Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Als Feyi erfährt, dass ihre Großmutter in Deutschland verstorben ist, spürt sie nichts. Keine Trauer, keine Verbundenheit, nur die vage Erinnerung an ein altes Schwarz-Weiß-Foto. Doch dann hinterlässt ihr die Verstorbene ein Haus in Starnberg - und mit ihm eine Tür zu lange unbeantworteten Fragen. Auf der Suche nach Antworten reist Feyi nach Deutschland, um das Haus zu sehen. Dort wird sie mit Geschichte, Verlust, familiären Konflikten und den letzten Gedanken einer Frau konfrontiert, die verzweifelt versucht, ihre schwindenden Erinnerungen festzuhalten. Ein bewegender Roman über Familie und das unsichtbare Band zwischen Vergangenheit und Gegenwart.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 207
Veröffentlichungsjahr: 2025
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Bunye Ngene, geboren 1985, wuchs in Lagos, Nigeria, auf. Nach seinem Bachelorabschluss in Germanistik an der Universität Ibadan zog er nach Deutschland, um an der Ludwig-Maximilians-Universität München einen Master in Deutsch als Fremdsprache zu absolvieren.
Sein Debütroman The Bodies That Move (deutscher Titel: Die Körper, die sich bewegen) war Finalist des Next Generation Indie Book Awards 2021 und Semifinalist des BookLife Prize 2021.
Seine Geschichten – auf Deutsch und Englisch – sind von der Einzigartigkeit des Alltags und dem Zusammenspiel verschiedener sozialer Gruppen inspiriert. Er lebt in München.
Für
Thomas Ezeviro Ngene
Kapitel Eins
Kapitel Zwei
Kapitel Drei
Kapitel Vier
Kapitel Fünf
Kapitel Sechs
Kapitel Sieben
I
Kapitel Acht
II
III
Kapitel Neun
Kapitel Zehn
IV
Kapitel Elf
V
VI
Kapitel Zwölf
Kapitel Dreizehn
VII
Kapitel Vierzehn
Kapitel Fünfzehn
VIII
IX
X
Kapitel Sechzehn
XI
XII
Kapitel Siebzehn
XIII
XIV
XV
XVI
Kapitel Achtzehn
Kapitel Neunzehn
XVII
Kapitel Zwanzig
XVIII
Kapitel Einundzwanzig
XIX
XX
Kapitel Zweiundzwanzig
Kapitel Dreiundzwanzig
Feyi verstand nur das letzte Wort. Doch es reichte aus, um ihre Aufmerksamkeit von dem Buch abzulenken, das sie gerade las.
„Wer ist gestorben?“
„Deine Oma in Deutschland“, wiederholte ihre Mutter und schaute weiterhin auf das Handy in ihrer Hand.
Der Ort war nicht wichtig. Das Wort Oma genügte, um zu wissen, um wen es ging und wo sie lebte. Ihre andere Großmutter, die Mutter ihres Vaters, war lange vor ihrer Geburt gestorben. Ihr Vater war selbst noch ein Kind gewesen, als er seine Mutter verlor. Und da es keine Fotos von ihr gab, wusste niemand, wie sie aussah – nicht einmal ihr Vater. Es war nicht viel über sie bekannt, außer dass sie Bäuerin war und die meiste Zeit ihres Lebens im Dorf verbracht hatte.
Mit den Gesichtszügen ihrer Großmutter mütterlicherseits hingegen war Feyi vertraut. Es gab nur ein einziges Schwarz-Weiß-Foto von ihr, das auf der zimtfarbenen Vitrine im Wohnzimmer stand. Darauf war ihr Blick auf etwas in weiter Ferne gerichtet. Etwas, das nur sie sehen konnte, während sie dem Betrachter ihr Profil präsentierte. Ihr Großvater blickte mit einem stoischen Gesichtsausdruck in die Kamera, die rechte Hand auf der Schulter seiner Frau ruhend. Im unteren Teil des Bildes stand links der Schriftzug Starnberg, 1949.
Feyi hatte sich oft gefragt, wie sie wohl in Farbe aussehen würde. Sie war brünett, so viel war auf dem Bild zu erkennen. Doch welche Schattierung ihre Haut hatte oder welche Farbe ihre Augen waren – das konnte das Bild nicht verraten.
„Wann ist sie gestorben?“
„Ich weiß es nicht.“
„War sie krank?“
„Ich weiß es nicht, Feyi. Deine Tante hat es in ihrer SMS nicht erwähnt. Ich werde sie anrufen, sobald ich etwas Zeit zum Telefonieren habe.“
Es lag keine Dringlichkeit in ihrer Stimme, als sie auf dem Sofa saß und ihr buntes Bubu zwischen den Beinen verschränkte. Nichts in ihrer Miene deutete darauf hin, dass sie ein geliebtes Familienmitglied verloren hatte. Sie fuhr sich mit der Hand durch die kurz geschnittenen Haare, deren blonde Wurzeln einen scharfen Kontrast zu den schwarzen Spitzen bildeten.
Doch was genau hatte Feyi erwartet? Die beiden Frauen hatten sich über die Jahre entfremdet. Eine Tatsache, die sich darin zeigte, dass ihre Mutter nie über ihre Großmutter sprach. Überhaupt sprach sie selten über ihr Leben in Deutsch-land. Seit ihrem Umzug nach Nigeria vor fast dreißig Jahren war sie nur ein einziges Mal nach Deutschland zurückgekehrt – zur Beerdigung ihres Vaters vor fünfzehn Jahren.
Die einzige Verwandte in Deutschland, zu der sie noch Kontakt pflegte, war ihre jüngere Schwester. Ihre Beziehung bestand hauptsächlich aus handgeschriebenen Weihnachtsund Geburtstagskarten. Als Feyi klein war, hatte ihre Tante ihr gelegentlich Pakete geschickt – Süßigkeiten, Puppen, Socken und Blusen, die für das nigerianische Klima meist zu warm waren. Nach dem Erhalt der Geschenke rief ihre Mutter am nächsten Tag immer in Deutschland an.
Alle hielten den Atem an, wenn sie die ungewöhnlich lange Nummer wählte, die mit einer Doppelnull begann. Das einzige hörbare Geräusch war das Klicken der Wählscheibe, wenn sie langsam in ihre Ausgangsposition zurückfederte. Auslandsgespräche zu führen war wie ein Gebet an die Götter – man wusste nie, ob eine Verbindung zustande kam und wenn ja, wie stabil sie sein würde.
„Es klingelt“, hatte sie dann gesagt, sobald sie das Freizeichen hörte. Und alle Anwesenden begannen wieder zu atmen.
Die Gespräche verliefen immer nach demselben Muster: Erst ein paar Minuten Höflichkeitsfloskeln und Small Talk über das Wetter – das in Nigeria immer schöner war als in Deutschland. Dann eine plötzliche Veränderung in der Stimme ihrer Mutter, die auf Hochdeutsch mit Feyi und ihrem Vater sprach, aber im Gespräch mit ihrer Schwester in einen abgerundeten bayerischen Dialekt fiel, der viele Buchstaben der Standardsprache überflüssig machte. Feyi fand, dass ihre Stimme dabei eine Oktave tiefer sank.
Nach den üblichen Höflichkeiten folgte dann stets: „Komm, Feyisola, sag deinem Tantchen Hallo. Und vergiss nicht, ihr für die Geschenke zu danken.“ Das sagte sie laut genug, damit die Frau am anderen Ende es hören konnte. Sobald Feyi den warmen Hörer an ihr Ohr drückte, flüsterte ihre Mutter ihr zu: „Mach es kurz. Du weißt doch, wie teuer Auslandsgespräche sind.“
Tante Claudias Fragen waren immer dieselben gewesen: War sie gut in der Schule? Hatte sie schon einen Freund?
Die Geschenke hörten auf, als sie siebzehn wurde. Ihre Tante musste gemerkt haben, dass Süßigkeiten und ungetragene Kleidung nicht mehr die idealen Geschenke für ein heranwachsendes Mädchen waren. Doch ihre Mutter hielt den Kontakt aufrecht, auch wenn ihr Verhältnis im Laufe der Jahre zunehmend angespannter wurde und sie sich nur noch in ernsten familiären Notfällen meldeten, wie jetzt.
Feyi war zwiegespalten, was ihre eigenen Gefühle anging. Die Wahrheit war, dass sie nichts empfand. Zugegeben, sie hatte ihre Oma nie kennengelernt – aber sollte sie nicht trotzdem einen Verlust spüren? Musste man jemanden gekannt haben, um ihn zu betrauern? Hatte sie nicht schon für Filmfiguren geweint? Wäre es dann zu viel verlangt, dasselbe für eine Verwandte zu tun, mit der sie eine genetische Ausstattung teilte?
Doch der Anblick ihrer Mutter, die die Verstorbene besser kannte als sie selbst, entlastete sie von jedem Schuldgefühl.
Später am Abend, als sie zu Abend aßen, erzählte Feyis Vater von seinen Patienten – wem es schlechter oder besser ging und wer neue, nicht identifizierbare Symptome zeigte. Ihre Mutter nickte aufmerksam, während sie die großen Fleischstücke zur Seite schob und den weißen Reis mit der roten Tomatensoße vermischte. Mit der linken Hand half sie einem Stück gebratener Kochbanane auf den Löffel.
„Weißt du, es könnte eine Meningokokken-Erkrankung sein, Tayo. Ich habe irgendwo gelesen, dass die Zahl der Fälle in Afrika südlich der Sahara zunimmt,“ sagte sie.
Das tat sie immer. Jedes Mal, wenn ihr Vater Schwierigkeiten hatte, eine Diagnose festzustellen, warf sie eine Krankheit ein, auf die sie beim Durchblättern seiner medizinischen Fachzeitschriften gestoßen war. Und ihr Vater sagte dann nachsichtig: „Weißt du, du könntest recht haben, Ursula.“
„Oma ist heute gestorben.“
Feyi war sich nicht sicher, warum sie es sagte. Doch, das war sie. Sie fühlte sich bei den Gesprächen ihrer Eltern oft ausgeschlossen. Sie wusste, dass sie sie liebten, aber manchmal schien es ihr, als vergäßen sie ihre Anwesenheit. Sie fühlte sich stets wie eine Dekoration in ihrer Beziehung, wie die Kirsche auf einer kunstvollen Torte, die auch ohne sie vollkommen aussah. Die beiden hatten eine Verbindung, die sie mit keinem von ihnen teilte.
Vor Kurzem hatte es eine Umfrage im Fernsehen gegeben. Der Interviewer stellte Passanten folgende Frage: Wenn Ihr Partner und Ihr Kind in einen Fluss fallen würden, wen würden Sie zuerst retten? Da sie mit sechsundzwanzig noch keines von beiden hatte, wusste Feyi nicht, wie sie diese Frage beantworten würde. Aber sie war sich sicher, dass sie die Antwort ihrer Eltern kannte. Es war gut, dass sie schwimmen konnte.
„Ja, das habe ich gehört,“ antwortete ihr Vater.
„Wir wissen immer noch nicht, wann sie gestorben ist,“ sagte ihre Mutter mit einem leichten Stirnrunzeln.
Es wirkte, als würde ihre Mutter lieber über nicht diagnostizierbare Krankheiten sprechen als über den Tod ihrer eigenen Mutter. Feyi schaute ihren Vater an, in der Hoffnung, auf seinem Gesicht einen Anflug von Interesse an dem Thema zu sehen. Doch er zeigte keinen. Er zupfte leicht an seiner Brille und fuhr mit seinem Besteck über das elfenbeinfarbene Porzellan, während seine Augen auf das Essen vor ihm gerichtet blieben. Es war, als würde er bewusst vermeiden, seinen Blick zu heben, aus Angst, in eine Diskussion verwickelt zu werden.
Als Kind hatte Feyi ihren Vater vergöttert. Er war sanft zu ihr und erhob nie die Stimme. Während ihre Freunde von strengen Vätern erzählten, die sie anschrien oder mit Rohrstöcken, Pantoffeln oder Gürteln bestraften, konnte Feyi nur zuhören und Mitleid zeigen. Sie hatte nie irgendeine Form harter Disziplinierung durch ihren Vater erlebt. Ihre Freunde waren einhellig der Meinung, dass dies daran lag, dass er durch seinen Aufenthalt in Europa und seine Ehe mit einer deutschen Frau milder geworden war. Jeder wusste, dass Weiße ihre Kinder nicht schlugen.
Feyi erwähnte nicht, dass die wenigen Male, die sie einen Klaps auf den Hintern bekommen hatte, von ihrer Mutter – der weißen Frau – gekommen waren und nicht von ihrem Vater. Sie verschwieg es, weil sie das Gefühl genoss, die Besondere zu sein. Diejenige, die von Strenge unberührt blieb. Als Kind war es schön, einen Vater zu haben, der einem alles erlaubte. Doch als junge Frau begann sie sich zu fragen, ob sie mit einem Mann hätte glücklich werden können, der ihr nie widersprach.
Sie hatte nie erlebt, dass sich ihre Eltern stritten oder zankten, und hatte immer geglaubt, dass ihre unerschütterliche Liebe der Grund dafür war. Doch zunehmend fragte sie sich, ob nicht vielmehr die Abneigung ihres Vaters gegen Konflikte aller Art die wahre Erklärung für die Ruhe in ihrer Beziehung war. Ein wenig Streit und Herausforderung wären doch nicht schlecht gewesen. Manchmal wäre es gut gewesen, sich mit unangenehmen Themen auseinanderzusetzen – wie dem Tod der eigenen Mutter. Aber andererseits war es wahrscheinlich genau seine Sanftmut, die ihre Mutter dazu gebracht hatte, sich für ihn zu entscheiden.
Sie hatten sich, so erzählte ihre Mutter gerne, an der Universitätsklinik in München kennengelernt. Ihr Vater – ein angehender Arzt, ihre Mutter – Sekretärin des Verwaltungsleiters. Er war ihr gleich an seinem ersten Arbeitstag aufgefallen. Der einzige Schwarze in einem weißen Kittel – im Deutschland der Siebzigerjahre ein seltener Anblick. Da er zu schüchtern war, den ersten Schritt zu machen, hatte sie ihn um ein Date gebeten.
Er widersprach dieser Version. Er sei nicht schüchtern gewesen, betonte er. Seine Zurückhaltung habe auf gesundem Menschenverstand beruht: Es sei unklug gewesen, eine ernsthafte Beziehung mit einer deutschen Frau einzugehen, da er immer die Absicht gehabt habe, nach Nigeria zurückzukehren. Sein Plan war es gewesen, mit seinem Medizinstudium in der Heimat mehr Menschen zu helfen als in Deutschland. Umso mehr habe er sich gefreut, dass seine Freundin bereit gewesen sei, mit ihm nach Nigeria zu gehen und eine Familie zu gründen.
„Die sind so schön saftig,“ sagte ihre Mutter, während sie einen Rosenapfel in der Hand drehte. Dann biss sie in die rosafarbene Frucht mit der dünnen, glitzernden Schale. „Und die Orangen sind auch fast reif für den Abwurf.“
Ihr Vater grunzte zustimmend und nahm sich eine Frucht. Nur wenige Dinge bereiteten ihrer Mutter so viel Freude wie der kräftige Orangenbaum im Vorgarten und der etwas kleinere Rosenapfelbaum im Hinterhof. Wenn das Wetter es zuließ, stellte sie die schmiedeeisernen Gartenmöbel unter den Orangenbaum und verbrachte dort jede freie Minute. Sie legte den Kopf in den Nacken, sog den Zitrusduft ein und stieß einen langen, zufriedenen Seufzer aus.
Der Orangenbaum und seine Äste spendeten ihr zwar Schatten und frischen Orangensaft, aber das war nichts im Vergleich zu den exotischen Rosenäpfeln, von denen sie sich bis an ihr Lebensende hätte ernähren können. Abgesehen davon, dass sie sie als schnellen Snack oder als Salatbeilage benutzte, kochte sie daraus gerne Marmelade – eine Tätigkeit, auf die sie sich viel zugutehielt, zum Leidwesen aller anderen. Denn soweit Feyi wusste, war ihre Mutter die Einzige in Nigeria, die Marmelade aus Rosenäpfeln herstellte. Alle anderen verzehrten sie in ihrem natürlichen Zustand.
Nach Stunden des Einweichens, Kochens, Pürierens und Passierens wurde Feyi mit der nicht gerade angenehmen Aufgabe betraut, die Gläser zu den Nachbarn zu bringen, die die Geschenke mit einem gezwungenen Lächeln und vorgetäuschter Wertschätzung entgegennahmen.
„Sag deiner Mutter Danke“, sagten sie zwischen zusammengebissenen Zähnen.
Die einzige Person, die so mutig war, das Geschenk ihrer Mutter abzulehnen, war Tante Kemi – die Schwester ihres Vaters. Sie sagte zu ihrer Mutter: „Iyawo wa, bitte gib mir die Früchte so, wie sie an den Bäumen wachsen. Mach dir nicht die Mühe, sie in ein Instrument der Diarrhöe zu verwandeln.“
Später, als sie nach dem Abendessen das Geschirr spülten, wandte sich ihre Mutter an sie und fragte:
„Und was macht die Arbeit?“
„Gut.“
„Wie geht es Herrn Bamtefa? Siehst du ihn oft?“
Herr Bamtefa war der Inhaber einer der größten und renommiertesten Wirtschaftsprüfungsgesellschaften des Landes. Er war ein Jugendfreund ihres Vaters und hatte Feyi nach dem Studium bei seiner Firma angestellt.
„Nein, eigentlich nicht. Er ist fast nie im Büro. Ich glaube, er ist im Moment außer Landes.“
„Wir sollten ihn und seine Frau zum Essen einladen“, sagte sie, während sie das Geschirr mit einem Küchentuch abtupfte. „Weißt du, er ist wirklich zufrieden mit deiner Arbeit. Das hat er deinem Vater auch gesagt. Wenn du so weitermachst, schaffst du es bis zur Abteilungsleitung, bevor du dreißig wirst.“
„Das wäre schön.“
Sie hielt das für eine angemessene Antwort. Die Wahrheit war, dass sie nicht wusste, wo sie mit dreißig sein wollte. Ihre Zukunft schien in einem Wolkendickicht zu stecken. Sie ließ sich von den Wolken treiben, wohin sie wollten, denn sie hatte selbst keine eigene Richtung.
Sie hatte ein gutes Leben, dessen war sie sich sicher, und sie war dankbar dafür. Aber wie feine Fäden aus verschlungenen Fasern waren kleine Fragezeichen in ihr bequemes Leben eingeflochten, die um Antworten baten, ohne zu verraten, wonach sie fragten.
„Das hätte ich fast vergessen. Edem war hier“, sagte ihre Mutter, während sie die Küchenspüle wischte.
„Wann?“
„Heute Morgen, als du bei der Arbeit warst.“
„Warum hat er mich nicht angerufen?“
„Er sagte, er wollte dich überraschen.“
Feyi hatte ihren besten Freund seit fast einem Jahr nicht gesehen, seit er nach Abuja gezogen war. Dennoch blieben sie in Kontakt. Ihre Gespräche drehten sich meist darum, wie sehr er die Stadt hasste. Dort wimmelte es nur so von Politikern und von Leuten, die auf die eine oder andere Weise mit ihnen verbunden waren, meinte er. Was hatte er erwartet?
Seitdem das Militär vor knapp über einem Jahr die Macht an eine Zivilregierung übergeben hatte, war das Land – und insbesondere die Hauptstadt – von einem Hauch Hoffnung umgeben. Mit dieser Hoffnung kam jedoch auch eine Schar neuer und alter Politiker, die sich in der aufkeimenden Demokratie mehr Freiheit und Privilegien erhofften.
Während die Politiker ihre Pläne schmiedeten, gewöhnten sich die meisten Nigerianer nur langsam an das neue System. Man flüsterte immer noch, wenn man über die Regierung sprach. Man wechselte die Straßenseite, sobald einem eine uniformierte Person entgegenkam.
Diese Unsicherheit erklärte sich Feyi damit, dass die Menschen die Beständigkeit dieses Wechsels in Zweifel zogen. Immerhin war dies bereits der vierte Versuch, ein demokratisches System im Land zu etablieren – bisherige Bemühungen waren immer wieder durch Putsche gescheitert. Niemand wollte sich falsche Hoffnungen machen.
Feyi erinnerte sich an ihr letztes Telefonat mit Edem.
„Aber was hast du erwartet? Du bist ja in der Hauptstadt“, sagte Feyi.
„Ich weiß. Aber hier dreht sich jede Diskussion um irgendeinen Senator oder Minister. Die Menschen definieren sich über ihre Nähe zur politischen Macht.“
„Das ist hier in Lagos auch nicht anders.“
„Doch. Die Menschen in Lagos sind klug und aufgeklärt. In Abuja gibt es nur Idioten, deren Erfolg von irgendwelchen Regierungsaufträgen abhängt.“
„Heißt das, du bleibst nicht lange dort?“
„Ich arbeite bereits daran, zurück nach Lagos versetzt zu werden.“
Sie fragte sich, ob seine Versetzung endlich durchgesetzt worden war oder ob er nur zu Besuch war.
Sie schaute auf die Tischuhr auf dem Küchentisch. Es war fast neun Uhr. Er wohnte vier Häuser weiter. Sie hätte nur ein paar Minuten gebraucht. Sie war sich sicher, dass Edem nichts dagegen gehabt hätte, wenn sie zu ihm gegangen wäre, aber seine Eltern würden einen späten Besuch vielleicht nicht gutheißen – nicht einmal von jemandem, den sie seit Jahren kannten.
Als hätte sie ihre Gedanken gelesen, sagte ihre Mutter:
„Du kannst morgen früh zu ihm gehen. Es ist Samstag, da wird er sicher zu Hause sein.“
„Du hast recht“, sagte Feyi und wischte sich die Hände an einem Küchentuch ab.
Als Feyi bei Edem ankam, war er gerade dabei, den Volvo seines Vaters zu waschen. Das Tor war angelehnt, sodass sie nicht klopfen musste. Sein Rücken war ihr zugewandt, als er mit harten, aber gleichmäßigen Handbewegungen die Stoßstange schrubbte. Er trug eine kurze olivgrüne Khakihose, ein weißes ärmelloses T-Shirt und Flip-Flops. Sie beobachtete, wie die schaumige Flüssigkeit über das blaue Metall kroch, sich ihren Weg zu den unteren Teilen des Wagens bahnte und schließlich auf den mit bernsteinfarbenem Sand bedeckten Boden tropfte.
„Ein Anwalt bei einer internationalen Ölfirma und er wäscht immer noch das Auto seines Vaters.“
Edem drehte sich um und sah zu ihr auf. Sie sah, wie sich ihr eigenes Lächeln langsam auf seinem Gesicht widerspiegelte.
„Ich denke, du solltest das wiederholen. Und dieses Mal etwas lauter, damit mein Vater dich hört. Der Mann denkt, ich sei immer noch vierzehn.“
Er richtete sich auf, die Scheuerbürste in der Hand, seine Brille mit Tröpfchen bedeckt. Die Brille war die einzige Konstante in seiner Erscheinung, seit sie sich vor all den Jahren kennengelernt hatten. Während seine Stimme tiefer, seine Schultern breiter wurden und sein vorpubertäres Gesicht seine Glätte an grobe Haare verlor, blieb die Brille. Auch wenn sie sich alle paar Jahre in Form, Dioptrien und Farbe veränderte, war sie immer da und vermittelte eine gewisse Vertrautheit inmitten der vielen Veränderungen, die sein Gesicht durchmachte.
„Ich würde dich ja umarmen, aber ich will nicht, dass du nass wirst“, sagte er und breitete seine Arme aus, um ihr sein nasses T-Shirt zu zeigen.
„Warum hast du mir nicht gesagt, dass du kommst?“, fragte Feyi, während sie einen Plastikstuhl an ihn heranzog und sich daraufsetzte. Die paar weißen Schaumspritzer, die auf sie fielen, als Edem die Reifen weiter schrubbte, störten sie nicht.
„Aber dann wäre es ja keine Überraschung.“
„Und, bist du endgültig zurück?“
„Nein, ich habe nur ein paar Wochen Urlaub genommen. Ich musste mal weg von all diesen überheblichen Possenreißern dort.“
Edem konnte herablassend sein, wenn er es wollte. Er teilte die Menschen in zwei Gruppen ein – aufgeklärt und unaufgeklärt. Die Einteilung in eine der beiden Gruppen hing einzig und allein von der Fähigkeit ab, Themen zu begreifen, die er für wichtig hielt. Aber das störte Feyi nicht, denn ihr gegenüber war er immer freundlich, warmherzig und lustig. Und sie fühlte sich dadurch besonders, denn wenn er mit ihr befreundet war, dann hieß es, dass er sie für „aufgeklärt“ hielt.
Sie unterhielten sich über ihre jeweiligen Jobs – über nervige Kollegen und unfähige Chefs – während er das Auto weiter reinigte. Als er fertig war, ging er ins Haus und zog einen Esszimmerstuhl hervor, in der Hand eine Schale mit Erdnüssen. Es war fast Mittag, aber die Hitze war noch erträglich.
„Also, was gibt’s?“
Feyi erzählte ihm vom Tod ihrer Großmutter und der offensichtlichen Gleichgültigkeit ihrer Mutter dem gegenüber.
„Menschen trauern auf unterschiedliche Weise. Nur weil sie nicht jammert oder sich auf den Boden wirft, heißt das nicht, dass sie keinen Schmerz empfindet.“
„Aber was nützt es, zu trauern, wenn die Menschen um einen herum nicht merken, dass man trauert? Wenn sie nicht einmal ihre eigene Mutter beweinen kann, dann –“ Feyi unterbrach sich.
„Dann würde sie auch nicht um dich trauern, wenn dir etwas zustößt“, beendete Edem ihre Gedanken.
Edem war der Einzige, der sie verstand. Er sah durch den Nebel, der ihre verschlungenen Gedanken- und Gefühlsfäden umhüllte. Sobald er die lästigen Fäden gefunden hatte, brachte er sie langsam wieder in Ordnung. Die Stränge, die zusammengehörten, schürzte er zusammen. Die, die er für überflüssig hielt, warf er weg. Am Ende blieb ein Gedankenteppich aus gleichmäßigen Fasern und Fäden, zwar aus unterschiedlichen Farbtönen, aber kohärent. Etwas, mit dem sie arbeiten konnte.
„Du weißt, dass das nichts mit dir zu tun hat? Die komplizierte Beziehung deiner Mutter zu deiner Großmutter spiegelt nicht ihre Beziehung zu dir wider“, beteuerte er.
„Ich wünschte nur, ich wüsste, was zwischen den beiden vorgefallen ist.“
„Hast du sie nie gefragt?“
„Nicht direkt. Als ich klein war, habe ich sie über meine Großeltern und ihr Leben in Deutschland ausgefragt. Ihre Antworten waren immer halbherzig und oberflächlich.“
„Es ist wahrscheinlich nichts Dramatisches. Familien streiten sich, und sie versöhnen sich wieder, manchmal eben nicht. Ich würde mir an deiner Stelle nicht zu viele Gedanken darüber machen.“ Er streckte Feyi die Schale mit Erdnüssen entgegen.
„Du hast recht.“
„Übrigens, rate mal, wen ich neulich in Abuja getroffen habe?“
Edem und Feyi hatten nur wenige Freunde gemeinsam, sodass es vergebliche Mühe war, zu erraten, wen er damit meinte.
„Wen?“
Edem ließ sich Zeit. Nachdem er die zweite Erdnuss in seinen Mund geworfen hatte, sagte er: „Olivia.“
„Unsere Olivia?“ Das erste Wort klang falsch. Denn sie war schon seit Jahren nicht mehr ihre Olivia gewesen.
„Sie ist jetzt verheiratet. Mit einem Senator. Als Zweitfrau.“ Die letzte Information wurde von einem schiefen Lächeln begleitet.
„Das hat sie dir erzählt? Wie habt ihr euch getroffen?“
Edem war an einem internationalen Projekt beteiligt, das von einem Senator vorangetrieben wurde. Der laute, rüpelhafte Senator – bereits in den Siebzigern – suchte immer nach Wegen, die Jugend und Schönheit seiner neuen Frau in jedes Gespräch einzuflechten, indem er über die Festigkeit bestimmter Körperteile sprach. Um den Wahrheitsgehalt seiner Worte zu beweisen, hatte er seine neue Frau zu einer der Besprechungen mitgebracht – Olivia.
„Als sie mich endlich erkannte, hätte sie vor Scham im Boden versinken können. Sobald das Treffen vorbei war, stürzte sie praktisch hinaus. Sie tat mir echt leid.“
„Wie hat sie denn ausgesehen?“, fragte Feyi.
„Wie die Frau eines Senators – teuer und unglücklich.“
Feyi erinnerte sich an den Tag, an dem sie Olivia zum ersten Mal getroffen hatte. Sie erinnerte sich daran, weil es auch derselbe Tag war, an dem sie Edem kennengelernt hatte.
*
Sie waren gerade erst in die Nachbarschaft gezogen, und ihre Mutter, besorgt, dass sie keinen Anschluss finden würde, freute sich überaus, als Feyi zur Geburtstagsparty der Tochter des neuen Nachbarn eingeladen wurde. Doch ihre Freude verwandelte sich langsam in Sorge. Ihre Ängste konzentrierten sich auf drei Dinge: Was sollte Feyi anziehen? Welches Geschenk war für das Geburtstagskind angemessen? Und vor allem – was sollte sie selbst anziehen?
„Ich will nicht, dass sie einen falschen Eindruck von mir bekommen.“
Was sie damit meinte, war, dass sie nicht als hochmütig oder eingebildet wahrgenommen werden wollte. Ihre Mutter war regelrecht besessen davon, wie sie von anderen Nigerianern, insbesondere von nigerianischen Frauen, gesehen wurde. Um dem Etikett der hochnäsigen weißen Frau zu entgehen, lächelte sie ein bisschen mehr, als sie eigentlich wollte, und gab für Geschenke mehr aus, als nötig gewesen wäre.
Nach Tagen des Bangens und lauter Selbstgespräche entschied sie sich schließlich für ein knielanges Kleid für Feyi – ein weißes Kleid mit großen, bunten Kreisen darauf. Das Geburtstagskind bekam eine lebensgroße Puppe und einen Satz Buntstifte. Für sich selbst wählte sie eine Bluse mit farbenfrohem Muster, eine enganliegende blaue Hose und braune Ledersandalen.
Obwohl die Party laut Einladung um zwei Uhr nachmittags beginnen sollte, schlug ihr Vater vor, mit dem Besuch zu warten, bis die Feier tatsächlich losging. Alle paar Minuten schlich ihre Mutter auf Zehenspitzen zum Zaun und legte ihr Ohr an die hohe Betonmauer, in der Hoffnung, ein Zeichen für den richtigen Zeitpunkt zu erhaschen – vielleicht ein sanftes Echo von Musik, das durch die Mauern drang. Doch das Einzige, was sie und alle anderen in der Nachbarschaft wahrnahmen, war der Duft von stark gewürztem Jollof-Reis und gebratenem Rindfleisch, vermischt mit dem trockenen, rauchigen Geruch von brennendem Feuerholz.
Die Familie, die die Feier ausrichtete, hatte eigens eine Kuh gekauft. Das Tier hatte, als ob es sein Schicksal geahnt hätte, die ganze Nacht über gemuht. Doch sein Schrei verstummte in dem Moment, als das Feuerholz zu knacken begann und weißer Rauch aus dem Haus aufstieg.
Als die Party um vier Uhr nachmittags endlich losging, brauchte ihre Mutter nicht mehr zum Zaun zu schleichen. Die schrille Musik, die aus den Lautsprechern dröhnte, ließ keinen Zweifel daran, dass die Feier nun in vollem Gange war.
Zur Sicherheit warteten Feyi und ihre Mutter noch ein paar Minuten, bevor sie sich auf den Weg zum Nachbarhaus machten.