Als ich dir zeigte, wie die Welt klingt - Eleni Torossi - E-Book

Als ich dir zeigte, wie die Welt klingt E-Book

Eleni Torossi

4,7
14,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Aus der Stille heraus "Meine Mutter war anders als andere Mütter. In ihren Ohren waren weiße Knoten." Wie fühlt es sich für ein Kind an, seiner Mutter die Welt zu erklären, wenn diese sie nicht verstehen kann? Der Vater hat das Weite gesucht, und so gibt es für die beiden Frauen im Athen der 1960er-Jahre nicht viel zu verlieren. Zehn prächtige, von der Mutter gefertigte Hüte sind der Preis für zwei Pässe. In München warten fremde Herausforderungen: Die Tochter dolmetscht, als Hüterin ihrer Mutter, die ihrerseits die Tochter beschützen will. Doch neue Türen öffnen sich – denn manche Menschen brauchen keine Worte, um Liebe zu zeigen. In poetisch-humorvollem Ton führt Eleni Torossi in eine unbekannte Welt, geprägt von intimen Gesten und einer zärtlichen Geheimsprache.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 351

Bewertungen
4,7 (16 Bewertungen)
11
5
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Impressum

Besuchen Sie uns im Internet unterwww.langen-mueller-verlag.de

© für die Originalausgabe: 2014 LangenMüller in der F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München. Alle Rechte vorbehaltenDas Zitat zu Teil 3 stammt aus Oliver Sacks: Stumme Stimmen. Reise in die Welt der Gehörlosen. Ins Deutsche übersetzt von Dirk van Gunsteren. © 1990 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Für die eBook-Ausgabe: quotation from Seeing Voices by Oliver Sacks. Copyright © Oliver Sacks, 1989, 1990, used by permission of The Wylie Agency (UK) Limited.

Umschlaggestaltung: Wolfgang Heinzel

Umschlagfoto: plainpicture, Hamburg

Satz: EDV-Fotosatz Huber/Verlagsservice G. Pfeifer, Germering

ISBN 978-3-7844-8199-9

Meinen Freunden

Teil 1

»Die Musik interessiert mich nicht. Was mich interessiert, sind die Klänge.«

Dizzy Gillespie

Im stillen Abgrund

Meine Mutter war anders als andere Mütter. In ihren Ohren waren weiße Knoten. Als sie das merkte, lag sie gerade im Bett und betrachtete ihre Füße. Sie guckten aus weißen Bettlaken hervor, und sie fand sie abstoßend. So als gehörten sie nicht zu ihr. Sie waren dick und plump und passten überhaupt nicht zu ihrer sonstigen Erscheinung. Sie war schlank, blond, grazil und hatte blaue Augen – eine richtige Prinzessin. Doch wenn sie die Schuhe auszog, verwandelte sie sich in einen Bauerntrampel, der bei der Olivenernte zupackt und in der Kelter die Trauben zerstampft. Später würde sie das Dorf weit hinter sich lassen und in die große Stadt ziehen. In Athen würde sie darauf achten, immer gut frisiert zu sein, Hüte zu tragen, duftige Stoffe zu kaufen und die Füße in elegante Schuhe zu zwängen.

Die weißen Knoten waren wie aus heiterem Himmel aufgetaucht, als sie dreizehn war. »Dreizehn ist eine Unglückszahl«, sagte sie immer.

Meine Mutter war damals in einen tiefen Fieberschlaf versunken, und als sie daraus erwachte, war alles um sie herum weiß. Wie in Watte gepackt. Nur was aus dem Laken herausguckte, waren immer noch dieselben plumpen Füße.

Verwundert starrte sie darauf. Plötzlich merkte sie, dass jemand an ihrem Kopfende stand. Erschrocken fuhr sie herum. Dort waren Männer in weißen Kitteln und klappten den Mund auf und zu. Warum waren alle bloß so weiß und warum schneite es, fragte sie sich. Schnee fällt im Winter, und wenn es schneit, werden alle Geräusche vom Schnee verschluckt. Vor allem in der Nacht ist nichts zu hören, nur das Knistern des Dochts in der Öllampe. Und die prasselnden Holzscheite im Kamin. Stundenlang konnte sie dem Flackern der Flammen zuschauen. Sie liebte den Schimmer des Lichts und seine Wärme. Ihre Mutter machte kalte Umschläge, »damit das Fieber fällt«, sagte sie. Stirn und Wangen brannten wie Feuer. »Doch tief in meinen Ohren ist es kalt«, wollte sie ihr sagen, sagte aber nichts. Sie berührte ihre Ohren und hatte das Gefühl, als wären sie mit Schnee vollgestopft. Es war aber kein Schnee, es waren wohl die weißen Knoten.

Meine Mutter schloss ihre blauen Augen. Sie wurde von einer Lawine überrollt und stürzte in einen Abgrund. Als man sie endlich freischaufelte, war es bereits zu spät.

Weiß, heimtückisch, eiskalt

Was mit ihr geschehen war, sollte von da an der Grund dafür sein, dass sie oft aufschreckte und zusammenzuckte. Sie schrieben es ihr auf: Wegen der Knoten würde sie nicht mehr hören können. Und dass sie alles dafür tun würden, damit die Knoten verschwinden und sie wieder gesund wird. Doch vielleicht würde sie nie mehr wieder hören können. Letzteres hörte sie nicht. Das heißt, sie sagten es ihr nicht, oder genauer gesagt, sie schrieben es ihr nicht auf.

Seit jenem Tag hatte »Im Anfang war das Wort« seine Gültigkeit verloren.

Bedeutete dies den »Anfang der Welt«? War der Anfang ihrer Welt für sie jetzt zu Ende? Der Anfang der laut sprechenden Welt?

Doch es öffnete sich auch das Tor zu einer neuen Welt. Einer Welt der aufmerksamen Augen, der tastenden Hände, der rhythmischen Laute, der warmen Haut. Und einer Welt der Gedanken, die in ihrem Kopf rumorten. Sehr oft brabbelte sie diese Gedanken leise vor sich hin. Ein melancholisches Lied, ohne Melodie. Sie versuchte, Pausen rhythmisch zu setzen, und danach hob sie ihre Stimme, um ein paar Noten von den alten Liedern zu singen, an die sie sich erinnern konnte. Sie kannte viele Verslein auswendig. Bei den Reimen zog sie ihre Stimme in die Länge, weil sie meinte, das würde ihnen einen melodischen Klang verleihen. Doch sie sang vollkommen schief. Es klang wie eine reife Feige, die vom Baum fällt, auf Steinplatten klatscht und zu einer Platzwunde wird. Oder einfach zu einem violetten Fleck.

Viele Jahre später in München, es muss während der Olympiade 1972 gewesen sein, spazierte ich an einem Sommerabend durch den Englischen Garten. Es herrschte eine feierliche Atmosphäre, seltsame Klänge wehten zu mir, und da hörte ich plötzlich wieder dieses Aufklatschen reifer Feigen mit ihrem violetten Widerschein. »Das ist elektronische Musik«, sagte jemand, »Stockhausen. Atonal.« Meine Mutter war also elektronisch und sprach atonal, dachte ich, und das gefiel mir. Ich lächelte und stellte mir meine Mutter im violetten Licht der Schweinwerfer vor, zusammen mit Stockhausen … Und wie sie sich mit dem Komponisten atonal unterhielt. Atonal und tonlos.

Als ich zehn wurde, wollte meine Mutter unbedingt, dass ich Klavierspielen lernte. Wenn ich in die Tasten hämmerte, umarmte sie das gemietete Instrument. Sie legte den Kopf auf das schwarze Holz, um so durch die Vibrationen den Rhythmus zu spüren. Ab und zu stieß sie selbst auch rhythmische Laute aus und begleitete mich. Sie drängte mich, die Tasten kräftig anzuschlagen, und beobachtete mich voller Hingabe. Als würde sie in sich hineinhorchen und lauschen, vielleicht den Schlafliedern ihrer Mutter und den Klatschgeräuschen auf den Steinplatten.

Ein Radio gab es bei uns zu Hause nicht, auch keinen Plattenspieler. Ich hörte nur das Flüstern meiner Mutter. Ich beobachtete sie, wenn sie nähte, wenn sie Zeitung las oder im Bus saß und aus dem Fenster schaute. Ununterbrochen bewegte sie ihre Lippen. Hin und wieder nickte sie mit dem Kopf, so als würden ihre Gedanken sie aufwühlen. Alles, was sie vielleicht anderen sagen wollte, das sagte sie zu sich selbst, alles, was sie dachte, das käute sie wieder und wieder. Für mich war das ganz normal, dass meine Mutter vor sich hin sprach. Es war eben so. Zum Nachdenken, wie ich mich dabei fühlte, hatte ich keine Zeit. Denn unentwegt musste ich sie beobachten. Ich musste aufpassen, wo sie steckte, was sie sah, was sie von unserer Umgebung mitbekam, ich musste ihr erklären, was ich sah, darüber nachdenken, was ich ihr von all dem um uns herum erklären wollte. Ununterbrochen beobachtete ich daher meine Umgebung und mein Inneres, um Entscheidungen zu treffen. Nicht für mich, sondern für sie. Ich wurde sie, und sie wurde ich, mehr und mehr.

Wann wurde mir bewusst, dass sie nicht hören konnte und Selbstgespräche führte, dass ich eine Mutter hatte, die anders war als andere? Ich kann es nicht genau sagen. Ich kann es überhaupt nicht sagen. Für mich war die Welt meiner Mutter die einzig gültige Welt. Ich dachte, dass die ganze Welt so sei. Ich fand es normal, dass man einen weißen Knoten im Ohr hat, seine Gedanken ständig wiederkäut, dass man nach dem wie und dem was fragt, dass man versucht, die Wörter von den Lippen zu lesen, die sich öffneten und schlossen, mal mehr, mal weniger, wie die Tasten eines Klaviers, die sich heben und senken, wobei man sich die Melodie vorstellen muss, die erklingt. Ich dachte, es sei normal, sich nicht umzudrehen, wenn man gerufen wird, oft die Hand des anderen zu halten, ihn zu berühren, in den Arm zu nehmen, ihn bei der erstbesten Gelegenheit zu streicheln.

So war meine Mutter zu mir. Und das war NORMAL.

Ihre Hände waren immer warm und weich.

Später begriff ich, dass es überhaupt nicht normal ist, wenn man nicht streicheln kann oder berührt werden darf. Den anderen nicht berühren zu können ist schlimmer, als ihn nicht zu hören. Es gibt Menschen, die gereizt und verängstigt auf Zärtlichkeiten reagieren. So wie mein Freund Junus, den ich an der Universität in München kennengelernt hatte. Er schrieb Liebesgedichte.

»Ich bin ein verliebter Fisch.

Alle Weltmeere verehren mich.«

Es waren unglaublich zärtliche Miniaturen. Jeden Tag schickte er mir eine mit der Post. Nach der Liebe versank Junus immer in einen tiefen Schlaf. Streicheln konnte er nicht. Weder vorher noch nachher. Wehe, ich hätte es gewagt, meine Hand über seine Haut gleiten zu lassen. Das beunruhigte ihn ungemein, und er fühlte sich ausgeliefert. Als erhielte seine Haut Verbrennungen davon.

Außer den Liebesgedichten schrieb er auch ein Buch über seine Mutter, die ihn früh verlassen hatte. Er war bei einer Furie von Großmutter aufgewachsen, die ihn nur dann anfasste, wenn sie ihm mit Gewalt seine schmutzigen Sachen aus- und ihm saubere anziehen wollte. Ich wollte ihm seine Kleider nur ausziehen, um seinen Körper zu erkunden, um ihn zu berühren. Es tat ihm weh. Er wurde nervös, atmete heftig und hatte Lust auf etwas anderes. Seine Haut hatte er vergessen. Vielleicht glaubte er, er habe sie verbotenerweise an und müsse sie ablegen, weil sie schmutzig war. Doch er war nun einmal keine Schlange, die sich häuten konnte. So lebte er in dieser Haut, und um sich nicht davor zu fürchten, vergaß er sie. Und ich vergaß ihn.

Andere nannten die Knoten einen »Makel«. Erst da wurde mir bewusst, dass es ein Makel sein könnte, dass meine Mutter nicht hörte. Ja, die Welt meiner Mutter war seltsam, voll von ihren eigenen Geheimnissen, Botschaften, Gesten und bohrenden Blicken. Sie besaß eine faszinierende Tiefe, doch selbst hatte sie Angst vor der Tiefe. Sie mochte sie nicht. Ihr wurde schwindelig, und sie stolperte. Es hieß, die weißen Knoten drückten auf den Gleichgewichtssinn und brächten sie ins Wanken. Ihre großen Füße waren unsicher bei jedem Schritt. Sie trat mit Wucht auf den Boden und wankte wie ein Segelboot im Sturm. »Das haben mir die Ärzte damals gesagt. Zusammen mit dem Gehör habe ich auch den Gleichgewichtssinn verloren. Gehör und Gleichgewicht gehören im Mittelohr zusammen«, erklärte mir meine Mutter oft. »Aber der Verlust des Gehörs bedeutet ja sowieso den Verlust des Gleichgewichts im Leben, oder?«

Das Wanken meiner Mutter führte sie in andere Regionen, sie entfernte sich immer weiter von meiner Welt. Es war, als sei sie wie im Märchen an einem Scheideweg angelangt und habe dann den Pfad eingeschlagen, von dem es kein Zurück mehr gibt.

Da ist nichts zu machen. Du kannst nicht umkehren. Du gehst weiter und weiter und gerätst immer tiefer in den stummen Wald.

Meine Mutter drehte sich pausenlos um und schaute zurück, so wie die Prinzessin mit den blauen Augen und den goldenen Haaren, die sich verirrt hat. Sie blickte über die Schulter zurück zu der Welt, die sie hinter sich ließ, und hatte Schuldgefühle, weil sie mich und die anderen zwang, ihr in ihre Welt zu folgen. Sie hatte keine sehr hohe Meinung von ihrer Welt, und es lag ihr nichts daran, mich dorthin mitzunehmen.

Sie sagte: »Wenn du groß bist und viel Geld verdienst, wirst du den richtigen Weg finden, um mich zurückzuholen. Du wirst dafür bezahlen, dass sie hinter das Geheimnis der weißen Knoten kommen. Sie werden mir die dumpfe Watte aus den Ohren holen. Und dann gehen wir in ein Konzert und hören Maria Callas.«

Kymi 1920 – funkelnde Steine und wässrig blaue Augen

Meine Mutter hatte blonde Haare und blaue Augen. Leuchtend blaue Augen, hätte ihre Mutter gesagt, wässrig blaue ihr Vater. Sie erinnerten ihn an das Meer, das ihn dazu verleitet hatte, den Laden am Hafen zu eröffnen, und das ihm diesen Laden später weggeschwemmt hat. Was wollte er auch mit einem Laden mit Blick aufs Meer? Wo er doch schon als Kind in den Bergen herumgestromert war, jeden Felsen und jeden Stein einzeln kannte und sich dann in den Bergwerken vergrub. Im Abbau von Erz und Gestein war er ein Ass. Anfangs in den Gruben von Entzi auf der Insel Euböa, ganz in der Nähe von Kymi. Dort gab es gut ausgebaute Bergwerke aus der Zeit des Bayernkönigs Otto. Er erkannte die Gesteine und brauchbaren Braunkohle-Flöze im Nu. Später ging er nach Lavrio und arbeitete bei den Franzosen in den Minen. Alle Felsen schienen gleich zu sein, doch er konnte die verschiedenen Gesteine genau auseinanderhalten. Schiefer, Feuerstein, Kalkstein. Die Compagnie Française des Mines du Laurium rief ihn zum Felsaushub. Er öffnete ihnen die Augen und wurde für sie zu einem wertvollen Helfer.

Mit seinem ersten Geld fuhr er nach Athen und kaufte sich eine Weste mit Seidenfutter und eine Taschenuhr mit einer goldenen Kette. Kaum war er zurück, erschienen auch schon die Heiratsvermittlerinnen, und es dauerte nicht lange, bis er vor dem Traualtar stand. Das Mädchen, mit dem sie ihn verheirateten, schaute ihn aus funkelnden schwarzen Augen an, war blitzgescheit und hatte einen appetitlichen Hintern. Auf ihren Laken vergaß er Gott und die Welt. Als er nach neun Monaten wieder zu sich kam, waren da zwei kleine Mädchen, mit schwarzen Augen und krausen Haaren. Doch es waren verheulte Rotznasen, und da suchte er das Weite. Er machte sich wieder auf den Weg, nach Lavrio zu den Franzosen, und weiter zum Bau der neuen großen Straßen. Immer wieder kam er ausgehungert zurück und richtete seine junge Frau mit seinem nie versiegenden Verlangen nach nacktem Fleisch zugrunde. Die Ärmste starb an Lungenentzündung, und er blieb mit den beiden Mädchen zurück.

Im Dorf wollten ihn die Verwandten mit einer Frau verkuppeln, die jahrelang unglücklich in einen Arzt verliebt gewesen war. Der hatte sie verlassen, um sich eine andere mit einer üppigen Aussteuer zu nehmen. Das Mauerblümchen kriegte keinen mehr ab, alle hatten Mitleid mit ihr und lobten sie in den Himmel. Sie sei so ernsthaft, so häuslich, so tüchtig. »Bienenfleißig!«, sagten sie zu dem Witwer mit dem flotten Schnurrbart und der gebügelten Weste. Die alte Jungfer hatte schon alles fertig für eine Hochzeit und wartete nur noch auf den, der sie zur Frau nehmen würde. Nun ja, sie war nicht mehr ganz jung, etwas matronenhaft, ein Mannsweib, aber er hatte schließlich zwei Kinder, was konnte er da schon erwarten? Sie besaß ein Häuschen und Felder mit Weinreben und Olivenbäumen, alles tipp topp in Ordnung, und ihre Aussteuer stapelte sich mittlerweile bis unter die Decke. Das kam dem Witwer nicht gerade ungelegen, denn im Bergbau gab es keine sichere Zukunft mehr.

Mit seiner zweiten Ehe hatte er Glück. Er brachte auch seine beiden verrotzten Kinder mit, die sollten bei der Hochzeit die Schleppe tragen. In der ersten Nacht warf er seiner Angetrauten eine Handvoll funkelnder Steine aufs Bett, Quarz, Hämatit, Alabaster, alle aus Entzi. Einige glänzten wie Gold, andere wirkten wie milchige Tränen, einige waren dunkelblau und rot geädert, andere marineblau wie das Meer und wie die Augen des Blondschopfs, der später aus dem Bauch seiner neuen Frau gekrochen kam.

Die Steine waren schicksalhaft. Sie nisteten sich rasch in ihren Herzen ein. Viele Worte wurden nicht gewechselt. Die Arbeit auf den Feldern und in den Weinbergen war nichts für ihn. Als Bauer war er nicht zu gebrauchen, er hatte ja eine goldene Uhr und eine Weste mit Seidenfutter.

So ging er wieder nach Lavrio in die Bergwerke und schaute anderen Röcken hinterher. Seine neue Frau ließ er mitsamt der Kleinen in Kymi zurück und kam nur hin und wieder zu Besuch, um ihnen Geld zu bringen. Es war eine halbe Weltreise, er brauchte einen ganzen Tag dafür.

Nach jedem Besuch hinterließ er eine Spur: Schon bald kam auch ein Sohn. Seine Frau verhätschelte den Jungen und war stolz auf ihn.

Irgendwann wurde er es leid, sich in der Braunkohle schmutzig zu machen, und er kehrte ins Dorf zurück, um dort am Hafen ein Geschäft zu eröffnen, einen Gemischtwarenladen mit Fischereibedarf. Er hatte ihn sorgfältig eingerichtet, alles stand an seinem Platz, ordentlich in Säcken: Zucker, Mehl, Weizen, Linsen, Saubohnen, dann die Stapel mit sauberem Sackleinen, die großen Rollen mit den Schiffstauen, Angelhaken, Schnüre, die Ballen mit dem Segeltuch und die Netze, und in den Regalen die Flaschen mit dem Meersalz, grobkörniges Salz, das Frau und Kinder im Sommer aus den Felsmulden in Kavos kratzten. Er hatte auch Blechkanister mit Öl und eingeritzte Oliven in Salzlake. Das machte alles seine tüchtige Frau.

Er spielte Ladenbesitzer und fasste Fuß. Auf einem Stuhl hockte er vor dem Geschäft, schlürfte seinen Kaffee und träumte von der Ferne. Oft kamen auch die neuen Kinder, die kleine Blonde und ihr Bruder, zur Hafenstraße. Sie saßen in der Sonne vor dem Laden und betrachteten ebenfalls das Meer und die Fischerboote. Der Vater spendierte ihnen einen Löffel Vanillepaste in einem Glas Wasser. Die Mutter kam nur ein einziges Mal. Sie blieb lieber zu Hause, zusammen mit den Nachbarinnen, saß am Webstuhl, stickte und kümmerte sich um die Seidenkokons auf dem Maulbeerbaum.

Am späten Vormittag kamen die Fischer mit ihren Körben beim Geschäft vorbei. Der Ladenbesitzer suchte die besten Fische aus und gab sie später seinen beiden Kindern mit, die sie ihrer Mutter brachten. Alles lief wie am Schnürchen. Die Frau lächelte nun ein klein wenig öfter. Es gefiel ihr, dass er jetzt in Kymi sesshaft geworden war, als sein eigener Herr. Ihre beiden Kinder, das blonde Mädchen und sein Bruder, klebten an ihr. Mit den fremden Kindern wurde sie nie richtig warm. Die beiden hatten sich innerhalb der Familie ihre eigene Nische gesucht.

Dann kam der unheilvolle November. Gerade hatten an diesem Morgen noch die letzten Strahlen der Herbstsonne geschienen, da legte sich eine schwarze Wolke wie eine Krone auf den Apoklistis-Berg. »Wir kriegen schlechtes Wetter«, sagten die alten Männer im Kafenion. Bald setzte ein heftiger Wind ein, und die Leute gingen nicht mehr vor die Tür. In der Nacht schlugen die Fensterläden, die Zäune knarrten, und die Eisentüren quietschten. Der Wind bäumte sich auf, pfiff um die Ecken und trug die Dachziegeln ab. Die Steine, mit denen die Ziegeln beschwert waren, flogen weg, die Mutter schimpfte, dass sie am nächsten Tag wieder jemanden holen müsse, um erneut das Dach zu sichern. »Ich hoffe nur, dass es heute Nacht nicht regnet«, sagte sie. Der Vater kam nicht. »Bei diesem Unwetter wird er wohl im Laden bleiben und dort übernachten«, murmelte sie. Besorgt legten sie sich hin. Und niemand gab zu, dass er sich vor dem Lärm, den der Wind machte, fürchtete. Die Mutter nahm ihre eigenen Kinder zu sich ins Bett. Die fremden Mädchen schliefen zusammen in einem Kastenbett in der anderen Ecke des Zimmers. Die eine mit dem Kopf nach oben, die andere umgekehrt. Doch in jener Nacht legten sie sich nebeneinander und hielten sich vor lauter Angst fest umklammert. Ein heftiges Gewitter ging nieder. Als es anfing, von der Decke zu tropfen, stellten sie einen Eimer auf. Plitsch, platsch, die ganze Nacht, und beim Morgengrauen läuteten die Glocken.

Meine Mutter erzählte mir oft von dieser Nacht

Ich sah, wie deine Großmutter aufsprang, in ihrem Nachthemd, die langen Zöpfe schlugen ihr auf den Rücken. Sie stürzte hinaus auf die überdachte Veranda und blickte entsetzt nach Osten. Das Licht des neuen Tages begann sich langsam auszubreiten. In diese Morgendämmerung stieß sie einen Schrei aus.

»Meine Güte, Frau Kulla, was ist da los, dass die Glocken läuten?«, rief sie der Nachbarin zu.

»Ich habe etwas von Jannakis gehört. Der war hier. Da ist ein schlimmes Unglück passiert, sagt er, auf der Hafenstraße. Das Meer ist wie wild, hat alles mit sich gerissen. Hat die Schiffe weggespült, hat sie kurz und klein gemacht und an Land geschleudert. Jetzt ist bei den Schiffbesitzern das große Jammern ausgebrochen.«

»Großer Gott, was sagst du da? Bist du dir da sicher?«

»Aber ja doch, du Ärmste. Nichts ist übrig geblieben von den Läden. Das Wasser hat alles mitgerissen. Haushohe Wellen und mit einer unglaublichen Wucht. Den Balis hat es auch weggefegt, und jetzt suchen sie nach ihm. Das Meer hat sichnämlichetwas beruhigt, und das Wasser fließt ab. An dem Drahtseil schlugen die Kohlekübel wie Glocken hin und her, das Seil hat fürchterlich gequietscht, ist dann schließlich gerissen und hat weit ausgeschlagen. Ein Kübel voller Kohle ist ins Meer gestürzt. Sie haben es nicht mehr geschafft, ihn abzuladen. Von euch habe ich auch etwas gehört. Euer Laden ist vollkommen hin, meine arme Lenio. Das Meer hat euch alles genommen. Dein Mann ist untröstlich. Er rennt nur hin und her. Versucht, noch etwas von seinen Sachen aus dem Schlamm zu retten.«

So berichtete er es uns auch selber einen Tag später. Wie sich das Meer aufgebäumt hatte. Es kam an Land und riss einfach alles weg. Es räumte den Laden leer, und die Ware schwamm durch den Hafen bis nach Platana und noch weiter. In Stomio fanden sie eine Seiltrommel und leere Säcke. Das war später auch der Grund dafür, warum er jedes Mal hochschreckte, wenn er meine blauen Augen sah. Wie von der Tarantel gestochen. Ich mochte ihn nicht mehr anschauen. Immer wenn er hereinkam, senkte ich den Blick.

Es war das letzte Mal, dass mein Vater versuchte, in Kymi etwas aufzubauen. Ihm war das Herz schwer geworden. Ich bin nicht für das Landleben geschaffen, sagte er zu meiner Mutter. Sprach’s, stand auf und ging nach Athen. Unten am Markt in der Menandrou-Straße eröffnete er einen Gemischtwarenladen. Wenn er abends das Geschäft schloss, zog er seinen dunklen Nadelstreifenanzug an und ließ die goldene Uhr aus der Tasche baumeln. Später legte er sich auch eine Lesebrille zu und sah damit fast wie ein Gelehrter aus. Tagein tagaus war er bei den Mädels in der Athinas-Straße und in den Revuen mit den jungen Tänzerinnen. Ganz in seinem Element. Sogar der berühmten Marika Kotopouli, der Schauspielerin, soll er es angetan haben, hieß es. Früher in den dunklen Löchern der Berge, jetzt in den dunklen Löchern bei den Frauen.

Kurz darauf holte er auch seinen einzigen Sohn aus dem Dorf nach. Er sollte ihm zur Hand gehen. Später folgten die beiden Mädchen, die nun groß genug waren, um die Männer zu versorgen. In Kymi blieben meine Mutter und ich, ihr Blauäuglein.

Sie bemutterte mich, wo es nur ging. Aber auch ich versuchte ihr oft eine Freude zu machen. Ich schrieb ihr Gedichte auf, malte ihr kleine Bilder oder schenkte ihr getrocknete Blumen, die ich zwischen den Seiten meiner Hefte presste. Oft kam auch mein Lehrer bei uns zu Hause vorbei. Sein Lob war überschwänglich: wie fleißig doch das Mädchen sei, und wie intelligent und wie aufmerksam. Die Kleine ist ein wahres Talent. Entweder man hat’s oder man hat’s nicht, sagte der Lehrer. »Dein Mann und du, ihr müsst sie auf die höhere Schule geben. Wenn ihr es euch leisten könnt, schickt sie nach Athen, damit sie Lehrerin wird«, riet er meiner Mutter, die auf meinen Fortschritt in der Schule immer stolz war.

Im Sommer beschloss deine Großmutter, mit mir gemeinsam nach Athen zu fahren, um dem Rest der Familie einen Besuch abzustatten. Sie wollte mit ihrem Mann auch über das sprechen, was der Lehrer gesagt hatte. Dass ich in Athen studieren sollte. Die Fahrt dauerte einen ganzen Tag; zuerst ging es mit dem Schiff nach Piräus und von dort mit dem Bus nach Athen.

In der Menandrou-Straße wohnten wir ungefähr zwei Monate. Zu sechst drängten wir uns in zwei kleinen Zimmern. Deine Großmutter hatte ihrem Mann die Marienikone aus Kymi mitgebracht, damit sie ihn beschütze. Er stellte sie zu dem Öllämpchen auf das Regalbrett und lachte. Weiberkram, sagte er. Am nächsten Morgen war Mutter in heller Aufregung. Die Ikone stand nun auf der linken Seite. »Gestern Abend hattest du sie auf die rechte Seite gestellt«, beharrte sie. Er lachte wieder: Frauen und ihr Aberglaube. Meine Mutter bekreuzigte sich. »Heilige Muttergottes, sei mit uns! Das bringt uns Unglück, du wirst sehen«, sagte sie zu ihm, und kurz darauf kehrten wir wieder nach Kymi zurück.

Seit die anderen weg waren, schliefen wir zusammen im selben Bett. Ich sang ihr flüsternd Lieder vor, um ihren Kummer zu lindern, denn deine Großmutter konnte die Betrügereien ihres Mannes nicht vergessen. Bald traf uns auch das Unglück, von dem Mutter gesprochen hatte.

Eines Nachts erfasste mich eine große Unruhe. Es war dunkel, und ich fror. Ich versuchte, die Bettdecke um mich herumzuziehen, aber die Decke war aus Schnee gewebt. Ich zitterte und umarmte meine Mutter, die neben mir lag, sie drehte sich um und sprach mit mir, aber ich verstand sie nicht. Immer tiefer versank ich in der Schneedecke, die mich langsam ganz bedeckte und mir die Luft abschnürte. Nach einer Ewigkeit wachte ich verschwitzt auf und drückte mich an meine Mutter. Eiskalter Schweiß tropfte in meine Ohren.

Es verging kaum eine Woche, und wir kehrten nach Athen zurück. Dieses Mal ins Krankenhaus.

So ist das damals gewesen. Mit deiner Großmutter, deinem Großvater und mit mir.

Ein Schwindelgefühl

Mama, ich bringe alles durcheinander. Spreche ich nun von dir oder von mir? Von meinen Makeln, die mich bis heute verfolgen, oder von deinen Knoten? Du würdest wahrscheinlich sagen, dass wir sie ohnehin gemeinsam hatten.

Rede ich über deine Kindheit? Oder über mich, heute, und meine Qual mit den Wörtern? Dich konnten sie nicht erreichen und nicht in deine Ohren eindringen. Zu mir kamen sie, aber ich konnte mich nicht dazu entschließen, sie festzuhalten. Sie zu ergreifen und mir zu eigen zu machen, die Wörter.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!