Als hätten Funken die Nacht erhellt - Doris Jannausch - E-Book
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Als hätten Funken die Nacht erhellt E-Book

Doris Jannausch

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Beschreibung

Die Bretter, die die Welt bedeuten zu erobern, ist noch immer Franziskas großer Lebenstraum. In Hamburg wollte sie eigentlich ein Engagement bekommen, der Ostzone entrinnen und im Westen neu anfangen. Doch dieses Vorhaben fällt ins Wasser und Franziskas Einfallsreichtum, was aufgefallene Nebenjobs angeht, wird herausgefordert: Als »Taxigirl« animiert sie die Männer auf der Hamburger Reeperbahn. Nach ihrem abenteuerlichen Ausflug in den Westen erhält sie schließlich doch einen langfristigen Vertrag beim Theater. Schnell stellt Franziska fest: Um sich durchzusetzen, braucht man nur eines, nämlich Talent. Wird Franziska es schaffen, sich zu behaupten? Doris Jannausch knüpft mit ihrem Roman an die Erfolge von »Als hätten die Engel im Sande gespielt« und »Als hätte der Teufel die Karten gemischt« an.

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Doris Jannausch

Als hätten Funkendie Nacht erhellt

Roman

Wir alle kehren nur dahin zurück,wo wir schon einmal waren.Wir alle laufen im Kreis – lebenslänglich.

Für meine Weggefährten,die treuen und die unbeständigen,denn sie sind ein Teil meines Lebens.

Eine Nacht in Hamburg

Franziska sollte »Umsatz machen«, das Tanzlokal hieß »Moulin Rouge«, und nichts daran erinnerte an eine Mühle oder gar an Paris. Was das »Rouge« betraf, nun ja: rosagedämpftes Licht und Plüschambiente taten alles, um schwüle Atmosphäre vorzutäuschen. Das war nötig, um die Männer zahlungswilliger zu machen. Wer hierher kam, in eines der Lokale auf der Reeperbahn, der steckte den Ehering in die Tasche und wollte etwas erleben.

Außer den Damen an der Bar engagierte man dazu »Taxigirls«. Das waren Mädchen, die mit den Männern tanzten, ihnen einheizten und sie zum Trinken animierten.

Seit vier Stunden war Franziska nun also Taxigirl.

Der junge Mann an ihrem Tisch war Musikstudent, hatte kein Geld, war wie ein gestrandeter Vogel in diesen teuren Käfig geflattert und sprach über Anton Bruckner. Seit Stunden unterhielten sie sich über Musik. Sie fühlten einander seelenverwandt, hatten hier nichts zu suchen, aber verloren so manches. Doch sie redeten ausschließlich darüber, ob und wieweit Wagner die Musik Bruckners beeinflusst hatte, und ob die Instrumente …

Die dicke, schwarzhaarige Chefin eilte heran. Lange schon hatte sie Franziska vergeblich mit Blicken Zeichen gemacht, den unliebsamen Gast abzuschieben. Dieses Mädchen passte sowieso nicht hierher, fand sie, doch vielleicht konnte man aus ihr was machen. In dem blauen, hochgeschlossenen Kleid gab sie ja einen guten Kontrast zu den anderen Mädchen mit den nackten Schultern ab; sie war nicht die erste junge Schauspielerin, die versuchte, in solchen Etablissements ein paar Mark zu verdienen, bis ein Engagement in Sicht war. Eine meist aussichtslose Sache.

»Hören Sie, Darling«, die Freundlichkeit der Chefin wirkte unecht wie die Klunker, die sie um den üppigen Hals trug, »Sie sollten den traurigen Herrn da aufheitern und mit ihm tanzen. Wie wär’s mit einer Flasche Champagner, damit Sie beide in Stimmung kommen?«

Der junge Mann sah Franziska ratlos an.

»Zweihundertzwanzig Mark«, sagte sie leise.

Er wurde blass, was man sogar in der rosaroten Beleuchtung sehen konnte.

»Zwei Glas Wein«, sagte Franziska schnell, »auf meine Rechnung.«

In Gedanken überschlug sie ihre eiserne Reserve und ihr wurde heiß vor Schreck. »Vorläufig«, fügte sie hinzu, denn sie hätte alles getan, den netten Jungen am Gehen zu hindern, aus Angst, dieser scheußlichen Umgebung allein ausgeliefert zu sein.

Die Chefin zog kopfschüttelnd ab, übergab die Bestellung einem Mädchen an der Bar.

»Danke«, sagte der Student, »das geht noch auf meine Rechnung.«

»Wir teilen«, schlug Franziska unerschrocken vor.

Er nahm an.

Sie war nach Hamburg gekommen, um einem Agenten vorzusprechen, in der Hoffnung, ein Engagement zu bekommen: im Westen neu anzufangen, der Ostzone entronnen, wo alles kaputtgegangen war. Der Agent hatte interessiert zugehört, dann schwer geseufzt und gesagt: »Sie mögen eine Perle sein für ein Theater, doch, bestimmt vielseitig, vom Klassischen über Boulevard bis zur Operette –, aber was soll ich tun? Die Spielzeit hat längst begonnen, die Vakanzen sind besetzt.«

»Vielleicht fürs nächste Jahr?«

»Und was machen Sie bis dahin?«

»Synchron, Rundfunk, Reportagen schreiben, ich bin nicht nur gelernte Schauspielerin, auch Dramaturgin, und als Reporterin …«

Er unterbrach sie: »Haben Sie gute Verbindungen? Wenn Sie irgendwo einsteigen wollen, brauchen Sie natürlich eine Empfehlung.«

Wenn einer aus der Ostzone kam, war er fremd in Städten wie Hamburg.

»Lassen Sie Ihre Adresse da«, sagte der Agent höflich, »falls sich irgendwas ergibt.«

Eine feste Adresse hatte Franziska zurzeit nicht; alle bisherigen Verbindungen existierten nicht mehr. Sie war aufgebrochen zu neuen Ufern. Wieder einmal war ihre Welt untergegangen. Diesmal brauchte sich die große Politik nicht erst zu bemühen, um Chaos zu stiften, diesmal hatte sie es ganz alleine geschafft.

Um drei Uhr nachts gesellte Franziska sich an der Bar zu den anderen Mädchen. Die Gäste waren gegangen. Die jungen Frauen musterten das Mädchen im blauen Kleid mit spöttischer Nachsicht und machten anzügliche Bemerkungen, weil es noch nie passiert war, dass eine von ihnen Geld für einen Gast ausgegeben hatte, statt umgekehrt. Alle waren sie gut eingearbeitet, auf das Nachtleben eingespielt, sie glichen schillernden Faltern, doch jetzt, da ihr Dienst zu Ende war, ließen sie die müden Flügel hängen: verschmierte Wimperntusche, Ringe unter den Augen.

Grundhonorar war zwölf Mark für eine Nacht. Zusätzlich die Prozente für Getränke, das waren bei den hohen Preisen oft einige Hundert Mark. Den meisten Männern saßen die Scheine locker in den Taschen, sie waren froh, dem trostlosen Einerlei eines bemüht-verlorenen Ehelebens entronnen zu sein.

»Zwölf Mark.« Die Chefin warf das Geld auf die Theke, sah Franziska kopfschüttelnd an. »Das lohnt gar nicht für eine ganze Nacht. Morgen muss das anders werden.«

»Morgen komme ich nicht mehr«, sagte Franziska und verließ das »Moulin Rouge«.

Eigentlich hatte sie bei einem Kollegen übernachten wollen, bei Achim Kipka, der in Hamburg wohnte und ihr den Agenten empfohlen hatte. Doch der gute Kipka war kurzfristig nach Rostock engagiert worden, also wieder zurück nach dem Osten, und nun saß sie da und wusste nicht wohin. Eine misstrauische Nachbarin hatte sie über Achim informiert, sah Franziskas Enttäuschung und meinte achselzuckend: »In Hamburg kann man immer Geld verdienen, irgendwie. Gehn Sie doch mal zur Reeperbahn.«

Die Reeperbahn kannte sie bisher nur von Ufa-Filmen und Liedern, die Hans Albers sang. Sie dachte: Reeperbahn ist nicht schlecht für den Übergang. Ich könnte vielleicht dort rezitieren, moderieren, Chansons singen, Noten befanden sich in der geschulterten Reisetasche, ja – Reeperbahn!

Doch dort brauchten sie Taxigirls, sonst nichts. So war das gekommen.

Die letzten Lichter in den Nachtlokalen gingen aus. Die Schlepper vor den Türen, die auch gute Rauswerfer waren, meist baumlange, starke Muskelprotze, verließen ihre Plätze und stiegen in die Autos, nahmen noch einige Bardamen mit und Taxigirls. (»Ich fahr’ ja bei dir vorbei, liegt auf dem Weg!«) Man hielt zusammen in dem schweren Job.

Franziska ging zur U-Bahn. Das Geld reichte nicht für ein Hotel, nicht mal für eine billige Pension. Es reichte auch nicht für eine Bahnfahrt nach – ja, wohin eigentlich? Nun war die Nacht dunkel. Der vergnügungssüchtige Westen ruhte aus. Die U-Bahn fuhr noch nicht. Am Horizont, über den Häuserdächern, lag ein heller Streifen, der allmählich breiter wurde, wie rotes Gold.

»Hallo.« Ein Auto fuhr vorbei, streifte sie fast, der Mann, ein Nachzügler, hatte das Fenster heruntergekurbelt und hielt. »Wollen Sie einsteigen?« Er sah Franziskas entsetztes Gesicht, murmelte eine Entschuldigung und fuhr weiter.

Eine Art Betäubung überfiel Franziska wie eine Narkose. Tiefer unten kannst du nicht mehr sein, sagte sie sich, wie bin ich da nur hineingerutscht?

Sie setzte sich auf eine Bank in dem kleinen Park vor der U-Bahn. Die Hamburger Nacht war nun ganz still. Franziska lehnte sich zurück und schloss die Augen.

Vier Jahre war es nun her, dass sie mit dem Rucksack auf dem Rücken nach Dresden gekommen war, vertrieben aus Böhmen, entschlossen, innerhalb der Ruinen ein Theater zu finden, in dem sie spielen konnte. Damals teilte sie das Schicksal vieler Menschen, die nach dem Krieg ohne Zuhause waren, ausgebombt oder heimatvertrieben. – Doch dann waren einige Wunder geschehen, schon am ersten Tag, als der alte Theaterdirektor sie an sein kleines Theater engagierte. Alles verlief einigermaßen geordnet. Der Agent, der sie in die kleine Stadt in Sachsen schickte, wo sie spielen durfte und wo sie Jan Kupelius kennenlernte. Ein Schritt nach vorn: gemeinsam nach Greifswald engagiert zu werden. Eine hübsche Universitätsstadt mit einem zauberhaften Theater, das aussah, als hätte es ein feinsinniger Landesvater zu seiner und seines Hofstaates Freude erbauen lassen.

Schöne Rollen, nicht viele, aber doch erfolgreiche.

Von der Währungsreform, die sie im Zug nach Berlin überraschte, erholten sie sich nur langsam, Jan und sie. Ihr Zimmer zur Untermiete war winzig. Oft trafen sie dort Freunde und Kollegen, die Franziskas Kartoffelsalat lobten, und Jan erklärte immer wieder mit stolzgeschwellter Brust: Er habe es nicht schlecht getroffen mit seinem Mädchen, das zwar äußerst vergesslich war, sonst aber energiegeladen und zielstrebig, egal, ob es sich um den Kartoffelsalat oder eine Rolle handelte. Auch schrieb Franziska Artikel für die Zeitung, Glossen und Feuilletons, während Jan das jeweilige Programmheft gestaltete. Zu Weihnachten verlobten sie sich, das war nun neun Monate her. Zwar passte diese altmodische Art einer vorehelichen Verbindung längst nicht mehr in diese neue Zeit, die Kollegen machten sich lustig, aber Jan und Franziska wollten es so. Den Spöttern zum Trotz gestalteten sie den Abend feierlich. – Der Kachelofen strömte Wärme aus. Beide hatten sich »in Schale« geworfen: Jan in einen Smoking aus dem Fundus, Franziska in ein türkisfarbenes langes Kleid, das sie sich aus Resten hatte nähen lassen und immer anzog, wenn auf der Bühne ein Abendfummel verlangt wurde.

Jan hatte tatsächlich zwei Ringe gekauft, ganz dünn und schmal, aus Silber, die steckten sie sich gegenseitig an den Finger. Dann tranken sie Nikolaschka – den Schnaps mit der Zitronenscheibe am Glasrand und einer schwimmenden Kaffeebohne – und aßen Kartoffelsalat.

Franziska hatte Spitzbuben gebacken, wie sie zur Weihnachtszeit in ihrer Heimat üblich waren – weiter reichte ihr Backrepertoire sowieso nicht –, mit Hingabe bestrich sie die Kekse mit Marmelade, klebte sie aufeinander und stellte sie auf den Tisch, mit Zucker bestäubt. Der ständig hungrige Jan griff begeistert zu – und hätte sich fast einen Zahn ausgebissen. Doch er verzog keine Miene. Seine Augen schmunzelten hinter der Brille, er sah Franziska beifällig an, nickte den Plätzchen zu und sagte: »Toll – gezuckerte Steine!« Höflich fragend: »Vom Ostseestrand?«

»Ist eigentlich nur was für junge Männer mit guten Zähnen«, gab sie schnippisch zurück und dann mussten sie beide lachen.

An diesem Abend ging Franziska als Letzte ins Bad, quer durch das riesige, immer etwas muffig riechende Wohnzimmer der Wirtin, lief nochmals zurück, sah, wie Jan genussvoll ins Bett schlüpfte und sie rief ihm ängstlich zu: »Nicht einschlafen, nicht einschlafen!« Er versprach es. Sie beeilte sich mit dem Waschen und dem Zähneputzen, kam zurück. Er lag auf dem schmalen Sofa, der einzigen Liegestatt, die ihnen zur Verfügung stand und die sich Schutz suchend an den mächtigen Schreibtisch kuschelte, der fast die Hälfte des Zimmers einnahm. Natürlich: Jan war eingeschlafen.

»Mein Verlobungsabend«, seufzte Franziska, sah ihm noch eine Weile beim Schlafen zu und legte sich neben ihn. Wenn sie morgens aufwachte, oft war es noch dunkel vor dem Fenster, saß er schon am Schreibtisch, die Lampe fürsorglich abgedeckt.

»Jan, so früh …«

»Schlaf weiter, schlaf weiter!« Nur ein Gewisper.

»Wir sind nie zur gleichen Zeit wach.«

»Doch, jetzt.«

»Aber nicht im Bett!«

Er kam um den Schreibtisch herum, kniete sich vor das niedrige Sofa, beugte sich über sie, nahm ihren Kopf zwischen seine Hände, sein Ausdruck war weich vor Zärtlichkeit. »Wie klein dein Gesicht ist, wenn du schläfst. Wie – wie ein Brembrötchen.«

»Wie was?« Sie kam aus dem Traum zurück. Am Morgen schlief sie so schnell ein wie er am Abend.

»Ein Brembrötchen.«

»Was ist denn das, um Himmels willen?«

»Ein Hefewecken. Schmeckt wunderbar.«

Das war seine Art von Liebeserklärung.

Das war Glück mit Jan.

Nebeneinander im Bett liegen, das kleine Radio auf dem Tisch: »Prager Frühling« hören oder die Festspieleröffnung in Bayreuth oder ein beliebiges Konzert. Kleine, kaum wahrnehmbare Bewegungen des Körpers bei besonders eingehenden Motiven, im selben Augenblick Musik trinken.

Das war Glück mit Jan.

Am Bodden entlangwandern, vorbei an der Ruine Eldena, am Horizont die Ostsee in der Sonne. Nach Hause kommen und Kakao trinken. Ina Schneider erwarten, die junge, dunkelhaarige, langbeinige Schauspielerin, die so ganz anders war als Franziska und wiederum doch ähnlich. Gemeinsam Platten hören, die Dietrich singt: »Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt«, und Ina, vollbusig und sehr sexy, umgarnt den attraktiven Tristan Schlaghuber, der leider unbegabt ist und schwul, doch aussieht wie Dorian Gray. Sie proben, spielen und amüsieren sich, verstehen sich alle vier.

Wie schön war das Leben.

Fast wäre Franziska auf der Bank eingeschlafen. Sie fröstelte. Der warme Mantel befand sich im Koffer. Der Koffer stand in Garderlegen, bei Tante Liesl, von wo aus sie mit der Mutter »nach dem Westen« gestartet war. Sie wollte alles hinter sich lassen: die roten Fahnen, die Spruchbänderparolen, Stalins Bild an allen Ecken – und die Erinnerung an Jan.

Die U-Bahn kam, Franziska stieg ein und fuhr zur Endstation. Müde Gestalten im trostlos-trüben Licht, versprengte Nachtfalter, ausgelaugt. Ich sehe aus wie sie, dachte Franziska. Noch immer war diese Erstarrung in ihr, sie zwang sich, einen Entschluss zu fassen.

Vielleicht – nein, ganz sicher! – wäre alles anders verlaufen, hätten sie das freundliche Greifswald nicht verlassen. Erst Jan, dann Franziska. Der Ruf kam aus G., der kleinen Stadt in Sachsen. Dort war Lukas Rilke inzwischen ein recht erfolgreicher Intendant geworden. Er konnte seinem Freund Jan nicht verzeihen, dass er mit Franziska davongezogen war, einfach fort, alle beide, die doch in seinem Leben eine wichtige Rolle gespielt hatten. Vor allem sein Freund Jan. Im Krieg waren sie zusammen gewesen, widerwillig, als Soldaten, sie hatten Stücke geschrieben und gespielt für die armen Kerle an der Front, zu denen sie auch gehörten, hatten sich geschworen, einander nicht aus den Augen zu verlieren: Wer nach der Apokalypse zuerst Fuß fasst, holt den anderen nach! So war es auch gewesen, bis Franziska auftauchte und die Freundschaft einen Riss bekam.

Nun wollte Lukas Rilke den Freund wieder um sich haben.

Im Wagen der U-Bahn saß nur noch ein älterer Mann mit spärlichem Haar. Er setzte sich neben Franziska, löste Kreuzworträtsel und nahm keinerlei Notiz von ihr. Vielleicht bin ich unsichtbar geworden, dachte sie, überhaupt nicht mehr vorhanden, in ein Nichts gefallen, und kein Mensch sieht mich und fragt nach mir. Da sie aber Selbstmitleid hasste und sich in solchen Augenblicken kritisch beobachtete, unterdrückte sie diese Anwandlung ihres angeknacksten Egos. Gern hätte sie den Mann gefragt, wie weit es noch bis zur Endstation sei, ihr schien es, als wären sie bereits Stunden in diesem trostlosen Wagen unterwegs. Stationen wurden aufgerufen, dann ging es weiter durch schwarze Tunnel, aus denen die Bahn auftauchte, wie ein U-Boot aus dem Wasser. Die Sonne war aufgegangen und warf goldenes Licht über die Gegend.

Die Sehnsucht nach Jan löste einen so heftigen Schmerz aus, dass es ihr den Atem nahm. Sie hatte den Wunsch, auf der Stelle zu sterben.

Das dramatische Ende ihrer Beziehung begann nach einer Probe, und zunächst deutete nichts darauf hin.

Die Schauspieler waren an diesem Tag besonders übermütig, vor allem die kleine Gruppe, die sich hinter der Bühne zusammengefunden hatte: Der Regisseur Jochen Großmann, kurz »Jochi« genannt, der Franziska und Jan nach Greifswald geholt hatte, der dürre, blonde Christian, der aussah wie der »Junker Bleichenwang«, der schöne Tristan und Ina Schneider. Der Grund? Zum ersten Mal wurden Lebensmittel ohne Marken angeboten, zu Überpreisen zwar, doch immerhin. Zur »Abschöpfung der überschüssigen Kaufkraft« stand in der Zeitung; der Beschluss wurde jubelnd begrüßt.

»Kinder, lasst uns futtern, auch wenn die ganze Gage draufgeht!«, rief der dürre Christian und seine Augen traten vor Erwartungsfreude noch weiter hervor als sonst. Sie marschierten in die HO-Gaststätte am Marktplatz; ein gepflegtes Restaurant, das sie bisher kaum aufgesucht hatten, und dann auch nur, um eine Brühe mit Ei zu bestellen, die es ohne Marken gab.

Die Gaststätte war überfüllt, doch die Schauspieler bekamen einen kleinen Tisch in der Nische, wo sie sich unbeobachtet den kulinarischen Genüssen hingeben konnten: Gänsebraten mit Rotkraut und Knödeln! Jede Portion kostete sechsundvierzig Mark. Sie schwelgten, hatten fast schon vergessen, wie Gänsebraten schmeckte, nun wussten sie es wieder und begriffen nicht, wie sie es so lange entbehren konnten.

Sie tranken Wein – »noch eine Flasche bitte!« –, kamen immer mehr in Stimmung, obwohl Tristan Schlaghuber den Wein nicht sehr gut fand. Er musste es schließlich wissen, der schöne Tristan, der »Dorian Gray« unter den jungen Männern, denn er hatte bereits in Wien Theater gespielt, dort sogar einen Film gedreht und versicherte, die Heurigenlokale wie seine Westentasche zu kennen. So dekorierte er seine Talentlosigkeit mit örtlichen Sahnetupfen, die vor allem Ina sehr beeindruckten. Im Grunde war Tristan ein netter Junge. Er sah tatsächlich so aus, wie Kleinbürger sich einen Schauspieler vorstellen. Das mochte einer der Gründe für seine Beliebtheit sein.

Und er flirtete betont auffallend mit Franziska. Sie lachten gern zusammen und taten oft ein wenig verliebt, das war ungefährlich und machte Spaß.

Jan lächelte hinterhältig und machte anzügliche Bemerkungen. Meist tarnte er seine Schüchternheit und die unterschwellige Furcht, verletzt zu werden, mit impertinentem Witz, verstand es, sich mit redegewandter Brillanz aus Katastrophen zu retten. Er war für jede Runde ein Überraschungspaket, selbst dann, wenn er ohne Übergang im Sitzen einschlief und jeder ein schlechtes Gewissen bekam und fürchtete, an der jäh ausgebrochenen Schläfrigkeit schuld zu sein.

An diesem Tag aber lief Jan zu Hochform auf und dachte nicht ans Einschlafen. Er umarmte Ina und machte ihr eine gekonnte Liebeserklärung, auf die sie, männerorientiert und stets etwas exaltiert, geschmeichelt einging. Sie spielten eine Szene für ihr Publikum am Tisch, heizten dadurch die übermütige Laune noch weiter an.

Vom Wein beschwingt und fast zum Platzen satt, bezahlten sie ihre hohe Rechnung ohne Bedauern, spazierten zurück zum Theater, um noch einen Blick auf den Probeplan zu werfen, und beschlossen übereinstimmend, danach weiterzufeiern, da der weitere Abend spielfrei war. Im Theater lag ein Telegramm für Jan: »Erbitte sofortigen Anruf – Lukas.«

Franziska sah sein verdutztes Gesicht, las laut vor, erschrak, nichts konnte ihn davon abhalten, sofort und auf der Stelle zu telefonieren.

Jochi schaute Franziska ahnungsvoll an. Sie zuckte ratlos die Achseln.

Mit langen, entschlossenen Schritten kehrte Jan zurück. Er strahlte.

»Luk will, dass ich nach G. komme. Ich soll ›Die Räuber‹ inszenieren.«

Jochi tippte sich an die Stirn. »Du wirst doch nicht so blöde sein und wieder in das sächsische Nest zurückgehen?«

»Probeweise«, antwortete Jan und rückte mit nervösen Fingern die Brille zurecht. »›Die Räuber‹ – stellt euch das vor! Du musst meine Rolle umbesetzen, Jochi, du machst das schon …«

»Ich könnte einspringen«, erklärte der dürre Christian, der keine Ahnung hatte, weshalb Jochi und Franziska ihm aufgeregt Zeichen machten, den Mund zu halten.

Zu spät. Es wurde nichts mit der fröhlichen Feier, nicht für Jan und Franziska. Das Fest war zu Ende.

»Und ich?«, fragte sie, als sie zu Hause waren, »was ist mit mir?«

»Du spielst deine Rollen und kommst nach.«

Lukas hatte die Angel ausgeworfen – und Jan hing daran. Er fuhr tatsächlich zurück in die kleine, sächsische Industriestadt, der sie erst vor wenigen Monaten entkommen waren.

Der Mann neben Franziska sah von seinem Kreuzworträtsel auf und fragte: »Ein Sohn Noahs? Drei Buchstaben!«

»Sem oder Ham«, antwortete Franziska.

»Beides passt.« Jetzt erst schien er sie wahrzunehmen, musterte sie freundlich und fragte leicht erstaunt: »Wo kommen Sie eigentlich um diese Zeit her?«

»Ich will nach München«, platzte sie heraus.

»Aber der Bahnhof ist …«

»Ich will per Anhalter fahren. Ich muss –! Gibt’s in der Nähe eine Autobahn?«

»Eine Autobahn?« Er fand nur schwer von seinem Kreuzworträtsel in die Realität zurück.

»Ja, ich will nach München, verstehen Sie?« Jetzt, da sie es aussprach, glaubte sie wirklich daran. Warum nicht nach München? Auch dort gab es Agenten, sie musste es nur nochmals versuchen. Je fester sie daran dachte, umso zuversichtlicher wurde sie. Wie die Euphorie eines Fieberkranken. Der Mann sagte: Es gebe eine Autobahn, nahe der Endstation, da wolle er auch hin, nein, nicht zur Autobahn, aber er wohne gleich hinter der Endstation. Dabei lächelte er traurig.

»Gegenüber dem Friedhof«, sagte er.

Franziska begann sich für ihn, für sein Schicksal, zu interessieren.

»Wo kommen Sie eigentlich her – um diese Zeit?«, erkundigte sie sich, ohne selbst auf seine Frage geantwortet zu haben.

Er hatte seine Kinder besucht: Tochter, Schwiegersohn und Enkelkinder. Aber dort gab es nur wenig Platz für den »Opa«, der Schwiegersohn mochte ihn nicht, der hatte ihn nachts nach Hause geschickt: »Wo du doch so einsam wohnst und ganz allein in deinem Haus – denk nur, die Einbrecher …«

So was gab’s. Familienleben. Wie war es möglich, sein ganzes Lebensgefühl von den Kindern abhängig zu machen, zu einer Schattengestalt zu werden, mit nichts als einem Kreuzworträtsel in den Händen, war das denn immer und überall so? Nichts, das dieses Schema ändern könnte, von Generation zu Generation dieser vorprogrammierte Albtraum?

Das durfte ihr nie geschehen, niemals. Keine Abhängigkeit von anderen Menschen, weder finanziell noch gefühlsmäßig! Franziska musste handeln, nicht länger wie Treibeis dahinschwimmen: eine Chance erkennen und wahrnehmen, wenn nötig – sich selbst eine schaffen. »Eine Chance«, sagte sie laut, »ich brauche eine Chance. Sie werden sehen – ich mach’ was draus!«

Der Mann nickte ihr zu, erklärte ihr den Weg zur Raststätte und warnte sie vor den Gefahren der Autobahn: »Es ist sehr leichtsinnig, per Anhalter zu fahren! Da gibt es Männer, die nehmen Mädchen mit, um sich über sie herzumachen oder sie sogar zu ermorden.«

»Ich pass schon auf«, versprach Franziska.

Dann stiegen sie aus: der Mann mit dem Kreuzworträtsel und sie mit ihrer Reisetasche.

»Ham«, rief er ihr nach und winkte mit der Zeitung, »Ham passt!«

»Na fein.« Franziska winkte zurück. Sie erinnerte sich, während sie plötzlich energisch vorwärtsmarschierte, an die wundervollen Blödelstunden mit Jan, an ihre veralberten Wortspielereien, und so sagte sie vor sich hin: »Ham, mit Nachnamen Burg. Danach ist diese Stadt wohl benannt.« Sie lachte leise und ließ Hamburg hinter sich zurück.

Die Maus im Milchtopf

Franziska saß zwischen den Lastkraftwagenfahrern und fuhr in südliche Richtung. Sie konnte vor Müdigkeit die Augen kaum offen halten. Der Beifahrer, ein Mann mittleren Alters, der ganz sympathisch aussah, mit dichtem hellem Haar, schlug ihr vor, sich im Anhänger auszuruhen.

»Wir haben Säcke geladen«, sagte er, »darauf können Sie es sich bequem machen. Sieht aus, als hätten Sie’s nötig.«

Sie stieg in den Anhänger, die Eisentür schlug zu – tiefste Dunkelheit. Der Laster ratterte weiter. Komische Säcke waren das, hart und weich zugleich, außerdem strömten sie einen merkwürdigen Geruch aus. Etwas unheimlich war es schon, in dieser Finsternis, total eingeschlossen, auf einer Ladung geheimnisvoller Säcke. Franziska benahm sich wie der kleine Junge nachts im Wald, der laut pfeift, um seine Angst zu vertreiben. Sie schlang die Arme um die Knie und sang leise vor sich hin. Sämtliche Melodien und Lieder, die ihr einfielen.

Dann stockte sie plötzlich, weil es ein Lied war, das sie mit Jan gesungen hatte, zweistimmig, und eigentlich gar nicht so übel. Wieder merkte sie ihre Erschöpfung, wieder meldete sich der Schmerz.

Jan war nicht mehr nach Greifswald zurückgekommen. Er blieb in G., wo er interessantere Aufgaben fand. Dafür sorgte Lukas.

»Kündige deinen Vertrag«, schrieb Jan. »Komm’ schnellstens her, hier wirst du genug zu tun bekommen.«

Der Vorschlag war ein wenig blauäugig und zeigte, wie wenig Jan den Freund und die Situation durchschaute. Lukas wollte sie auseinanderbringen und nicht in harmonischer Zusammenarbeit vereinen, sonst hätte er sie ja beide zurückgerufen.

Franziska gehörte nicht zu den Frauen, die ihre Arbeit eines Mannes wegen aufgaben, nicht einmal für Jan. Doch in Greifswald war es unerträglich geworden. Die Schauspielerinnen rauften sich buchstäblich um die Rollen. Das Ensemble war überbesetzt und die anderen hatten ältere Rechte. Dagegen konnte selbst Jochi nichts tun. Zwar sorgte er für einige gute Rollen: Franziska spielte die Prinzessin in dem Stück »Der Schatten«, von dem russischen Dramatiker Jewgenij Schwarz. Ihr Partner war der dürre Christian: ein Bösewicht, gegen den Mephisto harmlos wie ein guter Onkel wirkte. Dann noch die Hauptrolle in einer Komödie und ein Kindermärchen, in dem Franziska das tapfere Schneiderlein spielte und zum Schluss »Prinzessin« Ina heiraten durfte. Das war zwar sehr lustig, doch befriedigend war es nicht.

Wenn Franziska sich einsam fühlte, besuchte sie Ina und Tristan. Dann redeten sie oder sie gingen tanzen, sie nahmen den dürren Christian mit, der lebte in Scheidung und seine neue Freundin war hochschwanger, auch er brauchte Gesellschaft. Hin und wieder gesellte sich Jochi zu ihnen. Er sagte: »Wenn du nach G. zurückgehst, kommst du nicht mehr heil wieder!«

Ina lachte. »Du tust ja so, als wollte Franzi in den Krieg ziehen!«

»In G. lauert der Krieg«, prophezeite Jochi, den Blick auf seine gefalteten Hände gerichtet, als hielte er darin eine Glaskugel. »Hast du vergessen, was mit Lukas war? Das war der neue Hass zwischen euch dreien, erst Freundschaft, dann Liebe, dann Hass. Deshalb habe ich euch hierhergeholt.«

»Einer ist leider zurückgegangen«, sagte Franziska. Sie hatte keine Lust mehr zu tanzen, mochte Tristan, der bisexuelle Schönling, sie noch so mit auffordernden Blicken bombardieren. »Und ich – ich gehe ihm nach.«

Ina musterte sie aufsässig. »Seit wann richtest du dein Leben nach einem Mann aus?« Sie hatten oft über dieses Thema diskutiert. Und waren verschiedener Meinung, denn Ina fand es geradezu umwerfend, sich nach einem Mann zu richten, nur hatte sie meist weiche, willensschwache Männer gehabt, die sich nach ihr richten wollten.

»Ich würde gern hierbleiben.« Franziska meinte es ernst. »Trotz aller Sehnsucht nach Jan. Wenn es hier gute Rollen für mich gäbe, bliebe ich.« Sie sah Jochi an. »Könntest du mir solche Rollen garantieren?«

Er hob die Schultern und rückte heraus mit der bisher zurückgehaltenen Wahrheit. »Ich gehe nach Berlin. Mir reicht es hier auch.«

Also verließ Franziska die Stadt am Bodden, in der Caspar David Friedrich geboren war und die er nicht müde wurde zu malen. Aber auch er war weggegangen, nach Dresden und nach Böhmen, wo Franziska zu Hause gewesen war. Er hatte den umgekehrten Weg genommen.

Der Lastwagen hielt, Franziska war endlich eingenickt.

Die Säcke strömten einen süßlichen Geruch aus, der ihr Kopfschmerzen verursachte. Sie musste an Dresden denken, an heißen Tagen hatte es auch so gerochen, zwischen den Ruinen, über dem aufgerissenen Asphalt. Das kam von den Toten unter den Steinen.

Franziska richtete sich auf. Ihr war übel, sie wollte heraus aus dem dunklen, süßlich riechenden Gefängnis. Plötzlich öffnete sich die Tür des Anhängers, ein Lichtstrahl fiel herein, blendete sie. Der Beifahrer erschien, zog die Eisentür wieder zu, der Wagen fuhr weiter.

»Wie wär’s mit einer Kaffeepause?«, fragte sie unsicher. Der Mann lachte auf, setzte sich zu ihr, versuchte sie anzufassen.

»Es sind noch einige Stunden«, sagte er. »Wir könnten uns die Fahrt verkürzen.«

Franziska erkannte sofort die Gefährlichkeit ihrer Lage. Ihre Gedanken überschlugen sich. Sie beschloss, eine bestimmte Taktik anzuwenden, sich einzubilden, dies hier sei eine Theaterszene und sie spiele eine Rolle.

Nur eine Rolle.

Er duzte sie. Sie ging auf seinen Ton ein, wich den Annäherungsversuchen geschickt aus, gab sich kokett – ja, nur eine Rolle! Das war nicht einfach, denn sie wusste, was auf dem Spiel stand. Einen Fehler durfte sie sich nicht leisten. Dieser Mann hatte wohl mit seinem Kumpel ausgemacht: »Ich vernasch’ die Kleine mal ganz schnell!« Und dann? Vielleicht auch noch der andere? Per Anhalter fahren war gefährlich, das hatte ihr der Kreuzworträtselmann in der U-Bahn schon gesagt.

Der Mann war schon etwas älter, sah eigentlich recht gutmütig aus, etwas einfältig, möglicherweise war das ihre Chance.

»Weißt du«, Franziska hellte ihre Stimme auf, »ich mochte dich vom ersten Augenblick an, sonst wäre ich gar nicht mitgefahren. Ich weiß genau, was du möchtest.«

»Wirklich?« Seine Hand wurde zudringlicher. »Ist ja wohl auch nicht schwer zu erraten. Oder?«

Sie verneinte und seufzte übertrieben. Je simpler das Publikum, umso mehr musste man »auftragen«. Hatte man die Zuschauer erst mal in der Hand, konnte man mit ihnen alles machen.

»Was ist denn?« Der Blonde nahm die Hand weg und wartete auf Antwort.

»Wenn wir nur bald in München wären«, sagte Franziska und fügte hinzu: »Ich möchte so gern mit dir ausgehen, weißt du, so richtig gepflegt. Du musst sehr gut aussehen, wenn du dich in Schale wirfst.«

»Ja, o ja.« Er geriet in Fahrt: »Ich habe ein frisches Hemd, ganz modern und ein tolles Jackett – und dann Krawatte um …« Er ließ einen kurzen Pfiff der Selbstbewunderung hören: »Du wirst staunen.«

»Bestimmt.« Sie riskierte es, rückte nun ihrerseits nahe an ihn heran und sagte in sein Ohr: »Ich möchte, dass wir nett ausgehen und dann, danach … in einem Hotel – und nicht hier auf den Säcken … Was ist da eigentlich drin?«

»Kakaobohnen«, antwortete er irritiert. »Ungemahlene Kakaobohnen. Die riechen stark, wie?«

»Ganz schlimm. Ich würde gern hier umsteigen, nach vorn, aber unbedingt neben dir sitzen …«

Er dachte nach. »Kennst du das Hofbräuhaus?«, fragte er.

»Ich bin noch nie in München gewesen.«

»Dann zeige ich dir das Hofbräuhaus.« Er klopfte an die Wand, damit sein Kumpel anhalten sollte. »Du wirst staunen, Mann, ich freu mich, du!«

Der Laster hielt, die Eisentür ging scheppernd auf, im grellen Sonnenlicht stand der Fahrer. Sie sahen ihm blinzelnd entgegen.

Das war leichter gewesen, als Franziska gedacht hatte.

»Na?« Er schob seine Schiffermütze mit dem Zeigefinger zurück und stand breitbeinig da.

Der Blonde antwortete strahlend: »Wir gehen ins Hofbräuhaus.« Er legte den Arm fast väterlich um Franziskas Schulter. »Nachher kommt sie mit ins Hotel!«

Sie stiegen aus, um sich bei einem Imbiss zu stärken. »Was willst du mit deiner Reisetasche?«, fragte der Blonde.

Sie lächelte ihm zu: »Mich frisch machen – und umziehen. Bis gleich!«

Sie ging zur Toilette – und übergab sich.

Dann lief sie aus dem Hinterausgang auf den Parkplatz und hatte Glück. Ein älteres Ehepaar nahm sie mit bis nach München.

Es war spätabends, als sie ankamen. Am Hauptbahnhof stieg Franziska aus. Die Stadt war ihr fremd, wieder ringsum Ruinen, es würde das Gleiche sein wie in Hamburg, sie fühlte sich zu schlapp, um am nächsten Morgen die Theateragenturen abzuklappern, sie sah auch nicht gerade taufrisch aus, hatte seit Tagen das blaue Kleid im New-Look-Stil an, das einzige, das sie besaß.

In dieser Nacht schlief sie im Saal der Bahnhofsmission. Viele waren da, die meisten wie sie, aus dem Osten, die im angeblich so goldenen Westen Fuß fassen wollten.

Viel hatte sie bis jetzt nicht gesehen von München. Einzelne blinkende Leuchtreklamen, Coca-Cola-Schilder und viele Autos, amerikanische Schlitten, die wichtigtuerisch hupten und blinkten.

Es tat gut, sich auszuruhen. Morgen würde man sehen, wie es weiterging.

Morgen, morgen.

Ihre Gedanken liefen wieder zurück, zu Jan, zu den letzten Monaten mit ihm, in denen sie versucht hatte, sich in der kleinen Stadt G. in Sachsen einzurichten. Sie bezogen die zwei gemütlichen Zimmer in der etwas heruntergekommenen Villa, in der sie schon vor ihrem Aufbruch nach Greifswald gewohnt hatten. Frau Drechsel, die nette Wirtin, empfing sie freudig und ließ alles andere vergessen: das schäbige Treppenhaus, die ausgetretenen Stufen und die uralte Küche, in der sie ihre schnellen Mahlzeiten zubereiteten. Sie liebten den Vorgarten, das schmiedeeiserne Tor und die stille Straße mit den breitkronigen Bäumen.

Jan war wie eine gespannte Feder, vibrierend vor Schaffensfreude.

Da sie einander sehr ähnelten und Franziska ebenfalls neuen Aufgaben entgegenfieberte, konnte das nicht gut gehen. Der Konflikt zeichnete sich bereits in den ersten Tagen ab. Jan war ausschließlich auf sich selbst konzentriert und hatte nichts getan, ihr den Boden vorzubereiten. Sie fühlte sich abgestellt und bereute, dass sie seinem Ruf gefolgt war.

Erst einige Tage nach ihrer Ankunft traf sie mit Lukas zusammen. Beide hatten die unvermeidliche Begegnung hinausgeschoben. Und plötzlich standen sie im Konversationszimmer voreinander. Auf der Bühne probte Jan, seine Stimme drang zu ihnen. Lukas hatte seine grüblerische Miene aufgesetzt, um seinen Mund lag ein unverbindliches Lächeln, das alles andere als herzlich war. »Du bist also auch zurückgekommen.« Er hielt die Schultern hochgezogen und den Kopf vorgereckt, wie immer, wenn er andeuten wollte, dass er es eilig hatte. »Jan ist sehr beschäftigt.«

Der erste Schuss, er traf ins Schwarze.

»Ich höre es«, antwortete sie und hielt seinem unsteten Blick stand.

»Also dann – herzlich willkommen«, sagte er nun doch, es kostete ihn Überwindung. »Was hast du für Pläne?«

»Ich würde gern bei euch gastieren«, antwortete sie eine Spur zu forsch, um sich Mut zu machen. »Vorausgesetzt, du befürchtest nicht, dass ich dein Theater dadurch ruiniere.«

»Das befürchte ich durchaus nicht.« Er tat bekümmert und überhörte ihren Spott. »Nur wird das mit dem Gastieren nicht so einfach sein.«

»Weshalb nicht?«

»Kann ich jetzt nicht in zwei Worten erklären.«

»Versuche es, bitte!«

Ihre Begegnung war wie die Konfrontation zweier verfeindeter Generäle vor der beginnenden Schlacht.

»Tut mir leid«, sagte er höflich. »Wenn du mich bitte entschuldigst!«

Er stürmte auf die Bühne, rief »Jan, Jan!«, als stünde das Theater in Flammen. Franziska folgte ihm zögernd, stand in der Kulisse, hob den Arm, um Jan zuzuwinken, doch ehe er sie sehen konnte, hatte Lukas ihn umgedreht und ging mit ihm, heftig auf ihn einredend, in die andere Richtung. Kaltgestellt.

Die Begegnung war schlimmer verlaufen, als Franziska sie sich ausgemalt hatte. Die Feindschaft war offenkundig, jeder wusste davon, ahnte den wahren Grund. Es ging zweifellos um Eifersucht. Nur wer auf wen?

Auch Jan hatte sich die Dinge anders vorgestellt. Er war verblüfft und betroffen, mit welcher Feindseligkeit Franziska und Lukas einander begegneten. Ein Vermittlungsversuch scheiterte. Lukas bedauerte: »Ich kann Franziska nicht engagieren. Die Gastspielverträge sind längst abgeschlossen.«

Er log. Jan wusste, dass dies eine Ausrede war, und er machte sich seine Gedanken.

Die Zuschauer waren unzufrieden mit den von Jan engagierten Gaststars. Sie wollten stattdessen Franziska Buresch sehen. Die Zeitung brachte einen Artikel über die zweitrangigen Schauspieler, die der Intendant kommen ließ, während eine erstklassige Darstellerin nichts zu tun hatte.

Lukas musste nachgeben. Unter seiner Regie spielte sie die Hauptrolle in einer Komödie und das wurde ein Erfolg. Waffenstillstand!

Doch die Spannungen zwischen Jan und Franziska wuchsen. Es gab immer öfter Streit. Er wurde unpünktlich, sie unduldsam. Oft schrien sie sich an, bereuten es hinterher, doch niemals zur gleichen Zeit. Jan brachte Blumen mit und Franziska schlug sie ihm um die Ohren. Er stürzte davon und blieb zwei Nächte lang weg.

Er amüsierte sich mit Lukas und zwei Tänzerinnen: ein kleiner, lustiger Pummel für Lukas, ein schwarzhaariger Vamp für Jan. Der Vamp hieß Irina Weber.

Wenn Irina in der Nähe war, veränderte sich Jan auffallend. Er bekam, Franziska gegenüber, etwas Provozierendes, schlang seinen Arm um das Mädchen mit den dunklen, orientalischen Augen, ließ sie aber sofort wieder los, wenn Franziska verärgert die Gruppe verließ.

Lukas, als schadenfroher Beobachter, agierte im Hintergrund.

Eines Abends gab Schorschi Buhler, Franziskas Bühnenpartner und »alter Kumpel«, ein kleines Fest. Er lebte mit einem jungen Maler zusammen und litt ebenfalls unter Liebeskummer.

»Pass auf«, sagte Schorschi, »ich lade euch beide ein und ihr sprecht euch mal richtig aus. Einverstanden?«

Franziska blieb skeptisch. Seit Tagen redete sie nur das Nötigste mit Jan. Über Schorschis Einladung äußerte er sich nicht. Am Nachmittag verließ er die Wohnung. Am Abend machte Franziska sich auf den Weg zu Schorschi. Sie ahnte nichts Gutes.

Schorschi empfing sie an der Tür, machte Zeichen, die Franziska nicht verstand. Auch sein junger Freund sah total verschreckt aus, begrüßte Franziska artig mit Küsschen rechts und Küsschen links.

Dann trat sie ins Wohnzimmer. Auf der Couch saß Jan. Neben ihm, triumphierend, Irina Weber. Er sah kurz auf, machte »ah!«, winkte flüchtig und nahm weiter keine Notiz.

Franziska begrüßte die anderen, die ihr gespannt entgegensahen. Sie ließ sich nichts anmerken, setzte sich, lächelte, machte Konversation, als sei alles in Ordnung und ganz selbstverständlich. Ein innerer Schüttelfrost tobte in ihr, sie fasste das Glas mit beiden Händen, um das Zittern zu unterdrücken, hielt sich gut, doch dann ging sie in den Flur und lehnte sich unglücklich an die Wand. Schorschi kam ihr nach und sah sie wortlos an. »Er macht das aus Trotz«, sagte er leise. »Er ist verzweifelt. Er denkt, du liebst Lukas.«

»Du spinnst – verzeih, Schorschi, aber das ist doch Unfug.«

»Doch, er hat es mir vorhin gesagt, er denkt auch: Lukas liebt dich.« Schorschi tätschelte ihre Wange, wollte Trost spenden, litt mit. »Er sagte, das sei schon voriges Jahr so gewesen, und die Sache sei eben nicht zu Ende. Stimmt das? Mir kannst du’s doch sagen.«

»Es stimmt natürlich nicht«, antwortete Franziska. »Das war mal – naja – so eine Art Feuer zwischen Lukas und mir, aber das ist längst vorbei.«

Jan kam aus dem Wohnzimmer, er sah elend aus. »Willst du schon gehen?«, fragte er.

Wut und Verzweiflung kämpften in ihr. Schorschi zog sich taktvoll zurück.

»Warum tust du das?!«, fragte sie nun ohne Beherrschung.

Er zögerte mit der Antwort.

»Du bist dabei, mich zu verlassen«, sagte er nach einer Weile. »Und ich will dir zuvorkommen.«

»Das kannst du nicht wirklich glauben!«

Er nickte traurig, mit melancholischem Lächeln, das Franziska nicht mochte, weil sich ihr der Verdacht aufdrängte, er genieße sein Leiden.

»Ihr liebt euch«, sagte er nun doch und sein Lächeln schwand. »Ihr strengt euch an, um mich zu wetteifern, aber nur, um euch gegenseitig auszubooten. Ihr messt eure Stärke an mir. Es gefällt mir nicht, in eurer Schusslinie zu stehen.«

»Du weißt, dass es nicht so ist!«, rief Franziska, dämpfte aber gleich die Stimme, weil die Stille im angrenzenden Zimmer darauf hindeutete, dass alle die Ohren spitzten. »Wir hatten das längst ausdiskutiert, schon vor einem Jahr – und oft genug haben wir darüber gelacht.«

»Jetzt lache ich nicht mehr.« Er sah sie an mit einem unbewegten Gesicht, das Kälte ausstrahlte – als Schutz gegen seine Verletzbarkeit. »Jetzt weiß ich Bescheid.«

Ihr war klar, dass nichts ihn umstimmen konnte, kein Argument des Gefühls oder der Vernunft. Sie versuchte, ihr Herz vor dem aufsteigenden Schmerz zu schützen, und sie hielt seinem Blick stand.

Jan, nach wie vor völlig auf sie eingestellt, bemerkte ihre Ratlosigkeit, wurde schwankend, sagte: »Etwas läuft total falsch.«

»Ja.« Sie zwang sich, kühl zu bleiben wie er. »Wir hätten nicht herkommen dürfen. Jemand will uns auseinanderbringen.« Sie sagte es so, dass kein Zweifel blieb, wer dieser Jemand war.

»Ist es denn nur allein seine Schuld?«

»Nur seine. Ich will nur dich.«

Er wollte ihr so gerne glauben, griff nach ihrer Hand. Irina erschien im Flur, sah die beiden, rief nach Jan. Sofort ließ Franziska seine Hand los. Auf diesen Kampf wollte sie sich nicht auch noch einlassen, dieses Mädchen konnte keine Rivalin sein.

Jan, von Natur aus bockig wie ein Esel, mochte diesen herrischen Befehlston nicht. Er fasste Franziska an den Schultern und fragte: »Wollen wir gehen?«

»Du machst mir Spaß«, empörte sich Irina. »Warum schleppst du mich erst hierher?«

»Er wollte Franziska ärgern«, mischte Schorschi Buhler sich ein. »Tröste dich mit mir!« Er schäkerte, und fast wäre alles gut gegangen.

In dem Augenblick klingelte es und Lukas erschien. Jan erstarrte ebenso wie Franziska. Schorschi blickte verwundert, er hatte Luk nicht eingeladen.

»Entschuldige.« Der späte Besucher gab sich arglos und gut gelaunt, nickte Jan kurz zu. »Ich komme nur, um Franziska abzuholen. Du hast doch hoffentlich nichts dagegen?«

Jan, sonst immer mit Worten vorneweg, sah ihn und Franziska abwechselnd an, drehte sich um, nahm Irina beim Arm und schob sie zurück ins Zimmer. Sie warf einen provozierenden Blick über die Schulter und verließ triumphierend den Schauplatz des Machtkampfs.

Es war Frühling, und der Flieder duftete. Lukas ging schweigend neben Franziska her, die Straße war gesäumt mit blühenden Büschen, die im Mondlicht leuchteten. Sternenübersäter Himmel.

»Es sieht nicht gut aus, wie?« Luk fasste sie am Ellenbogen und stützte sie wie eine Kranke.

»Es wäre fast gut gegangen – bis du aufgetaucht bist«, antwortete sie, viel zu erschöpft vor Kummer, um auf ihn wütend zu sein. »Ach Lukas, warum lässt du uns nicht in Ruhe?« Er schwieg. Sie wollte die Wahrheit, jetzt, in dieser Nacht, in der alles zerbrach, was sie liebte. »Worum geht es dir eigentlich – um Jan, um mich – um wen?«

Sie waren vor der alten Villa angelangt, die dunkel, fast drohend in dem verwilderten Garten stand.

Nach einer Weile sagte Lukas mit seiner schweren, zögernden Stimme: »Es geht mir um euch beide. Ihr seid wie Kerzen, die an zwei Enden gleichzeitig brennen. Ihr verzehrt euch gegenseitig und stellt euch blind. Ihr steckt euch an mit Ehrgeiz und Nervosität und haltet das für eine kreative Partnerschaft.« Und dann, kaum hörbar: »Komm zu mir.«

Sie schüttelte den Kopf. Er gab nicht auf, das wusste sie, er wollte Schicksal spielen, und er würde gewinnen.

»Du bist ein feiner Freund«, sagte sie und ging auf das schmiedeeiserne Tor zu.

Er kam ihr nach und hielt sie fest. »Überlege es dir genau!« Es klang wie eine Drohung. »Ich liebe Jan und ich liebe dich.« Er rüttelte sie sanft an den Schultern. »Aber zu dritt geht das nicht. Ich habe dir schon einmal gesagt: Einer von uns dreien wird letzten Endes der Betrogene sein.«

»Ich weiß.« Sie befreite sich aus seinem Griff. »Und jetzt ist die Reihe an mir.«

Nun schliefen sie alle fest im Saal der Bahnhofsmission. Von allen Seiten Schnarchgeräusche. Manche sprachen leise im Schlaf.

»Hallo.« Jemand beugte sich über Franziska, musste schon längere Zeit neben ihr gewesen sein. Haare streiften sie, ein zarter Duft nach Veilchen. »Entschuldige.« Im trüben Licht der Notbeleuchtung sah Franziska ein hübsches, junges Gesicht. »Du gehörst doch auch nicht hierher«, sagte das Mädchen, »habe ich gleich gemerkt. Ich ziehe morgen in ein Hotel nach Schwabing, das Zimmer war noch nicht frei. Kommst du mit?«

Finger streichelten über Franziskas Augenbrauen, die Lippen, glitten den Hals hinab. Heißer Atem …

»Lass mich in Ruhe!« Franziska stieß sie weg und sprang auf. Eine Lesbe! Die hatte ihr gerade noch gefehlt.

Das Mädchen blieb hartnäckig, flüsterte, berührte sie, Franziska verteidigte sich massiv.

»Wenn du nicht verschwindest, rufe ich die Schwester!«, rief sie laut. Einige unterbrachen das Schnarchkonzert und lauschten.

Die Frau murmelte etwas Empörtes und glitt zurück in ihr Bett.

Am nächsten Morgen sah sich Franziska die liebestolle Bettnachbarin genauer an. Wer war sie, wo kam sie her? Ein dunkelhaariger Typ mit einer Ponyfrisur wie in den Zwanzigerjahren, umschattete Augen, groß und fragend, ganz in Schwarz gekleidet. »Die möchte ich spielen«, dachte Franziska, »oder über sie eine Geschichte schreiben.« Die Mädchenfrau bemerkte Franziskas Interesse, deutete es falsch, Hoffnung blitzte auf in ihren Augen und sie fragte: »Kommst du?«

Franziska spürte Widerwillen: Ich muss weg von hier, weg von diesem Strandgut, wie, zum Kuckuck, konnte mir das nur passieren – ich brauche wieder festen Boden unter den Füßen! Es war September, längst spielten die Theater wieder und sie war ohne Engagement. Herauskatapultiert aus ihren ehrgeizigen Plänen, ganz unten, ohne Chance. Etwas musste geschehen. Diesmal etwas Richtiges.

Leicht gesagt, wenn einer keine Wahl hat.

Eine Stunde später saß sie in einem Auto und fuhr in Richtung Regensburg. Zu Onkel Franz. Willkommen würde sie dort nicht sein, aber es bedeutete wenigstens eine Atempause.

Onkel Franz war der zweitälteste Bruder ihres Vaters. Sie hatte ihn höchstens zweimal gesehen, da war sie noch ein Kind gewesen und spielte bei den Großeltern in Teplitz-Schönau Theater. Mit Cousine Gisi.

Onkel Franz war Berufsoffizier gewesen und hatte mit seiner Frau in Pressburg gelebt. Er war noch von der »alten Garde«, groß, elegant mit Bärtchen, seine leicht österreichische Sprache ließ an Wiener Cafés denken, an ein Theaterstück von Arthur Schnitzler, an eine Kutschenfahrt durch Schönbrunn.

Seine Frau, die zarte Tante Edith mit den sanften Rehaugen und der Duldermiene, hatte Franziska noch recht gut in Erinnerung. Sehr sparsam war sie immer gewesen, aber auch besonders lieb. Nun lebten beide in Regensburg, genau genommen: In Schwabelweiß, wo sie sich nach der Vertreibung eine neue Existenz aufbauen wollten.

Schwabelweiß war ein lustiger Name. Franziska konnte sich nicht vorstellen, dass es dort besondere Enttäuschungen geben sollte. Sie begann sich darauf zu freuen.

Wieder hatte sie ihr blaues Wollkleid an, mit langem Glockenrock und enger Taille. In Greifswald hatte sie es nähen lassen, Jan wollte es ihr zur Verlobung schenken, und als sie es anzog, war er in das Kleid ebenso verliebt wie in sie. Nun hatte es schon manchen Sturm hinter sich. Auch als Bühnenkleid konnte es Erfahrung sammeln. Doch zum Glück war es nicht nur schick und modern – es hielt auch was aus.

»Sind Sie Studentin?«, erkundigte sich der Mann neben ihr am Steuer. Er sah harmlos aus, sehr bayerisch und kam aus Rosenheim.

»Ich bin Kindergärtnerin«, schwindelte sie, denn sie hatte keine Lust, ihm ihre Lebensgeschichte auf die Nase zu binden. »Jetzt fahre ich zu meinen Verwandten.«

Er schien eine Weile nachzudenken, fuhr auf einen Parkplatz und hielt.

Vorgewarnt durch ihr Beinahe-Abenteuer auf den Kakaobohnensäcken, wappnete sie sich mit Ablehnung. Der Mann blinzelte ihr vielsagend zu. Dann griff er in die Tasche und holte eine Handvoll winzige Lippenstifte heraus, nicht länger als höchstens vier Zentimeter, in allen Rotschattierungen.

»Können Sie die brauchen?« Sein rundes Gesicht rötete sich vor Freude. »Das sind Proben, verstehen Sie? Ich reise in Sachen Kosmetik, vor allem Lippenstifte.«

»Ach.« Franziska musste lachen. Sie betrachtete die Stifte, schraubte sie auf, verglich die Farben, probierte sie aus. Sachverständig begutachtete der Lippenstiftmann aus Rosenheim ihre Lippen, nickte zufrieden und meinte: »Jungen Mädchen steht eben alles.«

Franziska fühlte sich geschmeichelt, sagte aber, dass sie ein gar so junges Mädchen nicht mehr sei und soeben ihren Vierundzwanzigsten hinter sich gebracht hatte.

»Sieht man Ihnen nicht an«, staunte der Mann, aufrichtig bewundernd. Dann startete er den Wagen und schaltete das Radio ein. Rita Paul sang soeben: »Ich muss jetzt nach Haaaaaus …«, und Bully Buhlan wandte brummelnd ein: »Ach Baby, es regnet doch!« Beide mauzten zärtlich im Liebesspiel, und der Mann am Steuer grinste und sang leise mit. Franziska schwankte zwischen Aufregung und Müdigkeit. Nun, hinauswerfen würden sie sie bestimmt nicht, Onkel Franz und Tante Edith. Aber was sollte sie ihnen erzählen? Dass sie gescheitert war – aus privaten Gründen – oder aus beruflichen? Ausgerechnet jetzt, vier Jahre nach Kriegsende, da alle so eifrig dabei waren, sich einzupendeln.

Der Tag, an dem Franziska sich von Jan trennte, war der traurigste Tag ihres Lebens. Sie packte die wenigen Sachen, die sie besaß und die seit zwei Jahren mit Jans Habseligkeiten den Platz geteilt hatten: im Schrank, in der Schublade, auf dem Bücherregal.

»Was möchtest du – Bügeleisen oder Waffeleisen?«

»Eigentlich bügle ich selten«, antwortete Jan in schamloser Übertreibung, denn er hatte es noch nie getan.

»Ich auch«, behauptete Franziska, die Hausarbeiten hasste.

»Allerdings …«, überlegte Jan, »Waffeln kann ich ganz gut backen.«

Also ließ sie ihm das Waffeleisen. Sie hatten es sich zu Weihnachten angeschafft, es war ihre größte Errungenschaft, sie beschlossen, in Zukunft Unmengen von Waffeln zu backen und dazu literweise Kakao (gemahlenen!) zu trinken. Das war eine ihrer Wunschvorstellungen gewesen.

Dann saßen sie zusammen und redeten. Sie umarmten sich in ihrer allerletzten Nacht, hielten sich lange umschlungen und weinten und verstanden nicht, weshalb ihnen das Vertrauen abhandengekommen war.

In den letzten Minuten ihrer Trennung versuchten sie einige müde Witze und burschikos-kollegiale Redensarten, noch ein letztes Mal legten sie behutsam Kopf an Kopf und atmeten einander ein. Sein Haar roch nach Herbstwald und frisch gebackenem Brot. Nie mehr diesen Geruch, nie mehr die zärtlichen Hände, der unverschämt vorlaute Mund …

Als die Spielzeit zu Ende war, verließ Franziska die kleine Stadt in Sachsen, die ihr so viel Glück und so viel Elend gebracht hatte. Sie fuhr in die Altmark, wo ihre Mutter sich aufhielt.

Maria Buresch war nur für einige Tage in das kleine Dorf gekommen, in dem sie nach der Vertreibung gelebt hatten. Sie wollte so schnell wie möglich zurück nach Freiburg, wo Viktor Buresch Fuß zu fassen versuchte – keine einfache Sache. Er war nun fünfzig Jahre alt und die Beamtenlaufbahn kam für ihn nicht mehr in Frage. Höchstens Angestellter konnte er werden, in der Sparkasse. Das war immerhin auch etwas.

Maria war »schwarz« über die Grenze gekommen, von West nach Ost, und nun wollte sie wieder zurück: eine riskante Angelegenheit. Alles nur, um zwei Dinge zu holen, die sie zurücklassen musste, als sie das Dorf Hals über Kopf verließ, um ihrem Mann zu folgen. Zwei Gegenstände, mit denen sie bereits einmal eine Grenze passiert hatte – von der Tschechoslowakei nach Deutschland. Zwei »Kostbarkeiten«, die ihr die Tschechen nicht abgenommen hatten, was an dem guten Versteck lag, in dem sie sich befanden: eine Brotschneidemaschine, Marke »Leinbrock«, und eine Karaffe für Rum aus böhmischem Glas, kunstvoll geschliffen, jahrelanger Glanzpunkt in Marias Wohnzimmerschrank. (»Franziska, lass die Finger von der Karaffe, du machst sie kaputt!«) Mehr war von dem Haushalt nicht übrig geblieben. Nun wollte sie die zwei Stücke in den goldenen Westen holen.

Und Franziska.

»Du musst weg aus der Ostzone«, hatte die Mutter in Briefen gedrängt. »Ich habe ja gleich gewusst, dass die Sache mit diesem Kupelius nicht halten wird. Papa meint das auch.«

Die Mutter hatte Jan nie gemocht. Sie hätte jeden Mann abgelehnt, mit dem Franziska sich zusammentat. Nur leider konnte sie ihr kein Zuhause bieten, nicht einmal für ein paar Tage. Noch lebten sie in ärmlichen Verhältnissen, von der Flüchtlingshilfe hatten sie die nötigsten Möbel und ein Feldbett bekommen. Sie gingen Blut spenden und bekamen ein paar Mark dafür, der Vater machte Gelegenheitsarbeiten, weil er die Stelle in der Sparkasse erst ab Oktober antreten konnte.

»Aufnehmen können wir dich nicht.« Die Mutter weinte und fühlte sich schuldig.

»Ich komme auch so zurecht«, tröstete Franziska.

Ende August gingen sie frühzeitig über die Grenze, wurden geschnappt, von den Volkspolizisten schikaniert, mussten einen langen Kilometermarsch zurücklegen, in siedender Hitze ihr eigenes Gepäck tragen, wurden eine Nacht in Oebisfelde eingesperrt, mit noch anderen illegalen Grenzgängern, wurden einzeln verhört in einem Zimmer, in dem Stalin an der Wand hing, dann wurden sie nach Gardelegen zurückgeschickt. Dort suchten sie einen ehemaligen Mitarbeiter des Vaters auf, aus dem Amt für Handel und Versorgung, der vermittelte ihnen einen »Lotsen«, mit dem versuchten sie es ein zweites Mal, die grüne Grenze zu passieren.

Dieser Lotse lebte in einem Häuschen unmittelbar an der Grenze. Er hatte eine Schar Enkelkinder. Man kannte ihn.

Er schob den Kinderwagen, plauderte mit Maria und Franziska, sie taten harmlos, doch das Herz stand fast still vor Angst, und dann waren sie schon »drüben«.

Im Kinderwagen lag kein Kind, sondern ihr Gepäck. Sie mussten einige Stunden auf der staubigen Landstraße marschieren, um zum nächsten Bahnhof zu gelangen. Öde Gegend, kaum Verkehr, eine kleine Kirche auf dem Hügel, die sahen sie sehnsüchtig an und seufzten, weil ihnen jetzt erst bewusst wurde, wie heimatlos sie waren. Endlich die Bahnstation, sehr klein. Es war schon Abend. In der trostlosen Wartehalle verbrachten sie die Nacht und warteten auf den ersten Zug. Plötzlich stand Maria auf, ging zum Automaten, kam zurück und legte fünf eingewickelte Bonbons auf den Tisch.

Franziska sah die Mutter fragend an.

»Dein Geburtstag«, sagte Maria.

Den hatten sie fast vergessen.

In diesem Augenblick schlug Franziskas Herz heftig vor Zuneigung, wie seit Jahren nicht mehr. Als Kind hatte sie die Mutter so geliebt. Dann war so vieles dazwischengekommen.

»Der Zug.« Sie standen auf und fuhren bis Celle. Hier musste Maria für einige Tage in ein Aufnahmelager, um neue Papiere zu bekommen. Sie trennten sich, winkten einander zu und wünschten sich immer wieder Glück und »Alles, alles Gute!«.

Franziska fuhr weiter nach Hamburg.

So war alles gekommen.

»Wir sind da.« Der Mann am Steuer scheuchte sie aus ihren Gedanken. »Sie sind aber schweigsam gewesen! Wo wohnen denn Ihre Verwandten?«

Sie nannte Straße und Hausnummer, er fuhr sie bis dahin. Ehe er sich verabschiedete, wollte er noch einen Witz loswerden. Er lachte schon vorher so heftig, dass er einige Male neu beginnen musste.

»Im Hofbräuhaus sitzt ein Preuße.« Bei diesem Wort bekam er wieder einen Lachanfall. Offensichtlich hatten Leute aus nördlicheren Gefilden für ihn einen enormen Unterhaltungswert. Als er sich etwas beruhigt hatte, fuhr er fort: »Ihm gegenüber sitzt ein Bayer. Alle trinken Bier. Nur der Preuße bestellt ein Mineralwasser. Plötzlich macht er eine schnelle Bewegung und stößt das volle Glas um. Alles Wasser auf den Bayern! Sagt der Preuße erschrocken: ›Oh, entschuldigen Sie, das ist mir sehr peinlich!‹ Winkt der Bayer ab, lacht und meint: ›Macht nix! Ins Maul ist mir ja nix einikumma.‹«

Franziska machte ihm die Freude und lachte. Er war eine äußerst fröhliche Natur und wollte zum Abschied auch einen Witz von Franziska hören. Ihr fiel keiner ein. »Höchstens so was Ähnliches wie eine Fabel«, erklärte sie zögernd.

»Erzähl’n Sie, schnell«, drängte er erwartungsfreudig.

»Also – zwei Mäuse fallen in einen Topf mit Milch. Die eine geht wie ein Stein unter und ertrinkt. Die andere aber – was macht die? Die paddelt mit den Pfoten so lange, bis die Milch zu Butter wird. Dann klettert sie heraus und ist gerettet.«

Der Mann sah enttäuscht drein. »Ist wohl eine Art Gleichnis, wie?«

»Genau wie Ihr Witz.«

»Der und ein Gleichnis?«, staunte er, fast beleidigt.

»Naja, Bayern und Preußen – immer die gleichen Klischees.«

»Die was?«

Es war wohl zwecklos, mit ihm darüber zu reden. Dennoch sagte sie: »Komisch – die Welt ist aus den Fugen und vieles bleibt immer, wie es war. Nicht einmal die Klischees ändern sich.«

»Ich verstehe nicht …«

Sie gab dem Mann die Hand, bedankte sich fürs Mitnehmen und die Lippenstifte. Dann sagte sie: »Ob Sie’s glauben oder nicht: Ich kenne Preußen, die trinken genauso gern Bier im Hofbräuhaus wie die Bayern. Und es gibt Bayern, die trinken Mineralwasser, weil sie ein Magengeschwür haben oder weshalb auch immer.«

Der Mann machte ein verständnisloses Gesicht. »Das war doch nur ein Witz«, wandte er ein.

»Witzig gemeint.« Sie nickte ihm lächelnd zu. Er fuhr ab, enttäuscht und irritiert, was ihr sehr leidtat. Verletzen wollte sie ihn nicht.

Sie seufzte und sagte laut vor sich hin: »Ich bin die Maus im Milchtopf. Habe Pech gehabt, kann jedem passieren. Aber ich werde nicht aufhören zu paddeln und zu paddeln und zu … so lange, bis alles zu Butter wird. Dann steige ich heraus – und ihr werdet schon sehen!«

Sie schulterte die Reisetasche und ging auf das beleuchtete Haus zu.

Regensburg-Schwabelweiss

Das Haus war nicht groß, sah brav und bieder aus, mit einem Gärtchen drumherum. Drei Parteien wohnten darin. Im Dachgeschoss: Onkel Franz und Tante Edith. Hier war ihr neues Zuhause.

Franziska klingelte.

Tante Edith, klein und schmächtig, erkannte sie zuerst gar nicht.

»Ja, Kind – na so was«, rief sie dann mit ihrer hohen, auffälligen Stimme und zog Franziska in die Wohnung.