Als der Winter den Frühling stahl - Melanie Lauterbrunner - E-Book

Als der Winter den Frühling stahl E-Book

Melanie Lauterbrunner

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Beschreibung

Wie soll das Glück einen wiederfinden, wenn man alle verloren hat, die man liebt? Nach dem Verlust ihrer Familie hat Holly nicht mehr das Gefühl zu leben, sondern lediglich, nicht tot zu sein. Erst als John ihren Weg kreuzt, scheint ihr Schicksal eine positive Wendung zu nehmen. Obwohl sich Holly anfangs dagegen wehrt, bahnt sich der Polizist einen Weg direkt in ihr Herz. Hoffnung keimt in ihr auf. Doch dann droht ausgerechnet ihre Verbindung zu ihm, Holly endgültig ins Unglück zu stürzen. Gelingt es dem Frühling, trotz aller Widrigkeiten, sich aus den Fängen des Winters zu befreien?

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Seitenzahl: 325

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Nachdruck oder Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Verlages gestattet. Verwendung oder Verbreitung durch unautorisierte Dritte in allen gedruckten, audiovisuellen und akustischen Medien ist untersagt. Die Textrechte verbleiben beim Autor, dessen Einverständnis zur Veröffentlichung hier vorliegt. Für Satz- und Druckfehler keine Haftung.

 

 

 

Impressum

 

Melanie Lauterbrunner

»Als der Winter den Frühling stahl«

 

edition winterwork | Carl-Zeiss-Str. 3 | 04451 Borsdorf

[email protected]

www.edition-winterwork.de

© 2025 edition winterwork

 

Alle Rechte vorbehalten.

Satz: edition winterwork

Umschlag: edition winterwork

 

Druck/E-BOOK: winterwork Borsdorf

ISBN Druck 978-3-98913-168-2

ISBN E-BOOK 978-3-98913-187-3

Melanie Lauterbrunner Lauter

 

 

Als der Winter den Frühling stahl

 

 

 

 

 

 

 

 

 

edition winterwork

Frühling 2022, in Winningham, England

»Jetzt mach schon, Holly. Wenn du mich heute zum Abendessen begleitest, behellige ich dich nie wieder, versprochen.«

Holly Thomson hatte es bisher immer mühelos geschafft, dem Drängen ihrer Freundin nicht nachzugeben. Sie ging nicht gerne unter Menschen. Vor ein paar Jahren war das noch anders gewesen, doch mittlerweile konnte sie sich kaum mit einer Handvoll Personen in einem Raum aufhalten, ohne nervös zu werden.

Holly bevorzugte die Stille ihres abgelegenen Landhauses. Da sie es nicht musste, verließ sie oft tagelang das Grundstück nicht. Und wenn doch, dann nur für kurze Einkäufe, oder wenn ihre Arbeit es erforderte.

Tatsächlich verbrachte sie den Großteil ihrer Zeit, in ihrem liebevoll angelegten Garten, der mit einer Vielzahl an Zier- und Nutzpflanzen aufwartete. Blumen und Gemüse gediehen durch ihre aufwendige Pflege prächtig, und auch die Obstbäume trugen viele Früchte. Daran erfreuten sich vor allem Hollys Hühner, Enten und Schafe, die für jede Menge Tumult sorgten. Die bunte Schar gab der Einsamkeit kaum eine Möglichkeit sich auszubreiten, während Hades dafür sorgte, dass niemand unbemerkt Hollys Grundstück betrat.

Hades war ein professionell ausgebildeter deutscher Schäferhund, mit einem starken Beschützerinstinkt. Umgeben von ihren Pflanzen und Tieren, fühlte Holly sich sicher. Alles, was sie wollte und brauchte, hatte sie hier.

Genau aus diesem Grund passte sie nicht in ihr Dorf, zumindest sagten das die knapp tausend Einwohner von Winningham. Offen und beinahe krankhaft hilfsbereit, wie diese waren, hielten sie nicht viel von Privatsphäre und Diskretion.

Eine sechsunddreißigjährige Frau, die kaum jemand zu Gesicht bekam, die völlig allein war und mit ihrem einsamen Dasein auch noch zufrieden schien. So etwas war nicht normal. Die Leute spekulierten, was geschehen sein mochte, bevor die geheimnisvolle Fremde vor vier Jahren nach Winningham kam. Bei welcher Tragödie sie wohl die Hälfte ihres rechten Beines verloren hatte? Was wohl der Grund war, dass so ein nettes Ding wie sie nicht verheiratet war? Ja, was um Himmels Willen hatte die arme Frau so eigenbrötlerisch gemacht?

Holly ignorierte die Neugierde ihrer Nachbarn. Sie verhielt sich den Dorfbewohnern gegenüber nicht unhöflich, im Gegenteil, war dabei aber stets um Distanz bemüht. Die einzige Person, die sie dauerhaft in ihrer Nähe duldete, war Maya. Mit ihrer offenen Art und ihrem fröhlichen Gemüt, hatte sich die junge Frau langsam in ihr Herz gestohlen. Wie genau das geschehen war, konnte Holly nicht mehr sagen. So sehr sie es auch versucht hatte, es war ihr nicht gelungen die schonungslos direkte und unnachgiebige Maya Brooks auf Abstand zu halten. Mittlerweile war sie mehr als froh darüber. Ihre Freundin war wie ein Funken Licht in der Dunkelheit. Sie vertrieb die Schrecken der Vergangenheit, wenn diese überhandnahmen.

Holly seufzte. »Du weißt, dass ich mich unter Menschen nicht wohl fühle.«

»Ach, komm. Du lebst nun schon seit knapp vier Jahren in unserem Dorf. Du kennst die Leute und deren Gepflogenheiten.« Maya ließ sich auf die Couch fallen und blies sich ihre kupferfarbenen Locken aus dem Gesicht. »Tod durch Langeweile ist das einzige, das dir in Winningham drohen könnte.« Sie verstummte, als sie sah, wie ihre Freundin nervös mit dem Daumen an ihrem Ehering herumspielte.

Holly trug den Ring nur zuhause. Wenn sie irgendwo hinfuhr, nahm sie ihn ab, um unangenehme Fragen zu vermeiden.

»Es tut mir leid. Ich wollte dich nicht bedrängen«, flüsterte Maya betrübt. »Ich bin so ein Trampel.«

»Nein, Maya.« Da Holly ihre Beinprothese abgelegt hatte, bewegte sie sich mit Hilfe ihrer Krücken auf das Sofa zu.

Vor fünf Jahren wurde Holly der rechte Unterschenkel amputiert. Dass sie ihr halbes Bein verloren hatte, war einer von vielen Verlusten, mit denen sie seit jener Zeit leben musste. Bis heute blieb er jedoch der einzige, mit dem sie sich tatsächlich abgefunden hatte.

»Seit wir uns kennen hast du mich unterstützt.« Holly ließ sich neben ihrer Freundin nieder und nahm ihre Hand. »Du machst mir mein Leben leichter.« Als sie Mayas Lächeln sah, meinte sie: »Es wird Zeit, dass ich dir etwas zurückgebe. Wenn dir der heutige Abend so wichtig ist, dann komme ich gerne mit.«

Mayas Lächeln verwandelte sich in ein breites Grinsen. Ihre grünen Augen funkelten wie die eines aufgeregten Kindes. Ein Gedanke, der Holly zusammenzucken ließ. Sie versuchte sich nichts anmerken zu lassen, doch wie befürchtet, blieb ihre Reaktion nicht unbemerkt.

Maya nahm sanft ihre Hand. »Das ist ein großer Schritt für dich, ich weiß. Aber sei versichert, wenn du ihn wagst, führt er dich auf den richtigen Weg.«

Holly teilte die Zuversicht ihrer Freundin nicht. Das wollte sie auch nicht. Veränderungen machten das Leben komplizierter, in manchen Fällen sogar gefährlicher. Der kommende Abend würde daher eine absolute Ausnahme bleiben.

 

Holly stellte sich vor den Badezimmerspiegel und starrte blind hinein. Ihre grauen Augen wirkten kühl und leer. Wie Schaugläser offenbarten sie, was in ihrem Inneren vorging.

»Ich könnte den ganzen Tag dein Gesicht betrachten und es wäre nicht annähernd genug«, flüsterte sie. Wie oft hatte ­Thomas das zu ihr gesagt, während er mit seinen Daumen sanft ihre markanten, dunklen Augenbrauen nachzeichnete.

Holly war seit jeher zierlich und flachbrüstig gewesen, daran hatte selbst die Schwangerschaft nichts geändert. Nicht gerade eine Figur, die Männer anzog. Doch ein Blick in ihr Gesicht hatte gereicht und Thomas war verloren gewesen.

Langsam schloss Holly die Augen, wobei sie versuchte, sich an seine Berührungen zu erinnern. Sie zeichnete mit den Fingern ihre vollen Lippen nach, so wie er es oft getan hatte. Beinahe konnte sie seine Hände auf ihrer Haut spüren und die Hitze seines Körpers fühlen.

Tom war wie ein Schmelzofen gewesen. Wenn sie in seinen Armen gelegen hatte, hatte sie sich oft darüber beklagt. Als Holly die Augen öffnete, lief ihr ein kalter Schauer den Rücken hinunter. Die Realität umhüllte ihren Körper wie ein Mantel aus Eis. Wenn sie seine Wärme doch nur noch ein einziges Mal spüren könnte.

Hades knurrte leise und vertrieb damit ihre trüben Gedanken.

»Still!«, befahl sie kaum hörbar, als der Hund sich aufrichtete und gespannt lauschte. »Das ist bloß Maya.«

Eilig schlüpfte Holly in eine weiße Seidenbluse mit schwarzen Zierrändern, die sie nach dem Zuknöpfen lässig in den Bund ihrer dunklen Anzughose steckte. Anschließend pflügte sie mit den Fingern durch ihr rabenschwarzes Haar. Es war kurz und fransig geschnitten, wodurch sich mit der Frisur viel machen ließ. An diesem Abend war ihr allerdings nicht danach. Früher hatte Holly ihr Haar brünett gefärbt und in langen Wellen getragen. Sie hatte sich dadurch weiblicher gefühlt. Doch sie musste einsehen, dass ihr Selbstwert, im Vergleich zu ihrer Sicherheit, nichts zählte.

Holly schnappte sich eine rotbraune Lederjacke und ging zur Tür. Dank ihrer Prothese und den orthopädischen Schuhen, bewegte sie sich vollkommen flüssig. Tatsächlich gab es nach drei eisernen Trainingsjahren kaum etwas, was sie nicht tun konnte. Sie betrieb Sport und ging wandern, tat alles, was Menschen mit gesunden Beinen auch taten, und das mit ebenso viel Erfolg.

Wo waren bloß die verflixten Autoschlüssel? Während Holly nach ihren Schlüsseln suchte, fixierte Hades die Tür. Seine Anspannung legte sich erst, als er Mayas Stimme hörte. Von einer Sekunde auf die andere war er wie ausgewechselt und wedelte erwartungsvoll mit dem Schwanz.

Nachdem er Maya überschwänglich begrüßt hatte, verwies Holly Hades auf seinen Platz. »Wir sind bald zurück, mein Großer«, sagte sie, während sie ihre Alarmanlage aktivierte. »Pass gut auf das Haus auf.«

 

Holly lenkte ihren schwarzen Volvo XC90 Armoured aus der Einfahrt. Der SUV war eine teure Anschaffung gewesen, aber er war jeden Cent wert. Mehr Sicherheit konnte einem ein Fahrzeug kaum bieten. Mit weniger hätte sie sich auch nicht zufriedengegeben, immerhin wusste sie genau wie es sich anfühlte, wenn das Auto, in dem man saß, wie eine Konservendose zerquetscht wurde.

Als Holly sah, wie Maya fröstelnd die Arme um sich schlang, aktivierte sie die Sitzheizung. »Ein bisschen mehr Stoff hätte deiner Erscheinung bestimmt keinen Abbruch getan«, tadelte sie und warf dabei einen kritischen Blick auf Mayas Minikleid, das zwar einen Rollkragen besaß, aber ansonsten alles andere als züchtig war.

Ihre Freundin brummte mürrisch. »Es geht um alles oder nichts. Wenn er heute nicht in die Gänge kommt, hake ich Collin endgültig ab.«

Zumindest würde Collin nicht gezwungen sein seine Fantasie einzusetzen, dachte Holly, während sie sich den Inhaber des beliebtesten Restaurants im Dorf noch einmal vor Augen führte. Er war vierzig, und damit sechzehn Jahre älter als Maya. Dass er ein Auge auf ihre Freundin geworfen hatte, war selbst Holly aufgefallen, obwohl sie sich nicht für die Vorkommnisse im Dorf interessierte.

Warum er es nicht wagte Maya näher zu kommen, stand außer Frage. Aufgrund des Altersunterschiedes wäre eine Beziehung zwischen den beiden für die Dorfbewohner ein absoluter Skandal. Dass er sich davon beeinflussen ließ, sprach Hollys Meinung nach nicht gerade für Collin, doch Maya war so vernarrt in den Mann, dass sie der Kritik ihrer Freundin keine Beachtung schenkte.

»Und wie genau sieht jetzt dein Plan aus? Wir essen zusammen und zum Nachtisch gibt’s Collin?«

»Brian wird da sein und du weißt, wie sehr er auf mich steht. Ich werde das heute ausnutzen, um Collin eifersüchtig zu machen.«

»Davon rate ich dir dringend ab.«

Maya warf Holly einen Blick zu, der von Verzweiflung zeugte. »Und was soll ich deiner Meinung nach tun?«

»Rede mit Collin. Sag ihm, was du empfindest.«

»Das kann ich nicht.«

»Doch du kannst«, erwiderte Holly streng. »Euer Eiertanz hat mittlerweile Kindergartenniveau angenommen. Ihr seid beide erwachsen. Wenn du ein offenes Gespräch mit ihm führst, weißt du woran du bist. Er hat wahrscheinlich keine Ahnung, was du für ihn empfindest und solange du ihm das nicht klar machst, wagt er sich bestimmt nicht weiter vor.«

»Was, wenn er mich abweist?«

Holly nahm Mayas kühle Hand und drückte sie leicht. »Es würde natürlich wehtun, aber dafür hättest du Gewissheit. Schluss mit dem ständigen Hin und Her, das nicht nur dich allmählich in den Wahnsinn treibt.«

Maya lächelte unsicher. »Ich nerve manchmal ganz schön, oder?«

»Aber nein«, meinte Holly liebevoll, »du machst mein Leben … interessanter. Dank dir verfalle ich nicht in dumpfes Brüten.«

 

Maya war nicht die Einzige die Bammel hatte, dachte Holly angespannt, als sie ihren Wagen vor dem kleinen Restaurant abstellte. In der alten, aber frisch renovierten Wirtstube fanden gut sechzig Personen Platz und wie es aussah war das Lokal an diesem Abend randvoll.

Maya hatte im Voraus einen Tisch reserviert. Holly wünschte, ihre Freundin hätte das nicht getan.

Wie erwartet ging ein Raunen durch den Raum, als die zwei die Gaststube betraten. Zum einen wegen Mayas Aufmachung, die den Puls der meisten Stammtischbesetzer ordentlich in die Höhe trieb und zum anderen, weil es die sonderbare Holly Thomson nach vier Jahren endlich in ein öffentliches Lokal geschafft hatte.

Hollys Herz pochte wie wild, während sie und Maya von der jungen Serviererin zu ihrem Tisch geführt wurden. Natürlich kannte sie jedes der neugierigen Gesichter im Raum, zumindest dachte Holly das, bis zu dem Moment, indem ihr Blick zur Bar glitt. Es kostete sie einige Mühe ruhig weiterzugehen, als ihr ein Mann ins Auge fiel, den sie noch nie zuvor gesehen hatte.

Er war etwa Ende Dreißig. Im dumpfen Licht des Lokals war die Farbe seiner Augen nur schwer zu erkennen, aber vermutlich hatten sie dasselbe dunkle Braun wie seine Haare. Kurz und jungenhaft zerzaust, standen diese sehr im Kontrast zu seinem Gesicht, das markant war und rau.

Während sie den Mann musterte, kam Holly das Wort autoritär in den Sinn. Unzugänglich ebenfalls. Möglich, dass es an dem strengen Zug um seinen Mund lag, oder an seinem Kiefer. Die dunklen Barthaare darauf waren zu kurz, um zu verbergen, wie angespannt dieser war.

Obgleich unbestreitbar, ließ Holly den Gedanken, dass der Mann gut aussah, nicht zu. Etwas Derartiges wahrzunehmen, hatte sie sich vor langer Zeit verwehrt.

Dennoch konnte sie ihren Blick nicht von ihm abwenden und bemerkte, dass er auf beiden Oberarmen Tätowierungen hatte, die nur leicht aus den Ärmeln seines schwarzen Hemdes ragten. Zudem fiel ihr auf, dass er groß war und sportlich, zumindest seinem Körperbau nach. Vieles an dem Mann wirkte einschüchternd auf sie, weshalb Holly am liebsten sofort wieder gegangen wäre.

Sein ernster und eindringlicher Blick folgte ihr quer durch den Raum und sorgte dafür, dass sie vor Anspannung kaum noch geradeaus denken konnte. Mit schwitzenden Händen und einem lauten Rauschen in den Ohren, setzte Holly sich auf den Platz, der ihr zugewiesen wurde.

»Ist alles in Ordnung?« Maya nahm der Serviererin die Speisekarten ab und musterte ihre Freundin besorgt. Als diese nicht antwortete, verfluchte sie sich innerlich. »Holly, hör zu. Wenn du willst, können wir sofort gehen. Ich werde einfach ein andermal mit Collin sprechen.«

»Nein«, sagte Holly fast wie in Trance, »das würde die Leute nur noch neugieriger machen.«

Sie riss ihren Blick von dem Fremden los und versuchte zu lächeln. »Ich habe mir vorgenommen meine Freundin zu unterstützen und das werde ich auch. Lass uns was bestellen.«

Der Anstand verlangte von den Gästen, dass sie sich abwandten und ihre Gespräche weiterführten, weshalb es im Lokal schnell wieder lauter wurde.

Während sie vorgab ihre Karte zu studieren, blieb Holly jedoch fortwährend angespannt. Sie spürte immer noch den Blick des Fremden auf sich. Als sie kurz zu ihm hinübersah, führte er gerade ein angeregtes Gespräch mit Collin.

»Kennst du den Mann, der neben Collin sitzt?«

Maya folgte dem Blick ihrer Freundin und nickte. »Das ist sein jüngerer Bruder, John.«

»Collin hat einen Bruder? Das hast du mir gar nicht erzählt«, zischte Holly. Ihr waren derlei Überraschungen zuwider, Maya wusste das genau.

»Ich weiß, was du denkst«, sagte Maya beschwichtigend. »Wenn ich geahnt hätte, dass er hier ist, hätte ich dich nicht gebeten mitzukommen.«

Um die Fragen zu beantworten, die sich deutlich in Hollys Augen abzeichneten, erklärte sie: »John war das letzte Mal vor sechs Jahren in Winningham, zur Beisetzung seiner Eltern. Danach verschwand er völlig von der Bildfläche. Er fühlte sich im Dorf nicht wohl, mochte die Eintönigkeit des Land­lebens nicht. Aus diesem Grund ist er auch vor fünfzehn Jahren nach London gezogen. Wenn Collin ihn sehen will, fährt er normalerweise zu ihm in die Stadt. Soweit ich weiß, arbeitet John dort als Ermittler für die Kriminalpolizei.«

Hollys Reaktion vorausahnend, packte Maya ihren Arm, um sie am Aufstehen zu hindern. »Hör endlich auf so paranoid zu sein. Er ist nicht deinetwegen hier. Niemand ist mehr hinter dir her, begreif das doch endlich. Du bist absolut sicher hier, also hör auf davonzulaufen und fang wieder an zu leben.«

Maya zog ihren Arm zurück, als ihre Freundin sie mit einem Blick bedachte, der ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ. Holly hatte von Natur aus ungewöhnliche Augen. Es war, als würde man in das Zentrum eines Sturmes sehen. Ein Sog aus dunklen Wolken, in deren Mitte tausende, silberne Blitze wüteten. So bedrohlich wie in diesem Moment hatten die Wolken allerdings noch nie ausgesehen.

»Um unserer Freundschaft Willen, warne ich dich vor. Sollte mir an seinem Verhalten irgendetwas seltsam vorkommen, verschwinde ich aus Winningham und werfe keinen Blick zurück. Dann siehst du mich nie wieder, das schwöre ich.«

Maya musste schwer schlucken. Sie hatte ihre Freundin durch schwere Zeiten begleitet und war vielen ihrer Stimmungsschwankungen ausgesetzt gewesen. Verzweiflung, Wut, Trauer und Angst hatten sich immer wieder abgewechselt. Mit Holly zusammen zu sein, war wie eine Achterbahnfahrt. Doch die Kälte die Maya jetzt entgegenschlug, hatte sie in der Intensität noch nicht zu spüren bekommen.

Als Holly ein verdächtiges Schimmern in Mayas Augen bemerkte, legte sich ihr Zorn. Sie atmete einmal tief durch, um sich zu beruhigen, und griff nach der Hand ihrer Freundin. »Maya, es tut mir leid, ich hätte das nicht sagen sollen. Immerhin hast du mich nicht gezwungen hierher zu kommen.« Sie lächelte schief. »Zumindest nicht direkt. Irgendwann hättest du mein Nein bestimmt akzeptiert.«

Holly wartete bis Maya ihr Lächeln erwiderte und sagte dann: »Es war nicht fair von mir dich so anzufahren. Ich weiß, dass du dir für mich ein anderes Leben wünschst; ein erfüllteres Leben. Doch das musst du nicht. Ich bin zufrieden mit dem, was ich habe und ich will nicht, dass sich daran etwas ändert. Es würde mich sehr glücklich machen, wenn du das endlich akzeptieren könntest.«

Maya nickte verhalten. »Wenn das dein Wunsch ist.«

»Ja, ist es.« Holly setzte sich aufrecht hin und ließ ihren Blick über die Speisekarte wandern. »Und jetzt genug davon. Heute geht es um dich und deine Mission. Lass uns in Ruhe essen und dann sehen wir weiter.«

 

»Was hältst du von ihr?« Als John nicht reagierte, verpasste Collin ihm einen leichten Stoß.

»Was?«

»Maya Brooks. Findest du nicht auch, dass sie sich ziemlich verändert hat?«

John stellte sein Glas Tonic ab und warf einen Blick auf die zwei Frauen, die sich an den letzten freien Tisch begeben hatten.

»Sie ist eben erwachsen geworden«, meinte er beiläufig, da sein Interesse vielmehr ihrer Begleitung galt. »Wer ist die Frau, die bei ihr sitzt?«

»Das ist Holly Thomson. Sie wohnt seit etwa vier Jahren in Winningham. Soweit ich weiß, hat sie fast ihr ganzes Leben in Deutschland verbracht, ist aber gebürtige Engländerin. Sie wollte wohl zurück zu ihren Wurzeln. Die Gute hat das alte Willhorn Haus gekauft.«

»Tatsächlich? Und weiter?«

»Nichts weiter. Ich kenne Holly kaum. Niemand im Dorf tut das. Außer Maya lässt sie niemanden an sich ran.«

Sein Bruder erzählte alles, was er über Holly Thomson wusste, wobei sich mit jedem Detail Johns Interesse steigerte.

Sie erinnerte ihn an ein Reh, dachte er, nachdem er Holly eine Weile beobachtet hatte. Obwohl sie sich ausschließlich auf Maya zu konzentrieren schien, entging ihr nicht das Geringste. Sie war auf der Hut, fast so, als erwarte sie jeden Augenblick fliehen zu müssen. Es hatte John erstaunt zu hören, dass ihr rechtes Bein zum Teil amputiert war. An ihrem Gang war das nicht zu erkennen gewesen. Dass es keinen Mann in ihrem Leben gab, hatte ihn ebenfalls überrascht, und noch mehr überraschte ihn, wie sehr ihn dieser Umstand freute. Sie war sechsunddreißig, eine weitere unerwartete Neuigkeit. Er hätte Holly auf Ende zwanzig geschätzt, was an ihrem Gesicht lag. Es wirkte frisch und unverbraucht und war zudem ausgesprochen hübsch. Ein Blick in ihre Augen würde ihr wahres Alter verraten, vermutete er. Zu schade, dass er zu weit weg saß, um das zu überprüfen.

Kein Zweifel, Holly Thomson war eine interessante Frau und da er seinen Job in London gekündigt hatte, um als ­Inspektor in Stormfield zu arbeiten, würde es nicht allzu schwer werden mehr über sie zu erfahren.

Als Holly ihn verstohlen ansah, hob John zum Gruß sein Glas. Sie bedachte ihn mit einem misstrauischen Blick, fast so, als versuchte sie abzuschätzen, ob von ihm eine Gefahr ausging.

»Wovor hast du bloß solche Angst?«, flüsterte er und trank sein Glas leer. Um Holly nicht zu beunruhigen, wandte John sich wieder seinem Bruder zu. Zum ersten Mal sah er sich in Winningham mit einer Herausforderung konfrontiert. Womöglich war es doch keine so schlechte Entscheidung gewesen, in seinen Heimatort zurückzukehren.

 

Was für ein katastrophaler Abend, dachte Holly, während sie in ihrem Wagen saß und darauf wartete, dass Maya aus dem Lokal kam. Wie befürchtet war ihre Freundin zu feige gewesen, um Collin anzusprechen. Sie hatte ihn nur angestarrt, sich über seine Gleichgültigkeit beklagt und dabei angefangen zu trinken. Irgendwann war es Holly zu viel geworden. Da jeder Versuch Maya zum nach Hause fahren zu bewegen scheiterte, ging sie am Ende allein. Zumindest bis zum Parkplatz. Weggefahren war sie nicht, weil sie nicht wollte, dass ihre Freundin betrunken nach Hause torkelte und irgendwo im Straßengraben landete.

Nachdem nochmal zwanzig Minuten vergangen waren, hatte Holly die Schnauze voll. Sollte sich doch jemand anderes um Maya kümmern. Collin würde schon dafür sorgen, dass sie gut nach Hause kam.

Gerade als sie den Wagen starten wollte, ging die Restauranttür auf. Maya wurde von zwei Männern ins Freie geführt, da sie offensichtlich nicht mehr alleine laufen konnte. Collin und John, bemerkte Holly frustriert. Sie brachten ihre Freundin zu einem schwarzen BMW. Da Collin für gewöhnlich einen Jeep fuhr, war es wohl Johns Auto.

Holly stieg aus dem Wagen und klammerte sich am Türrahmen fest. Ihr Bein fühlte sich nach dem langen Sitzen ein wenig seltsam an, daher hielt sie es für besser es nicht sofort zu belasten.

»Wartet! Ich fahre Maya nach Hause!«, rief sie quer über den Parkplatz, wobei sie an all die Dinge dachte, die sie ihrer Freundin antun würde, wenn diese wieder bei Bewusstsein war.

»Holly, sind Sie das?«, fragte Collin verblüfft. »Ich dachte Sie wären schon vor zwei Stunden gegangen.«

Holly schnaubte. »Tja, wie man sieht bin ich noch nicht sehr weit gekommen.«

Als die Männer, mit Maya im Schlepptau, ihr Auto erreichten, stieß John einen leisen Pfiff aus.

»Ist das Ihr Wagen?«, fragte er mit einer Stimme, die so tief und eindringlich war, dass Holly ihren Klang förmlich spüren konnte.

»Nein«, erwiderte sie missmutig, »der gehört meinem Hund.«

Johns Mund verzog sich zu einem schiefen Lächeln, das sein Gesicht vollkommen veränderte. Mit einem Mal wirkte er alles andere als unzugänglich. »Ich hoffe doch er fährt ihn nicht selbst.«

»Nicht wenn er getrunken hat, nein.«

Das Lächeln wurde zu einem heiseren Lachen.

Holly biss sich auf die Zunge. Es war nicht ihre Art jemanden zu reizen und schon gar nicht, wenn sie denjenigen nicht kannte. Dass ihr Verhalten der Situation geschuldet war, stand außer Frage, dennoch musste sie versuchen sich am Riemen zu reißen.

»Entschuldigen Sie, ich wollte nicht unhöflich sein. Ich bin nur sehr müde und würde jetzt wirklich gerne nach Hause fahren. Wenn Sie Maya also bitte auf den Beifahrersitz helfen könnten, wäre ich Ihnen beiden sehr dankbar.«

Zu ihrer Erleichterung taten die zwei Männer, was Holly von ihnen verlangte, und so saß Maya schon bald, angeschnallt und leise schnarchend, auf dem Beifahrersitz.

»Haben Sie Schmerzen?«, fragte John, als Holly Anstalten machte einzusteigen. Collin war bereits in Richtung Lokal unterwegs, wobei sie angenommen hatte, dass sein Bruder ihn begleiten würde … ein ärgerlicher Irrtum.

John ging um die Motorhaube herum und warf einen besorgten Blick auf ihr rechtes Bein. Wie es aussah, hatte er sich über sie erkundigt. Das behagte Holly gar nicht, ebenso wenig wie die Tatsache, dass sie ihm nur bis zum Kinn reichte.

»Ich bin noch in der Lage zu fahren, wenn das Ihre Sorge ist«, erwiderte sie knapp.

John zeigte wieder dieses leicht schiefe Lächeln. »Gut, freut mich zu hören.«

Seine Augen waren dunkler als angenommen; mehr schwarz als braun, und sahen so durchdringend in ihre, dass Holly sich vollkommen entblößt vorkam.

Um dem zu entgehen, senkte sie ihren Blick auf seine untere Gesichtshälfte, was keine gute Idee war, da das Zucken seiner angespannten Kiefermuskeln ein unerwünschtes Flattern in ihrem Bauch auslöste. Ganz zu schweigen von seinem Bart, der sein Gesicht noch interessanter machte. Es war ärgerlich wie gut er ihm stand.

Wie er sich wohl auf ihrer Haut anfühlen würde? Der Gedanke kam vollkommen überraschend; und auch mehr als ungelegen.

Der Abend hatte sie furchtbar aufgewühlt. Zweifellos war das der Grund, warum sie zum ersten Mal seit Jahren solche Details an einem Mann wahrnahm. Das war John Hunter, Collin Hunters Bruder. Er war in Winningham geboren und aufgewachsen, nur deshalb war er hier.

Sei nicht so paranoid und lebe endlich, drangen Mayas Worte in Hollys Gedächtnis, woraufhin sie ihm wieder in die Augen sah. Sein Blick löste etwas in ihr aus, das sie nicht beschreiben konnte. Zum ersten Mal seit Thomas´ Tod, hatte sie nicht das Bedürfnis sich der Nähe eines Mannes zu entziehen.

Dass John seine Hand an ihre Wange legte, kam nicht überraschend und doch zuckte Holly leicht zusammen. Eine Reaktion, die ihm nicht entging. Johns vorsichtige Annäherung zeigte, dass er verstand, wie irritierend dieser Moment für sie war. Jede seiner Berührungen kam einer stummen Bitte um Erlaubnis gleich, womit er Holly völlig entwaffnete.

Unter dem hauchzarten Streicheln seines Daumens öffnete sie die Lippen. Zwar nur zaghaft, aber genug um es als Einwilligung zu verstehen.

Ihr Herz raste. In ihren Ohren dröhnte es. Sie sollte ihn aufhalten, dachte sie, doch ihr Körper wollte ihr nicht gehorchen. Zu groß war die Versuchung, die Johns Blick verhieß.

In dem Moment, indem er sich hinabbeugte und ihre Lippen mit den seinen berührte, stieß Holly zitternd den Atem aus. Sie hatte vergessen, wie es war, einem Menschen so nahe zu sein und dieses Gefühl überwältigte sie. Obwohl sie es zu verhindern versuchte, füllten sich ihre Augen mit Tränen. Nicht zuletzt, weil ihr der Kuss wie ein Betrug an Thomas vorkam.

Und doch fühlte Holly eine Art Verlust, als sich John nach einem süßen, quälenden Moment zurückzog; wobei er dies nicht gänzlich tat. Er verharrte mehrere Atemzüge über ihren Lippen, weshalb Holly schon dachte, dass er sie erneut küssen würde. Etwas das sie nicht zulassen durfte. Sie öffnete die Augen, bereit ihm das zu sagen, und nahm erleichtert wahr, dass John sich aufrichtete.

Mit einem sanften Blick über ihr Gesicht, wischte er ihre Tränen fort. »Fahren Sie Vorsichtig, Holly«, flüsterte er. Dann wandte er sich ab und verschwand.

 

Holly wollte eigentlich ins Bett gehen, nachdem sie Maya nach Hause gebracht hatte. Doch jetzt, da sie allein in ihrem Flur stand, wurde ihr bewusst, dass sie in ihrem Bett keinen Schlaf finden würde. Es war unaussprechlich, wie einsam sie sich in diesem Moment fühlte.

Holly warf einen Blick auf den Schlüssel in ihrer Hand. Hades winselte, weil er den Kummer seines Frauchens deutlich spüren konnte. Er wich nicht von ihrer Seite, als sie den Raum neben dem Schlafzimmer ansteuerte. Die Tür war abgeschlossen.

Niemand außer Holly, noch nicht einmal Maya, hatte den Raum jemals betreten.

Wie in Trance sperrte sie die Tür auf und ging in das Zimmer. Es war dem alten Kinderzimmer ihrer Tochter, beinahe eins zu eins, nachempfunden.

Holly trat an das Bett unter dem Fenster und strich liebevoll über die grüne Bettwäsche. Hanna war ganz verrückt nach der Farbe Grün gewesen, was ihr irgendwann den Kosenamen »Kleiner Hulk« eingebracht hatte.

In Gedanken stellte Holly sich vor, wie ihre Tochter grummelte, weil sie noch nicht müde war. Sie griff nach Schlappi, Hannas Plüschhasen und drückte ihn an sich. Ihr Mädchen konnte ohne ihr Lieblingskuscheltier nicht einschlafen.

»Nur noch ein Lied«, flüsterte Holly, »nur noch ein Lied und dann machst du die Augen zu, Schätzchen.«

Sie stimmte Hannas Lieblingslied an, brachte jedoch kaum einen Ton heraus. Es brauchte mehrere Versuche, bis ihre Stimme etwas fester wurde. Unzählige Tränen tropften auf Schlappis Ohren, während sie sang.

Als das Lied zu Ende war, legte sich Holly mitsamt ihren Schuhen ins Bett. Sie rollte sich zusammen wie ein Igel und begann bitterlich zu weinen. Schlappi hielt sie dabei fest an sich gedrückt, so als wäre er der Einzige, der ihr noch Halt geben konnte.

Hades sprang zu seinem Frauchen aufs Bett und legte sich stumm neben sie. Durch das ganze Haus war Hollys Wehklagen zu hören. Ein Geräusch, das von unendlichen Qualen zeugte und das erst verstummte, als sie vor Erschöpfung einschlief.

 

<>

 

Zwei Wochen waren seit dem Abend in Collins Lokal vergangen. Holly hatte an einem Sponsorentreffen teilgenommen, in dem es um zeitgemäße Simulationssysteme in der KFZ-Entwicklungstechnik ging. Ein Meeting, das ihrer Firma Aussicht auf die neusten Programme zur Vereinfachung von Sicherheitsanalysen bot.

Bis vor fünf Jahren war Holly in Österreich Entwicklungsingenieurin im Bereich Fahrzeugtechnik gewesen. Sie hatte neben ihrem Maschinenbaustudium in der Fahrzeugbaufirma ihres Vaters gearbeitet und war nach ihrem Masterabschluss voll ins Geschäft eingestiegen. Natürlich gab es Momente, in denen sie ihre Aufgabe als Mutter und ihre Karriere kaum unter einen Hut brachte, doch harte Arbeit und Disziplin, und die Unterstützung ihrer Eltern, verhalfen ihr am Ende zum Erfolg. Nach ihrer Familie hatte es für Holly nie etwas Wichtigeres als ihren Beruf gegeben, und diesen weiter auszuüben, ermöglichte es ihr einen kleinen Teil ihrer Vergangenheit zu bewahren.

Ein Jahr nach ihrer Flucht aus Österreich, begann sie für die Tochterfirma eines großen Autokonzerns zu arbeiten. Ihr Schwerpunkt lag im Bereich Fahrzeugsicherheit. Holly arbeitete je nach Planungsphase entweder von zu Hause aus oder in der Simulationsabteilung ihrer Firma. Den Kontakt zu anderen Menschen hielt sie dabei so gut es ging auf ihr Team beschränkt und sie nahm auch nie an offiziellen Vorführungen teil. Ihr lag alles daran die Öffentlichkeit so gut es ging zu meiden.

Früher war Holly gern unter Menschen gewesen. Bis zu dem Moment, in dem ein Ermittlungsverfahren, das von ihrem Mann geleitet wurde, alles verändert hatte. Kurz nachdem Thomas die erste Morddrohung erhielt, planten sie zusammen eine Flucht ins Ausland. Immer wenn Holly an diese Zeit der Ungewissheit und Angst zurückdachte, brach ihr der Schweiß aus.

Mit zitternden Händen lenkte sie ihren Wagen an den Straßenrand. Ihr Mann hatte sein Leben dem Gesetz gewidmet. Er war ein erfolgreicher Staatsanwalt gewesen, der sich hauptsächlich mit Korruptionsfällen innerhalb der österreichischen Sicherheitsbehörden beschäftigte. Und wegen seines Erfolges wurde er am Ende erschossen. Das war der Auftakt ihrer bitteren Tragödie. Hätte sie nicht das Geld und die Mittel gehabt und die Hilfe von ein paar außergewöhnlichen Menschen, wäre sie jetzt ebenfalls tot.

Oft fragte Holly sich, ob der Tod nicht die bessere Alternative gewesen wäre. Wenn sie einfach aufgegeben hätte, müsste sie nicht mit all den schrecklichen Verlusten fertig werden. Ihr wäre ein Leben voller Lügen erspart geblieben, die bereits bei ihrem Namen und ihrer Herkunft anfingen. Stattdessen könnte sie mit ihren Liebsten zusammen sein, wo auch immer diese jetzt waren. Holly legte ihre Stirn aufs Lenkrad und schloss die Augen. Natürlich gäbe es eine Möglichkeit ihrem Leid ein Ende zu setzen, sie müsste sich nur dazu überwinden und alles wäre vorüber.

Ein Klopfen an der Fensterscheibe riss Holly aus ihren Gedanken. Als sie aufblickte, sah sie direkt in John Hunters ernstes Gesicht. Nur widerwillig ließ sie die Fensterscheibe herunter. »Was habe ich verbrochen?«

So wie sie selbst, hielt auch John sich nicht mit einer Begrüßung auf. »Wenn Sie Ihren Wagen schon am Straßenrand parken müssen, würde ich Ihnen nahe legen den Warnblinker anzumachen. Nicht, dass Ihretwegen noch jemand zu Schaden kommt«, sagte er sachlich und ohne Umschweife.

Holly sah sich um, wobei sie sich schnell ihres Leichtsinns bewusstwurde.

»O Gott, es tut mir leid. Ich …«, ihre Schultern sackten nach vorne, »ich war mit meinen Gedanken ganz wo anders.«

»Das habe ich gemerkt.« John schnaubte. »Ich musste mehrmals gegen die Scheibe klopfen, bis Sie mich gehört haben.«

Holly warf einen Blick in den Rückspiegel und sah nicht wie erwartet ein Polizeiauto, sondern Johns schwarzen BMW hinter ihrem Wagen stehen. Seine Warnblinkanlage war ordnungsgemäß eingeschaltet.

»Sie sind gar nicht im Dienst?«

John lächelte schief. »Ich werde Sie nicht zu einem Bußgeld verdonnern, wenn das Ihre Sorge ist. Davon abgesehen, fallen Verkehrsdelikte nicht in meinen Zuständigkeitsbereich.«

In der Tat taten sie das nicht. John Hunter war seit kurzem Inspektor der nördlichen Region des Bezirkes Stormfield, und somit auch Leiter der Polizeiwache in Winningham. Das zu hören hatte Holly gar nicht gefallen. Sie war fest davon ausgegangen, dass John wieder nach London zurückkehren würde. Dass er hierblieb, machte ihr Leben um einiges komplizierter. Er war Polizist, daher war ihm nicht zu trauen. Davon abgesehen brachte er ihre Gefühlswelt vollkommen durcheinander. Holly hatte eine Woche gebraucht, um sich von ihrer Begegnung mit ihm zu erholen, und es würde noch ewig dauern diesen Kuss zu vergessen.

Holly erwischte sich dabei, wie ihre Gedanken abschweiften und John sah aus, als wüsste er genau, woran sie dachte. Sie konnte unmöglich länger hierbleiben. »Ich möchte nicht unhöflich sein, Inspektor Hunter …«

»John.«

»Wie bitte?«

»Sie können mich John nennen. Nach unserer letzten Begegnung spricht, meiner Meinung nach, nichts dagegen.«

Holly richtet den Blick nach vorne, um seinen wachsamen Augen zu entgehen. »Ich habe diese Begegnung schon längst aus meinem Gedächtnis gestrichen und es wäre mir lieber, wenn Sie das auch tun würden, Inspektor Hunter.«

Als John sich ein Stück weit ins Auto lehnte, hielt Holly gespannt den Atem an.

»Niemals«, flüsterte er nach einem Moment der Stille, der ihr wie eine Ewigkeit vorkam. Das war alles. Danach richtete er sich auf und ging zu seinem Wagen.

Niemals. Es war nur ein Wort und sagte dennoch mehr, als sie hören wollte.

Holly wartete, bis John an ihr vorbeigefahren war, dann startete auch sie ihren Wagen. Tief in ihrem Inneren spürte sie, dass von ihm keine Gefahr ausging, zumindest keine die lebensbedrohlich war. John war einer von den Guten, dessen war Holly sich sicher. Dennoch konnte er ihr gefährlich werden. Es würde nicht leicht sein, ihm dauerhaft aus dem Weg zu gehen, da ein Teil von ihr das gar nicht wollte. Ein Teil, den Holly lange verloren geglaubt hatte.

 

John saß an seinem Schreibtisch und starrte aus dem Fenster. An dem Abend, an dem er Holly zum ersten Mal gesehen hatte, war er ganz versessen darauf gewesen mehr über sie und ihre Vergangenheit herauszufinden. Zumindest bis zu dem Moment, in dem er sie geküsst hatte. Dieser Moment veränderte alles. Danach wäre ihm jeder Versuch in ihrem Privatleben herumzustochern, wie ein Verrat vorgekommen.

Der Kuss war nicht geplant gewesen. John hatte vorgehabt sich ihr langsam zu nähern. Er wollte erst genug über Holly herausfinden, bevor er einen solchen Schritt wagte. Doch aller Vorsätze zum Trotz, zog es ihn unaufhaltsam zu ihr hin. Am Ende versank er in den Tiefen der unglaublichsten Augen, die er je gesehen hatte. Nichts hätte ihn danach noch davon abhalten können Holly zu berühren, oder ihre schönen Lippen zu küssen. Sie fühlten sich genauso an, wie sie aussahen; voll und weich, und wie für die Sünde geschaffen.

John fuhr sich erschöpft übers Gesicht. Seit jenem Kuss schlief er kaum eine Nacht durch und wenn doch, dann wachte er schweißgebadet auf, frustriert und so erregt, dass eine kalte Dusche allein nicht ausreichte, um ihn abzukühlen.

Wie immer, wenn er zu viel über Holly nachdachte, machten sich Fantasien in Johns Kopf breit, die er schnellstens verdrängen musste. Zu dem Zweck führte er sich noch einmal Hollys Unsicherheit vor Augen. Diese war mehr als deutlich zu spüren gewesen und letztendlich der Grund, warum er so schnell von ihr abgelassen hatte.

Und dabei waren ihm ihre Tränen aufgefallen. Wenn John an den Schmerz und die Zerrissenheit in ihren schönen Augen dachte, betrübte es ihn immer noch.

Was Holly auch durchmachen musste, es hatte sie stark traumatisiert. Und auch wenn es ihn in den Fingern juckte Nachforschungen über sie anzustellen, würde er es nur auf eine Art tun. Indem er sie selbst nach ihrer Vergangenheit fragte.

Bis dahin blieb ihm nichts anderes übrig, als zu spekulieren. Fest stand, dass Holly sich vor jemandem versteckte. Mehr noch, dass sie Angst um ihr Leben hatte.

Die Frau fuhr einen Volvo Armoured, verdammt nochmal. Als er kurzzeitig dem Personenschutz zugeteilt war, saß er in einem solchen Wagen und kannte daher die Merkmale, die ihn von einem normalen XC90 unterschieden. Der Luxuspanzer kostete ein Vermögen. So einen Wagen kaufte man sich nicht ohne triftigen Grund. Womöglich verlor Holly ihr Bein bei einem Autounfall. Durch vorsätzliches Fremdverschulden vielleicht …

»John?«

John blickte erschrocken zur Tür. Er hatte Milly gar nicht hereinkommen hören.

Milly war beinahe so alt wie die Wache selbst. Sie war eine gutmütige Frau, sehr loyal und tüchtig. Trotz ihres hohen Alters verrichtete die Polizeiassistentin ihre Arbeit genau und entlastete John enorm, was den Papierkram anging.

Dazu kam noch, dass Milly sich sehr fürsorglich um ihn kümmerte. Um ihn und die vier anderen Angestellten der Wache Winningham. Die beiden Sergeants Will Hopkins und Randal Brown und die Constables Miranda Crow und Brian Spooner bildeten, zusammen mit Milly Crawford, einen Teil von Johns Team. Ein gut eingespieltes Team, dafür hatte sein Vorgänger gesorgt. Aus praktischen Gründen hatte John die Wache in Winningham als seinen Niederlassungsposten gewählt. Von dort aus leitete er noch sechs weitere Dienststellen in North Stormfield.

»Was gibt’s, Milly?« fragte er, während er einen Blick auf das Tablett warf, das Milly auf seinen Schreibtisch abgestellt hatte. Eine Kanne Tee und ein Teller voll selbstgebackener Schokoladenkekse. Wenn er nicht aufpasste, würde er bald nicht mehr durch die Tür passen.

»Draußen ist jemand für dich, mein Junge.« Milly wackelte verheißungsvoll mit ihren grauen Augenbrauen. Ein breites Grinsen zeichnete sich auf ihrem molligen Gesicht ab. »Es ist Evelyn Fletcher. Sie sagt es sei dringend.«

Johns amüsierte Miene gefror augenblicklich zu Eis. »Sag ihr, sie soll sich an Will wenden. Ich bin zurzeit beschäftigt.«

Milly sah ihn verdutzt an. »Okay. Aber ich dachte …«

»Falsch gedacht«, unterbrach er sie barsch, woraufhin er augenblicklich ein schlechtes Gewissen bekam. »Es tut mir leid, Milly. Ich weiß, dass du es nur gut meinst, aber das letzte, was ich im Moment gebrauchen kann, ist eine Begegnung mit Evelyn Fletcher.«

»Oh, ihr beiden seid also nicht wieder …?«

»Nein, wir sind nicht wieder ...«

»Verstehe.« Milly wandte sich peinlich berührt ab. Kurz bevor sie zur Tür hinausging, konnte John sie irgendetwas über Hilda Shaw murmeln hören, darüber was für einen Blödsinn die Alte schon wieder verzapft hatte.

John seufzte frustriert. An diesem Scheißkaff hatte sich absolut nichts geändert.

 

Was für ein angenehmer Samstagmorgen, dachte Holly, während sie eine Vielzahl an Aufzuchttöpfen vor sich auf dem Tisch abstellte. Sie setzte sich hin, öffnete die Box mit den Gemüsesamen und begann die Päckchen auszusortieren. Auf der verwitterten Holzbank, unter ihrem alten Apfelbaum, hielt sich Holly am liebsten auf. Die zwei Bänke und der Tisch hatten definitiv schon bessere Tage gesehen, aber eben genau das machte ihren Charme aus. Eine Tischdecke und ein paar Polster sorgten für die richtige Portion Gemütlichkeit.

Kater Carlo, der inoffizielle Herr des Hauses, hatte sich neben Holly zusammengerollt und schlief wie ein Stein. Tatsächlich machte er den ganzen Tag nichts anderes. Den einzigen Weg, den der Faulpelz freiwillig zurücklegte, war der zum Futternapf. Wie sie ihn manchmal um seine Sorglosigkeit beneidete.

Holly runzelte die Stirn, als Hades zu ihren Füßen den Kopf hob und knurrte. »Was ist? Bekommen wir Besuch?«

Unvermittelte sprang der Hund auf und schoss wie ein Pfeil in Richtung Gartentor. Da er nicht bedrohlich, sondern aufgeregt bellte, nachdem er ums Eck verschwunden war, machte Holly sich nicht die Mühe aufzustehen. Neben ihr begrüßte er nur eine Person auf diese Art. Eine Person, die sie schon seit beinahe drei Wochen nicht mehr gesehen hatte.

Holly war etwas verwundert, als Hades allein zurückkam. »Hast du dich verhört, mein Großer?«

Sie kraulte ihren Hund am Hals und folgte seinem Blick in Richtung Haus.

Ihre Mundwinkel zuckten, als sie ein paar wilde rote Locken hinter ihrem Holunderstrauch hervorlugen sah.

»Ich komme in Frieden«, behauptete der Busch.

Holly ließ ihre Freundin ein bisschen zappeln und sagte dann: »Komm endlich raus, du verrücktes Huhn.«