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»Wenn Kate Morton und Carlos Ruiz Zafón zusammen einen Roman geschrieben hätten, dann diesen!« El País Eine kleine, fast vergessene Buchhandlung in der Altstadt von Madrid. Ein rätselhaftes Buch, dessen Herkunft keiner kennt. Zwei Frauen, die mit ihm auf eine weite Reise gehen – zurück in eine dunkle Vergangenheit voller Geheimnisse. Lola und Matías leben eher schlecht als recht von dem kleinen Buchladen am Ende einer Sackgasse. Da taucht ein geheimnisvolles Buch auf, von dem keiner weiß, wo es herkommt. Matías ist fasziniert von dem Roman. Er stellt ihn, das erste Kapitel aufgeklappt, ins Schaufenster. Jeden Tag wird er eine weitere Seite umblättern. Niemand interessiert sich für das Buch, bis eine geheimnisvolle Frau vor das Fenster tritt und liest. Lola bittet die Fremde hinein. Gemeinsam tauchen sie in die seltsame Geschichte ein. Eine Geschichte, nach der beide nicht mehr dieselben sind wie vorher …
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Seitenzahl: 494
Veröffentlichungsjahr: 2015
Marian Izaguirre
Roman
Lola und Matías leben eher schlecht als recht von dem kleinen Buchladen am Ende einer Sackgasse. Da taucht ein geheimnisvolles Buch auf, von dem keiner weiß, wo es herkommt. Matías ist fasziniert von dem Roman. Er stellt ihn, das erste Kapitel aufgeklappt, ins Schaufenster. Jeden Tag wird er eine weitere Seite umblättern.
Niemand interessiert sich für das Buch, bis eine geheimnisvolle Frau vor das Fenster tritt und liest. Lola bittet die Fremde hinein. Gemeinsam tauchen sie in die seltsame Geschichte ein. Eine Geschichte, nach der beide nicht mehr dieselben sind wie vorher…
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Marian Izaguirre wurde in Bilbao geboren. Sie hat bereits zahlreiche Romane geschrieben, die in Spanien mit vielen Preisen ausgezeichnet wurden. Mit »Als die Träume noch uns gehörten« hatte sie ihren internationalen Durchbruch. Der Roman wurde in über zehn Sprachen übersetzt. Heute lebt die Autorin in Madrid und in Barcelona.
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[Motto]
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
39. Kapitel
40. Kapitel
41. Kapitel
42. Kapitel
43. Kapitel
44. Kapitel
45. Kapitel
46. Kapitel
47. Kapitel
48. Kapitel
49. Kapitel
50. Kapitel
51. Kapitel
52. Kapitel
53. Kapitel
54. Kapitel
55. Kapitel
56. Kapitel
57. Kapitel
Dank
Es regnet niemals in Honfleur.
Doch manchmal fällt Regen auf die Kindheit.
erik satie
Draußen ist es kalt. Es ist zwar erst Oktober, aber man hat das Gefühl, bereits mitten im Winter zu sein. Ich habe zum ersten Mal den Mantel aus dem Schrank geholt, und nachdem ich gesehen habe, dass es bewölkt und windig ist, habe ich mich entschieden, ein Tuch um den Kopf zu binden. Es ist ein alter Seidenschal, den ich manchmal auch als Halstuch zu meinem Tweedsakko trage. Vorher habe ich mein Haar im Nacken zusammengebunden. Ich hätte gerne ein bisschen Rosaflor-Brillantine gehabt, damit kein widerspenstiges Haar aus der Reihe tanzt, aber ich muss mich damit zufriedengeben, mit der angefeuchteten Hand über Stirn und Schläfen zu fahren. Warum habe ich diese Haare? Sie sind erstaunlich weiß für mein Alter. Manchmal, wenn ich mich im Spiegel betrachte, entdecke ich einen leichten Gelbstich, wie bei einem Küken, der mich an die Zeit erinnert, als ich noch blond war.
Ich bin erst so alt wie das Jahrhundert. Ich finde nicht, dass ich schon so weißes Haar haben sollte.
Ich werde einen Spaziergang zu seinem Geschäft machen. Ich mag es, spazieren zu gehen. Am Nachmittag, wenn ich schon ein bisschen erschöpft von meinen Erledigungen bin, für ein, zwei Stunden ohne festes Ziel durch diese Stadt laufen, die genauso schnell wächst, wie die Tage vorüberziehen. Viele Viertel kenne ich gar nicht, obwohl ich schon seit dreizehn Jahren in Madrid lebe. Mit achtunddreißig bin ich hergekommen. Wie jung ich damals war und wie jung ich mich fühlte, unglaublich … Meistens gehe ich nicht sehr weit, aber wenn ich Lust habe, etwas völlig anderes zu sehen, setze ich mich in einen der Busse, die in die Vororte fahren. Ich steige ein, als würde es auf eine lange Reise in ein anderes Land gehen, und mein Blick wandert die Straßen entlang, die am Fenster vorüberziehen. An den Ampeln betrachte ich die Schaufenster der Geschäfte. Sie verändern sich, je weiter wir uns vom Stadtzentrum entfernen. Wenn die Lebensmittel- und Bekleidungsgeschäfte weniger werden und die Werkstätten ins Bild kommen, weiß ich, dass ich ziemlich weit außerhalb bin.
Ich glaube, bei einem dieser Ausflüge bin ich ihm begegnet. Ich kam gerade vom anderen Ende der Stadt zurück, war müde und wollte eben nach Hause gehen – ohne große Lust, ehrlich gesagt, denn es war Juni, und die Tage waren lang und hell. Da sah ich diesen Mann. Mir gefiel, dass er einen Stapel Bücher unterm Arm trug. Er hatte ein altes Sakko mit Flicken an den Ärmeln an, das schon etliche Jahre auf dem Buckel zu haben schien, so wie der Mantel, den ich heute anhabe. Er trug keinen Hut, aber er war kein Arbeiter oder Bauer. Vielleicht ein Lehrer, dachte ich damals. Und bevor ich mich versah, folgte ich ihm Häuserblock um Häuserblock durch die Straßen von Chamberí.
Er hatte einen ordentlichen Schritt drauf, so dass ich Mühe hatte, ihm zu folgen. Schließlich blieb er vor einem Hauseingang in der Calle Caracas stehen. Ich hielt einige Meter entfernt inne und tat so, als suchte ich etwas in meiner Handtasche. Er merkte nicht, dass ich ihm folgte. Wer achtet schon auf eine weißhaarige Frau? Ich sah, wie er den Türklopfer betätigte. Dreimal klopfte er. Nach einer Weile erschien eine ungekämmte Frau mit Küchenschürze. Der Mann überreichte ihr zwei der Bücher, die er dabeihatte. Ich hörte nicht, was er sagte, wohl aber die Frau, die eine ziemlich schrille Stimme hatte.
»Aber kommen Sie nicht mit rauf? Der junge Herr Luis wartet auf Sie.«
Daraufhin trat ich etwas näher und hörte zum ersten Mal seine Stimme: angenehm, moduliert, ziemlich tief. Wäre sie ein Instrument, würde ich sagen, sie ist ein Cello. Oder zumindest eine Bratsche.
»Heute kann ich nicht, ich muss noch eine andere Bestellung abgeben«, sagte er in einem Ton, der zumindest mir ehrlich erschien. »Grüßen Sie ihn von mir und sagen Sie ihm, am Donnerstag komme ich ganz bestimmt zu ihm rauf.«
Die Frau schloss die Tür hinter sich, er wandte sich in meine Richtung, sah durch mich hindurch – ich glaube, ich erwähnte bereits, wie leicht wir Frauen übersehen werden, sobald uns das Alter anzusehen ist – und ging auf demselben Weg zurück, auf dem er gekommen war.
Ich folgte ihm, weil ich wusste, dass er nun die übrigen Bücher abgeben würde. Wer war er? Was arbeitete er? Nach einer Weile – ich muss zugeben, dass es mir Spaß machte, meinen Vorteil auszuspielen – holte ich ihn ein und ging direkt neben ihm auf dem schmalen Gehsteig in der Calle Zurbano. Für einen kurzen Moment streiften sich beinahe unsere Arme. Ich warf einen raschen Blick auf die Bücher. Sie waren nicht neu, aber die Titel konnte ich nicht entziffern. Arbeitete er in einer Bibliothek? Oder in einer Buchhandlung? Er bemerkte mich immer noch nicht, wie abzusehen. Trotzdem ließ ich ihn sicherheitshalber ein wenig vorgehen, bis er schließlich vor einem weiteren Hauseingang stehenblieb. Diesmal klopfte er nicht an, weil der Portier gerade die Straße fegte. Ich ging davon aus, dass es ein Weilchen dauern würde, also setzte ich mich auf eine Bank und wartete.
Was machte ich auf dieser Bank?, fragte ich mich irgendwann, als die Warterei meine Begeisterung ein wenig zu dämpfen begann. Noch mal, ich bin kein junges Mädchen mehr.
Ich war kurz davor, zu gehen. Aber ich ging nicht. Ich wollte mehr über diesen Mann wissen, der Bücher nach Hause lieferte.
Ich lenkte mich damit ab, an andere Dinge zu denken. An das Auto, das Henry für mich gelb lackieren ließ. Wie viel Spaß es mir machte, damit über die Straßen von East Sussex zu fahren, ganz allein, den ganzen Nachmittag, und dann zur Abendessenszeit nach Hause zu kommen, außer Atem und glücklich, und zu sehen, wie er auf mich wartete, die gefaltete Zeitung und sein Whiskeyglas auf dem Tisch im Wintergarten … Ich denke an sein braunes Haar, das ihm immer in die Stirn fiel, und an das unruhige Meer, das durch die Fenster zu sehen war. Henry, der mich lächelnd über die Brillengläser hinweg ansah und dann verschwand …
Daran dachte ich, damit mir das Warten nicht zu lang wurde und ich nicht auf den Gedanken kam, einfach zu gehen. Ich dachte auch, dass ich gerade eine ausgewachsene Dummheit machte und dass ich, statt wie eine Närrin auf dieser Bank zehn Meter von einem Hauseingang entfernt zu sitzen, von dem ich nicht wusste, wer dort überhaupt wohnte, zu Hause sein könnte, die Beine hochgelegt, und eine Erzählung von Katherine Mansfield oder ein Gedicht von Emily Dickinson lesen könnte. Was ich immer tue, wenn ich die Welt da draußen leid bin.
Nein, ich mache mir nichts vor. Ich folgte diesem Unbekannten, weil ich eine närrische Alte bin, die nichts anderes zu tun hat im Leben. Deshalb.
Er kam wieder heraus, die Hände in den Hosentaschen vergraben. Er beschleunigte seine Schritte, und ich musste mich anstrengen, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Wir gingen die Calle Génova hinunter. Als ich die Calle Orellana überquerte, wäre ich beinahe vor ein Auto gelaufen, das laut hupte. Daraufhin drehte er sich um, ging aber weiter, ohne etwas zu bemerken. So schnell ich konnte, folgte ich ihm in zehn Metern Abstand ein Stück die Calle Argensola entlang und sah ihn schließlich in einem kleinen Gässchen zwischen der Calle Fernando VI und der Calle Barquillo verschwinden.
Woher wissen wir, ob etwas wichtig ist oder nicht? Eine Belanglosigkeit wie zum Beispiel, einem Mann um die Vierzig durch die Straßen von Madrid zu folgen, zuerst, um sich an einem sonnigen Julitag die Zeit zu vertreiben, an dem man keine Lust hat, sich zu Hause zu vergraben. Als ich ihn aus den Augen verlor, hätte ich umkehren können. Aber ich tat es nicht. Ich ging in die Straße – ein abwegiger Ort für ein Ladengeschäft, ich meine, wer betritt eine Sackgasse, die nirgendwohin führt? –, und in dem Moment, als ich den Laden sah, eine altmodische Buchhandlung mit einem Schaufenster voller Buntstifte, Aquarellfarben und Büchern von Jules Verne, genau in diesem Moment wusste ich, dass gerade etwas Außergewöhnliches passierte und dass es von mir abhing, welche Bedeutung dieses Ereignis in der Zukunft haben würde. Ich konnte auf dem Absatz kehrtmachen und alles vergessen. Oder ich konnte dort reingehen und mit ihm reden.
Ich ging hinein.
Ich bin schon mehrere Male in dem Geschäft gewesen. Es ist ein ziemlich sonderbarer Ort für eine Buchhandlung. Zu klein, zu abgelegen, und am Anfang fand ich sogar, dass der Laden nicht ins Viertel passte. Aber das machte mich noch neugieriger. Wer war dieser Mann, der ein scheinbar völlig erfolgloses Geschäft führte? Ich war fest entschlossen, es herauszufinden. Bücher sind meine Religion. So gesehen war mein Vorhaben gar nicht so abwegig.
Diesmal kaufte ich nur einen Radiergummi. Ich verlangte den billigsten, den er dahatte. Schließlich brauchte ich gar keinen Radiergummi … Ich konnte ihn aus der Nähe betrachten. Sein Blick war interessant, tiefgründig, ein bisschen melancholisch. Vielleicht wegen der langen schwarzen Wimpern und dem leichten dunklen Schatten um die Augen. Die Nase war groß und scharf geschnitten, die Lippen waren voll. Er hatte einen Bartschatten. Ich weiß nicht, warum, aber ich überlegte, wie sich dieses Kinn wohl auf meiner Haut anfühlen würde. Nein, nein, natürlich träumte ich nicht von einem romantischen Abenteuer. Es brachte mir lediglich die Erinnerung an etwas zurück, das es einmal in meinem Leben gegeben hatte: die trägen Nachmittage am Mittelmeer, die erste Hitze, Valencias glutheiße Straßen und die feuchten Laken, in die Henry und ich vor der Angst und dem Lärm flüchteten. Das Kratzen seiner Bartstoppeln auf meiner Haut …
Schmerzliche Erinnerungen. Ich will nicht abschweifen, darum geht es nicht. Ich muss mich konzentrieren, wenn ich erklären will, wie alles wirklich war.
Zugegeben, ich bin hartnäckig. Wenn ich etwas anfange, gebe ich nicht so schnell auf. Ich kann einfach nicht klein beigeben. Jeder ist, wie er ist, das habe ich seit langem akzeptiert. Ich beobachtete den Mann aus der Buchhandlung eine ganze Weile, fast den ganzen Sommer hindurch. Er ist sehr fleißig, immer noch nebenher mit etwas beschäftigt, außer seine Kunden zu bedienen: Er liest viel, füllt Karteikarten aus und sortiert sie ein, und manchmal schreibt er etwas in ein schwarzes Wachstuchheft, das er ständig bei sich trägt. Es ist genau so ein Heft, wie Henry es hatte. Immer, wenn ich ihn mit diesem Heft sehe, versetzt es mir einen Stich ins Herz.
Dienstags und donnerstags bleibt seine Frau im Laden, und er liefert Bücher aus – an besondere Kunden, nehme ich an. Es sind vier oder fünf, die er zu Hause aufsucht. Einer wohnt in dem Haus, wo die Frau mit der Schürze an die Tür kam, ein anderer in der Straße, wo ich mich am ersten Tag auf die Bank setzte.
Seine Frau gefällt mir. Sie ist jung und sehr hübsch, ihre lockigen Haare sind immer perfekt frisiert. Da bin ich ein bisschen neidisch auf sie, muss ich zugeben. Einmal kaufte ich einen Bleistift bei ihr, einen Faber-Castell 2B, und stellte dabei fest, dass sie sehr schöne Hände hat, flink und grazil, feingliedrig wie die einer Pianistin.
Das dritte Mal, dass ich die Buchhandlung betrat, war ein Samstag. Diesmal wollte ich ein Buch kaufen, und das war kein Vorwand. Ich dachte, dass mir dieser kleine, in einem Gässchen versteckte Laden in Zukunft viele Glücksmomente verschaffen könnte.
Ich fragte ihn, ob er auch englische Bücher führte. Er brachte mir Der schwarze Pfeil und ein Exemplar von Oliver Twist ohne Einband. Ich wollte ihm gerade erklären, dass es nicht unbedingt das war, wonach ich suchte, kam jedoch nicht dazu, denn in diesem Moment trat ein kleiner, hässlicher Mann durch die Tür, in der Hand einen schweren Koffer, der, wie sich dann herausstellte, voller gebrauchter Bücher war. Der Buchhändler klappte die Ladentheke hoch, bat ihn dahinter und forderte ihn auf, einen Moment zu warten, während er mich bediente. Der Mann hieß Garrido, wie ich hören konnte.
Als er sich wieder mir zuwandte, fragte ich ihn nach etwas … nun ja, weniger Jugendlichem. Das mag ein bisschen lächerlich sein, denn wo steht geschrieben, dass Stevenson und Dickens Jugendbuchautoren sind? Ich glaube, ich war einfach nervös. Aber er schien mich zu verstehen.
»Kommen Sie doch durch«, sagte er und klappte erneut die Ladentheke hoch. »Da in der Ecke, im zweiten Regal, habe ich ein paar Bücher auf Englisch und Französisch. Sie können sich schon mal umschauen, und falls Sie nichts finden, bin ich gleich bei Ihnen.«
Drei Personen auf diesem engen Raum sind einfach zu viel. Aber ich fühlte mich trotzdem wie im Himmel. Er hatte nur wenige englischsprachige Bücher, aber die waren alle etwas ganz Besonderes. Amerikanische Ausgaben von Autoren, die ich früher gelesen hatte, wie Edith Wharton, Faulkner oder John Dos Passos. Ich entdeckte auch die Erzählungen von Katherine Mansfield, einer Autorin, die mich seit jeher begleitet. Es waren Bücher, die man an so einem Ort nicht erwartete. Ich glaube, das war es, was mich, neben allem bisher Geschehenen und der Tatsache, dass ich das Buch zufällig in der Tasche hatte, auf den Gedanken brachte.
Ich sah, wie der Mann, der auf den Namen Garrido hörte, den Inhalt seines Koffers auf einen Stuhl räumte, ein Stapel ziemlich neuer Bücher, allesamt von spanischen Autoren, und hörte zwangsläufig jedes Wort ihrer Unterhaltung mit, auch wenn ich nicht herausbekam, woher dieser Garrido die Bücher hatte.
»Haben Sie etwas gefunden, das Sie interessiert?«
Die Frage war überflüssig, denn ich hielt bereits die englische Ausgabe von Edith Whartons Zeit der Unschuld und Katherine Mansfields Das Gartenfest in den Händen und drückte sie gegen die Brust, als handelte es sich um wahre Schätze. Garrido war vor einer Minute gegangen, der Buchhändler hatte ihm zwanzig Peseten gezahlt und war nun zu mir gekommen, um mich zu bedienen.
»Haben Sie das hier gesehen?« Er zeigte mir eine recht gut erhaltene Ausgabe von E.M. Forsters Auf der Suche nach Indien. »Ein wirklich gutes Buch.«
Er reichte es mir.
»Es versetzt einen in die Kolonialzeit, als flöge man auf einem fliegenden Teppich«, setzte er hinzu, ohne mich im Geringsten überreden zu wollen.
Mir gefiel seine Bemerkung. Sie war wirklich zutreffend.
»Es entführt einen aus der Realität, nicht wahr?«
Er sah mich überrascht an. Dann nickte er wie in Gedanken.
»Das hat man manchmal bitter nötig«, erklärte ich, gleichfalls nickend, und gab ihm das Buch zurück. »Ich habe es schon gelesen, vielen Dank.«
Zu sagen, dass zwischen uns ein Band gegenseitiger Sympathie entstand, ist keine Einbildung. Ich bemerkte es, und er bemerkte es auch. Während er die Bücher einpackte, ging ich zu dem Bücherstapel, den Garrido auf dem Stuhl hinterlassen hatte, und dann tat ich es. Niemand merkte etwas. In meinem Kopf hallten die Worte wider, die Ezra Pound Walt Whitman zugeeignet hatte: »Wir haben ja ein Mark und eine Wurzel, lass Austausch sein zwischen uns.«
Ja, ich tat es. Ohne zu zögern. Ich nahm das Buch heraus, das ich in der Tasche hatte, und legte es neben den Bücherstapel, den Garrido mitgebracht hatte. In diesem kleinen Laden war es sicher gut aufgehoben.
»Stell das ab, bitte.«
»Das Radio?«
»Ja, mach es aus.«
»Aber jetzt kommen die Nachrichten.«
»Deswegen ja.«
Die beiden saßen auf Holzschemeln in der Küche. In der Ecke befand sich ein Bord, darauf ein Radio der Marke Invicta, das schon einige Jahre auf dem Buckel zu haben schien. Lola saß genau darunter, Matías am anderen Ende des Tisches und drehte sich eine Grobschnitt-Zigarette. Die Küche war klein und eng. An der einen Seite stand ein Kohleofen, daneben ein halber Meter weißer Kacheln mit dem Warmwasserboiler und einem nicht sehr tiefen Spülbecken aus Granit. Auf der anderen Seite befand sich der Tisch, an dem Matías und Lola gerade gegessen hatten. Zwischen der einen Wand und der anderen lagen nicht viel mehr als anderthalb Meter.
»Wozu haben wir ein Radio, wenn wir es nicht anstellen?«
Matías gab keine Antwort. Er lehnte sich gegen die Fliesen und zündete die Zigarette an, die er soeben gedreht hatte.
»Meine Eltern haben fast tausend Peseten dafür bezahlt«, beharrte Lola, während sie die Teller abräumte und im Radio die Erkennungsmelodie der Nachrichten erklang, »und jetzt kann ich nicht mal die Nachrichten hören.«
Eine geschwollene Männerstimme verlas die Verlautbarungen der staatlichen Pressestelle. Sie tat es mit solcher Emphase, dass es wie eine Theaterlesung klang.
»Seine Exzellenz, General Franco, befindet sich derzeit auf Besuch in der Provinz Badajoz, wo er die großartigen Bauprojekte des Nationalen Instituts für landwirtschaftliche Siedlungen besichtigt. In Montijo weihte er einen Staudamm ein und besuchte zwei neue Dörfer, wo auf 8000 Hektar Land Parzellen mit 62 Gehöften entstehen, auf denen insgesamt 5901 Familien ein neues Zuhause finden werden.«
Matías machte eine abwertende Handbewegung.
»Das sind keine Nachrichten, Lola. Das ist reine Propaganda.«
Lola wischte die Hände an der Schürze ab und stellte das Radio aus. Eine traurige Stille senkte sich über die Küche.
Ohne ein Wort zu sagen, ließ sie sich auf den Schemel sinken. Sie wirkte resigniert. Zwölf Jahre waren seit Ende des Bürgerkriegs vergangen, und nichts war besser geworden. Sie waren allein, umgeben von Lüge, Repression und Angst. Deshalb ließ Lola so gerne das Radio laufen, weil sie Musik hörte und nicht nur Nachrichten oder Fortsetzungsromane. Manchmal hatte sie das Glück, ein Lied von Schubert zu hören oder eine Copla von Concha Piquer, die ihre Gedanken mit tröstlichen Bildern füllten.
»Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber ich mag nichts mehr von diesen verdammten ›Pflichten eines jeden Spaniers‹ hören«, sagte Matías bitter. »Heute wirklich nicht.«
Lola kochte eine Kanne Kaffee mit dem Rest Zichorienkaffee aus der Packung. Sie packte sie mit dem Ärmel der Bluse, der am Saum mit Reihfaden geflickt war. Die Tassen waren ebenfalls schartig, und einer fehlte ein Stück vom Henkel. Plötzlich begann sie zu weinen. Sie konnte nicht anders. Den Kaffee in der einen Hand, die andere gegen die warmen Kacheln gelehnt.
»Aber Mädchen«, sagte Matías erschrocken, »nicht weinen. Ich wusste nicht, dass es so wichtig für dich ist, ob das Radio an oder aus ist.«
Er war zu ihr getreten und legte die Hände auf ihre Schultern. Lola drehte sich nicht um. Sie weinte stumm weiter, während Matías sie von hinten umarmte. Nach einer Weile straffte sie sich und putzte sich mit einem Taschentuch, das sie in der Schürzentasche hatte, die Nase.
»Komm schon, nimm’s nicht so schwer.«
Sie drehte sich um und versuchte zu lächeln. Matías sah sie ernst an.
»Was ist denn mit dir los? Wieso weinst du?«
Sie zuckte mit den Schultern.
»Ich weiß nicht«, sagte sie. »Es gibt Tage, an denen ich alles nur furchtbar finde.«
Matías strich ihr übers Haar. Sie ließ sich trösten, doch dann wurde ihr Blick ganz hart, und sie drehte den Kopf weg.
»Sie haben uns alles genommen, ist dir das bewusst?«, sagte sie mit der gebrochenen Stimme eines Menschen, der seinem Herzen Luft machen muss. »Den Verlag, das Haus deiner Mutter, die Möbel, die Freunde …«
Sie hatte sich in Rage geredet und begann erneut zu weinen. Es gefiel Matías nicht, sie so zu sehen.
Sie verstummte. Sie konnte nicht weiter all diese Verluste aufzählen. Sie hatte das Gefühl, dass sie für alles im Leben eine wahnsinnige Kraft aufwenden musste.
»Weißt du, was mit mir los ist?« Sie breitete die Hände aus, als wollte sie ein lange gehütetes Geheimnis lüften. »Ich vermisse das Leben, als es noch unser Leben war.«
Matías fand diesen Satz niederschmetternd, aber ganz typisch für sie. Bei allem Schmerz empfand er auch Stolz, Stolz auf diese mutige, geistreiche und begeisterungsfähige Frau, die nun kurz davor zu sein schien, aufzugeben.
»Ja.« Er ging zum Tisch, um die brennende Zigarette aus dem Ascher zu nehmen, bevor sie auf die Tischdecke fiel. »Manchmal bin ich auch verzweifelt.«
Er nahm das Päckchen mit dem Tabak und steckte es in die Hosentasche. Dann sagte er in munterem Ton, der ganz bestimmt nicht echt war, auch wenn es für einen Augenblick so schien: »Aber ich werde nicht zulassen, dass die da uns den Tag versauen.«
Lola legte den Kopf schräg. »Und wie?«, murmelte sie so leise, dass sie sich selbst kaum hörte.
»Zieh die Schürze aus. Heute gehen wir in die Bar einen Kaffee trinken. Und dann kommst du mit mir ins Geschäft.«
»Am Sonntag?«
»Ja, nur ein paar Stündchen«, antwortete Matías und drückte die Zigarette in dem Zinnaschenbecher aus. »Ich will das Schaufenster umdekorieren, bevor wir morgen öffnen.«
Lola wusch sich am Spülbecken das Gesicht. Danach fühlte sie sich besser.
»Aber den Kaffee trinken wir besser zu Hause, ich mach ihn gleich«, sagte sie, während sie sich mit dem Schürzenzipfel übers Gesicht wischte.
»Kommt nicht in Frage. Heute trinken wir einen richtigen Kaffee. Im Metropol.«
Lola zuckte mit den Schultern, ganz so, als würde sie ihm den Gefallen tun, aber Matías wusste, wie sehr sie diese kleinen Fluchten aus dem Alltag genoss, die sie in die Zeit zurückversetzten, als sie es sich noch leisten konnten, im Restaurant zu essen oder ins Ausland zu reisen.
»Wo ist das Lesepult?«
»Das Lesepult?«, fragte Lola erstaunt.
»Ja, das Lesepult meines Vaters.«
»Ich glaube, ganz oben in der Abstellkammer. Aber das willst du doch jetzt nicht suchen.«
»Es dauert nicht lang.«
»Du musst die Trittleiter holen.«
»Zieh du dir den Mantel an, ich bin gleich wieder da.«
Lola ging ins Schlafzimmer und richtete vor dem Kommodenspiegel ihr Haar. Ihre Nase war gerötet. Sie legte ein wenig Puder aus einem fast leeren Döschen auf und zog sich die Lippen nach. Als ihr Gesicht wieder hergerichtet war, verspürte sie das Bedürfnis, auch etwas anderes anzuziehen. Also holte sie ein Kostüm aus dem Schrank und zog sich um. Sie zog die Seidenstrümpfe an und schlüpfte in die Absatzschuhe. Dann betrachtete sie sich erneut im Spiegel. Sie war eine andere Frau. Plötzlich waren das ganze Unglück und Elend der letzten Jahre wie weggewischt, und sie war wieder die junge, weltgewandte Übersetzerin, die für Matías’ Verlag arbeitete, den Männern den Kopf verdrehte und sie trotzdem auf Abstand hielt. Alle außer Matías, der sie in seinen Bann zog und all ihre Widerstände niederriss, bis sie in einem Spinnennetz gefangen war, dem sie nie mehr entkommen war.
Er war damals verheiratet und ließ sich scheiden. Später teilte man ihnen mit, dass diese Scheidung keine Gültigkeit habe, aber das war ihnen beiden egal. Sie liebte ihn. Von ganzem Herzen und aus ihrem tiefsten Inneren. Vielleicht, weil auch seine Liebe so ausschließlich war, dass sie keinen Raum für Mittelmaß ließ. Sie liebte ihn, weil er anständig war, ohne heldenhaft zu sein, aber an seiner Seite schien alles möglich. Und weil sie ihn bewunderte. Sein Verhalten während und nach dem Krieg zeigte ihr, dass er der Richtige war. Beinahe wäre er erschossen worden. Lola glaubte, sie würde ihn nie wiedersehen, doch dann erreichte Lolas Vater, ein renommierter Arzt, unter dessen Patienten auch einige Befehlshaber des neuen Regimes waren, dass das Urteil in eine Gefängnisstrafe umgewandelt wurde. Man brachte ihn in ein Gefangenenlager in Galicien, wo er drei Jahre blieb, bis die Verfolgungen nachließen und er wieder nach Hause konnte. Bei seiner Rückkehr war von seinem alten Leben nichts mehr übrig. Seine Mutter war gestorben, Lola zu ihrer Familie geflüchtet, und den kleinen Verlag, der die besten französischen und englischen Autoren des 20. Jahrhunderts veröffentlichte, gab es nicht mehr. In dem Gebäude in der Calle Argensola befand sich jetzt eine Schneiderei für Kleriker über zwei Stockwerke. Lola hatte noch ein paar hundert Exemplare aus dem Lager sowie ein halbes Dutzend unübersetzter Manuskripte in Sicherheit bringen können, bevor ein paar Kerle, die sich nicht auswiesen, in den Verlagsräumen auftauchten, um alles auszuräumen. Einen Teil der Bücher brachte sie bei ihren Eltern unter, den Rest auf dem Dachboden von Freunden.
Seitdem waren einige Jahre vergangen. Zu viele, um noch Hoffnungen zu haben, und zu wenige, um sich an dieses Leben zu gewöhnen.
»Da haben wir uns aber schick gemacht …«
Matías war zu ihr ins Schlafzimmer gekommen. Er sah sie mit diesem typischen Funkeln in den Augen an.
»Du siehst umwerfend aus, Mädchen. Und wenn wir unsere Pläne einfach ändern?«
Er hatte schon den Mantel an und das Lesepult unterm Arm. Lola fasste ihn am Ärmel und zog ihn aus dem Haus. Das Café Metropol würde ihr einziger Luxus für viele Monate sein.
Als sie zum Geschäft kamen, waren sie gut gelaunt und beschwingt. Trotzdem fragte sie sich, was er wohl jeden Tag dabei empfand, wenn er das Eisengitter dieses kleinen Buchladens hochschob, das er in der ehemaligen Werkstatt eines Uhrmachers eröffnet hatte. Gleich hinter dem Eingang befand sich die Ladentheke. Man musste sie hochklappen und eine weitere Tür aufschließen, um in den Laden zu kommen. Das Beste war mit Sicherheit das kleine Schaufenster, dessen Schmalseite, kaum anderthalb Meter breit, zur Straße hinausging. Es war nicht eben viel, aber es hatte immerhin etwas mit dem zu tun, was sie konnten. Mit dieser romantischen Vorstellung von Kultur, die sie zusammengebracht hatte. Bücher waren ihrer beider Leben gewesen, und in gewisser Weise waren sie das immer noch.
»Hast du was Neues?«, fragte Lola, während sie die Handschuhe auszog und einen Stapel staubiger Zeitschriften hochhob. »Du sagtest gestern, Garrido sei dagewesen.«
»Ja, schon«, antwortete er. »Aber nicht hier.«
Lola kannte diesen Ton.
»Was denn?«, fragte sie ungeduldig.
Matías räumte weiter die Romane von Salgari und Jules Verne beiseite, die er in dem kleinen Schaufenster ausgestellt hatte. Einige sahen aus wie neu. Zwei oder drei hatten Ex Libris im Deckel.
»Was denn?«, fragte Lola noch einmal.
»Geduld«, murmelte er, während er die Buntstifte und die Schulhefte an der Seite stapelte, die er verkaufen musste, damit das Geschäft sich halbwegs trug.
Lola sah sich neugierig um. Samstagmorgens erhielt Matías immer diskreten Besuch von einem bekannten Kritiker der Zeitung ABC, der ihm die Rezensionsexemplare verkaufte, die ihm die Verlage zuschickten, damit er etwas darüber schrieb. Es waren druckfrische Bücher, in die er gerade einmal hineingeschaut hatte oder die er niemals lesen würde. Normalerweise waren es Letztere, die Matías interessierten.
»Du machst dich schmutzig. Und außerdem wirst du da nichts finden.«
»Wollen wir jetzt ›Heiß oder kalt‹ spielen?«, beschwerte sie sich.
»Nein, nein, warte noch ein bisschen, ich zeig’s dir gleich. Es wird dir gefallen.«
Lola hatte seltsam zwiespältige Gefühle gegenüber dem antiquarischen Geschäft. Einerseits wusste sie, dass es das Beste war, was Matías im Augenblick machen konnte: Bücher kaufen und verkaufen. Aber es schmerzte sie, dass er zu so armseligen Geschäften wie dem Handel mit Liebesromanen und Western gezwungen war. Die Kundschaft aus dem Viertel, junge Mädchen und Teenager vor allem, kauften ein gebrauchtes Buch, lasen es und konnten es dann für fünfzig Céntimos in den Laden zurückbringen und ein neues mitnehmen. Matías behauptete, dieses System schaffe Leser. Lola war am Boden zerstört, wenn sie diese zerfledderten, vergilbten, schmutzigen Bücher sah … Sie hätte sich nicht vorstellen können, mit sechzehn, siebzehn Jahren einen solchen Müll zu lesen.
»Also gut, hier ist es.«
Er hatte das Lesepult mitten ins Schaufenster gestellt und hielt eine gebundene Ausgabe in der Hand, auf der eine elegante Frau die Gangway eines Schiffes herabkam.
»Was ist das? Wieder so ein Liebesschmöker?«, fragte sie und schlug das Buch auf, um den Klappentext zu lesen.
Matías ließ sie sich selbst die Antwort geben.
»Aha, Memoiren …«
Er wartete weiter. Wie er vorhergesehen hatte, hielt Lola auf einmal die Luft an.
»Eine heimliche Tochter des Herzogs von Ashford … Und sie behauptet, in Spanien bei den Internationalen Brigaden gekämpft zu haben. Ist das wirklich wahr?«
Sie sah ihn überrascht an. Matías nickte wortlos.
»Aber wo hast du dieses Buch her? Es sieht ganz neu aus.«
»Eine mexikanische Ausgabe«, erklärte er. »Von 1946.«
»Hast du’s gelesen?«
»Gestern. In einem Rutsch. Und du solltest das auch tun.«
Lola schüttelte stumm den Kopf.
»Aber merkst du nicht, dass deine Weigerung, irgendetwas zu lesen, was mit dem Krieg zu tun hat, ein bisschen kindisch ist? Dieses Buch wurde nicht hier gedruckt. Ich kann dir versichern, dass es nicht das kleinste bisschen zensiert ist.«
»Egal. Ich will nicht.«
Matías nahm das Buch zurück, das sie ihm hinhielt, und zuckte mit den Schultern. Dann stellte er es sorgfältig auf das Lesepult mitten im Schaufenster.
»Was machst du da?«, rief sie beunruhigt und senkte dann instinktiv die Stimme. »Du willst es doch nicht etwa verkaufen?«
»Nein«, antwortete er ruhig wie immer. »Ich verschenke es.«
Lola hatte sich auf den kleinen Schemel hinter der Ladentheke gesetzt.
»Ich verstehe dich nicht, Matías. Ich verstehe dich wirklich nicht.«
Langsam wurde sie wütend.
»Warte ab … Bald wirst du es verstehen.«
Er schrieb etwas auf einen weißen Karton. Er fuhr die Linien noch ein paarmal nach, damit man sie besser lesen konnte, und stellte das Schild dann vor das Pult mit dem Buch.
»Tust du mir einen Gefallen?«
Jetzt war es Lola, die mit den Schultern zuckte.
»Geh mal raus und sag mir, wie es von dort aussieht und ob man’s gut lesen kann.«
Er klappte die Ladentheke auf, um sie durchzulassen. Als er sie auf der anderen Seite des Schaufensters stehen sah, aufmerksam und konzentriert, in ihrem untadeligen grauen Kostüm, das braune Haar aus dem Gesicht gekämmt, war er gerührt. »Ich vermisse das Leben, das wir mal hatten«, hatte sie vor ein paar Stunden gesagt. Nein, er hatte nicht das Recht dazu, dass diese intelligente, attraktive, kultivierte Frau ein so elendes Leben führte.
Lola versuchte zu verstehen, was Matías mit dem Buch bezwecken wollte. Sie las ein paarmal das Schild mit der ausgreifenden, geschwungenen Schrift. »Dieses Buch ist ein Geschenk für die erste Person, die es vollständig liest«, stand da in sehr großen Buchstaben. Und darunter, etwas kleiner: »Jeden Tag werden in diesem Schaufenster zwei Seiten ausgestellt, und der Leser, der bis zum Ende der Geschichte kommt, kann das Buch gratis mitnehmen.«
Als sie wieder hereinkam, sah sie ernst und besorgt aus.
»Aber warum?«, fragte sie, ohne Matías Beweggründe zu begreifen.
Er befeuchtete das Zigarettenpapierchen mit der Zunge und klebte die Zigarette zu, die er gerade gerollt hatte. Eine schwarz glänzende Haarsträhne fiel ihm in die Stirn.
»Um das Gefühl zu haben, dass ich noch immer tun und lassen kann, was ich will«, antwortete er ruhig.
Er nahm das Feuerzeug aus der Hosentasche und schlug mehrmals mit dem Handrücken gegen das Rädchen, bis der Funke auf den gelben Docht übersprang. Dann hielt er die Zigarette an die Glut.
»Und auch aus Spaß daran, die Dinge zu verändern«, setzte er hinzu und sah Lola durchdringend an. »Damit sich was bewegt. Weißt du, was mir an der Sache gefällt? Die Vorstellung, dass jemand, der dieses Buch heute weder will noch sucht, es morgen kennen wird.«
Lola stand neben dem Schemel, er lehnte an der Wand, wie immer, wenn er rauchte.
»Es wäre ein Leichtes für mich gewesen, es Don Fernando, Luis oder einem anderen meiner Stammkunden zu verkaufen. Ich weiß, sie hätten es mit Kusshand genommen. Aber das ist keine Geschichte für Gewohnheitsleser – wäre es auch, klar. Heute Morgen habe ich plötzlich gedacht, was wohl in einem dieser Mädchen vorgehen würde, die hierherkommen, um Kitschromane auszutauschen, wenn sie dieses Buch in die Finger bekämen. Ich habe mir ausgemalt, welche Empfindungen es in jemandem auslösen könnte, der es von sich aus niemals kaufen würde. Verstehst du?«
Lola verstand sehr gut. Die Dinge mochten noch so schwierig sein in diesem staubigen Kabuff, mit Matías gab es immer ein unsichtbares Fenster, das den Blick auf eine neue Landschaft öffnete. Etwas, das es nirgendwo sonst gab, das kein anderer ihr geben konnte. Sie lächelte. Er erwiderte das Lächeln durch den Rauch hindurch, der zwischen ihnen schwebte.
Den ganzen Vormittag war niemand vor dem Schaufenster stehengeblieben. Als er um die Mittagszeit das Gitter herabließ, dachte er, dass es vielleicht doch keine so gute Idee gewesen war, wie er zuerst gedacht hatte. Wer wollte schon immer nur zwei Seiten eines Buchs lesen? Er hatte nicht mal überschlagen, wie lange man dafür brauchen würde, aber es war ein ziemlich dickes Buch. Plötzlich kam ihm die Aktion nicht mehr so glücklich vor.
Irgendwann im Laufe des Tages dachte Matías, wie merkwürdig es war, dass Garrido ihm dieses Buch gebracht hatte. Normalerweise verkaufte er ihm die Bücher, die Verlage oder die Autoren selbst ihm zuschickten, damit er sie in der Zeitung besprach. Aber dieses hier war in Mexiko erschienen, und das erst vor kurzem. Vielleicht hatte es ihm jemand geschenkt, und er hatte nicht mal reingeschaut. Hätte er es getan, Garrido hätte es behalten, da war sich Matías sicher.
Als sie nachmittags wieder öffneten, kam eine junge Frau mit einem Kind auf dem Arm, um einen Bleistiftspitzer und zwei karierte Hefte zu kaufen. Matías sah, dass sie ohne großes Interesse vor dem Schaufenster stehenblieb. Dann ging sie weiter. Sie hatte mit Sicherheit nicht mal Zeit gehabt, den ersten Abschnitt zu lesen. Später las ein zehnjähriger Junge, der gekommen war, um einen Comic zu tauschen, das Schild und fragte ihn: »Sind da Bilder drin?« »Nein«, antwortete Matías, »nur Schrift.« Und der Junge ging enttäuscht davon. Gegen Abend, kurz vor Ladenschluss, blieb eine andere Frau, die schon ein paarmal im Geschäft gewesen war, vor dem Schaufenster stehen. Matías erkannte sie wieder, weil er sich daran erinnerte, dass sie Ausländerin war. Etwas in ihrem Gesicht ließ ihn vermuten, dass sie gerade las, aber er konnte es nicht mit Sicherheit sagen. Die Frau wirkte verwirrt, aufgewühlt. Sie stand da und starrte auf das Buch. Dann sah sie auf und schaute zu ihm herein. Sie trug einen schlichten Wollmantel, einen selbstgestrickten Schal und trug das schlohweiße Haar sorgfältig im Nacken zusammengefasst. Sie blickte ihn eindringlich an. Manchmal sah auch Lola ihn so an.
Am Dienstag war das Buch immer noch auf der ersten Seite aufgeschlagen, weil niemand stehengeblieben war, um es zu lesen. Sie öffneten gemeinsam das Geschäft, und Matías sortierte ein paar antiquarische Bücher, während Lola ein bisschen Ordnung in die Regale gleich neben der Ladentheke brachte.
»Lass das, Frau.«
»Aber hast du dieses heillose Durcheinander gesehen? Man findet ja nichts …«
»Das ist kein Durcheinander. Ich weiß genau, wo alles steht.«
Lola hatte ein paar Bücher von dem Stapel genommen, der auf einem Stuhl neben dem Schaufenster lag.
»He, lass die schön liegen, die muss ich noch sortieren.«
»Sind das die, die Garrido gebracht hat?«
»Ja, aber ich muss noch einen Blick darauf werfen.«
»Und dieser neue Autor? Dieser Sánchez Ferlosio? Der Titel heißt … Abenteuer und Wanderungen des Alfanhui … Klingt wie ein Titel von Baroja. Wie ist es?«
»Originell, ein bisschen phantastisch. Ich wollte es Luis mitbringen. Ich glaube, es wird ihm gefallen.«
»Schreibt er gut?«
»Es ist gut, ja. Vor allem ist es anders.«
Lola hatte den Bücherstapel in eine Ecke des Tischs geschoben, der früher die Werkbank des Uhrmachers gewesen war. Sie trug ein weitschwingendes Kleid mit weißen Streublümchen, das mit einem Gürtel auf Taille gebracht war. Dazu trug sie diesmal keine Strümpfe, sondern weiße Söckchen und Ballerinas, eine Mode, die längst nicht mehr in Mode war, aber dafür bequem.
»Du musst Garrido bitten, dass er dir den Roman von diesem jungen Mädchen besorgt, Carmen Laforet, die vor ein paar Jahren den Nadal-Literaturpreis gewonnen hat. Ich würde ihn gerne lesen. Nada heißt er, glaube ich … Findest du diesen Titel nicht viel ansprechender als Die Abenteuer und Wanderungen des Alfanhui?«
»Mag sein …«
Matías wollte noch etwas sagen, als er sie entdeckte. Da war sie wieder, die Frau mit dem weißen Haar. Sie stand vor dem Schaufenster, betrachtete aber nicht das Buch, sondern spähte ins Innere der Buchhandlung. Lola sah Matías’ überraschtes Gesicht und drehte sich um. Die Frau draußen lächelte.
»Wer ist das?«, fragte Lola Matías.
»Ich weiß es nicht, sie kommt manchmal her. Gestern war sie auch hier, aber sie ist nicht reingekommen.«
»Sie wird wegen des Buchs da sein.«
»Sieht nicht so aus, als ob sie sich dafür interessiert. Ich glaube nicht.«
Matías hatte ein halbes Dutzend Bücher in einer Leinentasche verstaut.
»Ich bin spät dran.«
»Kommst du hierhin zurück, oder soll ich zu Hause auf dich warten?«
»Ich komme noch mal her, um dich abzuholen und den Laden abzuschließen.«
»Mach dir keine Sorgen, falls es später wird, mache ich das.«
Dienstag- und Donnerstagvormittag blieb Lola in der Buchhandlung. Er machte Hausbesuche, wie ein Arzt, sagte sie immer. Er hatte vier oder fünf Stammkunden, denen er die Neuheiten oder ihre Bestellungen nach Hause brachte. Einsame Menschen wie Luis, dem beide Beinen fehlten und der sich mithilfe eines Rollstuhls fortbewegte, oder alte Leser wie Don Anselmo, die ihn lieber mit einem Gläschen Wein empfingen und sich ein Weilchen in Ruhe unterhielten, ohne das ständige Kommen und Gehen im Geschäft. Er konnte nicht von diesen Kunden leben, aber das war ihm lieber, als sechs Tage in der Woche Hefte und Radiergummis zu verkaufen. Er war gerne bei ihnen. Sie unterhielten sich über literarische Vorlieben, die Nachrichten aus der Welt und manchmal, ganz selten, sprachen sie auch vorsichtig über die politische Lage in Spanien. Das waren seine beiden halben Tage. Lola kümmerte sich ohne Murren ums Geschäft, obwohl er genau wusste, dass es ihr keinen Spaß machte. Sie verkaufte Schreibwaren, tauschte Romane, und falls sich zufällig ein Kunde in den Laden verirrte, der ein bestimmtes Buch suchte, bat sie ihn, wiederzukommen, wenn ihr Mann da war.
Am späten Vormittag, als sie die jüngsten Neuerwerbungen sortiert hatte, versuchte Lola, ein wenig Ordnung in die Bücher zu bringen, die sie aus dem Verlag gerettet hatten. Sie waren der Grundstock für das Geschäft gewesen. Matías nahm immer Bücher aus den Regalen und stellte sie nie an ihren Platz zurück. Auf so beengtem Raum wie hier war Ordnung ein unbedingtes Muss. Sie strich über die aufgereihten Buchrücken. Einige dieser Texte hatte sie übersetzt, als sie noch jung, ungeduldig und glücklich gewesen war. Jetzt fühlte sie sich zu nichts mehr in der Lage. Sie war erst achtunddreißig, hatte keine Kinder, und ihre ganze Welt war Matías. Matías und nur Matías. Manchmal hatte sie Angst, in einem Anfall von Überdruss könnte sie Lust bekommen, alles zurückzulassen. Das heißt, Matías.
Sie wusste nicht genau, warum, aber irgendwann beschloss sie, vor die Tür zu gehen, um diese neue Werbemaßnahme fürs Lesen in Augenschein zu nehmen, die ihr Mann sich ausgedacht hatte und die nicht die geringste Wirkung zeigte – und mit Sicherheit auch nie zeigen würde. Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte, dass das Buch dort auslag wie die Spanferkel im Restaurant Botín, einen Apfel im Maul. Einerseits fand sie es lächerlich und unnötig, andererseits fand sie es lustig. Es war so typisch Matías, dass sie nicht anders konnte, als es mit einer gewissen Komplizenschaft hinzunehmen. Sie legte sich eine Strickjacke um die Schultern, klappte die Ladentheke hoch und stellte sich auf den Gehsteig, um das Lesepult und die aufgeschlagene Seite mit der eleganten englischen Schrift zu betrachten. Unbewusst begann sie zu lesen.
»Wie merkwürdig, ein aufgeschlagenes Buch …«
Lola schreckte zusammen. Die Frau war gekommen, ohne dass sie es gemerkt hatte.
»Wie bitte?«
»Ich meine, man kann den Deckel gar nicht sehen.«
»Ach so«, sagte sie verwirrt. Sie wusste nicht recht, wie sie reagieren sollte. »Den Einband, meinen Sie.«
»Ja, genau. Wissen Sie, wie es heißt?«
Es war dieselbe Frau, die sie tags zuvor vor dem Schaufenster gesehen hatten. Matías hatte gesagt, dass es nicht das erste Mal war, dass sie vor dem Geschäft stehenblieb.
»Das Mädchen mit dem flachsfarbenen Haar.«
Die Frau trug ein seidenes Kopftuch – aus Frankreich vielleicht, wie Lola feststellte, während die Frau nickte.
»Ein schöner Titel.«
Lola dachte kurz darüber nach.
»Ja, wirklich. Er regt die Phantasie an.«
»Wissen Sie, dass es von Debussy ein Prélude gleichen Namens gibt? La fille aux cheveux de lin. Ich lese nicht besonders viel, aber ich mag Musik. Worum geht es darin?«
»Es sind die Erinnerungen einer Frau, die behauptet, die Tochter eines englischen Herzogs zu sein. Sie können die erste Seite lesen. Deswegen steht es da …«
»Oh nein, ich kann nicht …«
Sie zögerte einen Augenblick, als suchte sie nach einer Erklärung für ihre Weigerung.
»Ich habe meine Brille nicht dabei«, sagte sie schließlich entschuldigend.
»Soll ich sie Ihnen vorlesen?«
»Macht das nicht zu viele Umstände?«
»Überhaupt nicht. Ich habe gerade selbst begonnen, sie zu lesen.« Lola senkte ein wenig die Stimme. »Ich hab’s nämlich selbst noch nicht gelesen«, gestand sie lächelnd, und ihre dunklen Augen blitzten verschwörerisch.
Die Frau erwiderte das Lächeln. Erst jetzt betrachtete Lola ihr Gesicht. Sie hatte zarte, sehr weiße Haut, genauso weiß wie ihr Haar. Beim Lächeln durchzogen ein paar Fältchen die Wangen und bildeten ein feines Netz rings um die Augen, das sie an Millimeterpapier erinnerte. Sie hatte kleine, weiße, sehr ebenmäßige Zähne und indigoblaue Augen voller Glanz, die sie viel jünger wirken ließen. Wenn sie lächelte, strahlte ihr ganzes Gesicht.
Was Lola am meisten verwunderte, war, dass die Frau nicht das Schaufenster betrachtete, sondern sie. Sie überlegte, ob sie vielleicht etwas sagen wollte und sich nicht traute. Sie fing an vorzulesen, weil sie es versprochen hatte, aber eigentlich bereute sie es bereits. Es war kalt, und Matías’ Einfall erschien ihr sinnloser denn je.
Ich bin in einem kleinen Dorf in der Normandie aufgewachsen, ohne dass man mir jemals gesagt hätte, dass ich die Tochter des Herzogs von Ashford war.
Mit etwas über drei Jahren muss ich zu den Hervieus gekommen sein. Ich wusste immer, dass sie nicht meine Eltern waren, und tatsächlich habe ich sie auch nie so genannt. Für mich waren sie immer Madame und Monsieur Hervieu. Sie hatten eigene Kinder, und obwohl sie herzensgute Leute waren und mich immer anständig behandelten, konnten sie nicht verhindern, dass ich deutlich spürte, keine von ihnen zu sein. Wissen Sie, was es bedeutet, ohne elterliche Liebe aufzuwachsen, während die wahre, naturgegebene Liebe in dem Haus wohnt, in welchem du mit den anderen lebst? Die Kinder, die in einem Waisenhaus groß werden, wachsen ohne Elternliebe auf, aber das gilt für alle anderen auch, alle befinden sich in derselben Situation. Meine Verlassenheit war schlimmer. Sie hatte den Geschmack von Fremdheit. Es war, als sagte man mir in einem fort: ›Du gehörst nicht in dieses Haus, in diese Gegend, du wirst nie eine von uns sein‹, und verweigerte mir gleichzeitig die Möglichkeit, den Platz auf der Welt zu finden, an den ich gehörte. Und doch fragte ich Madame Hervieu nie, wer meine richtigen Eltern waren. Nie. Ich habe keine Erinnerungen an sie. Nicht eine einzige. Kein Gesicht, keinen Geruch, keine Stimme.
Es ist merkwürdig. Mein Leben scheint in der Normandie zu beginnen, ganz so, als ob alles, was zuvor war, nie existiert hätte. Aber ich weiß, dass dieses unbekannte Leben irgendwo gespeichert ist. Wahrscheinlich habe ich es hier drin, aber in meiner Erinnerung herrscht großes Durcheinander. Und so sehr ich mich auch bemühe, Ordnung darin zu schaffen, es gelingt mir nicht.
In dieser konfusen Vergangenheit meines Lebens vor den Hervieus gibt es lediglich ein Schiff. Es ist ein riesiges Schiff. Ich gehe eine hölzerne Gangway hinauf. Vor mir geht eine Frau, sie trägt ein pelzbesetztes Cape. Ihre Füße sind klein und stoßen immer wieder gegen die hölzernen Querstreben, die dazu dienen, dass man nicht ausrutscht. Ich bin ein kleines Mädchen, aber so was weiß ich schon. Ich weiß auch, dass diese Frau den Dienstmann angeheuert hat, der das Gepäck hinter mir herträgt, und dass in diesen Kalbslederkoffern meine Spitzenkleidchen und meine Porzellanpuppen sind.
Dann verschwimmt alles. Alles außer dem strengen Blick dieser Frau, mit der ich in einer Kabine in der ersten Klasse schlafe. Aber an den Moment, als ich zu den Hervieus kam, kann ich mich nicht erinnern. Es war ein Bauernhof an der westlichen Küste der Normandie, nicht weit von Coutances. Bestimmt erinnere ich mich nicht, weil dies für viele Jahre das Einzige war, was ich zu Gesicht bekam, und später dann, als ich alt genug war, um mir Fragen zu stellen, die einzige Kindheit, über die ich reden konnte. Es war paradox: Alles war und war nicht, gehörte dazu und hatte nie dazugehört … Und ungerecht war es auch. Aber ich schlug mich durch, so gut ich konnte, und so verdrängte ich die Dinge, die nicht in das Leben passten, das zu führen man mich gezwungen hatte. Ich verdrängte meine Ankunft bei den Hervieus und bewahrte nur die Erinnerung an dieses riesige Schiff, das mich in die Normandie gebracht hatte.
Auf dem Hof lebte es sich recht angenehm. Die Hervieus hatten ein schönes Haus, sonnenbeschienen an den wenigen Sonnentagen und nicht allzu sehr dem normannischen Wind ausgesetzt, denn es lag im Schutz einer kleinen Anhöhe und war von einer fast zwei Meter hohen Hecke umgeben. Es hatte nur ein Stockwerk und ein Giebeldach. Die Ställe befanden sich ein ganzes Stück vom Haupthaus entfernt auf der anderen Seite einer Wiese mit Apfelbäumen, was eine feine Sache war, weil es den Gestank, die Stechmücken und Fliegen von uns fernhielt. Der Mittelpunkt des Hauses war die große Küche, in der sich unser Leben abspielte. Es gab keine Korridore, nur fensterlose Kammern, die mit einem Vorhang von der Küche abgetrennt waren. Dort schliefen wir Kinder. Die Hitze des Herdes, der immer brannte, hielt uns die ganze Nacht warm.
Neben der Tür, gleich neben der Diele, lag das Schlafzimmer der Hervieus. Es war viel größer, fast so groß wie sämtliche Kammern zusammen. Das Auffälligste in diesem Zimmer war das Messingbett, dessen Pfosten von zwei Keramikkugeln mit Szenen aus der Kindheit der Jungfrau Maria gekrönt wurden. Über dem Kopfende hing ein großes Bild der heiligen Muttergottes mit vielen Erzengeln und Cherubim. Am Fußteil befanden sich zwei gedrehte Messingspitzen. Noch heute finde ich, dass es ein wunderschönes Bett war. Ich frage mich oft, was wohl aus ihm geworden ist.
»Und, wie finden Sie es? Gefällt es Ihnen?«
Die beiden Frauen standen vor dem Schaufenster und lasen durch die neblige Luft und die nicht sonderlich saubere Scheibe hindurch. Zum Glück befand sich das Buch fast auf Augenhöhe, und die Metalllampe, die Matías darauf gerichtet hatte, um die Aufmerksamkeit auf das Buch zu lenken – eine reichlich theatralische, aber wirkungsvolle Maßnahme – erleichterte die Lektüre ungemein.
»Ich weiß nicht«, antwortete Lola. »Ich glaube schon. Der Ton gefällt mir, es liest sich sehr flüssig.«
Sie standen immer noch auf dem Gehsteig. Lola fror schon eine ganze Weile.
»Und Sie?«, fragte sie zurück. »Gefällt es Ihnen?«
»Ja, ja, doch«, räumte die Frau mit dem Kopftuch ein. »Es geht darin um Dinge, die mir mit Sicherheit viel näher sind als Ihnen. Und nicht nur wegen des Altersunterschieds.«
»Sie sind nicht aus Spanien, oder?«
Lola fragte sich zum ersten Mal, wer diese Frau wohl war und warum sie in diesem Viertel wohnte. Plötzlich merkte sie, dass sie neugierig war.
»Nein, ich bin Engländerin«, antwortete die Frau mit einem offenen Lächeln. Plötzlich hörte Lola ihren Akzent deutlich heraus. »Aber ich lebe seit dreizehn Jahren in Madrid.«
Mittlerweile war ihr eiskalt, aber sie wollte nicht in die Buchhandlung zurückgehen und die Frau auf der Straße stehenlassen.
»Und was hat Sie in unser Land verschlagen?«
Die Frau sah, wie Lola ihre Strickjacke fest um die Schultern zog.
»Sie sind ja völlig durchgefroren«, sagte sie statt einer Antwort.
Lola lächelte ebenfalls.
»Ja, stimmt.«
Noch immer hing dichter Nebel in den Straßen, als würde er sich fest in der Stadt niederlassen wollen.
»Gehen wir doch rein«, sagte Lola und wandte sich entschlossen zur Tür. »Dann kann ich Ihnen noch ein bisschen mehr vorlesen, wenn Sie wollen.«
»Oh … Haben Sie vielen Dank. Aber ich will Sie nicht von der Arbeit abhalten.«
Lola klappte bereits die Ladentheke hoch.
»Mich von der Arbeit abhalten? Ganz und gar nicht. Machen Sie sich keine Sorge. Wenn jemand reinkommt, mache ich einfach eine kurze Pause.«
Nacheinander betraten sie die enge Buchhandlung. Lola räumte ein paar Hefte weg, die auf dem einzigen Stuhl lagen, und bot diesen der Frau an, während sie sich den Hocker nahm, der unter der Ladentheke stand. Dann holte sie das Buch aus dem Schaufenster. Die Schreibtischlampe gab ziemlich viel Wärme ab, obwohl nur eine 12-Watt-Birne drin war.
»Wissen Sie, was mir am besten gefallen hat?«
Die Frau hatte das Kopftuch abgenommen. Ihr Haar war schlohweiß, obwohl sie noch gar nicht so alt war.
»Dass dieses Mädchen ohne Groll über ihre Situation spricht. Man hat den Eindruck, dass sie ohne Verbitterung aufwächst, glauben Sie nicht?«
Lola dachte nach.
»Kann sein«, sagte sie schließlich. »Bei dem, was wir bisher gelesen haben, gab es keinerlei Hang zum Dramatisieren, was wirklich zu begrüßen ist. Die Realität ist hart genug.«
Diesmal lächelten beide. Und als Lola kurz danach die Geschichte weiterlas, klang ihre Stimme, als trüge sie sämtliche Bücher in sich, die es in dem Laden gab.
Ich kann mich nicht erinnern, dass mir das Leben auf dem Land nicht gefallen hätte. Im Gegenteil – ich glaube, ich mochte die Freiheit, die es bedeutete, ständig draußen zu sein, im Wechsel der Jahreszeiten und mit all den Dingen, die diese mit sich bringen: Nüsse sammeln im Herbst, Walderdbeeren im Frühling, die Apfelernte Anfang September, Tomaten, Erbsen und Bohnen an warmen Sommertagen … Im Dezember wurde ein Schwein geschlachtet, an Ostern gab es Lammbraten, Ende August wurde der Mais gedroschen, und im Juli wurden wir immer auf den alten Karren gepackt, mit dem der Apfelwein transportiert wurde, und wir durften das Meer sehen. Ich habe diese Zeit meines Lebens als schöne Zeit in Erinnerung, in der es immer etwas zu entdecken gab. Und als eine Zeit, in der man uns Kinder in Frieden ließ.
Warum haben alle einschneidenden Kindheitserinnerungen mit der Enthüllung eines Geheimnisses zu tun? Anfangs dachte ich, dass es nur mir so gehe wegen meiner besonderen Situation, aber als ich mich später für Bücher zu begeistern begann, wurde mir klar, dass viele Geschichten Initiationsgeschichten sind. Und dass das Geheimnis, hinter das wir zu kommen versuchen, nichts anderes ist als das Leben selbst.
Ich weiß nicht mehr genau, wann ich begann, die Augen offenzuhalten und auf jede Bemerkung der Hervieus zu achten. Ich ging jedenfalls noch nicht aufs Gymnasium, also muss es schon sehr früh gewesen sein. Ich hatte die Reise auf dem Schiff und die Frau mit dem Pelzcape fast vergessen, als ich eine Unterhaltung mitbekam, die den Wunsch in mir weckte, mehr zu erfahren.
Wir hatten damals gerade begonnen, Heu zu machen, das nun trocknen sollte. Monsieur Hervieu wartete auf einen sonnigen Tag, aber alles war von dichtem Nebel bedeckt, durch den man kaum ein paar Meter weit sah. Manchmal kam mit dem Sommerbeginn der Nebel. Er kam von Westen, vom Meer. Die Nebelfetzen hingen tagelang wie zerrissene Wolken über dem Land. Als sie sich schließlich auflösten, klebten an den Grashalmen Flocken, so groß wie eine Kinderfaust, die wie Spinnweben aussahen. Madame und Monsieur Hervieu waren aufgebracht. Ich hörte Monsieur Hervieu sagen: »Diesen verdammten Nebel schicken uns die aus der Heimat von der da.«
Er deutete mit dem Kinn auf mich, die ein paar Meter entfernt auf dem Boden kauerte. Ich weiß nicht mehr, was genau ich in dieser Haltung da machte. Ich weiß nur, dass er dachte, ich höre ihn nicht. Aber ich hörte ihn. Oder vielleicht war es ihm in dem Moment schlichtweg egal.
»Die liegen jetzt in ihren Strandbädern in der Sonne und machen sich ein schönes Leben«, setzte Monsieur Hervieu bitter hinzu. »Die Reichen lassen sich’s immer gut gehen.«
Also lag meine Heimat auf der anderen Seite des Meeres? Meine Eltern waren reich? Dort, wo ich geboren war, schien die Sonne?
Mir fiel die lange zurückliegende Szene auf dem Schiff ein, das strenge Gesicht der Frau mit dem Pelzcape – als wäre sie ein Faden, den man aufrollen musste, um sich aus ihm die Wahrheit zusammenzustricken. Manchmal, wenn man uns Kinder abends ins Bett schickte, während Madame und Monsieur Hervieu sich noch vor dem flackernden Kamin unterhielten, und ich ihre leise flüsternden Stimmen hörte, versuchte ich mir vorzustellen, dass die Frau, mit der ich auf dem Schiff gereist war, meine richtige Mutter gewesen ist. Doch das schien so unwahrscheinlich, dass nicht mal ich selbst daran glauben konnte.
Tatsache ist, dass ich trotz all dieser Geheimnisse erwachsen wurde. Und ich kann behaupten, dass ich ziemlich glücklich war. Als geschähe es ganz plötzlich, sehe ich mich dann mit zehn Jahren den Hof der Hervieus verlassen, um aufs Lyzeum von Coutances zu gehen. Und es kam keineswegs so unvermutet, wie ich gerne glauben möchte, das weiß ich. Mir ist klar, dass es Vorboten gab. Zum Beispiel durfte ich irgendwann nicht mehr auf dem Heuwagen zu den Feldern auf der anderen Seite von Periers mitfahren, dann verboten sie mir zu melken, und irgendwann verkündete mir Madame Hervieu, dass ich bald die Volksschule verlassen müsse, um in Coutances zur Schule zu gehen. Ich sei nämlich nicht dazu bestimmt, Bäuerin zu werden.
Und so brachte mich Monsieur Hervieu an einem Sonntag im September mit dem Wagen in die Stadt. Seine Frau verabschiedete sich einigermaßen traurig von mir und gab mir eine ganze Reihe von Ratschlägen. Ich solle mich wie ein Fräulein benehmen, sagte sie – ein Wort, das ich zum ersten Mal hörte, zumindest auf mich bezogen –, und versicherte mir, samstags käme Monsieur Hervieu mich abholen, damit ich das Wochenende bei ihnen verbringen könne. In den Ferien wäre dann wieder alles wie früher.
Doch das wurde es nie mehr. In Coutances wohnte ich im Haus einer Witwe, die mit dem Essen genauso knauserte wie mit der Sauberkeit. Nach dem Abendessen indessen sprach sie dem Pommeau mit einer Großzügigkeit zu, die man ihr in anderen Bereichen gewünscht hätte. Die Winter sind streng in der Normandie. Es regnet ununterbrochen, und die Kleider verströmen ständig diesen Geruch nach Kellermuff. Im Haus der Witwe Tréport wurde kaum gelüftet – damit die Wärme nicht entwich, sagte sie. Aber öffnete man die Fenster heimlich, war es noch schlimmer, denn anstatt Feldern und Bäumen sah und roch man nur Häuser aus grauem Stein, graues Straßenpflaster und bleiche, schläfrige Luft, die mir ebenfalls grau vorkam. Wenn ich jetzt so zurückdenke, war es ein Höllenklima, aber damals fand ich es einfach nur unangenehm. Der Nebel war das Schlimmste. Er ließ die Wirklichkeit verschwinden und hüllte einen in eine feuchte Decke, aus der man nur mit unsicheren Schritten wieder herausgetaumelt kam. Und der heftige, stürmische Westwind, der den Staub und das Meer aufwühlte, brachte alles in Aufruhr, auch die Gedanken. In der Normandie kam alles Unerfreuliche vom Meer.
Ich hatte ganz feines, hellblondes Haar. Madame Hervieu schimpfte immer, weil es sich ständig verknotete. Ich erinnere mich noch gut an das allmorgendliche Gejammer, wenn es daranging, mich zu kämmen, bevor ich zur Schule ging. Nun, da Madame Hervieu nicht da war und ich mich selbst kämmen sollte, war ich nicht länger bereit zu leiden. Also schnitt ich mir die Haare selbst ab. Ich zog mir einen Mittelscheitel und stutzte es bis auf Höhe der Ohren, á la garçonne, so dass ich mich nicht länger der Tortur unterziehen musste, die Träume zu entwirren, die sich in meinem Haar verfangen hatten. Die Witwe Tréport war entsetzt über meinen Entschluss und drohte damit, die Hervieus zu informieren. Aber als meine Adoptivmutter mich sah, fand sie mich reizend. So sagte sie zumindest, und ich glaube, dass es auch so gemeint war. Madame Hervieu redete nicht um den heißen Brei herum. Sie hatte keine Zeit für solchen Blödsinn.
Das war’s, andere konkrete Erinnerungen gibt es nicht. Kaum zu glauben, dass ganze Jahre aus dem Gedächtnis ausgelöscht sein können … Wenn ich an meine Winter in Coutances denke, erinnere ich mich nur an diese wenigen, unzusammenhängenden Dinge. Wie schmutzig, muffig und abweisend mir alles vorkam, der Geiz der Witwe Tréport, der Vorplatz der Kathedrale, der ganze Stolz der Stadt, mit seinen Pferdekutschen, in denen die feinen Damen vorfuhren, das Rascheln ihrer Taftkleider, wenn sie die Kirche betraten, die Kneipen, aus denen schon am frühen Abend der Geruch nach Apfelwein drang. Mehr nicht. Ich habe zum Beispiel nicht die geringste Erinnerung an das Lyzeum, das ich besuchte. So sehr ich mich auch anstrenge, da ist kein Bild des Klassenraums, kein Gesicht einer Mitschülerin … nichts. Absolut nichts. Ist das nicht unglaublich?
Vier Jahre lang, von meinem zehnten bis zum vierzehnten Lebensjahr, tat ich nur zwei Dinge von Bedeutung: Ich saß abends in meinem Zimmer und las in einem fort, und im Sommer kehrte ich glücklich auf den Hof zurück.
Das Haus, in dem ich zur Untermiete wohnte, hatte ein Gutes: die Bibliothek. Der verstorbene Monsieur Tréport war Gymnasiallehrer für Literatur gewesen und hatte im Laufe seines Lebens einige Bücher angesammelt – nicht sehr viele, aber doch alles, was für die autodidaktische Bildung eines jungen Mädchens wie mir unabdingbar war. Ich las die Ilias, etliche Theaterstücke von Molière und die Gedichte von Baudelaire, die ich kompliziert und ein bisschen hochgestochen fand. Romane mochte ich, Flaubert, Tolstoi, Dostojewski, vor allem aber die Poesie. Wie glücklich war ich mit den Dichtern der Romantik … Ich weiß nicht, ob ich heute noch Byron oder Shelley lesen könnte. Ich traue mich gar nicht, es auszuprobieren, aber wie viele heimliche Freuden verschafften sie mir damals, wie viele intensive Empfindungen und wie viele Verheißungen sanfter Liebesqualen …
Doch alles geht irgendwann zu Ende. Die Welt dreht sich weiter, und es ist, als verschwänden die Dinge hinterm Horizont. So fühlte ich mich, als ich zum Ferienbeginn 1914 mit meinem Koffer von Monsieur Hervieus Wagen stieg, um den Sommer auf dem Hof zu verbringen, und auf einmal das strenge Gesicht dieser Frau vor mir sah. Ich erkannte sie sofort wieder. Ich spürte fast das Schwanken des Schiffes und die Übelkeit.