Als ich erwachte - Cynthia Swanson - E-Book
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Als ich erwachte E-Book

Cynthia Swanson

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Beschreibung

Was, wenn du dein Leben zweimal lebst?

Eines Morgens erwacht Katharyn in einem fremden Bett. Neben ihr liegt ein gut aussehender Mann, der behauptet, ihr Ehemann zu sein. Doch sie ist nicht verheiratet, sondern alleinstehend und stolze Inhaberin einer Buchhandlung. Auch die Kinder, die ins Schlafzimmer stürmen, kennt sie nicht. Dieser Traum lässt sie nicht los, denn immer wieder kehrt sie nachts zu der fremden Familie zurück. Katharyn bleibt keine Wahl: Sie muss herausfinden, in welches Leben sie gehört – doch wird sie die Wahrheit ertragen?

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Seitenzahl: 561

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Zum Buch

Denver, 1962. Katharyn Miller führt eine kleine Buchhandlung und genießt ihre Freiheit. Doch irgendetwas scheint nicht zu stimmen. Warum sonst hätte sie diese sonderbar realen Träume, die sie in ein ganz anderes Leben katapultieren? Immer wieder wacht sie in einem fremden Schlafzimmer an der Seite eines gewissen Lars Andersson auf. Sie hat Lars noch nie gesehen, doch ihre Verwirrung scheint ihn nicht zu erstaunen. Er kümmert sich rührend um sie, weicht allerdings ihren Fragen aus. Zögerlich lässt sich Katharyn auf dieses fremde Leben ein und muss eine erschütternde Wahrheit über

sich erfahren …

Zur Autorin

Cynthia Swanson ist Autorin, Designerin und Inneneinrichterin. Ihre Kurzgeschichten

wurden in renommierten Zeitschriften veröffentlicht und für den Pushcart Prize nominiert. Als ich erwachte ist ihr erster Roman. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in Denver, Colorado.

CYNTHIA SWANSON IM GESPRÄCH

Wann hatten Sie die Idee zu Ihrem Roman »Als ich erwachte«?

Mir kam die Idee ganz plötzlich vor ungefähr vier Jahren, als ich darüber nachdachte, wie sehr sich mein eigenes Leben innerhalb nur weniger Jahre vom Single mit eigenem Häuschen zur verheirateten Mutter dreier Kinder verändert hatte. Der Film Sie liebt ihn, sie liebt ihn nicht, in dem die Hauptperson nicht mehr sicher ist, wohin sie wirklich gehört, kam mir in den Sinn. Ich fing an zu schreiben, und ab dann entwickelte sich die Geschichte nahezu von allein.

Sie leben mit Ihrer Familie in Denver, dem Schauplatz des Romans. Was verbindet Sie mit dieser Stadt?

Ich lebe nun schon fast fünfzehn Jahre hier. Es ist eine großartige, vielfältige, florierende und familienfreundliche Stadt. Wir haben eine wunderschöne Landschaft und gleichzeitig eine lebendige Kultur-, Kunst- und Sportszene. Und die Berge sind nur 30 Minuten entfernt! Mein Mann und ich wollen hier bleiben. Wir kommen beide aus anderen Städten, ich bin in Wisconsin und später New York aufgewachsen, aber Denver ist jetzt unser Zuhause.

Warum spielt »Als ich erwachte« im Jahr 1962?

Ursprünglich spielte die Geschichte in der Gegenwart. Aber als ich ein paar Kapitel des ersten Entwurfs geschrieben hatte, merkte ich, dass sie in ein bestimmtes historisches Setting gehört. Heutzutage hätte Kitty viel mehr Möglichkeiten zur Hand (das Internet!), um herauszufinden, was los ist. Wahrscheinlich wäre sie ihrer ganzen Situation gegenüber viel zynischer. Ich liebe die 1960er Jahre und habe vor allem eine Leidenschaft für das Design dieser Zeit, deshalb waren sie für mich naheliegend.

Katharyn ist Buchhändlerin. Was bedeuten Buchhandlungen für Sie?

Buchhandlungen liebe ich seit jeher, sie ziehen mich schon immer an. Jahrelang habe ich davon geträumt, eines Tages einen eigenen Laden zu führen. Dazu wird es wohl nicht mehr kommen, aber umso mehr Spaß macht es, mir diesen Wunsch durch meine Figuren zu erfüllen. Mein Lieblingsbuchladen ist The Tattered Cover, der so etwas wie eine Institution in Denver ist. Die Besitzerin arbeitet schon sehr lange in diesem Beruf und war so nett, mir davon zu erzählen, wie es war, in den 1960er-Jahren Buchhändlerin zu sein. Auch meine Verwandten, die eine kleine Buchhandlung betreiben, haben mir bei Fragen geholfen.

CYNTHIA SWANSON

Als ich erwachte

ROMAN

Aus dem Amerikanischen von

Ute Brammertz

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. Copyright © 2015 by Cynthia Swanson

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015

by Diana Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Redaktion | Anja Freckmann

Umschlaggestaltung | t.mutzenbach design, München

Umschlagmotiv | © shutterstock

Autorenfoto | © Glenda Cebrian

Satz | Leingärtner, Nabburg

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-641-15541-4V002

www.diana-verlag.de

Für meine Eltern, Dennis und Audrey Fisher,

in Liebe und Dankbarkeit

»Vertrau auf dein Glück und die Fülle deines Lebens im Augenblick. Er ist so wahr und gehört so sehr dir wie alles, was dir je widerfahren ist.«

–Katherine Anne Porter, Letters of Katherine Anne Porter

1

Das hier ist nicht mein Schlafzimmer.

Wo bin ich? Während ich mir eine fremde Bettdecke bis ans Kinn ziehe, versuche ich angestrengt, meine Gedanken zu ordnen. Doch ich kann mir nicht erklären, weshalb ich mich an diesem Ort befinde.

Ich kann mich noch daran erinnern, wie ich Mittwochabend mein Schlafzimmer in einem hellen, satten Gelb gestrichen habe. Ich weiß noch, dass Frieda, die mir ihre Hilfe angeboten hatte, sich ziemlich kritisch über meine Farbwahl äußerte. »Zu viel Sonnenschein für ein Schlafzimmer«, stellte sie in dem ihr eigenen Besserwissertonfall fest. »Wie willst du an düsteren Tagen jemals ausschlafen?«

Ich tauchte den Pinsel in den Farbeimer, streifte sorgfältig die überschüssige Farbe ab und kletterte die Trittleiter hoch. »Genau darum geht es«, erklärte ich Frieda. Nach vorn gebeugt strich ich sorgfältig entlang der hohen, schmalen Fensterrahmen.

Sollte ich mich nicht daran erinnern, was als Nächstes passierte? Merkwürdigerweise tue ich das nicht. Ich erinnere mich nicht, wie wir den Abend mit Streichen verbrachten und schließlich von der Zimmermitte aus unser Werk bewunderten. Ich erinnere mich nicht daran, dass ich mich bei Frieda für ihre Hilfe bedankt und mich von ihr verabschiedet hätte. Ich weiß nicht mehr, wie ich in dem sonnenfarbenen Zimmer eingeschlafen bin, den stechenden Geruch von frischer Farbe in der Nase. Doch ich muss das alles getan haben, denn hier liege ich nun. Und angesichts der Tatsache, dass es sich bei dem Hier nicht um mein Zuhause handelt, schlafe ich offensichtlich noch.

Allerdings ist das hier keiner meiner typischen Träume. Meine nächtlichen Ausflüge neigen ins Fantastische, es sind Träume, die sich über die herkömmliche Vorstellung von Raum und Zeit hinwegsetzen. Das kommt daher, so jedenfalls meine Überlegung, dass ich so viel lese. Zuletzt habe ich Das Böse kommt auf leisen Sohlen gelesen. Dieses wunderbare Buch ist erst letzten Juni veröffentlicht worden, man rechnet jedoch damit, dass es eines der meistverkauften Bücher des Jahres 1962 werden wird. Ich dränge den Roman jedem auf, der auf der Suche nach etwas »richtig Fesselndem« Friedas und meine Buchhandlung betritt.

»Es wird Sie in Ihren Träumen heimsuchen«, versichere ich unseren Kunden. Eine selbsterfüllende Prophezeiung: Vorgestern Nacht träumte ich, ich stolperte hinter Will Halloway und Jim Nightshade her, den beiden jungen Hauptfiguren aus Bradburys Buch, als sie mitten in der Nacht von einem Jahrmarkt angelockt wurden, der eben seine Zelte in Green Town aufgeschlagen hatte. Ich versuchte, sie zu überreden, auf der Hut zu sein – doch wie dreizehnjährige Jungen nun einmal sind, achteten sie einfach nicht auf mich. Ich erinnere mich noch, wie schwierig es war, Schritt mit ihnen zu halten, wie meine Füße einfach nicht richtig funktionieren wollten. Will und Jim verschwanden im Schatten, ihre Gestalten wurden zu dunklen Punkten und lösten sich schließlich im Nichts auf, und ich konnte nur verärgert heulen.

Demnach bin ich nicht die Art Frau, die etwas derart Simples träumt, wie im Schlafzimmer eines anderen Menschen aufzuwachen.

Das Traum-Schlafzimmer ist ein gutes Stück größer und schicker als mein eigenes Schlafzimmer. Die Wände sind graugrün, ganz anders als das satte Gelb, für das ich mich bei mir zu Hause entschieden hatte. Bei dem Mobiliar handelt es sich um ein komplettes Schlafzimmerensemble, elegant und modern. Die Tagesdecke ist ordentlich am Fußende des Bettes gefaltet. Meinen Körper umhüllt weiche, farblich abgestimmte Bettwäsche. Es ist reizend, wenn auch auf eine etwas zu gewollte Art.

Ich rutsche unter die Decke und mache die Augen zu. Wenn ich die Augen geschlossen halte, werde ich mich doch gewiss bald beim Walfischfang im Südpazifik wiederfinden, schäbig gekleidet und mit den Kerlen auf meinem Schiff Whiskey saufend. Oder ich fliege hoch über Las Vegas dahin, die Arme in gewaltige Flügel verwandelt, während mir der Wind die Haare ins Gesicht klatscht.

Doch nichts dergleichen geschieht. Stattdessen vernehme ich eine Männerstimme. »Wach auf. Katharyn, Liebes, wach auf.«

Ich öffne die Augen und blicke in tiefblaue Augen, so tiefblau, wie ich noch nie welche gesehen habe.

Und dann schließe ich meine eigenen wieder.

Ich spüre eine Hand auf der Schulter, die bis auf den dünnen Träger meines Satinnachthemds nackt ist. Es ist schon eine gute Weile her, seit mich zuletzt ein Mann intim berührt hat. Doch manche Gefühle sind unverkennbar, ganz egal, wie selten man sie erlebt.

Ich weiß, dass ich verängstigt sein sollte. Das wäre eine angemessene Reaktion, oder nicht? Selbst im Schlaf sollte man entsetzt sein, wenn man die Hand eines fremden Mannes auf der nackten Haut spürt.

Stattdessen empfinde ich die Berührung dieses imaginären Kerls merkwürdigerweise als ausgesprochen angenehm. Der Griff ist sanft, aber fest, die Finger liegen um meinen Oberarm, der Daumen streichelt mir sanft über die Haut. Ich halte die Augen geschlossen und genieße das Gefühl.

»Katharyn. Bitte, Liebes. Es tut mir leid, dass ich dich wecke, aber Missys Stirn fühlt sich warm an – sie verlangt nach dir. Du musst bitte aufstehen.«

Mit geschlossenen Augen lasse ich mir diese Informationen durch den Kopf gehen. Ich frage mich, wer Missy ist und weshalb mich ihre warme Stirn etwas angehen sollte.

Ohne jeden Zusammenhang, wie es für Träume typisch ist, werden meine Gedanken von einem Songtext abgelöst, der vor ein paar Jahren viel im Radio gespielt wurde. Ich kann zwar die Melodie hören, bin mir aber sicher, dass der Text nicht stimmt. Rosemary Clooney sang das Lied, es ging darum, auf Wolken zu schweben. Und sich nicht von der Liebe zum Narren halten zu lassen. Bei der Vorstellung muss ich lächeln. Offensichtlich verhalte ich mich hier so närrisch, wie es nur eben geht.

Ich öffne die Augen und setze mich im Bett auf, bereue diesen Positionswechsel aber sogleich, da er den blauäugigen Mann dazu veranlasst, seine warme Hand von meiner Schulter zu nehmen.

»Wer sind Sie?«, frage ich ihn. »Wo bin ich?«

Er erwidert meinen fragenden Blick. »Katharyn, geht’s dir gut?«

Der Ordnung halber sei gesagt, dass mein Name nicht Katharyn ist. Ich heiße Kitty.

Na gut – ich heiße tatsächlich Katharyn. Aber ich habe meinen Vornamen nie gemocht. Er kam mir stets zu förmlich vor. Kath-a-ryn rollt nicht von der Zunge, so wie Kitty es tut. Außerdem haben mir meine Eltern eine ungewöhnliche Schreibweise eines ansonsten gewöhnlichen Namens verpasst, und ich finde es zu mühsam, ihn jedes Mal, wenn ich danach gefragt werde, buchstabieren und erläutern zu müssen.

»Ich glaube, es geht mir gut«, erkläre ich Blau-Auge. »Aber ich meine es ernst, ich habe keine Ahnung, wer du bist oder wo ich mich befinde. Es tut mir leid.«

Er lächelt, und seine schönen Augen funkeln. Abgesehen von den Augen sieht er recht durchschnittlich aus. Mittelgroß, mittel gebaut, ein leichter Rettungsring um die Hüften. Rotbraunes, lichtes Haar, das allmählich ein bisschen grau wird. Ich würde ihn auf um die vierzig schätzen, ein paar Jahre älter als ich. Ich atme ein und bemerke einen waldigen Seifengeruch an ihm, als hätte er sich eben rasiert und geduscht. Er riecht köstlich, und mein Herz setzt einen Moment aus. Du meine Güte, kann dieser Traum noch absurder werden?!

»Du musst sehr tief geschlafen haben, Liebes«, sagt er. »Du weißt doch, wer ich bin. Ich bin dein Ehemann. Du bist in unserem Schlafzimmer in unserem Haus.« Er macht eine ausladende Bewegung mit dem Arm, wie zur Bestätigung seiner Worte. »Und im Moment hat unsere Tochter – deren Name übrigens Missy lautet, falls du das auch vergessen haben solltest – wahrscheinlich Fieber und braucht ihre Mutter.«

Er hält mir die Hand entgegen. Instinktiv lege ich meine hinein.

»Okay?«, fleht er. »Bitte, Katharyn.«

Ich runzele die Stirn. »Es tut mir leid, du hast gesagt, du bist …?«

Er seufzt. »Dein Ehemann, Katharyn. Ich bin dein Ehemann Lars.«

Lars? Sonderbarer Name. Ich kann mich nicht erinnern, jemals einem Menschen mit diesem Namen begegnet zu sein. Unwillkürlich muss ich ein wenig über mein ach so erfinderisches Gehirn lächeln. Es konnte nicht einfach einen Harry oder Ed oder Bill ins Leben rufen. Nein, Ma’am, mein Hirn hat einen Ehemann namens Lars fabriziert.

»Na gut«, sage ich. »Ich komme gleich.«

Er drückt meine Hand und lässt sie los, beugt sich dann zu mir, um mir einen Kuss auf die Wange zu geben. »Ich werde schon mal Fieber messen, während wir auf dich warten.« Er erhebt sich und verlässt das Zimmer.

Wieder schließe ich die Augen. Jetzt wird es in meinem Traum doch gewiss einen Schauplatzwechsel geben.

Aber als ich die Augen wieder öffne, bin ich immer noch dort. Immer noch in dem grünen Schlafzimmer.

Da es wohl sein muss, stehe ich auf und durchquere das Zimmer. Anhand der Fenster hoch über dem Bett, der gläsernen Schiebetür, die aussieht, als führe sie auf eine Art Terrasse, und des großen angrenzenden Badezimmers schließe ich, dass dieses Zimmer, wäre es denn real, sich in einem recht modernen Wohnhaus befindet. Moderner – und vermutlich größer – als meine Zwei-Zimmer-Maisonettewohnung aus den 1920er-Jahren, die im Viertel Platt Park in Denver liegt und wo ich zur Miete wohne.

Ich spähe ins Badezimmer. Es ist hellgrün, glänzend und chromverziert. Der lange Toilettentisch hat zwei Waschbecken, helle Holzschränkchen, die spitz zur Wand hin zulaufen, und eine goldgesprenkelte Resopalplatte. Der geflieste Boden besteht aus einem frischen Mosaik aus Minzgrün, Rosa und Weiß. Ich habe keine Ahnung, ob ich mich noch in Denver befinde, aber falls ja, ist das hier ganz gewiss nicht das gute alte Platt Park, wo seit der Vorkriegszeit nichts Neues mehr gebaut worden ist.

Als ich mich im Spiegel über dem Toilettentisch mustere, rechne ich halb damit, einen völlig anderen Menschen zu erblicken – wer weiß, wer diese Katharyn ist? Doch ich sehe genauso aus wie immer. Klein, vollbusig, mit rotblonden Haaren, die mich regelmäßig zum Verzweifeln bringen, weil sie sich über meiner Stirn zu eine Schmachtlocke kringeln und sich am ganzen Kopf kräuseln, egal, wie oft ich sie waschen und legen lasse. Ich fahre mit den Fingern hindurch und bemerke dabei, dass sich am Ringfinger meiner linken Hand ein glitzernder Diamant und ein breiter goldener Ehering befinden. Tja, natürlich, denke ich. Wie optimistisch von meinem Gehirn, einen Ehemann zu erfinden, der sich einen derart großen Klunker leisten kann.

Beim Herumstöbern im Wandschrank finde ich einen marineblauen Steppbademantel, der perfekt sitzt. Während ich mir den Gürtel um die Taille schlinge, betrete ich den Flur auf der Suche nach dem Mann mit dem seltsamen Namen Lars und seinem kranken Kind Missy.

An der Wand direkt vor mir, offensichtlich so platziert, dass man es vom Schlafzimmer aus sehen kann, hängt ein großes Farbfoto. Es zeigt eine Berglandschaft: Die Sonne ist bereits hinter dem Horizont versunken, beleuchtet aber noch die Berggipfel in Rosa- und Goldtönen. Entlang der ganzen linken Seite der Fotografie ragen Gelbkiefern auf. Ich lebe seit meiner Geburt in Colorado, aber ich habe keine Ahnung, welche Gegend der Rocky Mountains hier abgebildet ist oder ob das Bild überhaupt die Rockys darstellt.

Noch während ich dieses Rätsel zu ergründen suche, packt mich jemand von rechts um die Taille. Es kostet mich einige Mühe, mein Gleichgewicht wiederzuerlangen und nicht nach hinten zu kippen.

»Aua!«, sage ich und drehe mich zur Seite. »Lass das und stell dich gefälligst richtig hin. Du bist zu groß, um dich einfach an andere Menschen zu lehnen. Du musst dich schon selbst auf den Beinen halten.«

Was in aller Welt …? Wer ist die Frau, die diese Dinge äußert? Ich kann das nicht sein. Diese Worte klingen nicht wie etwas, das ich jemals sagen oder auch nur denken würde.

Ein kleiner Junge blickt zu mir hoch. Er hat die durchdringenden blauen Augen von Lars und eine ordentliche Kurzhaarfrisur, die aber eine rötlich blonde Schmachtlocke über seiner Stirn nicht verbergen kann. Sein Pfirsichgesicht ist sauber geschrubbt. Er sieht aus, als käme er direkt aus einer Werbung für Milch oder Eis am Stiel. Ja, so süß ist er, und während ich ihn betrachte, schmilzt mein Herz ein wenig.

Er lässt mich los und entschuldigt sich. »Ich habe dich bloß vermisst, Mama«, sagte er. »Ich hab dich seit gestern nicht gesehen.«

Ich bin sprachlos. Dann rufe ich mir ins Gedächtnis, dass ich schließlich träume, und lächele den Jungen an. Ich beuge mich zu ihm runter und drücke versöhnlich seine Schulter. Ich gebe mich diesem Traum jetzt einfach hin. Warum nicht? Bisher ist er eine ziemlich angenehme Angelegenheit.

»Bring mich zu deinem Vater und Missy«, sage ich und ergreife die weiche, rundliche Hand des Kindes.

Wir gehen den Flur entlang und eine kurze Treppe hoch. Oben befindet sich ein Mädchenschlafzimmer mit rosaroten Wänden, einem kleinen weißen Holzbett und einem niedrigen Bücherregal voller Bilderbücher und Stofftiere. Aufrecht im Bett sitzt ein ebenso engelhaftes Kind, eine weibliche Version des Jungen, der meine Hand hält. Ihre Miene ist verloren, die Wangen sind gerötet. Sie ist ungefähr so groß wie der Junge. Ich bin eine Niete im Erraten, wie alt Kinder sind, aber ich würde tippen, dass diese beiden um die fünf oder sechs Jahre alt sind. Zwillinge?

»Mama ist hier!«, sagt der Engelsjunge und klettert aufs Bett. »Missy, Mama ist hier, und alles wird wieder gut.«

Missy wimmert. Ich setze mich neben sie und berühre ihre Stirn, die sich erschreckend heiß anfühlt. »Was tut dir weh?«, frage ich sie sanft.

Sie beugt sich zu mir. »Alles, Mama«, sagt sie. »Vor allem der Kopf.«

»Hat Daddy Fieber gemessen?« Ich fasse es nicht, wie mühelos mir diese Worte, diese mütterlichen Handlungsweisen zufliegen. Ich komme mir wie ein alter Hase vor.

»Ja, er wäscht gerade das Ther-mo-neter ab.«

»Thermometer«, verbessert der Engelsjunge sie. »Es heißt Ther-mo-meter. Nicht Ther-mo-neter.«

Sie verdreht die Augen. »Kümmer dich um deinen eigenen Kram, Mitch.«

Lars erscheint im Türrahmen. »Achtunddreißig sieben«, berichtet er.

Ich bin mir nicht sicher, was das bedeutet. Oh, ich weiß natürlich, es bedeutet, dass ihre Temperatur 38,7 Grad Celsius beträgt. Aber ich weiß nicht, was jetzt zu tun ist: welche Medikamente zu geben sind, ob Bettruhe richtig ist oder in die Schule gehen.

Weil ich keine Kinder habe. Ich bin keine Mutter.

Ich will damit nicht andeuten, dass ich nie Kinder haben wollte. Ganz im Gegenteil. Ich gehörte zu den kleinen Mädchen, die ihre Babypuppen liebten, ihnen im Spiel das Fläschchen gaben und sie wickelten und in einem winzigen Kinderwagen herumschoben. Als Einzelkind habe ich meine Eltern um ein Geschwisterchen angefleht – nicht weil ich eine große Schwester sein, sondern weil ich jemanden bemuttern wollte.

Lange dachte ich, ich würde Kevin heiraten, meinen festen Freund seit dem College. Er zog ’43 in den Pazifikkrieg, genau wie beinahe jeder andere junge Mann, der nicht bereits fort war. Ich hielt ihm die Treue – damals machten die Mädchen das, die Treue halten. Kevin und ich schrieben einander fleißig Briefe. Ich schickte ihm Carepakete mit Keksen, Strümpfen, Rasierseife. Im Haus meiner Studentinnenvereinigung steckten wir Reißnägel in eine Karte des Südpazifiks, um das Vorankommen unserer Jungs zu markieren. »Das Warten ist schwer, aber es wird die Sache wert sein, wenn sie erst einmal wieder zu Hause sind«, versicherten wir Mädchen einander. Wir schluchzten in unsere Taschentücher, wenn uns zu Ohren kam, dass der Liebste einer anderen nicht zurückkehren würde. Doch gleichzeitig schickten wir insgeheim ein kleines Dankesgebet gen Himmel, weil es nicht unser Liebster war, diesmal nicht.

Sehr zu meiner Erleichterung kehrte Kevin unversehrt und anscheinend unverändert aus dem Krieg zurück, begierig darauf, sein Medizinstudium wieder aufzunehmen und Arzt zu werden. Wir waren weiterhin ein Paar, doch er machte mir nie einen Antrag. Man lud uns zu einer Hochzeit nach der anderen ein, und jeder fragte, wann wir an der Reihe wären. »Oh, ihr wisst schon, eines Tages!«, sagte ich dann in unverhohlen fröhlichem und beiläufigem Tonfall. Kevin wechselte einfach das Thema.

Die Jahre verstrichen. Kevin beendete sein Medizinstudium und begann, als Assistenzarzt zu arbeiten. Ich war Lehrerin und unterrichtete Fünftklässler. Doch was unsere Beziehung betraf, verlief ein Jahr so statisch wie das nächste. Schließlich wurde mir klar, dass ich ihm ein Ultimatum stellen musste. Ich erklärte Kevin, falls er mich nicht heiraten wolle, sei unsere Beziehung am Ende.

Er seufzte tief. »Das ist wahrscheinlich das Beste«, sagte er. Sein Abschiedskuss war flüchtig, oberflächlich. Kein Jahr später hörte ich, er habe eine Krankenschwester geheiratet, die im selben Krankenhaus wie er arbeitete.

Tja, in meiner Traumwelt spielt all das – die vergeudeten Jahre mit Kevin, seine gefühllose Zurückweisung – offensichtlich überhaupt keine Rolle. In dieser Welt habe ich irgendwann das große Los gezogen. Schön für dich, Kitty, höre ich die Glückwünsche meiner Freundinnen aus der Studentinnenverbindung. Schön für dich.

Der Gedanke kommt mir absurd vor, und ich unterdrücke ein Lachen. Beschämt halte ich mir die Hand vor den Mund. Dies ist zwar bloß ein Traum, aber trotzdem gibt es hier ein krankes Kind. Ich sollte mich angemessen benehmen. Ich sollte mir, wie es sich gehört, mütterlich Sorgen machen.

Ich blicke von Missys Bett auf und sehe Lars in die Augen. Er starrt mich voll Bewunderung und – interpretiere ich das etwa richtig? – Verlangen an. Sehen Eheleute sich wirklich auf diese Weise an? Selbst mitten in einer Kind-hat-Fieber-Krise?

»Was meinst du?«, fragt Lars mich. »Du weißt bei so etwas immer, was zu tun ist, Katharyn.«

Tue ich das? Dieser Traum ist wirklich interessant. Ich werfe einen Blick aus dem Fenster und sehe allem Anschein nach einen Wintermorgen. Die Fensterscheibe ist vereist, und es schneit leicht.

Und auf einmal, auch wenn ich nicht erklären kann, warum, weiß ich tatsächlich genau, was zu tun ist. Ich stehe auf und durchquere den Flur zum Badezimmer. Ich weiß, wo ich auf dem Regal im Arzneischränkchen die winzige Plastikflasche mit St. Joseph’s-Kinder-Aspirin finden werde. Ich ziehe einen Pappbecher aus dem an der Wand befestigten Spender und lasse ein wenig kaltes Wasser hineinlaufen. Nachdem ich den Wäscheschrank im Badezimmer geöffnet habe, entnehme ich einen Waschlappen, halte ihn unter kaltes Wasser und wringe ihn aus.

Entschlossenen Schrittes trage ich das Arzneifläschchen, Waschlappen und Becher in Missys Zimmer. Ich lege ihr den Waschlappen auf die Stirn und drücke ihn behutsam gegen ihre warme Haut. Ich reiche ihr zwei Aspirintabletten. Sie schluckt sie folgsam und nimmt den Becher mit Wasser, um sie hinunterzuspülen. Mit einem dankbaren Lächeln lehnt sie sich in ihr Kissen zurück.

»Wir sollten ihr jetzt etwas Ruhe gönnen.« Ich decke Missy zu und hole etliche Bilderbücher aus dem Regal. Sie fängt an, in Madeline’s Rescue zu blättern – einem Band aus der entzückenden Kinderreihe von Ludwig Bemelmans über eine Pariser Internatsschülerin namens Madeline und ihre elf Klassenkameradinnen – das Haus rankenbewachsen, die Mädchen in zwei geraden Reihen. Missys Finger fahren die Wörter auf jeder Seite nach, während sie sie mit heiserer Flüsterstimme vor sich hin spricht.

Lars tritt näher und ergreift meine Hand. Wir lächeln gemeinsam unserer Tochter zu und verlassen leise das Zimmer, unseren bezaubernden Sohn an unserer Seite.

Aber dann ist der Traum auch schon wieder zu Ende, so jäh, wie er eingesetzt hat.

Der Wecker an meinem Bett klingelt schrill. Mit geschlossenen Augen strecke ich die Hand aus und drücke fest auf den Knopf, um den Alarm auszuschalten. Ich öffne die Augen, und das Zimmer ist gelb. Ich bin zu Hause.

2

»Du meine Güte«, sage ich laut. »Das war ja mal ein Traum!« Steif setze ich mich im Bett auf. Aslan, mein gelblich getigerter Kater, liegt zusammengerollt neben mir und schnurrt leise mit halb geschlossenen Augen. Ich habe ihn nach dem Löwen aus Der König von Narnia von C. S. Lewis benannt – ein außergewöhnliches Buch, insbesondere, wenn man Fantasygeschichten für Kinder liebt. Ich habe jeden Roman der Narnia-Reihe gleich nach der Erstveröffentlichung gelesen und inzwischen alle Bände mindestens ein halbes Dutzend Mal.

Ich sehe mich in meinem Schlafzimmer um. Die Fenster sind kahl, so ohne ihre Vorhänge und Jalousien. Auf den hölzernen Fensterrahmen klebt noch das Abdeckband. Bett und Nachttisch sind die einzigen Möbelstücke im Zimmer. Bevor wir gestern mit dem Malern anfingen, trugen Frieda und ich meine Kommode und die Aussteuertruhe ins Wohnzimmer, um Platz zu schaffen und die Möbel vor Farbspritzern zu schützen. Das Zimmer riecht nach Farbe, aber der Farbton ist außergewöhnlich – er leuchtet wie die Sonne an einem strahlenden Tag. Und genau das hatte ich mir erhofft. Mit einem zufriedenen Lächeln stehe ich auf und ziehe den Morgenmantel über, während ich über den mit Zeitungspapier ausgelegten Boden tapse.

Auf dem Weg in die Küche schalte ich das Radio ein, das auf einem der vielen Bücherregale in meinem Wohnzimmer steht. Die Regale sind allesamt zerkratzt, stammen aus Ramschverkäufen und quellen vor Büchern und Zeitschriften fast über. Ich drehe an dem Regler, um den Ton lauter zu stellen, und suche dann KIMN. Es läuft »Sherry« von The Four Seasons, das diese Woche ständig im Radio zu hören ist – ich würde jede Wette eingehen, dass es am Wochenende Platz eins der Hitparade belegen wird.

Ich halte meinen Kaffee-Perkolator unter den Küchenhahn und fülle ihn mit Wasser, ziehe dann eine Dose Eight- O’Clock-Kaffee aus einem Hängeschrank und fange an, das Pulver in das Edelstahlfach des Perkolators abzumessen.

»… Out tonight …«, singe ich leise vor mich hin, während das Lied im Radio ausklingt.

»Und jetzt kommt ein Oldie, aber ein richtig guter«, sagt der Moderator. »Erinnert sich noch jemand an den hier?«

Als der nächste Song einsetzt, erstarrt meine Hand, schwebt, das Kaffeelot zwischen den Fingerspitzen, reglos in der Luft. Rosemary Clooneys Stimme schallt durch meine kleine Maisonettewohnung.

»Das ist jetzt aber unheimlich«, erkläre ich Aslan, der hereinspaziert ist, um nachzusehen, ob seine morgendliche Milchschale bereits auf dem Boden steht. Ich fülle das fehlende Kaffeepulver ein und schalte den Perkolator ein.

Das Lied – jetzt entsinne ich mich, dass es »Hey There« heißt – ist mindestens acht Jahre alt. Ich weiß nicht mehr, in welchem Jahr genau es so populär war, aber ich erinnere mich, dass ich es damals oft vor mich hin summte. Ich habe ewig nicht mehr an das Lied gedacht. Bis ich es in dem Traum vergangene Nacht in meinem Kopf spielen hörte.

Ich rufe mir die Augen meines Traum-Ehemannes ins Gedächtnis, durchdringend und blau, wie das Wasser auf einer Postkarte von irgendeinem exotischen Ort. Ich erinnere mich daran, wie ich dachte, dass ich mich eigentlich fürchten sollte, es aber nicht tat. Schwebte ich beim Anblick dieses Mannes zu sehr auf Wolken? Ich hege den Verdacht, dass man das wohl sagen könnte.

Tja, aber wie hätte ich das nicht tun sollen? So wie er mir in die Augen blickte. Er sah mich an, als wäre ich alles für ihn. Als wäre ich seine ganze Welt.

Das war für mich zweifellos exotisch. Niemand, noch nicht einmal Kevin, hat mich jemals so angesehen.

Und wie Lars mit mir geredet hat! Katharyn, Liebes, wach auf. Du musst sehr tief geschlafen haben, Liebes. Du weißt immer, was zu tun ist, Katharyn.

Kein Mensch in der realen Welt sagt mir solche Dinge. Und ganz gewiss spricht mich niemand mit Katharyn an.

Vor ein paar Jahren spielte ich kurzzeitig mit dem Gedanken, mich Katharyn nennen zu lassen. Das war zu dem Zeitpunkt, als Frieda und ich unsere Buchhandlung eröffneten. Anlässlich einer neuen Berufslaufbahn und eines neuen Jahrzehnts – ich war ein paar Monate zuvor dreißig geworden – hatte ich das Gefühl, es sei an der Zeit für eine große Veränderung. Trotz meiner generellen Abneigung gegen das sperrige Katharyn, fiel mir kein besserer Weg ein, als meinen großen persönlichen Umbruch mit einer Namensänderung einzuläuten. Vielleicht, so meine Überlegung, musste ich mich nur daran gewöhnen.

Und so stürzte ich mich in das Vorhaben. Ich ließ Schreibpapier mit dem Namen »Katharyn Miller« drucken. Ich bat Frieda und meine anderen Freunde, mich Katharyn zu nennen. Kunden gegenüber stellte ich mich als Katharyn vor, ebenso anderen Geschäftsinhabern, die wir erst nach und nach in unserer kleinen Ladenzeile in der Pearl Street kennenlernten. Ich bat sogar meine Eltern, meinen vollen Vornamen zu benutzen – was sie, wenn auch widerwillig, taten. Sie haben mir schon immer jeden Wunsch von den Augen abgelesen.

Frieda ließ sich nicht so leicht umstimmen. »Kitty passt zu dir«, sagte sie. »Warum willst du das ändern?«

Ich zuckte die Schultern und sagte, dass es vielleicht einfach an der Zeit sei, erwachsen zu werden.

Ich benutzte den Namen sogar, wenn ich mich potenziellen Verehrern vorstellte. Es fühlte sich gut an, ein Neuanfang. Eine Chance, ein neuer Mensch zu sein. Jemand, der etwas kultivierter war, etwas erfahrener.

Mit keinem dieser Männer passierte etwas – hier und da eine erste Verabredung, aber keine zweite. Anscheinend führte der geänderte Name nicht automatisch zu einer Veränderung meiner Persönlichkeit, wie ich es mir erhofft hatte.

Nach ein paar Monaten warf ich das »Katharyn Miller«-Schreibpapier in den Mülleimer und ging stillschweigend dazu über, mich wieder Kitty zu nennen. Niemand sagte etwas dazu.

Ich nehme meinen Kaffee mit an meinen Schreibtisch, der vor den beiden Wohnzimmerfenstern steht. Ich ziehe die Vorhänge auf. Von diesem Platz aus kann ich auf die Washington Street hinaussehen. Es ist ein sonniger, warmer Septembertag. Der Postbote kommt die Straße herunter. Ich winke ihm, als er meinen Briefkasten und den der Hansens füllt, denen dieses Haus gehört und die in der anderen Wohnung leben. Nachdem der Postbote fort ist, gehe ich nach draußen, um meine Post und meine Morgenzeitung, die Rocky Mountain News, zu holen.

Lars, Lars … Der Name spukt mir immer noch im Kopf herum. Lars wer?

Und wo habe ich den Namen schon einmal gehört?

Während ich wieder ins Haus gehe, werfe ich einen Blick auf die Schlagzeilen auf der ersten Seite. Präsident Kennedy hat gestern eine Rede an der Rice University gehalten und versprochen, noch in diesem Jahrzehnt einen Mann auf den Mond zu schicken. Das glaube ich erst, wenn ich es sehe. Ich werfe die Zeitung auf den Esstisch, weil ich sie beim Frühstück lesen möchte.

Viel Post ist nicht da: abgesehen von ein paar Rechnungen nur ein Werbezettel mit einem Gutschein für eine Autowäsche – nicht dass mir das etwas nützen würde, ich besitze nicht einmal ein Auto – und eine Karte von meiner Mutter.

Guten Morgen, mein Schatz,

ich hoffe, das Wetter ist gut. Hier sind 29 Grad, und es ist schwül, aber natürlich schön. Es gibt keinen schöneren Ort auf der Welt, das kannst du mir glauben!

Ich möchte dich an das Datum unserer Rückkehr erinnern. Wir werden den Nachtflug am 31. Oktober nehmen. In Los Angeles werden wir Anschluss haben und am Donnerstag den 1. November in Denver ankommen.

Es ist wunderbar hier, aber wir können es nicht erwarten, nach Hause zurückzukommen und die Herbstfarben zu sehen. Und natürlich dich.

Alles Liebe

Mutter

PS: Außerdem brenne ich darauf, ins Krankenhaus zurückzukehren. Ich vermisse die Babys ganz schrecklich. Wie viele wohl auf die Welt gekommen sind, seitdem wir fort sind???

Ich muss über ihre Karte lächeln. Meine Eltern sind seit drei Wochen in Honolulu und werden noch etwa fünf Wochen dort bleiben. Es ist eine gewaltige Reise für sie, die größte, die sie je aus Denver weggeführt hat. Letzten Juni war ihr vierzigster Hochzeitstag, und die Reise unternehmen sie zur Feier dieses Jubiläums. Mein Onkel Stanley ist Unteroffizier auf dem Flottenstützpunkt Pearl Harbor. Meine Eltern wohnen bei Onkel Stanley und Tante May in deren Apartment außerhalb des Stützpunkts.

Der Aufenthalt in Honolulu ist ein wunderbares Ereignis für sie, eine einmalige Erfahrung, doch ich kann nachvollziehen, weshalb sie – besonders meine Mutter – nicht länger als zwei Monate von zu Hause fort sein wollten. Meine Mutter engagiert sich auf der Säuglingspflegestation des Denver General. Solange ich denken kann, ist sie dort ehrenamtlich tätig. (»Die älteste Freiwillige der Welt«, nennt sie sich selbst.) Mein Dad arbeitete jahrelang für die Colorado Public Service Company und montierte Stromzähler in Privathaushalten. Im vergangenen Jahr, im Alter von sechzig Jahren, ist er in den Vorruhestand gegangen. Dad verbringt seine Zeit damit, im Haus zu werkeln, zu lesen und mit seinen Freunden zweimal die Woche Golf zu spielen, selbst im Winter, solange kein Schnee liegt.

Ich denke an meinen Traum und wie es schneite, als ich im Zimmer des kleinen Mädchens aus dem Fenster blickte. Missy? Lautete so der Name? Ja, es schneite draußen vor Missys Fenster. Es überrascht mich, dass ich mich an diese Einzelheit erinnern kann, dass mein Gehirn mir zuliebe ganze Schneelandschaften erschaffen kann, während ich schlafe.

Bei dem Gedanken an das Zimmerinnere muss ich wieder lächeln: jene beiden reizenden Kinder und der Mann mit den schönen Augen.

Während ich meinen Kaffee austrinke, schiebe ich die Postkarte meiner Mutter in eine Aktenmappe zu den anderen Karten aus Honolulu, mindestens drei oder vier pro Woche. Ich bewahre die Mappe auf meinem Schreibtisch neben einer gerahmten Fotografie meiner Eltern auf.

Ich stehe auf und lasse mir ein Bad ein. So hübsch dieses Traumleben auch war, muss ich mich jetzt doch meinem eigenen, ausgesprochen realen Tag widmen.

Ich gehe zu Fuß zu unserer Buchhandlung in der Pearl Street. Es sind bloß ein paar Häuserblocks. Frieda geht auch zu Fuß, und manchmal begegnen wir uns zufällig auf dem Weg. Aber heute bin ich allein, als ich um die Ecke in die Pearl einbiege. Einen Augenblick bleibe ich reglos stehen und lasse die Ruhe, die Trostlosigkeit auf mich wirken. Außer mir ist keine Menschenseele da. Kein Auto fährt an mir vorüber. Die Drogerie ist geöffnet. Ich kann das erleuchtete Neonschild im linken Schaufenster sehen. Der Sandwich-Laden auch. Aus Erfahrung weiß ich, dass dort im Laufe des Vormittags vielleicht eine Handvoll Passanten auf einen Kaffee oder ein Salami-Roggenbrötchen zum Mitnehmen vorbeischauen werden. Eine Handvoll, mehr nicht.

So war es nicht immer.

Als Frieda und ich die Buchhandlung Sisters im Herbst 1954 eröffneten, hielten wir die Pearl Street für die ideale Lage. Damals profitierten wir vom Straßenbahnverkehr der Broadway-Linie, die in die Pearl abbog und uns mit Laufkundschaft versorgte. Wir liegen lediglich einen Block vom Vogue Theater entfernt und achteten sorgfältig darauf, abends geöffnet zu haben, um die Kinobesucher vor und nach den Vorstellungen anzulocken. Zu der Zeit hatten wir am Abend viel Kundschaft. Die Leute liebten es, sich abends in unserer Buchhandlung umzusehen, zweifellos nicht selten in der Hoffnung, zwischen den Bücherstapeln einer geheimnisvollen Schönheit oder einem gut aussehenden Fremden zu begegnen.

Jetzt ist unsere Lage weit unkalkulierbarer. Die Broadway-Linie ist eingestellt worden – sämtliche Straßenbahnlinien wurden durch Busse ersetzt. Und da die neue Buslinie nicht durch die Pearl Street fährt, haben wir nichts mehr von dem Verkehr. Das Vogue zeigt immer noch Filme, zieht aber längst nicht mehr die Massen an wie noch vor Jahren. Kleine Geschäftsviertel wie das unserige haben an Attraktivität verloren. Die Leute gehen hier einfach nicht mehr einkaufen oder bummeln, wie sie es früher taten. Sie steigen ins Auto und fahren zu den neuen Einkaufszentren am Stadtrand.

Frieda und ich unterhalten uns täglich darüber, was zu tun ist. Sollen wir den Laden schließen, uns ganz aus diesem Geschäft zurückziehen? Sollen wir – wie Frieda schon vor Jahren vorschlug, wohingegen ich immer bremste – den Laden hier schließen und in einem der Einkaufszentren einen neuen aufmachen? Oder sollen wir einfach den Status quo beibehalten – und hoffen, dass sich das Blatt schon wenden wird, wenn wir nicht aufgeben? Ich weiß es nicht und Frieda auch nicht. Wir diskutieren dieses Thema tagtäglich.

Was ich gelernt habe, was wir beide im Laufe der Jahre gelernt haben, ist, dass nichts so dauerhaft ist, wie es zunächst den Anschein hat.

Bevor wir unseren Laden eröffneten, arbeitete ich als Fünftklasslehrerin, ein Beruf, den ich, wie ich mir selbst einredete, toll fand. Ich liebe meinen Beruf, ich liebe meinen Beruf, ich liebe meinen Beruf, sang ich mir jeden Morgen insgeheim vor, während ich vom Haus meiner Eltern, bei denen ich damals noch wohnte, zu meiner ein paar Meilen entfernten Schule radelte.

Wie konnte ich ihn nicht lieben, fragte ich mich. Schließlich liebe ich Kinder, und ich liebe Bücher und das Lernen. Was für ein Mensch wäre ich also, wenn ich nicht auch logischerweise das Unterrichten toll finden würde?

Doch an der Tafel vor einer großen Klasse voller Zehnjähriger zu stehen machte mich so nervös, als wäre ich eine musikalische Niete, die es irgendwie geschafft hatte, alle zu blenden, und nun in einem überfüllten Konzertsaal auftreten durfte. Klein und allein, im Rampenlicht am Flügel sitzend – wurde der Hochstaplerin zu spät klar, dass sie niemandem etwas würde vormachen können, sobald sie in die Tasten griffe.

Genau so kam ich mir vor, wenn ich in meinem Klassenzimmer stand. Ich hatte verschwitzte Handflächen und sprach zu schnell und mit zu hoher Stimme. Häufig bat mich ein Schüler, etwas zu wiederholen. »Miss Miller, das habe ich nicht verstanden«, sagte einer, und dann fielen alle ein: Ich auch nicht. Und ich auch nicht, Miss Miller. Was haben Sie gesagt, Miss Miller? Ich hatte das Gefühl, ein Witz für diese Kinder zu sein. Aber kein guter Witz, keiner, bei dem ich mitlachen konnte.

Jedes Jahr hatte ich ein paar Musterschüler – dem Himmel sei Dank für die Musterschüler –, Kinder, die in jeglichem Umfeld lernen konnten, Kinder, die schlau waren und anpassungsfähig und Konzepte schnell selbstständig begriffen, ohne viel Hilfe meinerseits. Doch solche Schüler waren äußerst dünn gesät.

Und dann waren da noch die Eltern. Oh, die Eltern!

Ich erinnere mich an einen besonders schrecklichen Vormittag gegen Ende meines Lehrerdaseins. Mrs. Vincent, deren Tochter Sheila soeben im Zwischenzeugnis ein »D« in Geschichte erhalten hatte, kam vor dem ersten Läuten in mein Klassenzimmer gestürmt. Zornig fuchtelte sie mit Sheilas Zwischenzeugnis herum. Sheila trottete hinter ihrer Mutter her.

»Was soll diese Note bedeuten, Miss Miller?«, wollte Mrs. Vincent wissen. »Von Sheila höre ich, dass Sie in Ihren Stunden gar keine Geschichte durchnehmen!«

»Natürlich tun wir das«, erwiderte ich und versuchte, meine Stimme ruhig klingen zu lassen. Verärgert biss ich mir auf die Lippe. Weshalb musste ich mich überhaupt gegen einen derartig lächerlichen Vorwurf verteidigen? »Wir haben das ganze Halbjahr den Bürgerkrieg behandelt.«

»Den Bürgerkrieg? Den Bürgerkrieg?Welchen Nutzen, bitte schön, soll ein junges Mädchen aus etwas so Vorgeschichtlichem wie dem Bürgerkrieg ziehen?«

Die Frage war so absurd, dass ich nicht wusste, was ich dazu sagen sollte. Sheila stand selbstgefällig neben ihrer Mutter, die dunklen Augen herausfordernd auf mich gerichtet. Am liebsten hätte ich sie geohrfeigt. Zwar war ich mir sicher, dass ich es niemals tun würde, doch der Drang war so stark, dass ich die Hände zur Sicherheit fest an die Seiten presste.

»So steht es im Lehrplan«, sagte ich. »Das muss ich abdecken, Ma’am.« Es läutete, und ich ging zur Klassenzimmertür, um die anderen Schüler zu begrüßen. »Ich folge lediglich dem Lehrplan.«

Mrs. Vincent lächelte süffisant. »Na, das ist ja wirklich kreativ«, versetzte sie. Ohne eine Antwort abzuwarten, wirbelte sie herum und verließ das Zimmer.

Ich war am Boden zerstört. Ungelogen, es dauerte Wochen, bis ich darüber hinweg war. Mit der Zeit gab ich mir selbst die Schuld. Ja, ich tat nur meine Arbeit. Doch wenn meine Schüler nicht lernen konnten oder wollten – tja, dann lag das an mir. Mir war das Lernen immer leicht gefallen. Deshalb ging ich davon aus, dass es leicht wäre, andere zu unterrichten. Als sich diese Annahme als falsch herausstellte, wusste ich nicht, was ich tun sollte.

Während eben dieser Jahre arbeitete Frieda, die seit der Highschool meine beste Freundin war, in einer Werbeagentur. Es war ein anspruchsvoller, aber glamouröser Job, und sie war gut darin. Die Kundschaft ihrer Firma bestand hauptsächlich aus lokalen Unternehmen, doch darunter waren viele recht große Firmen – die Gates Corporation, Russell Stover Candies, das Kaufhaus Joslin’s. Sie besuchte Partys und große Eröffnungsfeiern. Sie trug prächtige Abendkleider, die sie mir vorher vorführte, um sich meine Meinung einzuholen. Ich fand sie immer sagenhaft.

Oberflächlich betrachtet schien es Frieda gut zu gehen. Doch wenn wir beide allein waren, an den Wochenenden bequem in Jeans, flachen Schuhen und Pullovern, gestand sie mir, dass das alles zu viel sei, es sei alles nur Schein. Es gäbe ihr das Gefühl, erklärte sie mir, als würde sie in einem Theaterstück auftreten. »Ab und an macht Schauspielern Spaß«, sagte sie. »Aber es ist mühsam, es den ganzen Tag zu tun, und dann auch noch Tag für Tag.«

Frieda und ich redeten viel über unsere jeweilige Situation. Wie sehr Frieda die Verlogenheit ihrer Arbeit hasste. Meine Angst, bei der einen Sache zu versagen, die ich gut zu können glaubte.

»Wie wäre wohl ein anderes Leben?«, fragte sie mich eines Sonntagnachmittags Ende März 1954 während eines gemeinsamen Spaziergangs durch unser Viertel. Ich war einen Monat zuvor aus dem Haus meiner Eltern ausgezogen. Mit Ende zwanzig hatte ich das Gefühl gehabt, es sei an der Zeit, auf eigenen Füßen zu stehen, also hatte ich mir ein Apartment in Platt Park gemietet. Meine neue Wohnung lag unweit der Schule, an der ich unterrichtete. Außerdem war sie weniger als zehn Gehminuten von dem kleinen Haus entfernt, das Frieda sich zwei Jahre zuvor gekauft hatte. Es war ein typischer Frühling in Denver – wie gewöhnlich hatten wir im März mehr Schneestürme erlebt als in jedem anderen Monat. Im Allgemeinen folgten auf die Stürme etliche warme Sonnentage, woraufhin der Schnee rasch zu Pfützen schmolz und frisches Gras in den matschigen Gärten hervorlugte. Tags zuvor hatten wir einen dieser typischen späten Schneefälle erlebt – aber an diesem Sonntag, als Frieda und ich unseren Spaziergang unternahmen, war es klar und freundlich mit Temperaturen über zehn Grad.

Frieda beobachtete, wie schwere Tropfen geschmolzenen Schnees vom Dachvorsprung eines Hauses fielen. Sie drehte sich wieder mir zu. »Und wenn unsere Arbeit befriedigend wäre?«, fragte sie.

»Und wenn ich nicht regelmäßig am Ende des Tages in Tränen aufgelöst wäre?« Meine Gedanken fühlten sich offen an, lebendig, während ich die Möglichkeiten erwog.

Frieda nickte langsam. »In der Tat, Schwester«, erwiderte sie. »In der Tat.«

Schließlich beschlossen wir, es sei an der Zeit, mit dem Träumen aufzuhören und anzufangen, unsere Träume zu leben. Wir plünderten unsere Sparbücher, liehen uns Geld von unseren Eltern und nahmen einen Geschäftskredit auf. Als alleinstehende Frauen brauchten wir einen Mann, der unser Darlehen mit unterzeichnete. Glücklicherweise war Friedas Vater dazu bereit. Auf diese Weise erblickte das Sisters das Licht der Welt.

Ich erinnere mich noch an unsere Begeisterung, als wir den Laden eröffneten. Endlich machten wir genau das, was wir mit unserem Leben anfangen wollten. Wir würden ein florierendes Geschäft betreiben, das uns gemeinsam gehörte, wir würden unsere eigenen Entscheidungen treffen und unser Schicksal selbst in die Hand nehmen. Von jetzt an würde niemand mehr – keine Eltern, Chefs, geschweige denn eine Horde widerspenstiger Zehnjähriger und ihre Mütter – seine Hand mit im Spiel haben, wenn es darum ging, wer Frieda und ich waren. Niemand würde das für uns entscheiden, niemand außer uns beiden.

Wir gingen auf die dreißig zu, ohne verheiratet zu sein – kein anderes Mädchen, das wir von der Highschool oder vom College kannten, hatte sein Leben so eingerichtet. Keine von uns beiden stört das Singledasein. Mein Lebensziel von einst, Kevin zu heiraten – heute wirkt es belanglos. Es war der Wunsch einer jungen Frau – im Grunde eines Mädchens. Eines Mädchens, das ich nicht mehr bin.

Im Laufe der Jahre ist mir klar geworden, dass ledig zu sein mir – und auch Frieda – etwas Freies und Eigenes verleiht, das anderen Frauen in unserem Alter fehlt. Es ist, als wäre man eine ganz besondere Halskette, die einem vielleicht in der Schmuckabteilung eines Kaufhauses ins Auge springt, eine mit bunten, unregelmäßigen Steinen anstatt der eintönigen, altbekannten Perlen.

Wer braucht schon Männer, fragen Frieda und ich einander. Wer braucht Kinder? Wir lächeln süffisant über unsere Kombiwagen fahrenden Geschlechtsgenossinnen und empfinden Erleichterung, nie in die Falle getappt zu sein.

Jenes Leben wollen wir beide schon lange nicht mehr.

Unser Tag verläuft schwierig. Wir haben nur zwei Kunden am Vormittag, die beide jeweils eine Ausgabe des neuen Bradbury-Romans kaufen – ein aufgehender Stern in unserer bescheidenen kleinen Palette, dieses Buch. Am Nachmittag kommen ein paar Leute herein, um sich umzusehen, und mehrere erkundigen sich, ob wir Rachel Carsons Der stumme Frühling haben – dieses Buch über die Gefahren von Pestiziden wurde als Essay-Reihe im New Yorker vorabgedruckt und wird diesen Monat als Anthologie herauskommen. Der stumme Frühling wird von den hiesigen literarischen Kreisen mit Spannung erwartet, aber unglücklicherweise erhalten wir wohl erst in der letzten Septemberwoche die ersten Exemplare von unserem Zulieferer.

Den ganzen Tag über ist Frieda nervös, gereizt. Ihre Laune färbt auf mich ab, und mir fällt auf, dass meine Hände immer wieder zittern, obwohl ich heute bloß zwei Tassen Kaffee getrunken habe. Vielleicht ist es auch die Erinnerung an den Traum, der mir nicht aus dem Sinn geht.

»Ich muss hier raus«, erklärt Frieda mir um halb fünf. »Mir reicht es für heute. Kannst du den Laden schließen?«

Ich nicke und sehe ihr nach. Draußen zündet sie sich aufgebracht eine Zigarette an und stapft die Straße entlang.

»Schwester, es tut mir so leid«, flüstere ich, obwohl sie längst fort ist und mich nicht hören kann. »Es tut mir leid, dass die Dinge so laufen.«

Und dann, nachdem ich die Rollläden vorne runtergelassen habe, während ich die dürftige Summe Bargeld aus unserer Kasse einsammele, um sie hinten im Safe zu verwahren, fällt es mir ein. Ich weiß, wo ich den Namen schon einmal gehört habe. Lars.

Die Erinnerung reicht etwa acht Jahre zurück. Es war kurz bevor Frieda und ich das Sisters eröffneten, in der Phase, als ich mich Katharyn nannte. Damals studierte ich oft die Kontaktanzeigen in der Denver Post. Und schließlich gab ich selbst eine Anzeige auf. Wohl mehr aus schierem Tatendrang – um noch etwas Mutiges zu unternehmen, das zu meiner neuen Arbeit passte, meinem neuen Namen, meinem Verlangen, ein neuer Mensch zu werden.

Lars war einer der Männer, die auf meine Anzeige antworteten. Ja, jetzt, da ich daran denke – Lars war der Mann.

Damit meine ich, von den ungefähr zwanzig Männern, die mir schrieben, und von den acht oder zehn, die eine Runde weiter kamen und mit denen ich mich am Telefon unterhielt, und von den wenigen, mit denen ich mich verabredete (zu einer zweiten Verabredung kam es bei keinem, worüber ich im Großen und Ganzen nicht enttäuscht war) – von all diesen Männern war Lars der Einzige, bei dem ich wahrhaftig glaubte, dass möglicherweise etwas daraus werden könnte.

Wie alle anderen Männer auch schrieb Lars mir einen Brief, um sich vorzustellen. Doch seiner wirkte ganz anders als die anderen Schreiben, die in der Regel nur aus ein paar gedankenlos aufs Papier gekritzelten Zeilen bestanden. Allein anhand dessen, was Lars geschrieben hatte, erkannte ich, dass er reichlich Zeit und Gedanken auf seinen Brief verwandt hatte.

Ich hebe alles auf. Zu Hause habe ich einen gewaltigen Aktenschrank, und ich hebe jeden einzelnen Papierschnipsel auf, der mir jemals etwas bedeutet hat. Ich besitze Briefe, Rezepte, Reiserouten, Zeitschriftenartikel – alles Mögliche, und es befindet sich alles in dem Aktenschrank.

Daher überrascht es mich nicht, dass ich zu Hause in meinen Unterlagen eine Mappe finde, die einfach mit »Anzeigen-Antworten« beschriftet ist. Und in dieser Mappe befindet sich ein Häuflein Briefe und Zettel, auf die Vornamen und Telefonnummern gekritzelt sind. Außerdem gibt es da ein vergilbtes, aus der Zeitung ausgeschnittenes Exemplar meiner Kontaktanzeige:

Alleinstehende Frau, 30, Denver. Optimistin mit Glauben an sich selbst, Familie, Freunde, Fähigkeiten. Ehrlich, freimütig, treu. Sucht Herrn, der verspielt, aber nicht töricht ist. Einen Mann mit Interessen (Aktivitäten im Freien, Musik, Bücher). Sollte sich Familie und gesichertes Zuhause wünschen, aber auch etwas für Abenteuer, Reisen und Spaß übrig haben. Wenn Sie das sind, schreiben Sie bitte.

Ich denke darüber nach, was ich in dieser Anzeige geschrieben habe. Wie ich mich der Welt gegenüber präsentierte. Rückblickend sehe ich, wie mich die Jahre verändert haben. Damals dachte ich noch ans Heiraten. Kevin war ein paar Jahre zuvor aus meinem Leben verschwunden, doch die Vorstellung, den Richtigen zu finden, mit dem ich sesshaft werden und eine Familie gründen könnte – diese Vorstellung fand ich im Jahr ’54 offensichtlich immer noch ansprechend.

Was ich jetzt habe – den Laden, meine Unabhängigkeit, das Leben einer alleinstehenden, berufstätigen Frau – na ja. Sicher, ich wollte mit Frieda das Geschäft gründen. Und nachdem sich der Lehrberuf für mich als Katastrophe herausgestellt hatte, wollte ich mich den ganzen Tag mit Büchern umgeben, die Tage zu meinen Konditionen verbringen.

Aber offenkundig rechnete ich nicht damit, dass die Jahre auf die Art vergehen würden, wie sie es getan haben.

Ich wühle mich durch die Papiere in der Mappe, bis ich den Brief von Lars finde:

Liebes Fräulein,

ich weiß, dass Sie mich nicht kennen, und ich weiß, dass die meisten Leute behaupten, dies sei eine törichte Methode, jemanden kennenlernen zu wollen. Ich habe gehört, dass es nie funktioniert. Größtenteils habe ich das geglaubt, denn ich habe nicht allzu viele Menschen gesehen, die dabei erfolgreich gewesen sind. Doch ich habe Ihre Anzeige gelesen (ja, ich habe sie mittlerweile etwa ein Dutzend Mal gelesen), und Ihrer Beschreibung nach zu urteilen, glaube ich, dass ich zu Ihnen passen könnte.

Sie sagten, Sie suchen nach jemandem, der verspielt ist, aber nicht töricht. Folgende Dinge mache ich gern. Zum einen besuche ich gern meinen Neffen und meine Nichte und spiele auf der Straße mit ihnen Fußball. Keine Sorge, wir benutzen einen weichen Ball und haben bisher noch keine Windschutzscheibe eines Automobils zertrümmert – und die Kinder sind 12 und 8 Jahre, also ziemlich gut darin, nach Verkehr Ausschau zu halten. Außerdem baue ich gern Dinge für andere. Als meine Nichte und mein Neffe noch klein waren, habe ich ein Schaukelgerüst im Garten meiner Schwester gebaut. Ich habe eine Hundehütte für den Hund eines Freundes gebaut, damit der Hund die Nächte nicht mehr in der Kälte verbringen musste. Vielleicht sind dies keine verspielten Dinge, aber es sind Dinge, die andere glücklich machen, und das bringt mich zum Lächeln.

Sie erwähnten das Reisen. Ich hatte bisher nicht die Gelegenheit, so viel zu reisen, wie ich gern möchte. Ich bin als Teenager zusammen mit meiner Familie aus Schweden eingewandert. Ich musste hart arbeiten, um in diesem Land meinen Weg zu gehen, doch jetzt stehen die Dinge besser, und ich habe die Mittel, ein behaglicheres Leben zu führen. Ich hoffe, dass dies in Zukunft auch mehr Reisen beinhalten wird, sowohl innerhalb des Landes wie auch ins Ausland. Sind Sie in Europa gewesen? Ich war nie wieder dort, aber eines Tages möchte ich hinfahren, besonders, wenn ich eine Reisegefährtin hätte, die die Alte Welt um all ihrer Schönheit und Geschichte willen zu schätzen wüsste.

Ein weiteres Interessensgebiet meinerseits, das Sie nicht erwähnt haben, ist der amerikanische Sport, besonders Baseball. Vielleicht sind Sie keine Anhängerin. Ich hoffe, dass Sie mir diese Vorliebe nachsehen würden, sollten wir uns treffen und kennenlernen. Es heißt, Baseball sei Amerikas Nationalsport, und da ich nun selbst Amerikaner bin, ist es auch der meine geworden.

Es freut mich, dass Sie sich nicht gescheut haben zu schreiben, sie seien auf der Suche nach einem Mann, der sich eine Familie wünscht. Viele Damen scheinen sich zu scheuen, dies einzugestehen, wohl im Glauben, es würde sie weniger begehrenswert machen. Vielleicht denken sie das auch zu Recht, denn viele Männer (zumal ab einem gewissen Alter) können sich entweder nicht entscheiden oder sagen entschieden »Nein« zur Vorstellung von Kindern. Bei mir ist das nicht so. Ich wollte schon immer eine Familie, und ich hoffe, dass es nicht zu spät ist! (Ich bin erst 34, also schätze ich einmal, dass noch Zeit ist.)

Sie sehen, mein Fräulein, weshalb mich ihre Anzeige angesprochen hat. Ich hoffe, dass Sie mir antworten werden. Ich würde Sie wahnsinnig gern kennenlernen.

Mit freundlichen Grüßen

Lars

Ich sitze da und lese den Brief erneut durch. Ich starre die Telefonnummer an, die er in einem Postskriptum angefügt hatte. Und dann lese ich den Brief noch ein paarmal durch. Nein, Shakespeare ist er nicht gerade. Aber mir ist klar, warum ich mit ihm in Kontakt treten wollte. Da ist etwas. Eine Verbindung, die ich nicht leugnen kann, allein aufgrund dieser paar Seiten geschriebener Wörter.

Während ich später Gemüse für mein Abendessen kleinschneide, rufe ich Frieda an. Obwohl ich befürchte, dass sie immer noch schlecht gelaunt ist, muss ich mit ihr reden. Vielleicht, denke ich beim Wählen, hat sie bei ihrem flotten Spaziergang wieder einen klaren Kopf bekommen.

Sie geht beim dritten Läuten an den Apparat. Ihre Stimme wird freundlich, als sie meine vernimmt. »Vermisst du mich?«, fragt sie. »Ich weiß, es ist fast zwei Stunden her, seitdem du mich gesehen hast.«

Ich lache. »Natürlich«, erwidere ich. »Aber das ist nicht der einzige Grund meines Anrufs.« Ich komme gleich zur Sache. »Erinnerst du dich noch an einen Kerl namens Lars? Einer von denen, die auf meine Kontaktanzeige geantwortet haben?« Da eine Erwiderung ausbleibt, wiederhole ich meine Frage.

»Ich denke nach«, sagt sie. »Deiner oder meiner?«

Nachdem ich seinerzeit die ersten Antworten auf meine Kontaktanzeige gelesen hatte, wurde mir klar, dass bei Weitem nicht alle Interessenten als Bewerber taugten. Ich bin wunderfoll. Bite anrufen!, war in einem Fall der ganze recht aufschlussreiche Inhalt eines Schreibens. Bedauerlicherweise kein Einzelfall.

Es gab auch andere, für die ich – obwohl sie in der Lage waren, einfache zusammenhängende Sätze zu bilden – keinen Funken Interesse verspürte. Meine Gründe waren unterschiedlich: zu groß, geschwätzig, aalglatt klingend.

Eines Abends kam Frieda zu mir, und wir gingen einen Brief nach dem anderen durch. Wir bildeten drei Stapel: Kitty,Frieda und Ausschuss. Auf den Kitty-Stapel wanderten die Briefe derjenigen Interessenten, die meine Neugierde geweckt hatten. »Schließlich ist es meine Anzeige«, erklärte ich Frieda lachend. »Ich habe die erste Wahl.« Auf den Frieda-Stapel wanderten Briefe von Männern, die bei mir auf Anhieb keinerlei Begeisterung entfachten, die Frieda aber durchaus ansprechend fand und die sie kontaktieren wollte. »Warum nicht?«, erklärte sie. »Ansonsten landen sie bloß hier.« Und sie winkte in Richtung des Ausschuss-Stapels.

Ironischerweise hatte sie mit ihrer Auswahl mehr Glück als ich. Sie traf sich mehrmals mit verschiedenen Männern und war tatsächlich etliche Monate mit einem liiert, den sie über meine Anzeige kennengelernt hatte. Ich dachte, es würde ernst bei ihnen werden, doch es sollte nicht sein. Als Frieda mir erzählte, dass ihre Beziehung beendet sei, zuckte sie ungerührt die Schultern. »Er war einfach nicht gut genug für mich«, meinte sie. »Er hatte keine so hohe Meinung von mir wie du, Kitty.«

Man könnte meinen, eine Frau mit dem Namen Frieda müsste rote Strubbelhaare haben und ein wenig egozentrisch sein wie die Frieda in den Peanuts-Comics. Frieda kann zwar tatsächlich hin und wieder eitel sein – sind wir das nicht alle? –, aber sie sieht ganz gewiss kein bisschen wie das kleine Mädchen aus dem Comic aus. Sie ist beinahe das genaue Gegenteil von mir: groß und mit langem, glattem, dunklem Haar. Sie ist sportlich und stark. An der Highschool spielte sie Softball und war in der Schwimmmannschaft, und bis zum heutigen Tag schwimmt sie dreimal die Woche im Schwimmbad der Denver University. Sie fängt mit jedem, der ihr begegnet, ein Gespräch an, von den jungen Mädchen, die im Vogue Kinokarten verkaufen, bis hin zu den gelegentlichen verwirrten Passanten, der in unseren Laden gestolpert kommen, um sich den Weg zu einem völlig anderen Stadtteil beschreiben zu lassen. Die anderen Ladenbesitzer in unserem Block nennen Frieda »die Verkäuferin«. Ich bin »der Bücherwurm«.

»Lars war einer von meinen«, erkläre ich ihr jetzt. »Ich weiß schon, dass du dich an meine nicht so gut erinnern wirst.«

Sie lacht. »Ich kann mich kaum an letzte Woche erinnern. Und da soll ich mich daran erinnern, mit wem du vor – wie lange ist es her – acht Jahren ausgegangen bist?«

Ich suche eine Karotte aus dem Kühlschrank und beginne, sie zu schälen. »Es war nur eine vage Hoffnung.«

»Wieso? Bist du ihm wieder über den Weg gelaufen?«

»Sozusagen.« Doch ich erzähle es ihr nicht, denn es kommt mir zu lächerlich vor, selbst Frieda gegenüber.

»Hast du wieder inseriert?«

»Nein, nichts dergleichen.« Ich schneide die Karotte in kleine runde Scheiben. »Weißt du was, ich mach jetzt Schluss, weil ich kochen muss. Bis morgen.«

Nachdem wir aufgelegt haben, lese ich noch einmal Lars’ Brief und meine Annonce. Seit ich nach Hause gekommen bin, habe ich sie immer wieder gelesen.

Und dann fällt mir noch etwas ein. Wir haben uns unterhalten. Wir haben uns am Telefon unterhalten.

Es war nur ein einziges Mal. Ich rief ihn an, denn so geht man unter diesen Umständen klugerweise vor – wie mir Frieda erklärte. »Wenn einer klingt, als sei er gerade aus der Klapsmühle ausgebrochen, macht es nichts«, sagte sie. »Er kann einen ja nicht zurückrufen.«

Nachdem ich also Lars’ Brief an dem Abend etliche Male gelesen hatte, holte ich tief Luft, griff nach dem Telefonhörer und wählte die Nummer, die er angegeben hatte. Er ging sofort an den Apparat.

»Hier spricht – Katharyn«, sagte ich und probierte den Namen auf meiner Zunge aus. Er fühlte sich frisch und prickelnd an, wie ein Pfefferminzbonbon. »Aus der … der Annonce.«

»Katharyn.« Aus seinem Mund klang der Name magisch, einzigartig, besonders. »Ich wusste, dass Sie es sind.«

Das machte mir ein wenig Angst. »Woher wussten Sie das?«, fragte ich nervös.

Er lachte. Er hatte ein nettes Lachen. »Ich habe es einfach gewusst.«

Ich stellte das Radio leiser, um ihn besser hören zu können. Ach, du meine Güte – jetzt erinnere ich mich, wann dieser Song von Rosemary Clooney Nummer eins der Hitparade war!

Er lief an dem Abend im Radio. An dem Abend, an dem wir miteinander telefonierten.

Auf Wolken schweben, das kann man wohl sagen!

Lars erkundigte sich, wie mein Tag gewesen, was ich von Beruf sei. »Eigentlich lege ich gerade eine kurze Pause ein«, sagte ich. Dann erzählte ich ihm von der Buchhandlung, deren Eröffnung ein paar Wochen später stattfinden sollte.

»Welch aufregende Aussicht«, erwiderte er. »Sie sind sehr beeindruckend, Katharyn.«

Beeindruckend. Ich kann aufrichtig sagen, dass mich noch nie im Leben jemand mit diesem Wort beschrieben hat. Schlau, ja. Freundlich, ja. Aber beeindruckend? Das war zu hoch gegriffen, nie und nimmer hätte ich selbst dieses Wort mit mir in Verbindung gebracht.

»Tatsächlich spiele ich selbst auch mit dem Gedanken, eine Firma zu eröffnen«, erzählte Lars mir. »Aber bei Weitem nicht so spannend wie Ihr Laden. Bloß ein Architekturbüro.«

Ich lachte. »Für mich hört sich das mehr als spannend an«, meinte ich. »Wie sind Sie in die Branche geraten?«

»Oh, ich bin schon seit Jahren dabei«, lautete seine Antwort. »Ich habe schon immer gern Dinge gebaut. Damals in Schweden war mein Vater Zimmermann, und ich half ihm bei der Arbeit. Wenn man in einer Kleinstadt wie der unseren für jemanden ein Haus baute, entwarf man es auch. Hier übernahm ich nach dem Tod meiner Eltern zunächst Gelegenheitsarbeiten. Schließlich hatte ich genug Kohle gespart, um an der University of Colorado Denver zu studieren. Zu dem Zeitpunkt wusste ich, dass ich Architekt werden wollte. Meinen Abschluss habe ich verhältnismäßig spät gemacht – 1944, als alter Mann von vierundzwanzig Jahren. Ich konnte in einer kleinen Firma hier in der Stadt anfangen, und der Rest ergab sich einfach ganz von selbst.«

»1944.« Ich überlegte einen Moment. »Haben Sie nicht gedient?« Alle meine Bekannten – Kevin und jeder andere junge Mann, mit dem ich auf die Denver University ging oder den ich von der Highschool oder aus der Kirche oder aus meinem Viertel kannte – waren 1944 eingezogen worden.

Kurzzeitig sagte er gar nichts. »Lars?«, fragte ich behutsam. »Sind Sie noch dran?«

»Ich konnte nicht zum Militär«, sagte er leise. »Ich war untauglich, 4-F.«

»Warum?«

Ich hörte, wie er tief einatmete und die Luft langsam wieder entweichen ließ. »Ich habe ein Herzleiden – Herzrhythmusstörungen«, sagte er. »Das ist nicht so schrecklich, wie es klingt«, fügte er rasch hinzu. »Aber es bedeutet – dass mein Herz unregelmäßig schlägt.« Er schwieg einen Moment. »Es bedeutet, dass ich ein krankes Herz habe.«

Ich erwiderte nichts. Ich dachte an meinen Vater, zweifellos der größte Patriot, dem ich je begegnet war. Während des Kriegs wurde seine Fabrik bestreikt, und er war der einzige Arbeiter, der die Streikpostenkette durchbrach und Seite an Seite mit den Streikbrechern arbeitete. Zu diesem Zeitpunkt wurden in seiner Fabrik nicht mehr Stromzähler für Privathaushalte hergestellt, sondern elektrische Geräte im Rahmen der Kriegsanstrengungen. Mein Vater sagte, auch nur das Geringste zu tun, um unseren Soldaten zu helfen, sei mehr wert als ein paar zusätzliche Pennys in der Tasche. Ich fragte mich, was er von mir denken würde, wenn ich mit einem Mann ausginge, der während des Krieges untauglich gewesen war.

»Katharyn?«

»Ja?«

»Ist das in Ordnung? Dass ich nicht gedient habe?«

Ein paar Sekunden sagte ich gar nichts. »Tja, das klingt nicht gerade so, als hätten Sie etwas daran ändern können«, sagte ich und lachte unbeschwert. »Erzählen Sie mir mehr vom Architektenleben.«

»Ich plane vor allem gewerbliche Projekte«, sagte er. »Bürohäuser und dergleichen. Das ist nicht so glanzvoll wie Wohn