Als die Nacht uns Sterne schenkte - Iona Grey - E-Book
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Als die Nacht uns Sterne schenkte E-Book

Iona Grey

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Beschreibung

Eine Liebe, die nie sein durfte und dennoch alles überdauerte …

1926: Die junge Selina Lennox genießt ihre Jugend in der Londoner High Society in vollen Zügen. Exquisite Kleider, ausschweifende Partys, Champagner und Skandale, so kann es für immer weitergehen. Doch dann trifft sie in einer schicksalhaften Nacht auf Lawrence Weston. Für den mittellosen Künstler ist jeder Tag ein Kampf – gegen den Hunger und für das Ziel, mit seinen Bildern auf die Missstände im Land aufmerksam zu machen. Selina und Lawrence ist klar, dass sie nicht in die Welt des jeweils anderen gehören, und dennoch ist da etwas, das sie unaufhaltsam aufeinander zutreibt. Die beiden verbringen einen magischen, leidenschaftlichen Sommer miteinander. Doch sie wissen, dass dieser nicht für immer andauern kann …

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Buch

1926: Die junge Selina Lennox genießt ihre Jugend in der Londoner High Society in vollen Zügen. Exquisite Kleider, ausschweifende Partys, Champagner und Skandale, so kann es für immer weitergehen. Doch dann trifft sie in einer schicksalhaften Nacht auf Lawrence Weston. Für den mittellosen Künstler ist jeder Tag ein Kampf – gegen den Hunger und für das Ziel, mit seinen Bildern auf die Missstände im Land aufmerksam zu machen. Selina und Lawrence ist klar, dass sie nicht in die Welt des jeweils anderen gehören, und dennoch ist da etwas, die sie unaufhaltsam aufeinander zutreibt. Die beiden verbringen einen magischen, leidenschaftlichen Sommer miteinander. Doch sie wissen, dass dieser nicht für immer andauern kann …

Autorin

Iona Grey studierte Englische Sprache und Literatur an der Manchester University. Ihre Begeisterung für Geschichte und ihr großes Interesse an Frauenschicksalen des 20. Jahrhunderts brachten sie dazu, ihre Romane »Als unsere Herzen fliegen lernten« und »Als die Nacht uns Sterne schenkte« zu schreiben. Die Autorin lebt mit ihrem Mann und ihren Töchtern im Nordwesten Englands auf dem Land.

Von Iona Grey bereits erschienen Als unsere Herzen fliegen lernten

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IONA GREY

ALS DIE NACHT UNS STERNE SCHENKTE

ROMAN

Deutsch von Andrea Brandl

Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel »The Glittering Hour« bei Simon & Schuster, London. Das Zitat von T. S. Eliot stammt aus »Vier Quartette«, Übertragung und Nachwort von Norbert Hummelt, Suhrkamp Verlag, Berlin 2015.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2019 by Iona Grey Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2020 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München Redaktion: Martina Schwarz Umschlaggestaltung und --motiv: www.buerosued.de dn · Herstellung: sam Satz und E-Book: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN: 978-3-641-25598-5V002 www.blanvalet.de

Für meine Mutter. Und die ihre.

Fußtritte klingen nach, hier im Gedächtnis Hier diesen Weg entlang, den wir nie gingen Zu dieser Tür, die uns verschlossen blieb Die Tür zum Rosengarten

T. S. Elliot

Prolog

Das Ende

Februar 1926

Die Februardämmerung zog herauf, langsam, entschuldigend, als spüre sie, dass sie nicht willkommen war. Ganz allmählich nahmen die Gegenstände im Raum Gestalt an, wie eine Fotografie in der Entwicklerflüssigkeit.

Doch all die Fotos, die zuvor an den Wänden gehangen hatten, waren verschwunden, ebenso wie alles andere. Der ohnehin spartanisch eingerichtete Raum war in seine unpersönliche Funktionalität zurückversetzt worden – ein zerschrammter Tisch, ein wackliger Bugholzstuhl. Eine alte Reisetasche stand unter dem Fenster. Sie wandte den Blick ab.

Die Gesichter an den Wänden fehlten ihr. Normalerweise fotografierte er Wildfremde: Arme und Besitzlose, Verwundete und Wahnsinnige, wobei es ihm gelang, ihrem Leid so etwas wie Würde zu verleihen. Das Leid gab den Menschen eine natürliche Noblesse, meinte er, doch sie brauchte nicht zu hoffen, dass dasselbe auch für sie galt, das war ihr bewusst. Sie hatte sich für die feige Lösung entschieden, daher hatte ihr Schmerz keine Würdigung verdient.

Er lag hinter ihr, mit der gewohnten Mühelosigkeit an sie geschmiegt, seine Brust an ihrem Rücken, seine muskulösen Schenkel an ihren angewinkelten Beinen. Sie konnte sein Gesicht nicht sehen, wusste aber, dass er wach war und ebenfalls zusah, wie die verräterische Morgendämmerung aufzog. Gleich würde das fahle Licht sich am anderen Ende der Stadt in ein Zimmer schleichen, sich auf einem leeren Bett ausstrecken, mit den Fingern über die schneeweiße Seide des Hochzeitskleides streichen, das am Schrank hing.

Sie musste gehen. Bevor die Welt vollends erwachte. Bevor ihre Abwesenheit bemerkt und nach ihr gesucht wurde.

Sie wandte sich ein allerletztes Mal zu ihm um.

TEIL I

1

Alice

Januar 1936

Erschöpft hing der gräulich gelbe Winterhimmel über der frostigen Landschaft. Zwar hatte es über Nacht geschneit, doch die wenigen schmutzig weißen, zu harten Kristallen gefrorenen Flecken waren die reinste Enttäuschung – bei Weitem nicht genug für einen Schneemann (Würde man ihr überhaupt erlauben, einen zu bauen? Wahrscheinlich nicht.). Die Kälte brannte auf ihren Wangen und drang ihr tief in die Knochen, als sie verdrossen hinter Miss Lovelock hertrottete.

Sie hatten ihren gewohnten Weg eingeschlagen, die westliche Auffahrt entlang und um den kleinen See herum, auf dessen Oberfläche noch die abgestorbenen Blätter vom letzten Herbst wie ein aufgeweichter rostroter Teppich trieben. Einst waren die weitläufigen Gärten von Blackwood Park das Juwel des Landsitzes gewesen, doch seit sich lediglich der alte Patterson und ein Gartenhelfer um sie kümmerten, war alles überwuchert und verkommen. Alice’ täglicher Marsch (ein Muss, da Miss Lovelock felsenfest davon überzeugt war, dass der Mensch viel frische Luft brauchte) führte sie auch an den Weiden mit den Schafen vorbei, die feindselig zu ihr herüberstarrten. Schon jetzt, nach elf Tagen, hatte die Vertrautheit des täglichen Spaziergangs eher etwas Bedrückendes als Tröstliches.

Elf Tage. Erst?

Beim Gedanken an die endlosen Tage, die bis zu Mamas Rückkehr noch vor ihr lagen, verkrampfte sich ihr Magen. Sie blieb stehen, blickte auf die weißen Atemwölkchen vor ihrem Mund und die hohen, schlanken Pflanzen am Ufer. Rohrkolben, hatte Miss Lovelock gesagt. Alice kannte sie zwar aus der Bibelgeschichte von Moses, hatte sie aber nie gesehen, bevor sie nach Blackwood gekommen war – jedenfalls standen keine am Ufer des Serpentine, des Bootsteichs im Hyde Park oder irgendwo sonst, wo sie mit Mama ihre Winterspaziergänge unternahm (gefolgt von Tee im Maison Lyons oder im Gunter’s Tea Shop oder – wenn sie nass und durchgefroren waren – leckeren Hefefladen, die sie zu Hause über dem Kaminfeuer rösteten). Sie betrachtete die Schilfpflanzen eingehend, konzentrierte sich ganz fest auf ihre samtige Oberfläche und kompakte Form, weil es sie von dem mulmig-flauen Gefühl im Magen ablenkte. Am liebsten hätte sie einen der Stängel abgebrochen und mit ins Haus genommen, um ihn mit den hübschen Stiften zu zeichnen, die Mama ihr zu Weihnachten geschenkt hatte (zwölf verschiedene Farben, wie ein Regenbogen in einer Kassette angeordnet), aber wahrscheinlich würde man ihr auch das nicht erlauben. Großmama hatte ihr gleich nach ihrer Ankunft die Stifte abgenommen, um sie »sicher zu verwahren«. Zeichnen war etwas, wozu einen in Blackwood Park niemand ermutigte.

»Alice. Los, Kind. Marsch, marsch!«, rief Miss Lovelock, die dank ihres entschlossenen Schritts bereits ein gutes Stück Vorsprung hatte, ungeduldig. (Bei ihrem »Marsch, marsch!« handelte es sich keineswegs um leere Worte, es war ein ernst gemeinter Befehl. Marschieren gehörte zu ihren Lieblingsbeschäftigungen.) Alles an Miss Lovelock war nüchtern und pragmatisch, von ihren festen Schnürschuhen und den maskulin anmutenden Krawatten, die sie zu ihren Blusen trug, bis hin zu ihrer Liebe für Arithmetik und lateinische Verben, überhaupt für Aufgabenstellungen, auf die es klare Lösungen und Antworten gab und die keinen Spielraum für »Was wäre wenn?«-Überlegungen ließen.

(»Was wäre wenn?« sei immer eine gute Frage, hatte Mama gesagt und sogar ein Spiel daraus gemacht, das sie stets auf dem Oberdeck des Autobusses spielten. Was wäre, wenn du für einen Tag unsichtbar sein könntest? Was würdest du tun? Was wäre, wenn Tiere sprechen könnten? Was, wenn im Parlament nur Frauen statt Männer säßen?)

Alice kehrte den Rohrkolben den Rücken und schlurfte gehorsam zu Miss Lovelock. Die Gouvernante hatte die Arme vor ihrer ausladenden Brust gekreuzt, und selbst aus der Entfernung sah Alice, dass ihre Brauen zu einer dunklen missbilligenden Linie zusammengezogen waren. So eisern Miss Lovelock die frische Luft auch verfocht, wusste Alice doch, dass sie es kaum erwarten konnte, zurückzukommen und ihren Schützling loszuwerden, um den restlichen Nachmittag in ihrem geheizten Zimmer Radio zu hören. Trotzdem konnte Alice der Versuchung nicht widerstehen, durch das moosbedeckte Fenster des alten Bootshauses zu spähen, in der Hoffnung, dass die ausgemusterten Angelruten in der Ecke und die mottenzerfressenen Kissen den Geist und den Zauber längst vergangener Sommer mit fröhlichen Bootspartys, Picknicks und ausgelassenen Planschereien im See heraufbeschworen.

Blackwood Park war voller Geister. Flüsternde Stimmen und gedämpftes Gelächter einstiger Bewohner schwebten durch die leeren Korridore, und die Vergangenheit schien lebendiger zu sein als die Gegenwart, die kaum mehr war als eine endlose Aneinanderreihung trister Tage, die zu gleichförmiger Trostlosigkeit verschwammen. Mama war hier aufgewachsen. Sie hatte Alice erzählt, wie sie, Tante Miranda und Onkel Howard auf dem Marmorfußboden der Eingangshalle Himmel und Hölle und auf den Fluren des Kindertrakts mit den Dienern French Cricket gespielt hatten. Damals, vor dem Ersten Weltkrieg, waren in Blackwood noch Dienstboten beschäftigt gewesen (und Onkel Howard hatte noch gelebt, allerdings war er damals noch nicht Onkel gewesen und sollte die Geburt seiner Nichte und seines Neffen auch nicht mehr erleben). Alice war sicher, dass es ihre Stimmen waren, die sie überall im Haus hören konnte, ihr Gelächter, ihre Schritte.

»Alice Carew, würdest du bitte endlich einen Zahn zulegen!«

Alice’ Seufzer ließ das grünliche Glas beschlagen, ehe sie sich widerstrebend vom Fenster löste. Über ihr spannte sich der fahle Januarhimmel, und über den Baumwipfeln stand ein bleicher Mond. Hinter Miss Lovelock ragte Blackwood Park empor, düster und imposant mit seinen dunklen Fenstern und den Geheimnissen, die sich dahinter verbargen. Schweren Herzens wandte Alice sich allen beiden zu.

Im Kindertrakt im obersten Geschoss war es kaum wärmer als draußen im Freien. Statt in dichten, kompakten Wolken schwebte Alice’ Atem hier in gespenstischen Schwaden vor ihrem Mund, und als sie Miss Lovelock folgte, wurden ihre Schritte von dem fadenscheinigen Teppich geschluckt, als wäre sie ebenso fragil und flüchtig wie die Schatten der Kindheit von Mama und ihren beiden Geschwistern.

Zwanzig Jahre lang hatte kein Kindermädchen mehr einen Fuß in das Haus gesetzt, und sowohl Kindertrakt als auch das Schulzimmer waren ungenutzt geblieben. Vergessene Puppen und Plüschtiere lagen im Tagesraum und erinnerten an glücklichere Zeiten, ebenso wie die reiterlosen Schaukelpferde, die noch immer an exakt derselben Stelle standen wie damals. Vor Alice’ Ankunft waren die Räume eilig geputzt worden, trotzdem hing noch der Staub in den Ecken, die Ellens flüchtigem Wedel entgangen waren, und in der Luft lag eine schale Stickigkeit wie in einem Museum.

In Blackwood gab es keinen Nachmittagsunterricht wie in Alice’ Mädchenschule in Kensington, wo nach dem Lunch Sticken oder Hauswirtschaft in Gruppenarbeit auf dem Programm standen (Miss Ellwood, die Rektorin, war eine fortschrittlich denkende Frau, die sehr wohl wusste, dass selbst die jungen Damen aus gutem Hause sich in einer Welt würden zurechtfinden müssen, in der die Dienstbotenknappheit immer drastischer wurde). Miss Lovelock ließ Alice mit der Anweisung allein, etwas »Sinnvolles« zu lesen, und zog sich mit unangemessener Hast in ihr Zimmer zurück. Kaum hatte sie die Tür fest hinter sich geschlossen, drang das gedämpfte Rauschen des Radioapparats an Alice’ Ohren.

Sie trat ans Fenster und ließ sich auf die gepolsterte Bank sinken. Mittlerweile hatte sich zu dem flauen Gefühl im Magen ein dicker, schmerzhafter Kloß in ihrer Kehle gesellt, der ihr förmlich die Luft abschnürte. Kurz fragte sie sich, ob sie irgendetwas ausbrütete, während ein Hoffnungsschimmer in ihr aufglomm. Wenn es ihr schlecht ginge – so richtig schlecht –, würde Mama doch sicher zurückkommen, oder nicht?

Draußen brach zügig die Dämmerung herein und verschluckte die trostlose Weite des Grundstücks. Dicker, fahl im Halbdunkel leuchtender Reif lag überall dort, wo die schwachen Sonnenstrahlen nicht hingekommen waren. Gern hätte sie den Anblick in einer Zeichnung festgehalten, doch ihn realistisch darzustellen, wäre ihr wohl sowieso kaum gelungen. Beim Gedanken an die neuen Stifte schwoll der Kloß in ihrem Hals noch ein wenig weiter an.

Sie hatte keine Ahnung, wodurch sie sich die Abneigung ihrer Großmutter zugezogen hatte. Während Großvater, der alt und krank war, ihr lediglich Desinteresse entgegenbrachte, verströmte Großmama ihre Missbilligung wie einen frostigen Eishauch, dessen Ursache jedoch im Dunkeln blieb. Soweit sie sich erinnern konnte, hatte sie sich in ihrer Gegenwart nie danebenbenommen, war nie ungehorsam oder aufmüpfig gewesen oder hatte geprahlt. Offen gestanden, hatte sie vor ihrer Ankunft in Blackwood kaum Zeit mit ihren Großeltern verbracht, weshalb die Ankündigung, dass sie in ihrer Obhut bleiben sollte, während Mama Papa auf seiner Geschäftsreise nach Asien begleitete, ein echter Schock gewesen war. Im Grunde waren die beiden Fremde für Alice.

Es war einfach nicht fair.

Der Duft nach frischen Muffins drang aus Miss Lovelocks Zimmer herüber. Alice’ flauer Magen knurrte. Ihre Hände und Füße waren klamm vor Kälte. Zwar war Holz im Kamin aufgeschichtet, doch sie wusste nur zu gut, dass sie es nicht alleine anzünden durfte und Miss Lovelock böse wäre, wenn sie anklopfen und sie darum bitten würde (und Miss Lovelocks schlechtes Gewissen, weil sie es vergessen hatte, würde alles noch schlimmer machen). Am Kamin hing eine ausgefranste Gobelinschnur, mit der sich das Personal im unteren Stockwerk rufen ließ, doch heute war Pollys freier Nachmittag, deshalb käme Ellen an ihrer Stelle herauf. Ellen war siebzehn und hatte laut Polly nichts als Unsinn im Kopf, den sie und Ivy, das Küchenmädchen, aus den Magazinen hatten, die sie lasen – über Filmstars und Haarfrisuren und alle möglichen Schönheitsbehandlungen, bei denen man sich Dinge wie Backpulver und Honig ins Gesicht schmierte. Alice hatte sich ein Grinsen verkneifen müssen, trotzdem hatte sie ein klein wenig Angst vor Ellen. Sie beäugte die Schnur, brachte jedoch nicht den Mut auf, daran zu ziehen.

Stattdessen zog sie die Beine an und schlang die Arme um die Knie. Mittlerweile war es dunkel im Kinderzimmer. Sie wandte sich wieder dem Fenster zu, in dem jedoch nichts als das bleiche Oval ihres eigenen Spiegelbilds zu erkennen war.

Eigentlich sollte sie aufstehen, das Licht anknipsen (das durfte sie doch bestimmt, oder?) und sich ein Buch aus dem Regal aussuchen, doch die Minuten verstrichen, ohne dass sie sich vom Fleck rührte. Lesen bereitete ihr nur wenig Freude, da die Worte bloß vor ihren Augen zu verschwimmen und sich zu verzerren schienen, bis sie keinerlei Sinn mehr ergaben. Doch es war nicht nur die Kälte, die sie schwerfällig und träge machte, sondern das Gefühl, dass sich etwas in ihr angestaut hatte, das jederzeit herausbrechen konnte, wenn sie nicht ganz still sitzen blieb. Also verharrte sie, zusammengekauert gegen die Kälte, und lauschte.

Irgendwo im Haus schlug eine Tür. Stimmen schwollen an und verebbten wieder – ob aus Miss Lovelocks Radioapparat, aus Richtung der Dienstbotentreppe oder aus der Vergangenheit, vermochte Alice nicht zu sagen. Kalte Luft strich über ihre Wange, und die Strähnen ihres Pferdeschwanzes wippten leicht, als hätten unsichtbare Kinderfinger ihn berührt. Sie kniff die Augen zusammen. Ihre Kehle brannte wie Feuer, und ihr Kiefer schmerzte, weil sie die Zähne ganz fest zusammenbiss, damit sie nicht klapperten. In diesem Moment wurde irgendwo in unmittelbarer Nähe eine Tür geöffnet. Vor Schreck schlug ihr das Herz bis zum Hals.

Sie wich zurück, versuchte, hinter den Vorhang zu schlüpfen, obwohl Ellen sie für eine alberne Gans halten würde, wenn sie sie so in der Finsternis hocken sähe. Sie betete darum, dass die Schritte verklingen würden, doch dann erschien eine Gestalt im Türrahmen, und eine Sekunde später wurde das Licht angeknipst.

»Du liebe Güte!« Polly presste sich eine Hand auf die Brust. »Du hast mich zu Tode erschreckt! Warum sitzt du denn ganz allein im Dunkeln? Alice? Oh, mein armes Lämmchen …«

Ihre Freundlichkeit war zu viel für Alice, sie konnte die Tränen nicht länger zurückhalten. Mit wenigen Schritten hatte Polly den Raum durchquert und zog Alice fest an sich, wiegte sie in ihren Armen und redete beschwichtigend auf sie ein, bis sie sich beide beruhigt hatten. Dann nahm sie Alice auf ihre Knie und tupfte ihr die nassen Wangen mit einem Taschentuch trocken.

»So, siehst du, Herzchen, schon ist es besser … Polly ist ja jetzt hier. Nur gut, dass ich früher zurückgekommen bin. Der Himmel weiß, wie lange du sonst mutterseelenallein hier im Dunkeln gesessen hättest. Diese Ellen! Ich könnte dieses nutzlose Biest erwürgen. Willst du mir erzählen, was dir solche Angst gemacht hat, mein Schatz?«

»N-n-nichts.« Der Kloß in ihrem Hals war verschwunden, dafür dröhnte ihr der Kopf vom Weinen, und ihr Atem kam stoßweise. »Es ist nur … ich v-vermisse meine Mama so sehr.«

»Ach, Liebes, aber natürlich fehlt sie dir. Das ist doch ganz normal, und hier gibt es nicht viel, um dich abzulenken, stimmt’s?« Beruhigend streichelte Polly Alice über den Rücken. »Vor allem nicht bei dem scheußlichen Wetter. Um diese Jahreszeit ist Blackwood ein alter, düsterer Kasten, daran gibt es nichts zu rütteln. Ich sage dir was …« Sie hielt inne und strich Alice eine Strähne aus dem Gesicht. »Ich zünde jetzt den Kamin an, damit es hier drinnen schön warm wird, und dann kannst du dich an den Tisch setzen und deiner Mama einen langen Brief schreiben, in dem du ihr alles erzählst. Vielleicht nicht bloß, dass du sie vermisst, denn das würde sie nur traurig machen, und das wollen wir schließlich nicht, aber bestimmt fällt dir auch etwas Schönes ein, wovon du ihr berichten kannst. Und wenn man an etwas Schönes denkt, geht es einem selbst auch gleich viel besser.«

Alice schüttelte den Kopf. »Aber das darf ich nicht. Miss Lovelock hat es gesagt. Ich darf nur einen Brief pro Woche schreiben und soll darauf achten, keine Rechtschreibfehler zu machen, weil Großmama ihn noch mal liest, bevor er abgeschickt wird. Und den letzten habe ich am Sonntag geschrieben.«

Es war ein tieftrauriger Brief gewesen, auch wenn das vordergründig natürlich nicht zu erkennen gewesen war. Sie hatte sich alle Mühe gegeben, ihre Sätze möglichst neutral und nichtssagend zu formulieren, doch die Abstände zwischen den einzelnen Wörtern waren ein Spiegel der Einsamkeit gewesen, die sie nicht zum Ausdruck bringen durfte … und der Fragen, die man ihr zu stellen verbot. Wieso kann Papa sich nicht ohne dich um die Probleme mit den Minenarbeitern kümmern? Wo liegt eigentlich Burma? Weit weg von hier? Wann kommst du wieder? Mit schwerem Herzen hatte sie ihren Namen unter die Zeilen gesetzt; allein die Vorstellung, ihre Mutter könne den Brief lesen und glauben, sie sei wütend und trotzig, war ihr ein Gräuel.

»Tja, das ist aber schade«, erwiderte Polly ungewohnt knapp. »Es gibt doch nichts Schöneres, als einen Brief aus der Heimat zu bekommen, wenn man nicht dort sein kann.«

»Aber es ist so teuer. Großmama sagt, es kostet eine Menge Geld, den Brief nach Burma zu schicken, oder auf das Schiff, auf dem Mama und Papa gerade sind.«

»Tatsächlich?« Behutsam hob Polly Alice von ihren Knien und trat zum Kamin, wo sie ungelenk ein Streichholz anzündete und an das Papier hielt, ehe sie sich mit einem eigentümlichen Lächeln wieder zu ihr umwandte. »Aber so teuer kann es wohl nicht sein. Und wenn du mich fragst, ist es ein ziemlich geringer Preis, wenn es dich und deine Mama auf andere Gedanken bringt. Ich könnte doch nach unten gehen und Briefpapier holen. Und dann kannst du noch einen Brief schreiben und alles sagen, was dir in den Sinn kommt. Ich gebe ihn höchstpersönlich auf, wenn ich das nächste Mal ins Dorf komme.«

»Ehrlich?« Ein hoffnungsvolles Zittern schlich sich in Alice’ Stimme. »Das ist nicht nötig … ich will nicht, dass du Ärger bekommst.«

»Das werde ich nicht, weil niemand außer uns beiden davon erfahren wird.« Polly ging zur Tür und drehte sich noch einmal zu Alice um. »Und nur zwischen dir und mir: Es ist nicht das erste Mal, dass ich meine Stellung aufs Spiel setze, um deiner Mama zu helfen.« Ein Anflug von Traurigkeit lag in ihrem Lächeln. »Also, du wartest hier, während ich das Briefpapier besorge.«

2

Das Spiel beginnt

Alice wusste, dass es lange dauern würde, bis sie eine Antwort auf ihren Brief bekäme. Im Geiste versuchte sie, sich seinen Weg auszumalen: wie er vom Postamt zur Sortierstelle in Salisbury und dann zu einem der Royal Mail Steamer in Southampton befördert wurde, doch hier endete ihre Vorstellungskraft auch schon. Als ihr Brief sich auf die Reise über die endlosen Weiten des Ozeans begab, verblasste die Nähe zu ihrer Mama, die das Schreiben heraufbeschworen hatte, bereits wieder.

Eine Schwere lastete auf den Tagen, die nicht zuletzt dem Tod des Königs Ende Januar geschuldet war. So weit Blackwood gefühlt auch von London entfernt lag, die Nachricht hatte doch große Trauer bei der gesamten Bevölkerung ausgelöst, und die Welt schien nicht mehr dieselbe zu sein – nicht mehr so sicher, nun, da ihrer aller Schicksal in den Händen eines leichtsinnigen Prinzen lag, der eher als Lebemann denn als verantwortungsvoller Herrscher von sich reden machte. Wenn der Tod nicht einmal den König verschonte, konnte er wohl auch alle anderen jederzeit ereilen, oder etwa nicht?

Die bittere Kälte blieb, Schnee gab es hingegen immer noch keinen. Der Boden unter Alice’ Füßen war steinhart, das Gras spröde vom Frost, wenn sie auf ihren Nachmittagsmärschen Miss Lovelock folgte. Die Tage waren kurz, und die Sonne schaffte es kaum, über die kahlen schwarzen Äste der um den See gruppierten Bäume zu kriechen, ehe die Schatten im Kinderzimmer auch schon wieder lang wurden und der Raum, gemeinsam mit Alice’ Lebensgeistern, in Dunkelheit versank. Trotz ihrer Kürze zogen sich die leeren Tage wie Wochen, und statt nachzulassen, verfestigte sich Alice’ Heimweh noch, als erstarre ihr Herz unter einer dicken Eisschicht wie das trübe Wasser des Sees.

Immerhin hatte es geholfen, den Brief zu schreiben. Ihm verdankte sie die Vorfreude auf Mamas Antwort und, was noch viel wichtiger war, das heimliche Wissen, jederzeit einen weiteren verfassen zu können – und damit hatte sie etwas, auf das sie sich freuen durfte. Sie begann, ihr Augenmerk auf Dinge zu richten, die sie Mama erzählen konnte: kleine Details von ihren Spaziergängen mit Miss Lovelock, wie der Reiher, den sie ab und zu im Schilf sah, oder der prächtige rosafarbene Sonnenuntergang, der für eine kurze Weile die frosterstarrte Welt in die puderzuckrige Weichheit türkischen Honigs getaucht hatte. Selbst das qualvolle sonntägliche Mittagessen mit den Altvorderen (wie Mama sie nannte, wenn auch nur hinter deren Rücken) war erträglicher, weil sie wusste, dass sie ihrer Mama später davon berichten konnte. Sie schilderte, dass Großvater sie dabei ertappt hatte, wie sie eines der imposanten Porträts im Speisezimmer betrachtet hatte. Er hatte sie gefragt, ob sie denn die junge Frau in dem weißen Kleid wiedererkenne, und Alice hatte angestrengt die Gestalt mit dem sahnig-pfirsichfarbenen Teint und dem hellblonden Haar gemustert und gespürt, wie ihr die Schamesröte ins Gesicht gestiegen war, weil ihr beim besten Willen keine Antwort einfallen wollte. Mit ihrer gewohnt eisigen Stimme hatte Großmama sie darüber in Kenntnis gesetzt, dass sie das Mädchen auf dem Bild sei, als Debütantin.

Sah Großmama tatsächlich so aus?, schrieb sie ihrer Mama an diesem Abend. Bevor sie immer böse war?

Mamas Antwort kam schneller als erwartet. Nicht einmal zwei Wochen, nachdem Polly ihren Brief aufgegeben hatte, und zu einem Zeitpunkt, als Alice ihn noch auf seiner langen Reise wähnte, betrat Polly mit unverhohlener Freude das Kinderzimmer, um Alice ihr Mittagessen zu servieren.

Sie zog den Brief aus der Tasche und legte ihn auf den Tisch. Nur ein einziges Wort prangte auf dem Umschlag, in Mamas vertrauter Handschrift und der türkisfarbenen Tinte, ihrem Markenzeichen. Alice. Sie und Polly hatten sich darauf geeinigt, dass es sicherer war, wenn Mama an Polly schrieb und den Brief an Alice dazulegte, falls Großmama auf die Idee kommen sollte, ihre Post zu kontrollieren.

»Willst du ihn denn nicht aufmachen? Er fühlt sich richtig dick an.«

Es juckte Alice in den Fingern, den Umschlag aufzureißen und Mamas lang ersehnte Worte heraussprudeln zu lassen, doch stattdessen griff sie nach ihrer Gabel. Nachdem sie so lange gewartet hatte, wollte sie den köstlichen Moment noch ein wenig hinauszögern.

»Ja, aber erst später. Nach dem Essen.«

Obwohl sich der Ochsenschwanzeintopf und die gedünsteten Pflaumen bei Weitem nicht mit dem Genuss ihrer Vorfreude messen konnten, zwang sie sich, ganz langsam zu essen und immer wieder an ihrem Wasserglas zu nippen. Als sie fertig war, stapelte sie die Teller auf dem Tablett und trug den Brief zum Fenstersitz, schob sich das alte Gobelinkissen mit den aufgestickten Elefanten von Noahs Arche in den Rücken und zog den Vorhang halb zu, um auch wirklich ganz allein zu sein, ehe sie vorsichtig den Finger unter die Lasche steckte.

S.S. Eastern Star

Sueskanal

28. Januar 1936

Meine liebste, liebste Alice,

eben habe ich deinen Brief erhalten und will keine Sekunde vergeuden, dir zu antworten. Es ist jetzt mitten am Nachmittag und fürchterlich heiß. Wir haben gerade Port Said verlassen, wo dein Brief uns bereits erwartet hat. Papa war so nett, dafür zu sorgen, dass meine Antwort per Luftpost nach England geschickt wird, damit sie dich in Windeseile erreicht. War das nicht eine wunderbare Idee von ihm?

Mein Schatz, es tut mir so unendlich leid, dass du traurig und einsam bist. Ich weiß, wie verwirrend all das für dich sein muss und dass du keine Zeit hattest, dich darauf einzustellen. Papa setzt zwar alles daran, seine geschäftlichen Ärgernisse von uns fernzuhalten, doch die Probleme in der Mine ließen sich nun mal nicht von London aus lösen, und es ist enorm hilfreich für ihn, seine Ehefrau an seiner Seite zu haben, damit sie die Wogen glätten und für Abwechslung sorgen kann, wenn die Herren der Schöpfung ihre Zahlenkolonnen und den juristischen Kleinkram einmal beiseitelegen. Ich hätte alles darum gegeben, dich mitzunehmen, mein Liebes – ich vermag mir die Freude deiner Gesellschaft hier kaum auszumalen –, aber das wäre sehr egoistisch von mir gewesen. Die Hitze ist fürchterlich anstrengend (schwer vorstellbar, ich weiß, zumal sich Blackwood im Winter anfühlt, als wäre es der kälteste Ort der gesamten christlichen Welt), und wenn wir erst in Burma angekommen sind, werden wir beide vermutlich rund um die Uhr mit der Mine beschäftigt sein, deshalb hätten wir dich ohnehin die ganze Zeit allein lassen müssen, und Polly wäre nicht zur Stelle gewesen. Es gibt niemanden, in dessen Obhut ich dich eher gegeben hätte, mein Liebling. Polly hat über die Jahre viele meiner Geheimnisse geteilt – ich würde nicht zögern, ihr mein Leben anzuvertrauen, ebenso wie das deine, das um so vieles kostbarer ist als meins. Ich weiß, dass du bei ihr sicher bist, trotzdem hoffe ich, dass wir die Probleme in Burma möglichst schnell lösen und nach Hause zurückkehren können. Oh, mein Schatz, ich hoffe es von ganzem Herzen.

Für den Moment jedoch müssen wir beide tapfer und guter Dinge sein, denn dann vergeht die Zeit viel schneller, als wenn wir Trübsal blasen und uns grämen. Deshalb schildere ich dir jetzt lieber, wo ich mich gerade befinde, denn dadurch wird mir die Schönheit meiner Umgebung bewusst, und ich höre auf, darüber nachzugrübeln, wie weit fort du bist. Ich sitze auf dem kleinen Privatdeck unserer Kabine, im Schatten einer grün-weiß gestreiften Markise, und Ahmed, unser Steward, hat mir in einer kleinen Silberkanne Pfefferminztee serviert, der hierzulande aus einem winzigen Glas mit Goldrand getrunken wird. Es ist eine Wohltat, dass wir heute wieder die Segel setzen konnten. Die Hitze im Hafen von Port Said war unerträglich, wohingegen auf See eine angenehme Brise allerlei würzige Gerüche vom Ufer herüberweht, das lediglich als eine dunkelblaue Linie zwischen den Blauschattierungen des Meeres und des Himmels zu erkennen ist. Seit wir in Marseille abgelegt haben, habe ich keine einzige Wolke am Himmel gesehen, nicht einmal, als wir vom Tod des Königs erfahren haben, vor dessen Hintergrund ein strahlend blauer Himmel ganz und gar unpassend schien. (Arme Großmama – sie hat in ihrer Jugend sogar mit ihm getanzt, als er noch der Duke of York und sie eine hinreißende Debütantin war. Bestimmt ist sie zutiefst betrübt über die Nachricht.)

Papa hat es geschafft, dass uns eine sehr reizende Suite zugewiesen wurde – ein kluger Schachzug, die Überfahrt erst in letzter Minute zu buchen. Mein Schlafzimmer ist zwar klein, aber sehr modern und behaglich, mit hübscher Walnussvertäfelung, einem dicken Teppich und Bettwäsche aus goldfarbenem Satin. Über dem Bett hängt eine praktische kleine Leselampe, aber wegen dieser elenden Seekrankheit konnte ich zwei geschlagene Tage lang die Augen kaum öffnen, geschweige denn, den Kopf heben. Jetzt geht es mir schon viel besser. Papa, der sich häufiger auf Segelschiffen aufhält als ich, ging es hingegen recht gut. Seine Kabine befindet sich auf der anderen Seite unseres kleinen Wohnzimmers und ist ganz in Grün gehalten. (Ich bin heilfroh, dass ich nicht dort schlafen muss. Mir ist schon grün genug zumute.) Das Schiff ist ausgesprochen luxuriös, mit einem Pool, einem eigenen Sportraum (auch wenn ich nicht die Absicht habe, ihn aufzusuchen!) und einer Bibliothek – du siehst, mein Schatz, für mich gibt es keine Ausreden, gelangweilt und trüber Stimmung zu sein.

Ich wünschte mir von Herzen, dir stünden all diese Ablenkungen zur Verfügung, doch da du dich mit Blackwood Park, den Altvorderen und Miss Lovelock (die sich ja ziemlich furchteinflößend anhört – ich muss Papa fragen, wo er sie aufgestöbert hat) begnügen musst, habe ich mir überlegt, womit ich dir die Zeit versüßen könnte. Natürlich steht dir mit Polly die großartigste Komplizin für jedes Abenteuer zur Seite, und heißt es nicht immer so schön, dass Schätze sich an den unwahrscheinlichsten Orten verbergen, wenn man nur genau genug hinsieht?

Blackwood Park mag nicht wie ein Ort für aufregende Entdeckungen scheinen. Glaub mir, mein Liebes, ich weiß nur zu gut, dass es so still und verlassen sein kann wie ein verwunschenes Märchenschloss und dass sich die Zeit dort manchmal bis in die Endlosigkeit zieht. Aber alte Häuser haben Geheimnisse, und Blackwood bildet da keine Ausnahme. Dort warten allerlei Schätze und Geheimnisse darauf, entdeckt und gelüftet zu werden …

Bitte vergiss nicht, mein Liebling, dass ich dich vermisse und mich danach sehne, bald wieder mit dir vereint zu sein. Hab Mut, mein tapferes Mädchen. In einer Welt, die klein genug ist, dass derselbe Mond für uns beide scheint, können wir nicht allzu weit voneinander entfernt sein.

Mit all meiner Liebe von ganzem Herzen und einem dicken Lippenstiftkuss

Mama

Ein Lippenstiftkuss. Er prangte unten auf der Seite, ein scharlachroter Abdruck von Mamas Lippen, so wie sie ihn vor der Schule oder abends, bevor sie mit Papa ausging, auf Alice’ Handrücken hinterließ. Alice hielt sich das Briefpapier unter die Nase und sog tief den Geruch ein, den Hauch von Mamas Duft. Dabei fiel ihr auf, dass auf der Rückseite des Blattes noch etwas stand.

Sie drehte es um.

Wo der Kuss der Sonne die Lilien morgens in Gold taucht,

steht eine Schachtel in einem Schubfach hinter einer Tür.

Mach sie auf und lies, was du findest,

und frage dich, ob du schon mehr zu erfahren bereit bist.

»Nun, war es ein schöner Brief?«, hörte sie Pollys leise, vorsichtige Stimme. Alice drehte sich um und reichte ihr den Brief. Neugier durchströmte sie. »Das ist ein Gedicht. Oder ein Rätsel. Was hat es wohl zu bedeuten?«

Polly überflog die Zeilen und lächelte, als sie Alice den Brief zurückgab. »Ich würde sagen, auf diese Frage gibt es nur eine Antwort. Du musst die Schachtel finden.«

Alice hätte nicht gedacht, dass sie sich auf ihren Nachmittagsspaziergang freuen würde, doch sie konnte nicht leugnen, dass ihr Herz unter ihrem bis oben hin zugeknöpften Mantel schneller schlug, als sie sich aufmachten. Beim Anziehen hatte sie Miss Lovelock gefragt, ob sie ausnahmsweise durch den Küchengarten gehen könnten, und die Frage, was um alles in der Welt sie denn dort wolle, halbwegs wahrheitsgetreu beantwortet: Sie wolle sehen, was dort wachse. Miss Lovelock hatte zwar verblüfft dreingesehen, aber widerstrebend eingewilligt, da sie die Bitte als kleines Zeichen für Alice’ Interesse an Botanik und Gartenbaukunst wertete.

Ringsum war alles kahl. Um diese Jahreszeit konnte es unmöglich Lilien geben – hatte Mama etwa vergessen, wie England im Februar aussah? Alice dachte an die Ödnis hinter den Mauern des Küchengartens und an die herrliche Orangerie mit den wild wuchernden Pflanzen, die sich wie verzweifelte Gefangene gegen die halb blinden Fensterscheiben drängten. Ob in diesem überbordenden Dschungel auch Lilien wuchsen?

Sie konnte sich erinnern, wie sie gemeinsam mit Mama vor einigen Jahren dort gewesen war, als sie im Sommer Blackwood besucht hatten, an die drückende Schwüle und den ungewohnten Geruch nach feuchter Erde, Vegetation und etwas Süßlich-Verrottendem. Die Pflanzen hatten ausgesehen, als wären sie aus dem Garten eines Riesen gestohlen worden, und waren über ihr in die Höhe geragt, mit Blättern so groß wie Regenschirme. Dazwischen waren schmale Pfade angelegt gewesen, und es gab einen kleinen, mit irisierenden Kacheln gefliesten Springbrunnen, der unter dem perlenden Wasser wie der Schwanz einer Meerjungfrau geschimmert hatte. Genau das hatte sie auch zu Mama gesagt, doch die hatte kaum zugehört, weil sie mit den Gedanken offenbar ganz woanders gewesen war. Eigentlich sah ihr das so gar nicht ähnlich. Es war, als hätte sie einer Stimme gelauscht, die nur sie hören konnte, und als sie sich Alice zuwandte, war es gewesen, als blicke sie nicht ihrer kleinen Tochter ins Gesicht, sondern jemand Fremdem.

Alice und Miss Lovelock folgten heute also nicht ihrem gewohnten Weg die Auffahrt entlang, sondern traten unter dem Torbogen hindurch in den Stallhof. Aus Mamas Erzählungen wusste Alice, dass es früher jede Menge Pferde in Blackwood gegeben hatte, doch nun waren die Ställe leer; nur der leichte Pferdegeruch und die Sättel und Geschirre an den Haken, deren Leder brüchig und stumpf geworden war, erinnerten an einstige Zeiten. Viele von ihnen seien gleich zu Beginn des Krieges vom Militär konfisziert worden, hatte Mama mit vorwurfsvoller Miene und Verbitterung in der Stimme erklärt, und um jene, die man ihnen gelassen hatte, hätte sich keiner kümmern können, weil die Männer allesamt in den Krieg gezogen seien, deshalb hätten sie sie verkaufen müssen. Seitdem standen die Ställe leer.

Der Krieg – nur sehr selten wurde das Wort zu Hause in den Mund genommen, schon gar nicht in Papas Gegenwart, trotzdem schien er ständig präsent zu sein, unsichtbar und nicht willkommen. Manchmal begegnete Alice ihm auch draußen auf der Straße, in Gestalt von Männern mit fehlenden Gliedmaßen und Medaillenreihen an der Brust, die vor der U-Bahn Streichhölzer verkauften oder im Park das Nichts anbrüllten. Das ist der Krieg, Schatz. Der arme Mann. Nicht starren.

Der Küchengarten befand sich hinter den Stallungen und war durch eine Tür in einer hohen, bröckelnden Steinmauer zu erreichen. Miss Lovelock marschierte im gewohnten Stechschritt voran; sie war nicht auf die Änderung ihres gewohnten Tagesablaufs eingestellt gewesen, schien aber fest entschlossen, sich davon nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. Sie schob Alice durch die Tür, wobei sie sie mit lauter Stimme und ganz unnötigerweise vor einer tiefen Pfütze warnte. Sie redete, als würde sie ein Bataillon befehligen und nicht mit einem kleinen, verschüchterten Mädchen einen Nachmittagsspaziergang unternehmen.

Alice blieb ein paar Schritte zurück und sah sich um. Die hohen Mauern um den Garten schimmerten rosig in der schwachen Wintersonne und bildeten eine Art Schutzwall, der sie gegen das hoch aufragende Herrenhaus und die freudlose Landschaft dahinter abzuschirmen schien. Enttäuscht bemerkte Alice, dass die meisten Beete leer waren. An einer Wand reihten sich mehrere Gewächshäuser aneinander, dahinter, in der Ecke, stand ein Häuschen, perfekt symmetrisch wie eine Illustration in einem Bilderbuch. Eine dünne Rauchsäule stieg aus dem Kamin empor und löste sich in der nachmittäglichen Kälte auf.

Während Miss Lovelock mit lauter Besserwisserstimme über die besten Bedingungen für die Saatkeimung referierte, trat eine gebeugte Gestalt aus einem der Glashäuser. Die Kleider des Mannes wiesen dieselben moosigen Farben auf wie die Mauern und das Erdreich ringsum, und sein Gesicht war zerfurcht wie verdorrtes Herbstlaub. Seine Hände waren voller Erde. Er fing Alice’ Blick auf und nickte.

»Guten Tag.«

Miss Lovelock, die viel zu beschäftigt mit ihren Ausführungen gewesen war, um ihn zu bemerken, fuhr herum, als hätte einer der Winterkohlköpfe zu ihr gesprochen. Der Gärtner trat näher und zwinkerte Alice kaum merklich zu. »Du musst Miss Selinas Kleine sein. Ich hab schon gehört, dass du hier bist.«

Miss Lovelock räusperte sich. »Alice hat Interesse an den Gärten bekundet, Mr. …«

»Patterson.«

»Sehr schön«, erwiderte Miss Lovelock in einem Tonfall, als habe sie einen einfachen Soldaten vor sich. »Ich sagte gerade, hier gebe es um diese Jahreszeit nicht viel zu sehen, aber sie hat darauf bestanden.« Sie wandte sich an Alice. »Nun, da deine Neugier befriedigt ist, können wir ja unseren Marsch wiederaufnehmen, mein Kind.«

»Nur weil man im Garten etwas nicht sehen kann, bedeutet das nicht, dass nichts vor sich geht«, bemerkte Mr. Patterson, beinahe wie zu sich selbst. »Das macht einen Teil der Magie aus, wenn Sie mich fragen.«

Augenblicklich war Alice’ Interesse wieder geweckt, und sie fasste sich ein Herz, um die Frage zu stellen, die sie hergeführt hatte.

»Gibt es denn zufällig Lilien?«

»Lilien, Kind?« Miss Lovelock stieß ein ungläubiges Lachen aus und verdrehte die Augen. »Gütiger Himmel, das hätte ich dir auch gleich sagen können, dann wäre uns der Weg hierher erspart geblieben. Im Februar wachsen keine Lilien, zumindest nicht in England.«

»Nun, das stimmt nicht ganz …« Der alte Gärtner kramte in aller Seelenruhe in den ausgebeulten Taschen seiner Jacke herum, zog mehrere Samenpäckchen und Gartenschnur heraus, ehe er seine Pfeife zutage förderte. »Gerade gibt es vielleicht keine, aber ich habe durchaus schon welche im Winter blühen sehen. Lassen Sie mich überlegen …« Nachdenklich linste er in seine Pfeife und tippte probeweise dagegen. »Das muss jetzt elf Jahre her sein, wenn ich mich nicht irre. Deine Mama war eine Februarbraut, wollte aber unbedingt welche für ihre Hochzeit haben. Das war keine leichte Aufgabe … den ganzen Tag musste ich ein Feuer im Gewächshaus brennen lassen, damit es warm genug war und sie schnell genug gewachsen sind, aber es war den Aufwand wert. Sie haben so intensiv geduftet, dass einem fast schwindlig wurde. Und natürlich war sie eine wunderschöne Braut.«

Miss Lovelock schnaubte zweifelnd. »Nun, wir sollten Sie nicht länger von der Arbeit abhalten. Bestimmt haben Sie viel zu tun.«

»Du darfst jederzeit wieder herkommen, wenn du möchtest«, sagte der alte Gärtner zu Alice. »Tut mir leid, dass ich dir gerade keine Lilien zeigen kann.«

Auf dem Rückweg spähte Alice durch die zwei hohen schmiedeeisernen Tore, die in den Rest des Gartens führten. Sie erhaschte einen Blick auf dichte, dunkle Hecken und einen dazwischen verlaufenden Pfad, der sich irgendwo in der Ferne verlor. Am liebsten wäre sie noch eine Weile stehen geblieben oder hätte die Tore geöffnet, um dem Pfad in das verwunschene Königreich dahinter zu folgen, doch Miss Lovelock war bereits außer Sichtweite.

»Los, komm schon, marsch, marsch, Alice«, ertönte ihre Stimme von der anderen Seite der Mauer her.

Sie drehte sich noch einmal um. Mr. Patterson, der an der Gewächshaustür stand, hob die Hand zu einem feierlichen Gruß, den sie mit einem schüchternen Winken erwiderte, während ihr seine Worte noch einmal durch den Kopf gingen.

Sie hatte gewusst, dass Mama einen Brautstrauß aus Lilien gehabt hatte. Im Salon zu Hause hing eine silbern gerahmte Fotografie von ihr in einem weißen Satinkleid und mit dem langen Bouquet über ihrem einen Arm. Den anderen hatte sie bei Papa untergehakt, der wie gewohnt streng und distanziert dreinsah, als wäre er auf dem Weg zu einem Termin bei seinem Bankier statt zu seiner eigenen Trauung. Alice liebte es, diese Momentaufnahme aus der Zeit vor ihrer Geburt zu betrachten, Mamas strahlende Augen, die sie direkt anzusehen und »bald …« zu sagen schienen … und allein der Gedanke, dass die Blumen hier gezogen worden waren und der alte Gärtner Mama damals bereits gekannt hatte, jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Auf dem Klavier im Salon der Großeltern stand dieselbe Aufnahme (neben einer größeren, in einem reicher verzierten Rahmen von Tante Miranda und Onkel Lionel anlässlich deren Hochzeit), unter dem Porträt von Onkel Howard in seiner Uniform. (Von ihm würde es logischerweise kein Hochzeitsfoto mehr geben.)

Alice’ Herzschlag geriet kurz ins Stolpern. Die Lilien auf dem Foto – könnte sich Mamas Hinweis darauf beziehen? Fieberhaft versuchte sie, sich ins Gedächtnis zu rufen, ob morgendliche Sonnenstrahlen auf die Fotografie fielen und, falls ja, wo sich die Tür und das Schubfach mit der Schachtel befinden könnten. Ihre Begeisterung erhielt einen Dämpfer, als ihr aufging, wie schwierig sich die weitere Suche gestalten würde. In den herrschaftlichen Räumen im Erdgeschoss des Anwesens kannte sie sich nicht gut aus, weil sie sie nur sehr selten betrat, allenfalls sonntags, und auch dann nur unter den kritischen Blicken ihrer Großeltern. Außerdem war es ihr strengstens untersagt, dort irgendetwas anzufassen. Hatte Mama all das vergessen?

Sie trottete hinter der flott voranschreitenden Miss Lovelock her und lauschte dem heiseren Krächzen der Saatkrähen auf den kahlen Ästen, während sie das Haus hinter sich förmlich fühlen konnte, mit seinen wie leere Augen auf sie herunterblickenden Fensterreihen. Sie wandte sich zu ihm um.

Der Kinderflügel lag auf der Rückseite des Hauses, deshalb konnte sie das Fenster ihres Zimmers nicht sehen. Die Fensterläden in den oberen Geschossen auf der rechten Gebäudeseite waren allesamt geschlossen. Hinter ihnen verbargen sich die einstigen Gästezimmer, die mittlerweile jedoch leer standen. Links befanden sich die Räume der Familie. Kurz fragte sie sich, welches Fenster wohl zu Mamas altem Zimmer gehörte, und versuchte sich zu erinnern, ob es nach vorn hinausgegangen war. Ein einziges Mal hatte sie dort übernachtet, als kleines Mädchen, gemeinsam mit Mama.

Ganz allmählich löste sich die Erinnerung aus den Schatten ihres Gedächtnisses, gewann an Form und Farbe. Tante Miranda und Onkel Lionel waren ebenfalls in Blackwood zu Besuch gewesen, gemeinsam mit ihrem Sohn, Cousin Archie, der allerdings noch ein Baby gewesen war. Alice wusste noch, dass die Stimmung höchst angespannt gewesen war und es irgendetwas mit ihr zu tun gehabt hatte (hatte sie mit ihrem Husten Cousin Archie geweckt, der daraufhin geschrien hatte? Irgendetwas in der Art …). Jedenfalls war Mama abends in den Kindertrakt gekommen und hatte sie mit zu sich genommen.

Die genauen Gründe mochte sie vergessen haben, dafür war die Erinnerung an die duftende Wärme nach dem harten Gitterbett im Kinderzimmer und an den Luxus, Mama ganz für sich alleine zu haben, umso lebendiger. Am nächsten Morgen war sie in aller Frühe aufgewacht und hatte ganz still dagelegen, um Mama nicht zu wecken und den Tagesbeginn noch ein wenig hinauszuzögern, während die ersten Sonnenstrahlen durch die Gardinen gedrungen waren.

Langsam ließ sie den Atem entweichen, der sich in einer bleichen Wolke um ihren Kopf bauschte.

Natürlich.

Mamas Zimmer mit der hellgrünen Tapete und den Vorhängen mit den elfenbeinfarbenen Lilien, die die volle Morgensonne abbekamen, wenn sie über dem See aufging. Eine Gänsehaut bildete sich auf Alice’ Armen, nicht von der Februarkälte, sondern vor Aufregung, weil soeben das wichtigste Puzzleteilchen seinen Platz gefunden hatte.

Hinter ihr rief Miss Lovelock verärgert ihren Namen. Alice fuhr herum und rannte los, angetrieben von einem plötzlichen Ausbruch überschäumender Energie – sehr zur Verblüffung der Gouvernante.

Sie wusste, dass sie es Polly hätte sagen sollen, aber etwas hielt sie zurück, womöglich die pure Gier, das Geheimnis für sich zu bewahren. Sie kippte ihre Nachmittagsmilch hinunter und schlich auf Zehenspitzen an Miss Lovelocks Zimmer vorbei und über die Dienstbotentreppe nach unten, in den Teil des Hauses, in dem die Schlafzimmer der Familie lagen.

Dabei fiel ihr sofort auf, dass es hier wesentlich wärmer war und der dicke Teppich das Geräusch ihrer Schritte dämpfte, wodurch das Hämmern ihres Herzens umso lauter schien. Einen Moment lang wusste sie nicht mehr, welches Zimmer Mama gehörte, doch dann erinnerte sie sich plötzlich an eine schlanke blau-weiße Vase auf einem polierten Holztischchen, das der richtigen Tür gegenüberstand.

Zumindest glaubte sie das. Sie zögerte, die Hand auf dem Türknauf, und malte sich aus, wie Großmama sie auf der anderen Seite mit unverhohlenem Zorn empfangen würde. Lediglich der Gedanke an Mama, die vor nichts Angst hatte – schon gar nicht vor Verboten und Anweisungen –, hielt sie davon ab, in die spartanische Sicherheit des Kindertrakts zurückzuflüchten.

Bevor der Mut sie ganz verlassen konnte, drehte sie den Knauf.

Aus irgendeinem Grund war sie davon ausgegangen, dass es im Raum dunkel sein würde, aber das war es nicht. Die Läden waren geöffnet, die Vorhänge mit dem Lilienmuster zurückgezogen und das Zimmer in staubiges Winternachmittagslicht getaucht. Alice verspürte plötzlich eine Melancholie, die unmittelbar von Mamas Abwesenheit herzurühren schien. Die Traurigkeit, die mit dem Eintreffen des Briefes vorübergehend verflogen war, kehrte schlagartig zurück und legte sich wie eine eiserne Klaue erneut um Alice’ Kehle. Sie versuchte, gegen sie anzukämpfen, ihre Gedanken wieder auf den Hinweis zu richten.

Eine Schachtel in einem Schubfach hinter einer Tür.

Meinte sie die Zimmertür? Unsicher drehte Alice sich im Kreis, bis ihr Blick auf ihr gespenstisches Abbild in der Spiegeltür des Kleiderschranks fiel. In diesem Moment fand ein weiteres Puzzleteilchen seinen Platz. Im Schrank hingen noch Mamas Kleider, deren Farben im schwindenden Tageslicht bleich wirkten. Tränen brannten in Alice’ Augen, als sie behutsam über die Stoffe strich. So nahe hatte sie sich ihrer Mutter nicht mehr gefühlt, seit sie dieses stille, düstere, in Schatten gehüllte Haus betreten hatte. Die Kleider waren der lebendigste Beweis, dass ihre Mama wirklich hier gelebt hatte. Sie ließ die Finger über den samtenen Ärmel eines Abendkleids gleiten und fragte sich, ob dies Mamas Absicht gewesen war. Ob sie sie hierhergeführt hatte, weil sie wusste, wie sehr sie Alice fehlte und dass es ihr ein klein wenig Trost spenden würde, ihre Sachen zu sehen und zu berühren. Ein solcher Gedanke wäre typisch für Mama.

Eigentlich hatte sie sich auf die Suche machen und dann so schnell wie möglich wieder verschwinden wollen, doch nun, da sie hier war, inmitten von Mamas Sachen, in denen noch ein Hauch ihres Parfums hing, verspürte sie keinerlei Drang mehr, in die Kälte und Trostlosigkeit des Kindertrakts zurückzukehren. Hatte Mama all diese Kleider zu Bällen und Partys getragen? Hatte die junge, schöne Selina Lennox in diesen in Seidenpapier eingeschlagenen Schuhen mit Rupert Carew getanzt und gewusst, dass sie ihn bald heiraten würde? Hatte sie ihn damals geliebt?

In diesem Moment wurde die Tür aufgerissen, das Licht ging an und holte Alice aus ihren Tagträumereien. Blanke Angst packte sie. Zwar war sie durch die offene Schranktür verborgen, doch das bedeutete auch, dass sie keine Ahnung hatte, wer sich auf der anderen Seite befand. In ihrer Panik wich sie zwischen die Falten aus Seide und Tweed zurück, schlang sie um sich, in der Hoffnung, nicht entdeckt zu werden, obwohl ihr bewusst war, dass das nichts nützen würde. Eine Sekunde später spähte eine Gestalt um die Tür herum. Alice stieß ein erleichtertes Wimmern aus, als sie Polly erkannte.

»Ich brauche wohl nicht zu fragen, was du hier tust …« Das Hausmädchen hatte die Arme gekreuzt, schien jedoch nicht böse zu sein.

»Da sind Lilien auf den Vorhängen«, krächzte Alice. »Ich habe hier einmal mit Mama übernachtet, und die Sonne schien durch die Vorhänge. Und sieh doch – Schubfächer.« Unterhalb der Regale mit den Schuhen befand sich eine ganze Reihe von Schubfächern. »In einer davon muss die Schachtel sein.«

Polly grinste. »Tja, dann solltest du lieber gleich mal nachsehen, bevor jemand merkt, dass wir beide nicht dort sind, wo wir eigentlich sein sollten.«

Eilig zog Alice eine Schublade nach der anderen auf: Handschuhe, Strümpfe, sorgfältig zusammengelegte Blusen mit Bubikragen, steife, spitzenbesetzte Baumwollnachthemden und … eine Schachtel, im untersten Schubfach.

Polly stand neben ihr, als sie sie herausnahm und zum Bett brachte. Sie war leicht, aus Pappe und trug ein Emblem aus verschnörkelten Jugendstilsymbolen auf dem Deckel.

»Maison D’Or«, sagte Polly leise und strich mit dem Finger über die Buchstaben. »Das war ein Schneideratelier in London, wo deine Mama und Miss Miranda viele ihrer Kleider haben anfertigen lassen. Das Atelier war ganz in Gold und Elfenbein gehalten – ich war nur ein paarmal dort, um Sachen abzuholen, hatte aber immer fürchterliche Angst, vorher in eine Schlammpfütze zu treten und den Schmutz in den Laden zu tragen. Ob es das Geschäft wohl heute noch gibt?«

»Ich wusste gar nicht, dass du auch in London gelebt hast.« Aus irgendeinem Grund gehörte Polly mit ihrem weichen südwestenglischen Akzent und dem weizenblonden Haar für sie nach Blackwood; sie konnte sie sich beim besten Willen nicht inmitten von Automobilen, Straßenbahnen und verschmutzten Straßen vorstellen.

»Das habe ich auch nicht, zumindest nicht richtig. Sir Robert und Lady Lennox hatten damals ein Haus in London – am Chester Square –, und während der Saison war ich ebenfalls häufiger dort. Sie hatten eigenes Personal für die Hausarbeiten, aber die persönlichen Dienstboten sind stets mit der Familie gereist. In den Jahren nach dem Debüt deiner Mama und bis zu ihrer Heirat war ich bei ihr.« Polly wurde wieder ernst. »Also, willst du nun einen Blick in die Schachtel werfen oder nicht?«

Alice nahm den Deckel ab und legte ihn zur Seite. Als Erstes bemerkte sie ein in der Mitte gefaltetes Blatt Papier. Sie schlug es auf und hielt es ins schwindende Licht.

21. Mai 1925

EIN (VORSOMMERLICHER) SOMMERNACHTSALBTRAUM

FÜR

ALLE ELFEN, ESEL UND LIEBENDEN

DIE SICH FÜR EINE NACHT INS BUNTETREIBEN AUF DEN STRASSEN LONDONS STÜRZEN WOLLEN, AUF DER NICHT ENDEN WOLLENDEN JAGD NACH SPASS UND EINEM SCHATZ.

DER VERLUST DER UNSCHULD KANN NICHT AUSGESCHLOSSEN WERDEN, DOCH DAFÜR GIBT ES EINIGES ZU GEWINNEN

TREFFPUNKT ADMIRALTY ARCH UM MITTERNACHT FÜR EINEN DRINK ZUM WARMWERDEN

Alice las die Einladung zweimal nacheinander. Einiges davon verstand sie nicht ganz, doch die Botschaft war klar. Und aufregend. Sie sah Polly an.

»Eine Schatzsuche? Für Erwachsene?«

Polly lachte. Ihr Haar schimmerte hellblond, doch ihr Gesicht lag im Schatten, sodass Alice ihre Miene nicht erkennen konnte. »Sie waren zwar erwachsen, allerdings haben sie sich die meiste Zeit nicht so benommen. Wären die jungen Männer nur ein paar Jahre älter gewesen, hätten sie nach Frankreich in den Krieg ziehen müssen, aber diese Jahrgänge hatten das Glück, verschont zu bleiben.«

»Papa war im Krieg.«

»Ich weiß, Schatz.«

»Deshalb ist er auch so, wie er ist, sagt Mama.« Der Krieg war schuld. Nicht Alice. Keinesfalls Alice.

Polly seufzte. »Da hat sie wohl leider recht. Er hat seine Spuren bei allen hinterlassen, die diese Zeit durchgemacht haben, auch bei den Jüngeren, die zu Hause geblieben waren.« Das dünne Papier knisterte leise, als sie es glatt strich. »Es hat sie überdreht werden lassen, als wollten sie jede sich bietende Gelegenheit nutzen, um sich zu amüsieren, ganz nach dem Motto ›Pfeif auf Sitten und Anstand und all die anderen Werte, die früher einmal so viel gegolten haben‹. Pausenlos haben sie die tollsten Dinge getrieben – Kostümpartys, verrückte Mutproben, Streiche und allerhand ausgelassene Späße. Eine Zeit lang waren Schnitzeljagden groß in Mode. Die jungen Leute fuhren die ganze Nacht in ihren Automobilen kreuz und quer durch die Stadt und machten einen Heidenradau. Und am Ende schrieben die Zeitungen über sie.«

»Mama war in der Zeitung?«

»Oh ja, und zwar häufiger, als deinen Großeltern lieb war. Und deiner Tante Miranda. Deine Mama gehörte einer ziemlich glamourösen Clique an, die vielen Leuten missfiel, auch wenn sie andererseits doch fasziniert von ihr waren.«

»Und will Mama mich auf eine Schnitzeljagd schicken? Ist das ein Hinweis?«

»Gut möglich. Wieso nimmst du die Schachtel nicht mit nach oben in dein Zimmer und siehst dir alles in Ruhe an? Vielleicht findest du ja noch weitere Hinweise.«

Alice war einverstanden. Während Polly wieder nach unten ging, machte sie es sich an dem zugigen Fenster mit dem Elefantenkissen bequem und nahm den Deckel ein weiteres Mal ab. In der Schule hatten sie die Entdeckung der Pharaonengräber im Tal der Könige durchgenommen, und Alice malte sich aus, dass Lord Carnarvon sich bei der Ausgrabung damals gefühlt haben musste wie sie jetzt gerade. Nacheinander nahm sie die Gegenstände heraus, betrachtete sie im fahlen Schein der Lampe und fragte sich, welche Geheimnisse sie wohl bergen mochten: Eine schwarze Seidenfliege. Ein marineblaues, gepunktetes Taschentuch. Ein angelaufener Messingschlüssel mit einem geometrischen Muster. Eine mit Goldrand versehene Karte, auf der in geschwungenen Lettern zu einem Kostümball eingeladen wurde – 25. Juli 1925, Grosvenor Square … Kommt als lebendes Kunstwerk. Fragen kreisten in ihrem Kopf, bis sie auf einen Umschlag mit ihrem Namen stieß.

War dies ein weiterer Hinweis?

Es war, als wäre sie Mama die ganze Zeit hinterhergelaufen, hätte verzweifelt versucht, in einem verschlungenen Labyrinth mit ihr Schritt zu halten, während sie ihre Stimme zwar hören, die Worte jedoch nicht verstehen konnte, und als würde sie nun endlich vor ihr stehen und ihre Stimme sanft und klar an ihre Ohren dringen.

Meine liebste Alice,

wenn du diese Zeilen liest, bedeutet das, dass du die Schachtel gefunden hast – gut gemacht! Darin wurde mein Brautjungfernkleid für Tante Mirandas Hochzeit geliefert, und nach dem großen Tag habe ich meine Schätze darin aufbewahrt.

Gerade denke ich recht häufig an diesen Sommer. (Vermutlich liegt es daran, dass ich mich auf einer langen, anstrengenden Reise befinde und Reisen einen häufig dazu veranlassen, über die Vergangenheit zu sinnieren und sie mit der Klarheit der veränderten Perspektive zu betrachten.) Inzwischen ist mir bewusst geworden, dass dieser Sommer in vielerlei Hinsicht eine Art Wendepunkt darstellte, eine Zeit der Anfänge und der Abschiede. Natürlich konnte ich im Mai bei meiner Ankunft in London noch nicht ahnen, dass mich etwas anderes erwarten würde als die übliche Aneinanderreihung von Partys und sonstigen Vergnügungen. Das Einzige, was ich im Sinn hatte, war, mich so gut wie möglich mit der wunderbaren Flick, mit Theo und dem Rest der Meute zu amüsieren (von denen du viele als mittlerweile ehrenwerte und seriöse, verheiratete Bürger und Säulen der Gesellschaft kennst. Sie zu erleben, wie sie damals waren, würde dir glatt die Sprache verschlagen!).

Für uns war der feuchte Frühling 1925 bloß eine weitere Ballsaison, in die wir uns mit der lässigen Arroganz all jener stürzten, die über die nötigen finanziellen Mittel verfügten (obwohl ich stets weitaus weniger gut gestellt war als meine Freunde), über die Privilegien und die Zeit, ohne uns Gedanken darüber zu machen, dass uns all das jederzeit genommen werden könnte. Wir wussten es nicht, aber die Tage unserer wilden Jugend waren gezählt. Ein Jahr später hatte sich alles grundlegend verändert, nichts war mehr so, wie es einmal gewesen war.

Aber ich greife vor, und wenn ich dir die Geschichte jenes Sommers erzählen möchte, muss ich ganz am Anfang beginnen. Du fragst dich vielleicht, warum um alles in der Welt ich dir diese Geschichte überhaupt erzählen will, eine Geschichte von Menschen aus einer Zeit lange vor deiner Geburt. Bestimmt würdest du lieber von einem singenden Fisch oder einer Geheimschatulle hören – oder gar keine Geschichte und stattdessen lieber einen neuen Hinweis bekommen. Aber hab Geduld, mein Liebling. Diese Reise ist lang, deshalb dürfen wir die Schatzsuche nicht überstürzen, und der nächste Hinweis kommt schon bald, glaub mir. Eines der Dinge, die ich auf dieser endlosen Reise am meisten vermisse, ist, abends an deiner Bettkante zu sitzen und mir eine Geschichte für dich auszudenken. Ich kann dir nicht versprechen, dass in dieser hier wunderschöne Prinzessinnen oder missmutige sprechende Kamele (erinnerst du dich?) vorkommen, dafür ist es die Geschichte, wie du entstanden bist, und daher hat sie das glücklichste Ende von allen.

Aber bevor es so weit ist, gibt es noch einiges zu erzählen und viele Hinweise zu entdecken. Kehren wir zurück zum Beginn der Saison im kühlen, blütenprächtigen Mai 1925. Alles begann mit der Schnitzeljagd …

3

Die Jagdgesellschaft

Mai 1925

Seufzend ließ Flick Fanshawe sich in ihren Sessel zurückfallen und zupfte resigniert ein glasiges Stückchen Gurke aus ihrem Teesandwich. Das gedämpfte Licht der seidenbespannten Lampen im Foyer des Claridge’s Hotel konnte die Schatten unter ihren Augen nicht verdecken, die teils ihrer Müdigkeit, teils den Mascararesten von letzter Nacht geschuldet waren, oder gar etwas Farbe auf ihre bleichen Wangen zaubern. Die Saison hatte gerade erst begonnen, dennoch hatten ein paar aufeinanderfolgende Feierlichkeiten bereits ihre Spuren auf Flicks Porzellanteint hinterlassen, für den sie berühmt war.

»Das Problem ist, dass ich nicht weiß, ob ich mich überhaupt damit befassen möchte. Zum einen bin ich schlichtweg erschöpft, zum anderen bezweifle ich, dass eine Einladung von Aggie Montague die Mühe wert ist, sich dafür in Schale zu werfen. Sie lädt einfach jeden ein, ohne einen Hauch von Urteilsvermögen, und man ist den ganzen Abend über damit beschäftigt, all den langweiligen Leuten aus dem Weg zu gehen.«

Selina blickte Flick voller Zuneigung über den Rand ihrer Teetasse hinweg an. In allen anderen Bereichen ihres Lebens galt Selina als zu nichts nütze. Wurde als leichtsinnig und flatterhaft angesehen. Nur an Flicks Seite spürte sie so etwas wie Verantwortungsbewusstsein. Alles war letztlich relativ.

»Sieh es einfach als Herausforderung«, meinte sie besänftigend. »Als eine Art Spiel, bei dem man versucht, möglichst viele Punkte dafür zu sammeln, dass man die hartnäckigsten Langweiler meidet. Beim letzten Mal ist es mir tatsächlich gelungen, den ganzen Abend lang Margot Atherton zu entkommen, und das, obwohl sie mir unentwegt auflauerte, um sich mit mir zu unterhalten. Wie in der Ballade von dem alten Seemann, die wir im Unterricht auswendig lernen mussten. Ich möchte meinen, dass sie in Sachen Langweiligkeit auf einer Skala von eins bis zehn mit Sicherheit eine Neun ist.«

»Lieber Himmel, ja. Mindestens.« Ein Hauch von Gereiztheit schlich sich in Flicks Stimme. »Über was um alles in der Welt sollte sie sich mit dir unterhalten wollen?«

»Über Mirandas unbeschreiblich langweilige Hochzeit, vermute ich. Sie ist eine der Brautjungfern. Und da bei uns zu Hause von nichts anderem mehr die Rede ist, verweigere ich jegliche Konversation über dieses Thema. Schließlich bin ich hier, um mich zu amüsieren.«

»Oh, natürlich.« Flicks Gedächtnis war so schlecht wie ihre Aufmerksamkeitsspanne kurz. Sie runzelte die Stirn. »Deine Schwester heiratet Margots Bruder – heißt das, dass Margot und du dadurch zu so etwas wie Schwestern werdet?«

»Die Vorstellung ist zu schauerlich, um länger darüber nachzudenken«, erwiderte Selina und stellte ihre Tasse ab. Dabei bewunderte sie den hellroten Abdruck, den ihre Lippen auf dem Goldrand hinterlassen hatten. Selinas Mutter wäre angeekelt – sie verabscheute Lippenstift, was zweifelsohne der Grund war, warum er für Selina so interessant war.

»Rupert Carew ist aus Burma zurück«, bemerkte Flick mit einem Seitenblick. »Wird er nicht sein Trauzeuge sein? Harry Lonsdale hat ihn im Club seines Vaters gesehen, braungebrannt und exotisch aussehend. Was recht erstaunlich ist, wenn man bedenkt, dass er das letzte Jahr in einer Rubinmine verbracht hat. Es heißt, er habe einen riesigen Stein mitgebracht …«

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass Rupert wirklich in den Stollen war. Wie auch Harry Lonsdales Vater kaum jedes Wort selbst verfasst, das in den Zeitungen zu lesen ist, die er besitzt«, unterbrach Selina sie mit einem Anflug von Ungeduld. Rupert Carews Rubin war am Vorabend eines der beherrschenden Themen beim Abendessen gewesen. Selina hatte sofort bemerkt, wie sich die Stimmung verändert und ihre Mutter bedeutungsschwer die Augen zusammengekniffen hatte, als Miranda verkündete, dass Rupert den Stein zu Asprey gebracht habe, um ihn dort zu einem Ring fassen zu lassen. »Apropos Zeitungen. Wo steckt eigentlich Theo?« Sie drehte sich in ihrem Sessel dem Grand Foyer zu, wo sich die allnachmittägliche Teestunde gerade dem Ende zuneigte, und blickte sich suchend um. Sofort kam ein Kellner in einem weißen Jackett an ihren Tisch.

»Darf es noch etwas Tee sein, Miss Lennox?«

»Danke.«

»Aggie Montague hat ihn bestimmt auch zu ihrer sterbenslangweiligen Party eingeladen«, sagte Flick düster.

»Theo? Selbstverständlich …«

»Nein, Dummerchen, Rupert Carew natürlich.« Flick brach einen Windbeutel auseinander und fuhr mit dem Finger durch die Füllung aus Schlagsahne. »Was soll das für eine Party sein, zu der man nur reife Personen einlädt, die keine Ahnung davon haben, wie man sich amüsiert, während man auf uns, die wir es mit Freuden tun, herabblickt? Es ist so frustrierend – als bekäme man eine riesige Schachtel Pralinés vor die Nase gehalten, dürfte sich aber keines mit Nougatfüllung aussuchen.«

Selina hätte gern etwas Aufmunterndes, Erquickliches erwidert, Flick daran erinnert, dass Rupert nur wenige Jahre älter als sie beide war, aber das wäre nicht aufrichtig gewesen. Sie wusste genau, was ihre Freundin meinte. Durch eben diese wenigen Jahre standen Rupert und seine Altersgenossen auf der anderen Seite des großen Abgrunds. Der Krieg lag zwischen ihnen – ein Gräuel, das die Jüngeren gern vergaßen, während die Älteren verdammt waren, sich daran zu erinnern. Flick leckte ihren Finger ab und drückte die beiden Windbeutelhälften wieder aneinander, bevor sie das Gebäck zurück auf den Kuchenteller legte. Mit graziös anmutender Verzweiflung ließ sie sich in den Samtsessel zurücksinken.

»Dann wäre da natürlich noch die Entscheidung über die Garderobe. Alles, was ich bei dem kleinen Schneider in der Brompton Road habe anfertigen lassen, war untragbar – ich meine, viel, viel, viel zu grässlich.« Sie seufzte. »Vermutlich werde ich mich nach etwas von der Stange umsehen müssen. Bei Harrods oder Selfridges, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich das ertragen kann. Ich habe einfach nichts anzuziehen – wirklich, absolut nichts …«