Als es noch Abenteu(r)er gab - Bertrand Michael Buchmann - E-Book

Als es noch Abenteu(r)er gab E-Book

Bertrand Michael Buchmann

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Beschreibung

Das Buch über den Abenteurer Wilhelm Bolts schickt die Leser auf eine Zeitreise ins 18. Jahrhundert: Die Gepflogenheiten des Wiener Hofes, die zerbröckelnde Mogulherrschaft in Indien und der wachsende Einfluss der Briten auf die Weltpolitik bilden die Bühne für die Lebensgeschichte und die Handelsaktivitäten des mutigen und gerissenen Geschäftsmannes. Bolts war gebildet und vor allem sprachbegabt, was dem selbstbewussten Unternehmer mit großem Verhandlungsgeschick immer neue Möglichkeiten im seinerzeit wachsenden Seehandel zwischen Europa und Asien eröffnete. Begünstigt wurden seine Handelsaktivitäten von den damaligen Kolonialisierungsbestrebungen, andererseits durchkreuzten internationale Auseinandersetzungen und Kriege wiederholt seine kaufmännischen Erfolge.

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Seitenzahl: 202

Veröffentlichungsjahr: 2023

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IMPRESSUM

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2023 novum publishing

ISBN Printausgabe: 978-3-99131-815-6

ISBN e-book: 978-3-99131-816-3

Lektorat: Birgit Himmüller

Umschlaggestaltung & -fotos: Mag. Bernhard Kollmann, Kollmanndesign

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

Innenabbildungen: siehe Bildunterschriften

www.novumverlag.com

DANKSAGUNG

an Frau Regina Bauer vom novum Verlag für die umsichtige Autorenbetreuung;

an Frau Mag. Wilma Buchinger für die mühevolle Arbeit des Korrekturlesens;

an Frau Dr. Martina Wallisch-Lehner für das Auffinden von Quellen und ihre Beratung in allen nautischen Fragen;

an Herrn Mag. Bernhard Kollmann für die Cover-Gestaltung und für die Rekonstruktion des Schiffsbildes nach alten Skizzen.

EINLEITUNG

Wenn wir das abenteuerliche Leben von Wilhelm Bolts (1738-1808) aus gegenwärtiger Sicht beleuchten, so tauchen wir in fremde Welten ein, die heute, nach einem Vierteljahrtausend vielfach unverständlich erscheinen. Weder können wir uns ein Indien unter der zerbröckelnden Mogulherrschaft und dem zunehmend drückenden Einfluss der Briten vorstellen, noch sind uns die Gepflogenheiten des Wiener Hofes und der österreichischen Bürokratie vor zweieinhalb Jahrhunderten vertraut; gänzlich ungläubig stehen wir den Fährnissen einer Schifffahrt im 18. Jahrhundert gegenüber, die quer über die Weltmeere führte und oft viele Monate dauerte.

So kann aus der Lebensgeschichte eines einzelnen ebenso mutigen wie gerissenen Geschäftsmannes auf jene Strukturen und Alltagserfahrungen geschlossen werden, die sich nicht nur in London, Wien, Triest und Livorno, sondern auch in Moçambique und insbesondere in Kalkutta und Benares (Varanasi) abgespielt haben. Aus dem Hintergrund werfen weltpolitische Ereignisse wie der Siebenjährige Krieg (1757–1763) und der amerikanische Unabhängigkeitskrieg (1775–1783) ihre Schatten auf das Erleben der Menschen von damals.

1. WER WAR WILHELM BOLTS?

Wilhelm Boltswurde am 7. Februar 1738 in Amsterdam geboren, war also von Geburt Niederländer. Seine Eltern, Sarah und Wilhelm Bolts, stammen aus Heidelberg, daher gab er sich bisweilen auch als Deutscher aus, obwohl er diese Sprache nicht beherrschte: Alle späteren Korrespondenzen mit dem Wiener Hof erfolgten auf Französisch. Niederländisch war jedenfalls seine Muttersprache. Mit 12 Jahren kam er nach England, sodass er sich später als von deutschen Eltern geborener Engländer (mit englischem Vornamen William) bezeichnete. Von 1753 bis 1754 arbeitete Wilhelm als Lehrling in einem Kaufmannsbüro, anschließend als Angestellter in der Lissabonner Niederlassung eines britischen Handelshauses, wo er sich hauptsächlich mit dem Diamantenhandel befasste. Beeindruckend ist seine Sprachbegabung, denn binnen Kurzem beherrschte er neben seiner Muttersprache auch Englisch, Portugiesisch und Französisch perfekt in Wort und Schrift, später erlernte er auch Bengali und Persisch sowie in Rudimenten sogar Suaheli. In Lissabon wurde Bolts Augenzeuge einer der schlimmsten Naturkatastrophen der Geschichte: Das Erdbeben vom Allerheiligentag, dem 1. November 1755, und der anschließende Tsunami zerstörten mehr als die Hälfte der Stadt; 30.000 von den 110.000 Einwohnern fanden den Tod. (Die Erdbebenwellen waren sogar in Wien bemerkbar, als während des Gottesdienstes im Wiener Stephansdom die Kronleuchter zu schwingen begannen, was sich damals niemand erklären konnte.). Von Bolts existiert keine Erzählung über das Geschehen, wie er es sah und wie er überlebte. Sein Hab und Gut verlor er allerdings. Vielleicht festigten sich in ihm gerade dadurch seine Abenteuerlust und die Gewissheit seiner eigenen Unantastbarkeit selbst bei größter Gefahr.

Was wissen wir von der Persönlichkeit Wilhelms? Eine treffende, wenn auch wenig schmeichelnde Personenbeschreibung gab Erzherzog-Großherzog Leopold von Toskana 1775 (der spätere Kaiser Leopold II.) ab:„Er ist ein Mann von unendlichem Talent, großer Aktivität und Lokalkenntnis der Sprachen und des Indienhandels, […] ein geschickter, kühner Unternehmer, aber ich glaube abenteuerlustig, schwärmerisch und von dem, was er darlegt und dasselbe schreibt, weder wahrheitsliebend noch aufrichtig. […] Ich glaube, alle seine Wege dienen nur seinem eigenen Interesse.“1Damit ist über ihn eigentlich alles gesagt: hochbegabt, gewandt im Umgang mit Fürsten, mit großem Verhandlungsgeschick ausgestattet, sehr selbstbewusst, phantasiereich und nicht immer aufrichtig. Dass ihn sein subjektives Rechtsempfinden bisweilen zu einem wahren Michael Kohlhaas werden ließ, wird noch zu zeigen sein. Bemerkenswert ist jedenfalls seine Akribie, mit der er alle ihn betreffenden Verträge, Zahlungen und Bilanzen festhielt und penibel aufbewahrte.

Im November 1759 heuerte Wilhelm Bolts bei der britischen East India Company (EIC) an. Er war erst 25 Jahre alt, als er im Sommer 1760 in Kalkutta landete. Über die Geschäfte von Bolts sind wir – vor allem durch seinen Briefwechsel mit der Kompanie2 – besser unterrichtet als über sein Privatleben. Bekannt ist, dass er am 11. Februar 1764 die blutjungeAnn Astonheiratete. Er war 29 Jahre alt, sie angeblich erst 12 (aber in Indien heirateten die Frauen sehr früh). Über die Eltern der Braut wissen wir nichts, gewiss waren sie Briten. Die Ehe wurde in der St. John’s Chapel in Kalkutta geschlossen (die Kirche stand in den Ruinen des alten Forts William und wurde 1787 abgebrochen). Wenn die Jahresangaben stimmen, so starb Ann 1821 mit 69 Jahren in Chandernagore (Chandannagar; Stadt am Hugli-Ufer, 35 km nördl. von Kalkutta). Aus der Ehe stammt ein Sohn, John Carel Bolts, der allerdings noch vor seiner Mutter und nur ein Jahr nach seinem Vater schon 1809 starb. Er muss der Stammvater einer großen Familie gewesen sein, denn anno 1908 gab es in Bengalen 25 Nachkommen von Bolts.

Wilhelm und Ann dürften nach ihrer Hochzeit nur zwei ungestörte Ehejahre miteinander verbracht haben, und zwar in Benares (Varanasi), wohin Bolts sich 1764 versetzen ließ. Sein inzwischen offen ausgetragener Zwist mit dem EIC-Gouverneur von Bengalen (ausführlich siehe unten) führte zu einer bizarren Begebenheit: Als dieser Bolts aufforderte, nach Kalkutta zurückzukehren und Bolts sich weigerte, wurde Ann auf Befehl der EIC von einem gewissen Isaac Sage entführt und in einer Art Wohnwagen in die „Heilige Stadt“ Patna am Ganges (200 km östl. Benares) gebracht. In einem wütenden Brief vom 6. November 1766, den ihr vielleicht Bolts sogar selbst diktiert hatte, klagt sie, wie ihr als unschuldigem Opfer der Hausfrieden zerstört worden wäre.3Nach diesem Schreiben verliert sich für einige Jahre die Spur von Ann. Es ist nicht bekannt, ob sie dann nach Bolts’ Rückkehr wieder zu ihm kam und ob sie bis zu seiner erzwungenen Abreise im September 1768 bei ihm geblieben war. Jedenfalls monierte Bolts, dass er durch seine Verhaftung und gewaltsame Einschiffung nach Europa „von seiner Familie“ getrennt worden wäre. Neun Jahre sahen einander die Eheleute nicht. Erst nachdem Bolts 1777 als „Generaldirektor der kaiserlichen asiatisch-Triestiner Handelskompanie“ sowie als „Oberstleutnant im Dienste der kaiserlichen Majestäten“ nach Indien zurückkehrte, wird Ann als seine Begleiterin genannt und genoss mit ihm die Gastfreundschaft des französischen Konsuls in Surat, Monsieur Anquetil de Briancourt. Ob dieses Wiedersehen auf wenige Tage beschränkt blieb oder ob Ann ihren Gemahl noch mehrmals auf seinen ausgedehnten Fahrten begleitete, ist nicht bekannt. Spätestens 1781 trennten sich Wilhelm und Ann abermals und für immer. Wovon lebten Ann und ihr Sohn? Unterstützten sie ihre Eltern? Oder hinterließ ihnen Bolts ein entsprechendes Kapital? Wir wissen es nicht. Bolts machte auch als Direktor der „Societé Impériale pour le Commerce Asiatique de Trieste et d’Anvers“ keine Anstalten, selbst noch einmal nach Indien zu fahren. Er hatte seinen Wohnsitz in Triest aufgeschlagen, reiste aber unstet zwischen Wien, Livorno, London, Paris, Antwerpen, Stockholm und Göteborg hin und her. Vielleicht hatte er in Paris versucht, ein neues Unternehmen zu gründen, das sich vermutlich abermals – so wie die gescheiterte österreichische Handelskompanie – als Konkurrent zur Britischen Ostindien-Kompanie positionieren sollte.4Doch der Krieg zwischen Frankreich und England (seit 1793) machte alle Handelsgeschäfte hinfällig: Zweimal vernichtete Englands Admiral Horatio Nelson (1758-1805) die französische Flotte. Erstmals 1802 bei Abukir, das zweite Mal 1805 bei Trafalgar. Damit waren die britische Seeherrschaft und ihr Seeweg nach Indien gesichert. Gegen die überwältigende Macht der britischen Flotte, welche alle französischen Häfen blockierte und französische, aber auch neutrale Handelsschiffe kaperte, kam keine andere Nation auf. Als Napoleon 1806 die Kontinentalsperre verkündete, förderte er zwar in den europäischen Staaten die Substitutionswirtschaft (Eigenproduktion statt Import), blockierte aber den Seehandel. Unter solchen Rahmenbedingungen hätte ein französisches, von Bolts geleitetes Schifffahrtsunternehmen keine Chance gehabt.

Die Schreckensjahre der Französischen Revolution (1793-1794) dürfte Wilhelm Bolts außerhalb Frankreichs verbracht haben. Von 1800 bis 1801 weilte er in England, danach in Lissabon und ab 1805 in Paris. Dort starb er „völlig verarmt“ am 8. April 1808 in einem Krankenhaus. Er hatte ein für die damalige Zeit beachtliches Alter von 70 Jahren erreicht, was angesichts seiner gefährlichen Reisen in ungesunden Klimazonen für seine unverwüstliche Konstitution spricht. Seine Biografie verdient Beachtung, auch wenn er als Geschäftsmann und Unternehmer scheiterte. Zu seiner Zeit erregte er bisweilen großes Aufsehen, aber die Historiografie würdigt ihn heute bestenfalls als Fußnote. Gleichwohl schuf er mit seiner ethnografisch-historischen Beschreibung von Indien („Gegenwärtiger Zustand von Bengalen“, siehe unten) auch Bleibendes.

1 Franz von Pollack-Parnau: „Eine österreichisch-ostindische Handelscompagnie 1775-1785“ Ein Beitrag zur österreichischen Wirtschaftsgeschichte unter Maria Theresia und Joseph II., Stuttgart 1927, S. 19 f. (Original in französischer Sprache).

2 Abgedruckt bei: N. L. Hallward: „A Dutch Adventurer under John Company“ Cambridge 1920 (N.D. 2015) (jeweils übersetzt vom Verfasser).

3 Hallward a. a. O. S. 39 ff.

4 Hallward a. a. O. S. 201 f.

2. INNERE ZUSTÄNDE INDIENS IM 18. JAHRHUNDERT

Unter dem Begriff „Ostindien“ verstand man lange Zeit alle Länder Asiens östlich von Iran und südlich von Tibet; sie erhielten diese sehr unpräzise Bezeichnung als Gegensatz zu den von Kolumbus entdeckten „Westindischen Inseln“; zur genaueren Definition unterschied man dann „Vorderindien“, das Land südlich des Himalaya, östlich des Indus und westlich des Ganges–Brahmaputra-Deltas von dem im Osten gelegenen „Hinterindien“, zu dem auch China zählte. Im ausgehenden 18. Jahrhundert siedelten in Vorderindien bereits geschätzte 150 Millionen Menschen verschiedenster Ethnien, Sprachen und Religionen. Die Mehrzahl bildeten die Hindus – der Buddhismus war in seinem eigentlichen Mutterland schon im 7. Jahrhundert bedeutungslos geworden. Da um die Jahrtausendwende der indische Subkontinent in verschiedene Regionalreiche aufgeteilt war, gelang es immer wieder moslemischen Fürsten in das Land einzufallen und sich der sagenhaften Reichtümer zu bemächtigen. Mit der Errichtung des Sultanats von Delhi um 1200 (Dynastie der Rajputen) begann die fünfhundertjährige islamische Herrschaft über Nordindien, wobei der territorialen Zersplitterung Indiens nicht Einhalt geboten werden konnte. Mit dem Ansturm der Mongolen unterTimur Lenk(Tamerlan 1336-1405) brach 1398 das Sultanat von Delhi zusammen.Babur(1483-1530),ein Nachfahre Timur Lenks, begründete die mongolische Dynastie der „Moguln“ und schuf ab 1526 ein zusammenhängendes Kaiserreich, dem sich die meisten Maharadschas – oft gegen fürstliche Belohnung – unterstellten. Ein Großteil der Maharadschas bekannte sich zum Hinduismus, es gab aber auch Moslems unter ihnen. Großmogul (Kaiser)Akbar(1556-1605) übte sich in religiöser Toleranz, um die Machtstellung der Moslems trotz ihrer zahlenmäßigen Unterlegenheit (nur etwa ein Achtel der Bevölkerung) zu sichern. Von einem seiner Nachfolger,Schah Jahan(1628-1658), stammt mit dem Taj Mahal (in Agra) das großartigste kulturelle Zeugnis jener Zeit. Dessen SohnAurangzeb(1658-1707) war allerdings ein religiöser Eiferer: In seiner rücksichtslosen Islamisierungspolitik ließ er Tausende Hinduheiligtümer zerstören, während er gewaltsam bis zum äußersten Süden Indiens vordrang. Doch dabei überdehnte er seine Macht, weil Revolten der kriegerischen Sikh (im Pandschab) sowie Feldzüge gegen die nicht minder kriegerischen Rajputen (heutiger Bundesstaat Rajasthan) und Marathen (heutiger Bundesstaat Maharashtra) die Finanzkraft des Reiches derart erschöpften, dass sich nach seinem Tod neue lokale Machtzentren bilden konnten. Den großen Umsturz brachte dann der persische Schah und HeerführerNadir Schah(1688-1747): Er eroberte und plünderte im Jahr 1736 Delhi, brannte die meisten Wohnstätten nieder und ermordete einen Großteil der Einwohner. Auch ließ er den berühmten Pfauenthron und den Koh-i-Noor-Diamanten nach Persien bringen. Damit endete die unumschränkte Herrschaft der einst als unbesiegbar geltenden Moguln. Fortan fristeten sie nur mehr ein Schattendasein. Was ihnen blieb, war der großherrliche Titel, eine Pension und die Oberlehensherrschaft über die lokalen Machthaber. Das einstige Gesamtreich blieb zwar dem Namen nach bestehen, doch glich es nur mehr einem lockeren Staatenbund, in dem Anarchie und Empörung auf der Tagesordnung standen. Es begann ein eineinhalb Jahrhunderte währender allgemeiner Kriegszustand, in dem sich die lokalen Fürsten gegenseitig zerfleischten.

Delhi, Rotes Fort. Palastfestung der Mogulkaiser. Foto Buchmann 1983

Die Masse der Bevölkerung Indiens hat die fast tausendjährige Knechtschaft unter fremden Eroberern groß im Dulden und Harren gemacht und hat ihr jede Hoffnung auf eine selbstständige Verbesserung des Daseins und Linderung des Leidens genommen. Aber sie hielt mit bewundernswerter Zähigkeit an ihrem alten Glauben fest und wehrte sich nicht gegen die Unfreiheit, die ihr das religiös begründete Kastenwesen aufzwang. Der durchschnittliche Inder lebte in seiner Götterwelt, er arbeitete hart, aber ineffizient, fristete sein Dasein und hoffte schicksalsergeben auf ein besseres nächstes Leben. Der Zeitzeuge Wilhelm Bolts gibt in seiner authentischen, zwar polemischen, aber zugleich wertvollen historisch-ethnografischen Darstellung „Gegenwärtiger Zustand von Bengalen“ folgende Beschreibung:5„Es gibt vielleicht kein Volk der Welt, das mit so viel Duldsamkeit, Mut und Unerschrockenheit die großen Drückungen erlitten hat wie die Inder. Die Strenge und die Martern, die sie sich zur Büßung ihrer Sünden aus frommem Religionseifer freiwillig auferlegten, sind unglaublich. Zuweilen sterben sie lieber unter der Folter und lassen sich zerstückeln, als dass sie ihre verborgenen Schätze anzeigen und dadurch ihre Familien in Armut versetzen. Selbst die Frauen, die von der Welt getrennt einsam leben, […] geben Proben von Heldenmut und Unerschrockenheit […] und weihen sich freiwillig [?] dem schmerzhaften Tode: Sie verbrennen sich lebendig auf dem Grabhügel ihres Gatten. […] Alle Provinzen Bengalens schmachten unter dem Elend der Unterdrückung. […] Gesetze und Gerechtigkeit werden in diesem Lande verkannt, und die unglücklichen Inder finden nirgends einen Zufluchtsort. Sonder Zweifel würden die Ackersleute und Manufakturisten, die den größten Teil der Einwohner ausmachen, sich gern einer Regierung unterwerfen, die sie mit einiger Menschlichkeit behandelt und ihnen ein ruhiges Leben für die Früchte ihrer Arbeiten verschaffte.“

Spätestens bei dieser Situationsschilderung erhebt sich die Frage, warum sich die Entwicklung Indiens so sehr von jener Europas unterschied. Denn es gab auch Gemeinsamkeiten: Beide Subkontinente waren in viele einzelne Reiche geteilt, die jeweils danach trachteten, sich auf Kosten der anderen mit militärischen Mitteln zu vergrößern; beide waren in konfessioneller Hinsicht gespalten, in beiden tobten blutige Religionskriege (z. B. Europa: Dreißigjähriger Krieg 1618-1648, Indien: Glaubensfanatismus des oben erwähnten Aurangzep 1658-1707), in beiden Regionen waren die Bauern damals noch großteils unfrei und litten unter der Abgabenlast, die ihnen in Europa die Grundherren, in Indien die Steuerpächter abverlangten, in beiden gab es ein blühendes Handwerk auf hohem Niveau und einen blühenden Handel. Aber es gab auch entscheidende gegensätzliche Entwicklungen: Das abendländische Gesellschaftssystem ermöglichte selten aber doch den sozialen Aufstieg, das indische Kastenwesen hingegen, dem alle Hindus (nicht hingegen Moslems, Sikhs und andere religiöse Minderheiten) unterworfen sind, ist gesellschaftlich absolut undurchlässig. Die Erlösung finden die Hindus, die an den Kreislauf der Wiedergeburten (Samsara) gebunden sind, erst in der vollkommenen Auslöschung, die abendländischen Christen hingegen finden die Erlösung nach nur einmaligem Leben bei Gott. Gute Werke sind bei den Hindus Voraussetzung für ein besseres Dasein im nächsten Leben (gutes Karma), im Abendland haben wohl auch die guten Werke ihren Stellenwert, seit Martin Luther (1483-1546) aber vor allem der Glaube, und seit der Neuzeit hat das protestantische Arbeitsethos einen Wandel in der Mentalität hervorgerufen: „Arbeit ist gleich Gottesdienst“. Das führt zu einer anderen Lebenseinstellung: Der Europäer will etwas leisten, er will „brennen“, der Inder hingegen will „verlöschen“. Nichtsdestoweniger brachte die indische Kultur großartige Leistungen in Literatur, Baukunst und Mathematik hervor, Leistungen, die sich mit zeitgleichen Errungenschaften in Europa durchaus messen können. In einigen Bereichen eilte Europa den Indern jedoch voraus: Seit Beginn der Neuzeit förderten manche europäischen Herrscher die Bildung des Volkes durch Gründung von Schulen und Universitäten (allgemeine Schulpflicht in Österreich 1774, in Indien erst 2009). In den europäischen Städten genossen die Bürger schon seit dem Mittelalter ein gewisses Maß an Rechtssicherheit und Eigentumsgarantie (durch die von den Bürgern gewählten Stadtrichter und Bürgermeister), sodass sie vor unrechtmäßigem Zugriff des Landesherrn oder des Adels geschützt waren; dadurch konnte sich eine wohlhabende bürgerliche Unternehmerschicht (Patrizier) bilden, welche das Zeitalter der Erfindungen und Entdeckungen einleitete. Auch in Indien gab es Handelsbürger (Marvani-Kaste), denen beispielsweise der schwungvolle Karawanenhandel entlang der Seidenstraße zu großem Reichtum verhalf – ihre prachtvollen Wohnhäuser (Havelis) finden in Europa nicht ihresgleichen. Manche Kaufleute kommandierten sogar ganze Handelsimperien, wie Mullah Abdul Ghafur aus Surat, der im beginnenden 18. Jahrhundert mit seiner aus 17 Schiffen bestehenden Flotte einen schwunghaften Handel zwischen Mokka (Al Moucha, heutiges Jemen) und Manila (Philippinen) betrieb. Nur gelang den Indern kein Absprung zu jener Phase der Erfindungen und Entdeckungen, die das Abendland so mächtig gemacht haben. Vielleicht fehlte ihnen die Neugierde eines Galileo Galilei (1564-1642), wohl war auch das gesellschaftliche und soziale Umfeld nicht dazu angetan. In Europa sorgte sich der Staat um eine Verbesserung von Infrastruktur und Wirtschaft. Bahnbrechend wirkte der französische Staatsmann Jean-Baptiste Colbert (1619-1683), der mit der Einrichtung des Merkantilismus das erste staatlich gelenkte Wirtschaftssystem schuf; andere europäische Staaten folgten alsbald diesem Beispiel. Schon in der Frühneuzeit haben die Gedankengänge des Humanismus das menschliche Individuum in den Mittelpunkt der Betrachtung gestellt und die Trennung von Kirche und Staat gefordert. Konsequent fortgedacht führte dies im 18. Jahrhundert zur Aufklärung, der größten geistigen Errungenschaft der Menschheit – so sagen zumindest die Europäer. Denn eine Aufklärung hat es ausschließlich in Europa gegeben, in Indien wäre sie undenkbar gewesen, denn sie hätte die Weltordnung der Brahmanen und das Kastenwesen zertrümmert. In China stünde einer Aufklärung der Geist des Konfuzianismus entgegen.

Wie die Geschichte sich weiter entwickelte, ist nicht mehr Gegenstand dieser Erzählung, denn Wilhelm Bolts lebte im Zeitalter des aufgeklärten Absolutismus; nur so viel sei über den Fortgang der Geschichte nach ihm gesagt: Der Merkantilismus mit dem (korruptionsanfälligen) System von Privilegien und Monopolen wurde gegen Ende des 18. Jahrhunderts vom Physiokratismus abgelöst: Nun wurde der Rückzug des Staates aus dem Wirtschaftsleben gefordert, sodass sich die Wirtschaftstreibenden selbstständig entwickeln konnten und die Industrielle Revolution, den berühmten „take off“, einleiteten. Dieser Vorgang ist in der Weltgeschichte einzigartig und konnte nur in Europa stattfinden. In Indien baute die britische East India Company seit 1764 einen Territorialbesitz auf (siehe unten) und machte sich nach und nach zur Herrin ganz Indiens; die „Pax Britannica“ bescherte der von den vielen Kriegen leidgeprüften Bevölkerung eine Phase innerer Erholung. 1857 wurde das Mogulreich formell aufgehoben und der britischen Krone unterstellt. Es ist bemerkenswert, dass die Britenherrschaft in der indischen Kultur und Gesellschaft keine Spuren hinterlassen hat; denn die Briten haben zwar aus Profitgründen die Infrastruktur ausgebaut, aber nicht in das innere Gefüge des Landes eingegriffen, sie unternahmen auch keine Missionsversuche. Nach dem Prinzip „divide et impera“ spielten sie die Maharadschas gegeneinander aus und diese ließen sich aus purem Adelsegoismus von den Briten kaufen. Angesichts der rivalisierenden Teilfürstentümer konnte sich vor dem 20. Jahrhundert kein indisches Nationalgefühl bilden.

Indiens Hilflosigkeit gegenüber ausländischen Mächten wie den Mongolen, Persern und Afghanen und zuletzt den europäischen Handelskompanien begründet Wilhelm Bolts folgendermaßen:6„Indostan legte sich seit undenklichen Zeiten auf den Ackerbau und Manufakturen, die hier zu einem hohen Grad an Vollkommenheit stiegen. Hierdurch wurde es auf eine unglaubliche Art reich und bevölkert. Aber da dies unermessliche Land den Handel mit fremden Nationen vernachlässigte, war es in einer Menge von Dingen unwissend, die viel zu seiner Glückseligkeit würden beigetragen haben. Und weil es sich nicht auf Schifffahrt und Künste legte, so wurde es nie so mächtig, sich von den Anfällen seiner Feinde in Sicherheit zu bringen. […]“

Das Hauptübel von Indiens Rückständigkeit gegenüber Europa sieht Wilhelm Bolts in der unglücklichen Einrichtung der Steuerpacht und in der alle Sparten des Lebens durchdringenden Korruption. Das indische System war derart kompliziert, dass es ein Außenstehender kaum durchschauen konnte. Als Angestellter der Britischen Ostindien-Kompanie und selbstständiger Handelsmann hatte Bolts jedoch einen tieferen Einblick in die inneren Verhältnisse des Landes gewonnen:7„Vor der großen Umwerfung des Landes [1736] gehörten alle Einkünfte dem Kaiser [Großmogul], ausgenommen von denjenigen Distrikten, die einige Großen des Hofes als Nutzung bekommen hatten –Jagueerdarswurden solche Leute genannt – oder welche zu frommen Stiftungen bestimmt waren. Der Mogul verpachtete die Einnahmen der Einkünfte vom Überrest des Landes. Diejenigen, denen er diesen Posten auftrug, hießen Oberaufseher, Pächter der Einkünfte, Statthalter usw. Man ordnete sie in verschiedene Klassen, als inRajahs, Soubabs, Nazims, Nabobs, Zemindarsusw. Sie ermangelten nicht, beständig mehr einzunehmen als ihnen bestimmt war. Dessen ungeachtet taten dem die Offiziere desDewanoder Generaleinnehmer der kaiserlichen Einkünfte nicht Einhalt, solange sie die Summen, die in den Kornregistern der Provinz auferlegt waren, ordentlich bezahlten und den Dewans oder anderen großen Bedienten am Hofe Geschenke machten, um sie in ihr Interesse zu ziehen.Rajahssind Prinzen, welche von den alten heimischen Königen abstammen. Die Moguln, welche entweder nach den Grundsätzen der Billigkeit oder der Politik immer Ehrerbietung von ihnen hatten, ließen sie und ihre Familien ihre Distrikte als Erbbesitzungen genießen. Aber in den letzten Jahren haben sie sich doch das Recht angemaßt, neue Rajahs zu ernennen […]. Einige Rajahs von uraltem Stamme besitzen noch dieselbe Würde in den Gegenden, welche unter der Herrschaft der britischen Kompanie stehen. DieZemindarsund die Statthalter der Provinzen, die manSoubabs,NabobsoderNazimsnennt, sind die Pächter. […]

Es gibt noch eine geringere Art von Pächtern, die ihre Ländereien von der Regierung haben. Man nennt sieChowdris, TalootdarsundEmaundars. Sie müssen von den Einkünften ihrer Ländereien den Obereigentümern Rechnung ablegen. Die großen und kleinen Pächter vermieten ihre Ländereien wieder an Unterpächter. Diese Unterpächter überlassen sie wieder vermittelst einer gewissen Summe denRyotsoder armen Arbeitern und Manufakturisten. […]

Bauernhaus im Dekkan. Foto Buchmann 1994

Man setzt in jedem Distrikt eineKutschereyoder einen Hof, der zu der Eintreibung der Abgaben beordert ist, ein. Und wenn die Bezahlung der Ryots ausbleibt, so werden sie mit viel Grausamkeit und Strenge bestraft.“Immerhin war es üblich, dass die Nabobs den kleinen Pächtern Kredite gewährten, um die unterste Gattung der Landarbeiter zu schützen: Mit diesem Geld wurde Vieh gekauft oder es wurden Bewässerungskanäle angelegt, andernfalls hätten die Äcker oft gar nicht bestellt werden können.

Indiens Unglück begann, so Bolts, nicht erst seit der Einflussnahme europäischer Handelskompanien, sondern mit der Zerschlagung des Mogulreiches durch (den oben erwähnten)Nadir Schahanno 1736, denn dieNabobsoderSoubabs,ehemalige Provinzstatthalter, nutzten den Niedergang der Mogulherrschaft, indem sie sich selbstständig machten, sich dabei nicht um die alten Erbrechte derRajahsundZemindarskümmerten und die königliche Gewalt über ihre Distrikte usurpierten. Diesen von Bolts beschriebenen Zustand machten sich die rivalisierenden europäischen Mächte – vornehmlich Großbritannien und Frankreich – zunutze, indem sie die lokalen Machthaber gegeneinander ausspielten.

5 Wilhelm Bolts: Gegenwärtiger Zustand von Bengalen. Aus dem Französischen mit Anmerkungen und Zusätzen von S. In zweyen Theilen. Leipzig 1780, S. 15, S. 25.

6 Bolts a. a. O. S. 2.

7 Bolts a. a. O. S. 255 ff.

3. HANDELSKOMPANIEN

Der Portugiese Vasco da Gama (1468-1524) landete 1498 als erster europäischer Seefahrer in Indien, bei seiner zweiten Seereise gründete er 1502 in Cochin an der Malabarküste eine Faktorei; binnen weniger Jahre folgte ein Netz weiterer Faktoreien, das fortan die Schifffahrt vom Persischen Golf bis zur malaiischen Halbinsel Malakka kontrollierte. Lissabon hatte ein Seereich im Indischen Ozean aufgebaut. Da die Portugiesen aber ihr Hauptaugenmerk auf den Handel und nur in geringem Maße auf den Territorialbesitz legten (Goa bis 1961 portugiesisch), konnten sie sich nicht auf Dauer gegen die 1602 gegründeteVereinigte Niederländische Ostindien-Kompaniedurchsetzen; diese machte das 1619 gegründete Küstenfort Batavia (Jakarta) zu ihrem asiatischen Hauptstützpunkt. Eineinhalb Jahrhunderte später verdrängte die britischeEast India Company(EIC) die Niederländer. Die EIC baute 1612 ihre erste Niederlassung in Surat (240 km nördl. von Bombay) auf, nachdem dort zuvor ein portugiesisches Geschwader vom britischen Kapitän Thomas Best besiegt worden war. Es folgten englische Niederlassungen in Madras (1639), Bombay [Mumbai] (1668) und Kalkutta (1690), nach und nach entstand eine Linie von Stützpunkten entlang der gesamten Küste.

Das Kernelement der britischen (und der anderen europäischen) Handelsvertretungen in Indien bildeten dieFaktoreien,wo einheimische Güter (vor allem Pfeffer, Tee, Baumwolle und Seide) erworben und Importe aus dem europäischen Mutterland verkauft werden konnten. An wichtigen Orten wurden die Faktoreien sogar zu Festungen ausgebaut, andernorts bildeten sie schlichte Warenlager. Jeden dieser Umschlagplätze leitete ein Faktor als Angestellter der Kompanie. Bald gaben die Faktoreien selbst Produktionsaufträge an einheimische Produzenten, gewährten auch Kredite und vermittelten neue Produktionstechniken, sodass sich im Umkreis solcher Faktoreien zahlreiche heimische Manufakturbetriebe niederließen. Allerdings diktierten die Faktoreien auch die Preise und schufen Abhängigkeitsverhältnisse, denen sich die ortsansässige Bevölkerung nicht mehr entziehen konnte (siehe unten).

Unter den Auspizien des französischen Finanzministers Colbert (siehe oben) wurde 1764 die „Compagnie des Indes Orientales“