglich der nicht immer einfachen Polizeiarbeit austauschen konnte; Strebel war Kollege, Coach, Berater, Klagemauer und Freund.

Bernauer schaute einen Moment zwischen den Lamellen hindurch zum Fenster hinaus. Es war ein trüber Herbsttag mit einer zähen Hochnebeldecke über dem Mittelland. Die fast kahlen Bäume wehrten sich mit scheinbar letzter Kraft gegen das Loslassen ihrer Blätter. Es würde ihnen nicht gelingen, sie festzuhalten – auch dieses Jahr nicht.

»Also gut, ich …«

Bernauer unterbrach sich.

Strebel war eingeschlafen.

Kapitel 2

Vom Spital war es nicht sehr weit bis zum Polizeiposten. Bernauer parkierte vor dem historisch wertvollen Gebäude und stieg langsam aus. Er blickte vom Hügel, auf dem der Polizeiposten stand, über das morgendliche Muri. Es herrschte erstaunlich viel Verkehr für diese Tageszeit, wie er fand. In der kurzen Dauer, die er ins Tal schaute, hätte er diverse Verkehrsregelverletzungen beim großen Kreisel ahnden können. Besonders auffällig waren etliche heikle Situationen auf den Fußgängerstreifen mit Leuten, die ins nahe gelegene Einkaufscenter gehen wollten.

Er zwang sich wegzuschauen und bemerkte, dass die große Birke, unter der er parkiert hatte, bereits ein paar gelbliche Blätter auf sein Auto hatte fallen lassen. Er pflückte sie mit Daumen und Zeigefinger weg und ging dann zum Eingang des Amtshauses.

Am Empfang musste er sich durchfragen, erhielt dann aber die gewünschte Auskunft und nahm die Treppe in den ersten Stock.

Bernauer betrat das geräumige Büro, das ihm die junge Kollegin am Empfang beschrieben hatte. Selina Keller saß am Schreibtisch hinter einem großen Monitor, der beinahe die ganze Breite des Pults einnahm. Bernauer trat vorsichtig ein und schloss die Tür hinter sich.

Ohne aufzublicken, begrüßte ihn Keller mit den Worten: »Was machen wir denn jetzt, Bernauer?«

Er war von dieser Frage überrumpelt. Er versuchte zu antworten, es kam ihm aber nichts Gescheites in den Sinn und so stammelte er: »Ich, äh, also, wie meinen Sie …«

»Schon gut«, unterbrach ihn Keller, »nehmen Sie Platz.«

Bernauer hörte kein »Bitte« und nahm es deshalb wie einen Befehl auf. Schnell setzte er sich auf einen der beiden Stühle am kleinen, runden Besprechungstisch.

Nun erhob sich auch Keller. Sie trug Zivilkleidung, einen eleganten Hosenanzug in Dunkelgrau und hochhackige Schuhe. Dazu eine helle Bluse. Bernauer schätzte sie auf Mitte, vielleicht Ende 40. Ihr schulterlanges, glattes rotbraunes Haar war vermutlich getönt. Ihre Gesichtszüge verrieten Strenge und Entschlossenheit. Bernauer machte aber auch einen Hauch von Unsicherheit aus. Vielleicht wusste Keller nicht so recht, wie sie mit Bernauer umgehen sollte. Sie setzte sich zu ihm ans Tischchen. »Kaffee?«

»Espresso«, brachte Bernauer heraus.

Wie durch Zauberhand öffnete sich in diesem Moment die Tür und die junge Dame vom Empfang streckte ihren Kopf mit einem fragenden Blick herein.

»Könntest du uns bitte zwei Espressi bringen?«, säuselte Keller nun in einer sehr freundlichen, fast schon devoten Tonlage. Bernauer wusste nicht, ob sie dies wirklich aus Freundlichkeit oder eher aufgrund der Tatsache machte, dass Polizeipersonal eigentlich nicht dazu da war, der Chefin Kaffee zuzubereiten. Sie betonte das »i« von Espressi wahrscheinlich, um Bernauer zu zeigen, dass sie den italienischen Plural korrekt bilden konnte. Bernauer war davon jedoch unbeeindruckt.

Es entstand ein längerer Moment unangenehmer Stille zwischen den beiden. Bernauer fixierte die Tischplatte mit den Augen, während Selina Keller sich das großformatige Gemälde neben dem Tisch besah. Ihrem Blick nach zu urteilen, entdeckte sie gerade ein neues Detail, das ihr bisher noch nie aufgefallen war. Dies konnte sich Bernauer jedoch nicht vorstellen und deutete Kellers Verhalten als Verlegenheitshandlung.

Schließlich wurde der Kaffee gebracht und Bernauer hatte einen Grund, sich aus seiner Starre zu lösen. Er nahm eine Portion Kaffeerahm vom Tablett, öffnete das Plastikdöschen und beobachtete, wie der Rahm in seinen Espresso floss. Er zelebrierte diese Geste und erwartete, Keller damit zu provozieren, etwas über Kaffeegepflogenheiten zum Besten zu geben, wie zum Beispiel, dass man einen Espresso keinesfalls mit Rahm trinken dürfe. Zu Bernauers Erstaunen tat es Keller ihm stattdessen gleich. Mit einem gewinnenden Lächeln öffnete auch sie ein Döschen und goss den Rahm langsam in die kleine Tasse.

»Ich habe Sie anders eingeschätzt«, lächelte Bernauer zurück. Sie verstand offensichtlich und ließ es dabei bewenden.

Nach einem kurzen Blick in den Kaffeeschaum fragte sie unvermittelt: »Warum sind Sie hier, Bernauer?«

Bernauer, überrascht von dieser Frage, antwortete zurückhaltend: »Thomas Strebel bat mich, seine Stellvertretung zu übernehmen, solange er – na ja wie lange eigentlich? Ich denke, solange er außer Gefecht ist.«

Frau Keller sah ihn verwundert an: »Davon weiß ich nichts.« Die Strenge war zurück in ihrer Miene.

»Aber Thomas hat mir versichert, Sie wüssten davon und seien einverstanden.« Hatte er das wirklich? Bernauer war sich auf einmal nicht mehr sicher.

»Und selbst wenn, wie stellen Sie sich das vor, Bernauer?« Keller lehnte sich angriffslustig nach vorne. »Sie sind ja in Bremgarten tätig.«

»Ich habe mir das vielleicht als Stage vorgestellt oder als bezahltes Sabbatical«, faselte Bernauer. Wenn er ehrlich zu sich selbst war, musste er gestehen, dass er sich über die Details seines Einsatzes für Strebel bisher noch gar keine Gedanken gemacht hatte. Seine Arbeit in Bremgarten machte sich ja auch nicht von allein. Klar, im Moment hatte er keinen größeren Fall zu lösen, aber auf die Schreibarbeit war niemand erpicht. Und wenn er hier in Muri tätig war, musste jemand anderes diese Dinge erledigen. Bisher ging er davon aus, dass sich dies schon irgendwie regeln lassen würde.

»Und Sie dachten, dass ließe sich dann schon irgendwie regeln, nicht wahr?«, schien Keller Bernauers Gedanken zu lesen. Dann stand sie auf und begann, im Raum umherzugehen. »Aber so einfach ist es nicht. Außerdem haben wir ein Team von motivierten, jungen Polizistinnen und Polizisten. Auch die möchten einmal einen größeren Fall übernehmen. Im Moment sehe ich leider keine Möglichkeit, tut mir leid.« Sie lehnte sich ans Fensterbrett, verschränkte die Arme und schaute herausfordernd zu Bernauer herüber.

Bernauer war mit seinem Latein am Ende. Er wusste nicht, wie er sich überhaupt in diese Situation hatte bringen lassen. Anfangs hatte er nur einem verletzten Freund helfen wollen. Jetzt fühlte er sich überrumpelt und wollte nur noch möglichst schnell aus diesem Raum heraus. Er stand auf und wandte sich zum Gehen.

»Adieu, Herr Bernauer«, rief Keller ihm nach.

Bernauer stutzte kurz. Sie hatte tatsächlich »Adieu« gesagt. Anscheinend wünschte sie kein Wiedersehen.

Kapitel 3

Für den zweiten Besuch bei Strebel nahm Bernauer den Bus, dessen Strecke seit Kurzem vom Bahnhof bis zum Spital verlängert worden war.

Es herrschte reger Betrieb im Krankenzimmer. Zwei Pflegekräfte waren dabei, Strebels Verband zu wechseln. Bernauers Kollege winkte ihm fröhlich zu, während die beiden Frauen überrascht aufblickten. Bernauer wandte sich beschämt ab.

»Die Besuchszeit beginnt erst um halb«, raunzte die eine Pflegende.

Bernauer begriff, dass es wohl besser war, vor dem Zimmer zu warten, obwohl er es kleinlich fand, ihn wegen zehn Minuten so unfreundlich zu behandeln. Andererseits war er froh, die Prozedur nicht beobachten zu müssen.

Er setzte sich auf einen freien Stuhl im Flur und zückte sein Mobiltelefon. Die Nachrichten hatten sich seit seinem letzten Check vor 15 Minuten nicht verändert. Er steckte das Gerät weg, stützte die Ellbogen auf die Knie auf und starrte vor sich hin. Aus dem Zimmer vernahm er keinen Laut. Die Tür war massiv und offensichtlich ziemlich schalldicht. Stattdessen hörte er aus einem Raum gegenüber, gemäß der Beschriftung neben der Tür das Stationszimmer, eine lautstarke Auseinandersetzung.

Er stand auf, wechselte die Flurseite und ging langsam und leise auf die offen stehende Tür zu. Er presste sich mit dem Rücken gegen die Wand, um nicht gesehen zu werden, und lauschte.

»… eine Katastrophe«, schallte es ihm entgegen. »Und du bist schuld an dieser Scheiße. Mann, ich könnte dich …« Die Stimme gehörte eindeutig einer Frau.

»Na, hör mal!«, antwortete eine männliche Stimme. »Du wusstest von Anfang an, auf was du dich einlässt. Jetzt komm mir nicht mit ›davon habe ich nichts gewusst‹.« Den letzten Teil äffte der Mann in einer höheren Stimmlage nach.

»Aber ich wusste nicht, dass es so herauskommt. Du hast immer gesagt, es sei eine absolut sichere Sache. Niemand sollte zu Schaden kommen. Und jetzt? Jetzt …« Sie kämpfte mit den Tränen. Ob aus Wut oder aus Trauer konnte Bernauer nicht sagen. »Jetzt kratzt die uns ab!«

Bernauer wurde hellhörig. Sofort spannten sich sämtliche Muskeln in seinem Körper an und er war hellwach. Hatte er richtig gehört, es ging hier möglicherweise um einen Mord? Er musste versuchen, einen Blick ins Innere des Stationszimmers zu erhaschen. Langsam bewegte er seinen Kopf um den Türrahmen herum. Ehe er jedoch etwas erkennen konnte, stürmte ein Mann in einem strahlend weißen Arztkittel an ihm vorüber und rempelte ihn dabei an.

»Passen Sie doch auf, Mann«, herrschte er Bernauer an und war sogleich um die nächste Ecke verschwunden.

Es war zu schnell gegangen, als dass Bernauer den Mann genau hätte erkennen können. Im gleichen Moment wurde die Tür des Stationszimmers mit einem lauten Knall zugeworfen.

Von der anderen Seite des Flurs hörte er jemanden rufen. »Das Zimmer ist jetzt frei. Sie können nun zu Herrn Strebel.«

Kapitel 4

Wieder betrat Bernauer Strebels Krankenzimmer. Dieses Mal saß der Patient aufrecht im Bett und war gut gelaunt.

»Dir scheint es besser zu gehen, das freut mich«, bemerkte Bernauer ehrlich positiv überrascht.

»Ja, nicht wahr?«, bestätigte sein Gegenüber. »Die Pflege hier lässt wirklich wenig zu wünschen übrig.«

»Wie man’s nimmt«, bemerkte Bernauer.

»Was meinst du damit?«

»Ich wurde gerade Zeuge einer ziemlich heftigen Auseinandersetzung auf dem Gang.«

Strebel machte ein skeptisches Gesicht. »Also bei mir stimmt alles. Ich kann nichts Schlechtes sagen.«

Nun runzelte Bernauer die Stirn. »Dir ist nichts aufgefallen? Der Streit schien ziemlich gravierend zu sein. Anscheinend ging es um ein Delikt gegen Leib und Leben.«

»Jetzt hör aber auf!« Strebel ließ sich zu einem Lachen hinreißen, das er sogleich zu bereuen schien, weil er vor Schmerz zusammenzuckte. »Autsch!«, machte er und verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Und etwas ernster fuhr er fort: »Immer noch der Alte, was, Stephan? Siehst überall Mörder und Halunken.«

Bernauer war die Situation peinlich. Dennoch war er sich sicher, dass es sich im Stationszimmer nicht einfach um ein harmloses Wortgefecht gehandelt hatte. »Wenn du meinst«, sagte er ohne große Überzeugung.

»Aber vielleicht ist es genau dieser Geist, der einen großen Ermittler ausmacht«, bemerkte Strebel und zeigte mit dem Finger auf seinen Besucher. »Und so einer bist du zweifelsohne.«

Bernauer stieg nun definitiv die Schamesröte ins Gesicht. Statt einer Widerrede winkte er ab.

»Du musst dein Licht wirklich nicht unter den Scheffel stellen. Ich lese mittlerweile nur noch in der Zeitung von dir. Du bist eine richtige Berühmtheit geworden.«

Bernauer schüttelte langsam den Kopf.

»Und genau deshalb wünsche ich mir, ach was, deshalb will ich, dass du mich vertrittst, bis ich wieder auf den Beinen bin«, bohrte Strebel weiter. Er lehnte sich zu Bernauer nach vorne, so gut es in seinem Zustand ging. Im Flüsterton fuhr er geheimnisvoll fort: »Ich bin da an dieser Sache dran.«

»Worum geht es, Thomas?«, fragte Bernauer in Zimmerlautstärke.

Strebel legte einen Finger auf die Lippen. »Nicht hier …« Er sah sich gehetzt um. »Die Wände haben Ohren.«

In diesem Moment öffnete sich die Tür und eine Pflegefachfrau betrat den Raum. Sie verschwand im kleinen Badezimmer, hantierte darin herum und verließ das Krankenzimmer nach kurzer Zeit wieder.

»Siehst du?«, bemerkte Strebel, der sich wieder im Bett zurückgelehnt hatte.

»Jetzt mach aber mal einen Punkt!«, regte sich Bernauer auf. »Siehst du jetzt überall Gespenster? So kenne ich dich ja gar nicht.«

»Das ist ja auch nicht irgendein Fall«, sagte Strebel verschwörerisch. »Meine Aufzeichnungen dazu sind in meinem Büro.« Wieder lehnte er sich nach vorne und wieder flüsterte er: »Hinter dem Anker an der Wand findest du ein Tresorfach.« Er streckte einen Arm aus und versuchte, die Schublade des Beistelltischchens zu erreichen. Als Bernauer sah, dass dies ein hoffnungsloses Unterfangen war, half er seinem Freund und öffnete die Schublade für ihn.

»Nimm den Schlüssel!«

Bernauer fand das kleine, altmodische Exemplar nach einigem Wühlen in der hintersten Ecke der Schublade. »Den hier?«

»Genau. Pass gut darauf auf.«

Bernauer nickte mit einem Augenrollen.

»Und jetzt geh und löse den Fall.« Strebel machte eine wegwerfende Handbewegung und erinnerte Bernauer dabei irgendwie an Marlon Brando in »Der Pate«.

»Genau darüber wollte ich mit dir sprechen.«

In gespannter Erwartung hob Schumacher die Augenbrauen.

»Ich war bei deiner Chefin, Thomas.«

»Und?«

»Sie sagte mir, dass sie von nichts wisse, was deine Stellvertretung angehe. Sie sagte mir auch, dass sie den jungen Kollegen bei euch eine Chance geben möchte, wenn du nicht da bist.«

Jetzt war es Strebel, der abwinkte. »Ach, mach dir darüber keine Gedanken, Stephan. Ich habe mittlerweile mit ihr gesprochen. Sie hatte das völlig falsch verstanden und ist absolut damit einverstanden. Du wirst sehen, das wird eine gute Sache.«

Bernauer war überrascht. Er hatte Frau Keller als standfeste Persönlichkeit wahrgenommen, die sich nicht so leicht von ihrer Meinung abbringen ließ. Hatte Strebel sie tatsächlich umstimmen können? Vielleicht sah Bernauer wirklich schon überall Ungereimtheiten oder sein Freund hatte beim ersten Besuch noch unter starkem Medikamenteneinfluss gestanden. Trotzdem musste sich Bernauer vergewissern, denn ohne Kellers Zustimmung würde Bernauer die Stellvertretung sicherlich nicht übernehmen können und wollen.

»Ich weiß nicht«, sagte er, seine Gedanken zusammenfassend.

»Keine Widerrede, Herr Bernauer!« Strebel lächelte entwaffnend.

»Also gut, ich mach’s«, gab Bernauer schließlich nach.

Er verließ das Zimmer und schlenderte gedankenverloren den Gang entlang. Wie stand es um sein Nervenkostüm? Sah er wirklich Dinge, die es nicht gab, oder interpretierte er berufsbedingt einfach zu viel in gewisse harmlose Situationen hinein? Er hatte sich bisher immer als Schnelldenker und als Mann gesehen, der eine gute Menschenkenntnis und eine fast noch bessere Intuition besaß. Auf einmal war er sich dessen nicht mehr so sicher. Mit jedem Schritt fühlte er sich älter. War das der Beginn einer ausgewachsenen Midlife-Crisis? Würde er sich schon bald eine Harley oder einen zweisitzigen Sportwagen kaufen? Oder begannen seine geistigen Fähigkeiten bereits abzunehmen und alles waren erste Anzeichen einer Frühdemenz? Oder hatte Strebel einfach versucht, ihm etwas einzureden? Aber welchen Sinn hätte das gemacht?

Bernauer schüttelte den Kopf und versuchte, diese trüben Gedanken zu verscheuchen.

Beim Stationszimmer angekommen, riskierte er einen Blick durch die einen Spaltbreit offen stehende Tür. Eine junge Frau saß weinend am Schreibtisch. Vor ihr auf dem Pult stand ein großer roter Blumentopf. Die Pflanze darin – Bernauer tippte auf einen Kaffeebaum – war nur noch ein bemitleidenswerter verdorrter Haufen Unkraut.

Kapitel 5

Zurück in seinem Büro auf dem Posten in Bremgarten kam Bernauer zur Überzeugung, dass er eine Bestätigung von Frau Keller brauchte.

Er war wirklich überrascht, als er sie telefonisch erreichte und sie ihm sofort versicherte, dass sie nichts gegen seinen Einsatz als Strebels Stellvertretung einzuwenden hatte. Auf seine Nachfrage hin, was ihren plötzlichen Meinungsumschwung bewirkt habe, antwortete sie ausweichend, entschuldigte sich aber schließlich für etwaige Missverständnisse und beendete das Telefonat mit der Begründung, sie müsse jetzt wirklich weiter.

Das Gespräch ließ Bernauer verwirrt zurück. Hatte er sich so in Frau Keller getäuscht? Das konnte er sich nicht recht vorstellen. War das ein weiteres Zeichen seines schleichenden Zerfalls? Er setzte sich auf das abgenutzte braune Ledersofa in seinem Büro, starrte zum alten Opel-Lenkrad hoch, das über der Couch an der Wand angebracht war, und sinnierte eine Weile vor sich hin. Er kam zum Schluss, dass er dringend einer Rückendeckung bedurfte.

Staatsanwalt Dr. Friedrich Huber klang gereizt, wie eigentlich immer, wenn Bernauer mit ihm telefonierte. Kurz angebunden und ganz offensichtlich abgelenkt hörte sich Huber Bernauers Bitte an, für eine Weile die Stellvertretung Strebels übernehmen zu dürfen. Der Polizist endete mit seinem Vortrag, ohne dass sein Gesprächspartner etwas erwidert hätte. Nur gelegentlich hatte er abwesend ein bestätigendes Geräusch oder einen Seufzer von sich gegeben. Nachdem Bernauer aufgehört hatte zu sprechen, breitete sich eine seltsame Stille aus.

»Sind Sie noch da?«, fragte er daher nach einer gefühlten Ewigkeit. Er hörte scharrende Geräusche und Gemurmel. Dann wurde irgendwo im Hintergrund eine Tür geschlossen.

»So, Bernauer, jetzt bin ich ganz Ohr«, hörte er Hubers Stimme nun klar und deutlich. »Ich bin hier gerade bei … einer Veranstaltung. Also, was wollen Sie von mir? Warum stören Sie mich?«

Bernauer war zu überrascht, als dass er gleich sprechen konnte.

»Hören Sie, Bernauer, man erwartet mich wieder, also sagen Sie, was Sie zu sagen haben. Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.«

Bernauer beeilte sich, sein Anliegen, so gut es ging, noch einmal vorzubringen. Er hatte aber das Gefühl, beim ersten Mal habe es besser geklungen.

Umso überraschter war er, als Huber sagte: »Gut, machen Sie das, Bernauer.«

»Wie bitte?«, stammelte er.

»Übernehmen Sie die Stellvertretung von diesem … wie hieß er noch gleich?«

»Strebel«, beeilte sich Bernauer zu sagen.

»Von diesem Strebel, genau. Es wird Ihnen guttun, einmal etwas andere Luft zu schnuppern. Sie werden staunen, was so ein Tapetenwechsel bewirken kann. Und schließlich profitieren wir alle davon, wenn wir Ermittler mit einem erweiterten Horizont im Einsatz haben.« Er lachte ein kurzes, trockenes Lachen. »Auch ich habe mal ein Sabbatical gemacht – hat einiges bewirkt, kann ich Ihnen sagen.«

Bernauer erwartete eine ausschweifende Beschreibung von Hubers Heldentaten während seiner Auszeit. Stattdessen schloss Huber mit einer gewissen Resignation in der Stimme: »Ist aber schon eine Weile her.«

Um Huber nicht doch noch eine Gelegenheit zu geben, seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen, fragte Bernauer schnell: »Und wer macht meine Arbeit in Bremgarten in der Zwischenzeit?«

Huber hatte sich sofort wieder im Griff: »Das ist ja dann wohl nicht mein Problem. Sie sind der Vorgesetzte Ihrer Truppe. Also lassen Sie sich gefälligst etwas einfallen. Sie haben ja noch Ponte und diesen Staubli, der macht mir einen ganz passablen Eindruck, auch wenn er schon etwas älter ist. Aber Erfahrung lässt sich mit keiner Weiterbildung aufwiegen, merken Sie sich das, Bernauer.«

Verdutzt antwortete er nur: »Ja, klar.«

»Ich meine es so, Bernauer. Und wenn sich keine Lösung finden lässt, dann machen Sie halt beide Jobs gleichzeitig. Das darf man, glaube ich, von einem Mann in Ihrer Funktion zumindest für eine gewisse Zeit erwarten.«

Damit war für Huber das Gespräch offenbar zu Ende. In strengem Tonfall fragte er: »Sonst noch was?«

»Nein, das wär’s.«

»Gut, habe die Ehre. Viel Erfolg«, sagte Huber beiläufig und seine Stimme klang etwas weiter weg. Bernauer hörte noch, wie auf der anderen Seite der Leitung eine Tür geöffnet wurde und lautes Stimmengewirr hereindrang.

Kapitel 6

Strebels Büro war winzig. Bernauer musste sich beim Betreten zwischen Türblatt und Schreibtisch hindurchzwängen. Er zog die Tür umständlich hinter sich zu und blickte sich im Raum um. Rechts der Tür befand sich ein hüfthohes, billig wirkendes weißes Sideboard. Darauf stand ein Flaschenschiff auf einem kleinen Sockel.

Die Tablare des Sideboards waren mit Ordnern gefüllt. Bernauer hielt den Kopf schief, um die Beschriftungen auf den Ordnerrücken besser lesen zu können. Es waren allesamt Titel von Weiterbildungskursen, die Strebel besucht haben musste. Die ältesten reichten bis in die 90er-Jahre zurück.

Er nahm sich einen Ordner und blätterte darin herum. Er hatte, einer plötzlichen Eingebung folgend, gehofft, dass die Rückenbeschriftung möglicherweise nur der Tarnung diente und er etwas viel Interessanteres im Inneren des Ordners finden würde. Er wurde enttäuscht. Es handelte sich tatsächlich nur um Kursunterlagen. Er stellte den Ordner zurück und griff mechanisch nach Strebels Schlüssel in seiner Hosentasche.

Er suchte nach dem Anker-Gemälde, das Strebel ihm genannt hatte, fand aber keines. Stattdessen hing ein großer Anker aus Holz an der Wand. Bernauer schmunzelte. Das war als Versteck ein bisschen zu offensichtlich. Aber vielleicht gerade deshalb so gut dafür geeignet.

Er hob den schweren Anker an und prüfte, was sich dahinter befand. Er sah nichts außer der kahlen Wand. Er strich mit den Fingern darüber, fand aber keine Hinweise auf ein Versteck. Enttäuscht schob er den Anker zurück an seinen Platz. Er trat einen Schritt zurück und überlegte kurz. Dann besah er sich den Anker genauer. Der Schaft war dicker als die Arme. Er hing an einem Hanfseil, das mit einem massiven Haken an der Wand befestigt war. Bernauer klopfte auf den Schaft und bemerkte, dass er in der Nähe des Kreuzes hohl klang. Er nahm den Anker in beide Hände und drehte ihn vorsichtig um. Am unteren Ende des Schafts fand er, wonach er suchte.

Die kleine Klappe ließ sich mit Strebels Schlüssel mühelos öffnen. Der Hohlraum dahinter war zu klein für Akten, die Bernauer eigentlich erwartet hatte. Stattdessen lag darin ein weiterer Schlüssel, dieses Mal ein moderneres Modell. Er schloss die Klappe wieder und rückte den Anker zurecht.

Er probierte den Schlüssel am Schloss des Schubladenkorpus unter dem Schreibtisch. Doch er passte nicht. Frustriert ließ er sich in den Bürostuhl fallen. Er schaute sich im Raum um, konnte aber nirgends ein Schloss finden. Schließlich lehnte er nach vorne, stützte die Ellbogen auf die Tischplatte und hielt seinen Kopf mit beiden Händen fest.

Erst jetzt fiel ihm auf, dass die Tischplatte kunstvoll mit verschiedenfarbigen Intarsien ausgelegt war. Sie zeigte einen Ozean mit wunderlichen Fischen und Fabelwesen. Oben rechts war eine Windrose zu sehen und ganz links ein seltsam geformter bräunlicher Fleck.

Bernauer schüttelte den Kopf. Strebel hatte es offensichtlich fertiggebracht, die schöne Tischplatte mit Kaffee zu ruinieren. Das sah ihm ähnlich. Vielleicht hatte sein Kollege den Tisch aber auch günstig in einem Brockenhaus erstehen können, gerade wegen des Flecks. Das sähe ihm noch ähnlicher.

Bernauer schwenkte mit dem Bürostuhl hin und her. Den Schlüssel drehte er in seinen Händen. »Wo passt du bloß?«, murmelte er vor sich hin.

Sein Blick fiel auf das Flaschenschiff. Könnte sich vielleicht irgendwo im Sockel ein Geheimfach verbergen? Er stand auf und ging zum Sideboard hinüber, um sich das kunstvoll gefertigte Dekostück genauer anzusehen. Er nahm die Flasche in die Hand und hob sie hoch, um die Details besser erkennen zu können. Als er bemerkte, dass die Takellage zu wackeln begann, wollte er das Gebilde, einem Reflex folgend, schnell wieder auf seinen Platz stellen. Dann besann er sich eines Besseren und drehte die Flasche herum, sodass er die Unterseite des Sockels sehen konnte.

Leider befand sich auch dort kein Schloss, in das der Schlüssel hätte passen können. Er wollte das Schiff gerade zurückstellen, als ihm auffiel, dass ihm die Form der Sockelbasis bekannt vorkam. Er brauchte einen Moment, um zu realisieren, dass sie ihn an den Fleck auf dem Schreibtisch erinnerte.