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Kriminalhauptkommissar Pierre Franco Andrea Villalunga bleibt keine Zeit nach seiner Versetzung von Köln nach Wuppertal. Er ist noch nicht im Dienst, da geschieht schon der erste Mord -oder war es doch ein Unfall? Die Spuren führen ihn quer durch Europa und reichen bis zum arabischen Kontinent. Mit Ausdauer und Jagdinstinkt verfolgt Villalunga seine Ermittlungen und bleibt dem Täter auf den Fersen, auch wenn er selbst zur Zielscheibe wird.
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Seitenzahl: 187
Veröffentlichungsjahr: 2023
Emilio Endo
ALQATIL
EIN WUPPERTAL-KRIMI
© 2023 Emilio Endo
Druck und Distribution im Auftrag des Autors: tredition GmbH, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Germany
ISBN Softcover: 978-3-347-86819-9
ISBN e-Book: 978-3-347-86820-5
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Deutschland.
Bibliografische Information der DeutschenNationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.dnb.de abrufbar.
DER AUTOR
Emilio Endo, geboren 1972, war Gerichtsreporter einer Tageszeitung und Regisseur einer Kleinkunstbühne bevor er lange Jahre als Fotograf und Reisejournalist auf vielen Kontinenten unterwegs war. Während dieser Reisen begann er mit seiner schriftstellerischen Tätigkeit. Er hat zahlreiche Reiseberichte und acht Romane veröffentlicht. Er lebt mit seiner Familie im Bergischen Land im Westen Deutschlands.
Cover
Titelblatt
Urheberrechte
DER AUTOR
TURBULENZEN
MUÁMARA
NEUGIER
VERNEBLUNG
KOKON
MANCALA
PUZZLE
FRÜHLINGSGEFÜHLE
FLUCHTWEGE
INFORMATIONEN
KOMPLIKATIONEN
ATEMLOS
BEFRIEDIGUNG
TABBOULEH
WENDE
RECHERCHE
SCHNITZELCHEN
WITTERUNG
SPRINT
JAGD
KURSWECHSEL
GEZINKTE KARTEN
REIßLEINE
WEIßE BOHNEN
BIG BEN
FALSCHES SPIEL
HASS
SPRINT II
FISCHE
FRACHTGUT
ESPRESSO
ANNABEL
PIRSCHGANG
CHAOS
STRIPPENZIEHER
RÜCKSPIEGEL
POKER
ROCHADE
ALQATIL
FUCHS IM BAU
BLUFF
GIFT
RUB AL-KHALI
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TURBULENZEN
Ein blauer Himmel, Sonne und 25 Grad Außentemperatur sollten eigentlich für gute Laune sorgen. Die stellte sich bei Kriminalhauptkommissar Villalunga aber nur sehr allmählich ein. Statt einer Beförderung zum Ersten Hauptkommissar hatte man ihn von Köln nach Wuppertal versetzt, angeblich, weil dort seine beachtliche Aufklärungsquote bei Mord dringend benötigt wurde; in Wirklichkeit aber brachten ihn seine Vorgesetzten so aus der Schusslinie der dortigen Internen Ermittlung, die ihm mit der Bissigkeit eines Bullterriers nachstellte. Offensichtlich hatten seine bohrenden Fragen nach den Verwicklungen des Polizeioberrates Schorlick in eine Ermittlung über die marokkanische Mafia in Köln die Schmerzgrenze der Kollegen im gehobenen Dienst überschritten, die sich hier keinem Medienrummel aussetzen wollten. Und mit seinen gelegentlich unorthodoxen Methoden der Informationsbeschaffung, die auch den guten Kontakt zur dortigen Rotlichtszene einschloss, lieferte Villlalunga die nötige Munition für die Internen Ermittler.
Der Hauptkommissar hatte sich, nachdem seine Versetzung feststand, ein paar Tage frei genommen und nahm jetzt in einem Café in der Fußgängerzone in Elberfeld die Atmosphäre seiner neuen Umgebung auf.
Und die zeigte sich durchaus positiv, was hauptsächlich an der gut geformten Blondine lag, die im tief ausgeschnittenen weißen Stretch Kleid, ihre schlanken gebräunten Beine übereinandergeschlagen, zwei Meter entfernt von Ihm Platz genommen hatte. Bei Ihrem Kommen hatte er kurz den Duft Ihres aparten Parfüms wahrnehmen können -L'Eau d'Issey.
Villalungas Studie der weiblichen Anatomie wurde durch den sonoren Klang eines Sportwagens unterbrochen; er wendete den Blick zur Straße: ein Bugatti Veyron -selbst in Köln wäre er eine Seltenheitbog an der Ampel ab. Die vier Turbolader des Fahrzeugs waren in der Stadt total unterfordert und mit den 1200 PS unter der Haube durfte man beim Tankstopp mit entsprechenden Eurobeträgen rechnen -für diesen Fahrer sicher ohne Bedeutung.
Die medizinische Definition, ob ein Mensch hirntod ist, erfordert bei dem Patienten, der auf der Intensivstation beatmet wird, ein umfangreiches Protokoll, das in 4 Punkten abgearbeitet werden muss. Neben neurologischen Tests wird bei dem Apnoe-Test auch die Beatmung kurzfristig abgestellt, das Ganze nach 24 Stunden noch einmal wiederholt, und es folgen ergänzende apparative Untersuchungen wie Hirnstromkurve oder Nachweis des fehlenden Blutflusses in den Hirnschlagadern. Und es sind zwei unabhängige Untersucher erforderlich.
Das, was von oben lautlos angeflogen kam, um mit einem hässlichen Geräusch auf dem Tisch der Blondine zu landen, war zweifellos tot. Vorausgegangen war eine Unterbrechung der Atemtätigkeit, möglicherweise dadurch, dass der etwa 30-jährige Mann arabischer Herkunft sich beim Aufprall das Genick gebrochen hatte, was alleine als Todesursache schon ausgereicht hätte. Allerdings war er mit dem Gesichtsschädel auf dem Metalltisch aufgeprallt, was zu schweren Knochenbrüchen geführt hatte und einem Aufbersten der Schädelkalotte. Hirn quoll aus und was sich auf dem ehemals weißen Stretchkleid der nunmehr laut schreienden blonden Lady befand, waren reichlich Blutspritzer nebst Gewebsteilen.
Nein, Pierre Franco Andrea Villalunga hatte in seinen 18 Berufsjahren schon so viele Tote gesehen, dass Ihm sofort drei Dinge klar waren:
Erstens, der Araber war tot
Zweitens, die Todesursache war nicht natürlich
und drittens, seine Entspannung war finito.
Schließlich war er Zeuge dieses unnatürlichen Vorgangs, und das hieß, dass er mit einer polizeilichen Vernehmung rechnen durfte. Super – das war dann sein Kurzurlaub gewesen.
Inzwischen hatte sich eine Menschentraube vor dem Tisch des Verstorbenen gebildet. Und es waren schon etliche Smartphones gezückt, mit denen die Szene festgehalten wurde. Wahrscheinlich waren die Fotos früher in Facebook oder WhatsApp als die Meldung an die Polizei. In der Innenstadt waren immer Polizeistreifen unterwegs und die nächste Polizeiwache am Hofkamp war keine 1000 Meter entfernt.
„Bitte treten Sie zurück!“ eine Doppelstreife war erschienen und sondierte die Lage. Ein älterer Polizist nahm die Leiche in Augenschein, während eine junge Polizistin mit schwarzem Pferdeschwanz versuchte, die Menge an Schaulustigen zurückzudrängen.
„Bitte stehen Sie auf!“ Die Polizistin sprach Villalunga an.
„Eigentlich habe ich keine Lust, im Stehen auf die Kollegen der Kripo zu warten. Denn ich schätze, dass ich als Zeuge ja noch vernommen werden soll- oder?“
„Es müssen aber Fotos gemacht werden und so weiter, da brauchen wir Platz.“
Villalunga schaute auf die Schulterklappen der Polizistin: 1 Stern.
„Frau Polizeimeisteranwärterin, noch sind die Herrschaften ja noch nicht da und dann wird als erstes ja wohl die Absperrung vorgenommen. Außerdem wäre noch die Frage zu klären, ob das ein Selbstmord oder ein Mord oder -wenig wahrscheinlich- ein Unfall war. Und bis dahin kann ich ja noch sitzen bleiben.“
„Was zu tun ist, das lassen Sie mal unsere Sorge sein. Aber jetzt brauchen wir erst mal Platz für den Notarzt. Bitte stehen Sie endlich auf!“ entgegnete die Polizistin spitz, wobei sich Ihr Gesicht leicht rötete, was Sie, zugegeben, noch attraktiver machte. Villalunga schaute Sie genauer an: blauschwarze Haare, blaue Augen und slawische Gesichtszüge -faszinierend.
Der Hauptkommissar versuchte zu deeskalieren. „Stammen Ihre Vorfahren aus der Ukraine?“
„Woher wissen Sie das? Ich bin in der Ukraine geboren, in Polen zur Grundschule gegangen und seit meinem 10. Lebensjahr in Deutschland. Aber ich wüsste nicht, was das mit dem Problem zu tun hat, dass Sie nicht aufstehen wollen?“
Villalunga stöhnte leicht und zückte seinen Dienstausweis. „Als ich vorhin darauf verwies, dass ich keine Lust habe, im Stehen auf die Kollegen der Kripo zu warten, hätte ich vielleicht noch deutlicher „künftige Arbeitskollegen“ sagen sollen. Ich darf mich vorstellen: mein Name ist Villalunga, Hauptkommissar Villalunga. Ich übernehme nächste Woche die Leitung des Dezernats KK11 hier im Polizeipräsidium.“
MUÁMARA
Immer, wenn Bashir Hakim Ben Abdul Haddad Al-Suid in Muscat hierher zum Freitagsgebet kam, übertrug sich die Ruhe der Großen-Sultan-Qabus-Moschee mit ihren fünf Minaretten -eine Allegorie auf die fünf Säulen des Islam- auf ihn. Vom Südeingang war er an dem Hauptminarett vorbei durch die Riwaq mit den zwölf Nischen gegangen, die reich mit Ornamenten verziert waren. Zur Linken hatte er die Waschräume der Männer liegen lassen und hatte sich über die mit Marmorornamenten versehenen Bodenplatten zum Eingang der riesigen Männergebetshalle bewegt, vor der links die Schuhe in kleine Regale gestellt wurden.
Ein mit Pistole bewaffneter Wächter in hellbraunem Dischdascha und mit Sandalen, auf dem Kopf einen dunklen Turban, wachte darüber, dass die Regeln zum Betreten der Moschee eingehalten wurden. Nach Ansicht von Bashir Hakim Ben Abdul Haddad Al-Suid waren die Regeln viel zu lasch, so wie der derzeitige Herrscher des Landes, Sultan Qabus Ibn Saud Ben Yahil. Als Nachfolger des legendären Sultan Qabus Ibn Said hatte er dessen liberale Politik fortgeführt, unakzeptabel für die Fundamentalisten im Oman. So war es bei den Besuchszeiten der Touristen für die Männergebetshalle und der Kleiderordnung geblieben, die es sogar Frauen erlaubte, diesen Ort des Gebets zu betreten.
Für die Ungläubigen waren während der Besichtigungszeiten über den 22 Tonnen schweren fast 4300 Quadratmeter großen gewebten Teppich iranischer Herkunft, Bahnen von blauen Läufern ausgelegt, die man als Ungläubiger nicht verlassen durfte, um den Gebetsteppich nicht zu entweihen. Über allem hing in der riesigen 50 m hohen Kuppel der größte Lüster der Welt mit Swarowski-Kristallen, 8 Tonnen schwer.
Wer hier zum ersten Mal verweilte, war beeindruckt von der Schönheit dieser Halle. Allein die mit Kalligrafien und Arabesken verzierte Holzdecke war in Ihrer Pracht einzigartig.
Doch Bashir Hakim hatte heute keinen Sinn für die Schönheit seiner Umgebung. Heute war die Übergabe der Informationen für die nächste Aktion gegen ihre Feinde geplant. Normalerweise trat er nie selbst in Erscheinung, sondern ließ solche Übergaben durch seine Vertrauten durchführen. Die jetzige Aktion war aber zu bedeutsam. Und das, was getan werden sollte, würde die großen Mächte auf den Plan rufen. So war es essentiell, keine Spuren zu erzeugen, die auf ihn zurückzuverfolgen waren. Der USB-Stick war nur mit Handschuhen angefasst worden, der Chip selbst Massenware aus Korea. Die Seriennummer würde nicht helfen. In der großen Gebetshalle, die 5000 Gläubigen Platz bot, würde er nicht auffallen; er war einer von den vielen weiß gekleideten Betern, die mit Blick nach Mekka auf dem riesigen Teppich knieten, und den Worten des Imam von der in Marmor gearbeiteten Kanzel lauschten, was zeitgleich auf den Riesenbildschirm in der kleineren und weniger prächtigen Frauengebetshalle nebenan übertragen wurde. Den Stick hatte er unauffällig in einer der vielen Nischen oberhalb des Blickniveaus abgelegt: so war es vereinbart worden.
Nun beobachtete er aus den Augenwinkeln den Mann mit schwarzem Vollbart und tief gebräunter Haut, der an der Nische vorbeiging und in einer unauffälligen Bewegung nach oben griff. Niemand nahm davon Notiz.
Mittlerweile hatten die Gläubigen die Haltung gewechselt und wandten im salam den Kopf nach rechts:“As-salamu ‘alaikum wa rahmatu-llah“ -Friede sei mit Euch und Allahs Gnade.
Das Ende des gemeinsamen Gebets war erreicht, langsam erhoben sich die Männer und begaben sich zum Ausgang. Bashir Hakim tastete unauffällig in der Nische nach dem Stick; er war verschwunden. Die Übergabe war erfolgreich. Nun würde sich das Schicksalsrad beginnen zu drehen und einmal in Gang gekommen, würden die daraus folgenden Ereignisse nicht mehr aufzuhalten sein; Tod den Ungläubigen!
NEUGIER
Dass Villalunga schon vor seinem eigentlichen Dienstantritt Zeuge eines ungeklärten Todesfalles wurde, hatte sich bei den Kollegen im Polizeipräsidium in der Friedrich-Engels-Allee schon wie ein Lauffeuer herumgesprochen.
Das Protokoll war schnell aufgenommen, denn Villalunga war nur durch den Aufprall der Leiche aufmerksam geworden. Das geöffnete Fenster im 4. Stock des Cafés war ihm erst später mit dem geübten Blick des Kriminalisten aufgefallen -aber sonst war da nichts gewesen: kein Schrei, keine hörbare Auseinandersetzung, keine Besonderheit.
Der Notarzt hatte im amtlichen Totenschein als Todesart „ungeklärt, ob natürlicher / nicht natürlicher Tod“ angekreuzt und als unmittelbare Todesursache „Schädel-Hirn-Trauma“ angegeben; allerdings stand unter dem Punkt „Epikrise“ die Eintragung: „nicht zu klären, ob Suizid oder Fremdeinwirkung“. Die Gerichtsmedizin würde nach der von der Staatsanwaltschaft verfügten Obduktion dann die Eintragungen ergänzen.
Villalunga hatte als Kriminalist schon alles Mögliche an Todesstürzen erlebt, vom Freitod aus Liebeskummer über Junkies im Drogenrausch und tragischen Fensterstürzen von Kleinkindern bis hin zum kaltblütigen Mord im Umfeld des organisierten Verbrechens der Großstadt Köln. Dieser Todesfall allerdings hatte einen Knalleffekt- er sorgte aufgrund seiner Umstände für Aufmerksamkeit. Sehr zur Freude der örtlichen Presse und des Lokalradios, die in Ihren Berichten die verschiedensten Theorien bezüglich des Ablebens des Arabers aufstellten. Gottseidank einmal ein anderes Thema als die Sperrung und Wiederöffnung der B7 in der Talachse.
Nun waren die Gerichtsmediziner schon seit drei Tagen mit der Untersuchung der Leiche und Analyse der Todesursache beschäftigt. Villalunga wurde langsam sauer; schon zwei Mal hatte man ihn telefonisch vertröstet.
„Hier Villalunga, ja der Neue. Sparen Sie sich Ihr Herumgerede. Haben Sie nun endlich die Todesursache? -Immer noch nicht? Das gibt’s doch nicht!“
Villalunga knallte den Hörer auf das Telefon; wieder einmal machte sich sein italienisches Temperament bemerkbar; da nützte es wenig, dass nur ein Elternteil aus Catania stammte, der Vater. Seine Mutter hatte zwar immer die Ruhe weg und als gebürtige Dithmarscherin Ihre analytische und geduldige Art ihrem Sohn vermitteln wollen, aber das hatte nur mit ersterem Erfolg, mit der Ungeduld überwog eindeutig die Erbmasse des Vaters, auch was seine Proportionen anging. Mit seinen 48 Jahren sah er mit gebräunter Gesichtsfarbe und lockigem tiefschwarzem Haar zwar nicht schlecht aus, aber sein Taillenumfang betrug 102 cm bei einer Größe von 1,85 Meter, was zu einer waste to height ratio von 1,81 führte -der verklausulierten Tatsache von ordentlich Übergewicht. Zuviel Pasta, zu wenig Bewegung.
Und hier wurde Villalunga öfters unterschätzt. In seiner Jugend war er in die Endauswahl zur Teilnahme an der Europameisterschaft im Lagenschwimmen gekommen und hatte im Laufe der Zeit auch mehrere Medaillen errungen. Schwimmen ging er nicht mehr regelmäßig, allerdings war er einmal wöchentlich -sofern er terminlich nicht auswärts sein musste- beim Jiu-Jitsu. Allein die 30 Minuten Körperschule vor dem eigentlichen Kampftraining waren so anstrengend, dass er manchmal 2 Tage Muskelkater hatte, obwohl er als Träger des schwarzen Gürtels und Inhaber des 2. Dan Grades erfahren war -der Trainer hatte ein todsicheres Gespür dafür, Muskelgruppen zu trainieren, von denen die Besitzer nicht einmal ahnten, dass es sie gab -bis sie sich mit Muskelkater bemerkbar machten.
Insofern war der Alarmstart, den Villalunga jetzt durchführte, für seine neue Umgebung überraschend; diese Wendigkeit und dieses Schritttempo hatte man von ihm nicht erwartet. Villalunga zischte an der Polizistin, die ihn vor Tagen vor dem Café leicht attackiert hatte, vorbei.
„Hallo, Herr Hauptkommissar, mein Name ist Annabell Jawura. Sie erinnern sich -vor ein paar Tagen habe ich…“
„Frau Jawura, ich habe jetzt keine Zeit für Sie, ich muss in die Pathologie hier in Barmen; die dortigen Gerichtsmediziner benötigen offensichtlich noch etwas Starthilfe!“ entgegnete er grimmig.
„Ich habe aber doch eine wichtige Information für Sie“.
„Dann kommen Sie halt mit in die Pathologie, Sie können mir das auf dem Weg erzählen. Wir nehmen meinen Dienstwagen.“
Sie stiegen in das Zivilfahrzeug, einen älteren VW Passat in unauffälliger grauer Lackierung, ein. Beim Einsteigen und Vornüberbeugen der Polizistin erhaschte sein Blick etwas weiße Spitze im Dekolleté des Uniformhemdes, bei dem unvorschriftsmäßig die beiden obersten Knöpfe nicht geschlossen waren. Gleichzeitig nahm er den Duft eines sehr dezenten Parfüms wahr. Diese Wahrnehmungen waren für ihn Routine, hatten aber nichts mit Kriminalistik zu tun; hier ging es um reines Testosteron. Er war Spezialist im BH-Check und der Analyse der SSL (Sichtbare Slip Linie). Ein Freund von ihm war als Textilingenieur früher einmal mit der Fertigung von BHs befasst gewesen und nun wusste Villalunga alles über hohen Brustansatz bis hin zu den verschiedenen BH-Typen, angefangen vom Push up, über den Balkon-BH bis hin zum Sport-BH.
Der Polizistin war sein Blick nicht entgangen. Sie lächelte ihn entwaffnend an. So war klar, der Hemdknopf war kein Versehen, sondern taktisches Kalkül. Villalunga war bei diesem Thema auch völlig ungeniert. Seine Philosophie lautete: wenn eine Frau vor dem Spiegel stehend, den Sitz der Bluse, den Faltenschlag der Hose einschließlich Sitz am Po checkte und vorher noch die Entscheidung getroffen hatte, Bluse blickdicht oder nicht, dann hatte er als Mann die verdammte Pflicht, das auch entsprechend zu würdigen. Ansonsten gab es ja noch Priesterinnentalare und in arabischen Ländern den Jilbab -obwohl es darunter ja recht bunt und sexy zugehen sollte, wie ihm ein Kollege arabischer Herkunft einmal erzählt hatte.
„Jetzt wollen wir den Kollegen in der Patho mal Dampf machen. Irgendetwas müssen die doch schon herausgefunden haben.“
„Das ist es ja, was ich Ihnen mitteilen wollte, mir ist in dem Café etwas aufgefallen.“
„Was denn?“
„Der Tote hatte eine viel zu weite Hose und trug keinen Gürtel.“
„Wie bitte? Das ist nicht Ihr Ernst!“
„Doch, mit dem Ding hätte der Mann die Hose nach drei Schritten verloren, es sei denn, er hätte sie permanent am Bund festgehalten.“
Für Villalunga war das ganz klar ein Indiz dafür, dass der Tote übereilt von einer dritten Person angekleidet worden war. Es roch förmlich nach Mord. Sie bogen in die Heusnerstraße ein. Gleich waren sie da. Er parkte das Fahrzeug auf einem der reservierten Angestelltenparkplätze nahe dem Eingang zur Pathologie.
„Machen Sie das immer so?“ fragte Jawura.
„Erfüllung hoheitlicher Aufgaben“ grinste Villalunga. „Kommen Sie, wir sehen mal, wo der Professor ist.“
Sie fanden den Professor, einen großen, freundlichen Mann mit grauen Haaren und Kinnbart im Hörsaal, den sie über die Außentreppe im ersten Stock erreichten.
„Herr Professor Ergel, mein Name ist Villalunga, wir hatten schon telefoniert.“
Der Professor seufzte: “Ich kann Ihnen jetzt noch nichts Genaues sagen. Die technischen Untersuchungen sind noch nicht fertiggestellt.“
„Aber vielleicht kommen wir zusammen einen Schritt weiter. Können wir nicht noch einmal einen Blick auf den Toten werfen?“ entgegnete Villalunga diplomatisch. „Sechs Augen sehen mehr als zwei.“ Dabei dachte er, sexy Augen hat sie, diese Jawura.
Der Professor ließ sich breitschlagen, aber vielleicht hatte auch das nette Lächeln der Polizeimeisteranwärterin den Ausschlag gegeben.
„Können Sie denn schon sagen, ob Fremdverschulden vorliegt?“ fragte Villalunga.
„Das ist ja das Problem. Es gibt einen Nadeleinstich in der Ellenbeuge und mehrere in der Bauchhaut. Der Mann war möglicherweise Diabetiker und hat Insulin gespritzt. Das würde die Einstiche in der Bauchhaut erklären. Eine Thrombose hatte er jedenfalls nicht, sodass das Selbtsinjizieren von Enoxaparin oder anderen niedermolekularen Heparinen weniger wahrscheinlich ist. Andererseits könnte ihm in die Ellenbeuge alles Mögliche eingebracht worden sein. Die gaschromatografischen Untersuchungen auf giftige Substanzen laufen noch.“
„Ist Ihnen das mit der Hose aufgefallen?“ fragte Jawura.
„Welche Hose?“
„Na, seine Hose. Die ist doch viel zu weit.“ entgegnete Jawura.
„Wir untersuchen in der Pathologie Leichen, keine Hosen. Das ist Sache der Kriminaltechnik, junge Dame“, dozierte Professor Ergel.
„Naja, aber so fällt dann niemandem auf, dass die Hose ja viel zu weit war.“
Jetzt übernahm Villalunga wieder die Gesprächsführung. „Würden Sie bitte den Hüft- und Taillenumfang des Toten messen und die Daten schon mal der Kriminaltechnik übermitteln. Die müssen untersuchen, ob es an der Hose Spuren eines Gürtels oder von Hosenträgern gibt. Und von Ihnen möchte ich wissen, hatte der Tote in letzter Zeit einen stärkeren Gewichtsverlust, der das Schlackern der Hose vielleicht erklären könnte?“
„Nein, dafür gibt es keine Hinweise. Hm,“ Ergel blätterte in den Notizen, „etwas ist aber auffällig, der Tote trug keine Unterhose; das müsste ja sonst in dem Verzeichnis seiner Habseligkeiten aufgeführt sein. Wegen der Todesursache können wir uns wirklich noch nicht festlegen, wenngleich das alles doch eher Fremdverschulden möglich macht, zumindest nicht ausschließt.“
„Also, in dem Zimmer, aus dem er gefallen ist oder gestoßen wurde, fand man keinen Abschiedsbrief, am Toten keinerlei Papiere; Identität völlig unklar. Wir wissen nicht, ob das ein Tötungsdelikt war oder nicht und wenn ja, welches Motiv dahintersteckt. Wir wissen nur, dass der Mann die Einzimmerwohnung erst vor einer Woche gemietet hatte, da hatte er als Namen Yousef al Quaradawi angegeben, aber seine polizeiliche Anmeldung hatte er noch nicht vorgenommen, die Miete einen Monat im Voraus bezahlt einschließlich Kaution - in bar.“
„Herr Villalunga, ich rufe Sie sofort an, wenn ich etwas Neues habe -versprochen. Aber schön, dass Sie da waren; wir haben hier nicht so häufig Besuch von der Kripo, obwohl das ja vielleicht auch ganz nützlich wäre.“
„Herr Prof. Ergel, in Köln war ich den dortigen Pathologen gut bekannt. Wir werden uns in Zukunft sicher öfters sehen. Es sei denn, dass die hohen Herren in der Führungsriege meinen, Sie müssten mich mal wieder versetzen.“
VERNEBLUNG