Als ich meine Eltern verließ - Michel Rostain - E-Book

Als ich meine Eltern verließ E-Book

Michel Rostain

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Beschreibung

Ein bewegender Roman über den Verlust eines erwachsenen Sohnes, feinfühlig, liebevoll und mit erstaunlicher Leichtigkeit erzählt

Kann man über den Verlust eines Menschen zuversichtlich, ja heiter erzählen? Michel Rostain gelingt es, indem er seinen verstorbenen Sohn Lion die Trauerarbeit der Eltern liebevoll kommentieren lässt. Als der Vater auf dem Weg in die Wäscherei sich nicht vom Geruch der Bettwäsche seines Sohnes trennen kann, stellt Lion lakonisch fest: »Papa, sie stinkt. Ich habe sie seit Monaten nicht gewaschen.« Der Vater stolpert über rätselhafte SMS und Notizen in Lions Schulheften und glaubt, darin Zeichen zu erkennen. Ein Puzzle aus unglaublichen Fügungen entsteht, das es den Eltern ermöglicht, sich wieder ihrem Motto »Es lebe das Leben!« zu verschreiben. Schließlich verstreuen sie Lions Asche an den Hängen des Vulkans Eyjafjallajökull. Als dieser 2010 den Flugverkehr über Europa lahmlegt und Lions Asche nach Frankreich zurückweht, hat der Vater die Freude an einem Leben, in dem es Lion einmal gab, wiedergefunden.

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Seitenzahl: 181

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Michel Rostain

ALS ICH MEINE ELTERN VERLIESS

Roman

Aus dem Französischen von Birte Völker

Edition Elke Heidenreich bei C. Bertelsmann

Die Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel »Le Fils« bei Oh! Editions, Paris.

Die Bücher der Edition Elke Heidenreich erscheinen im C. Bertelsmann Verlag, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House.

1. Auflage© der deutschen Erstausgabe 2012 by Edition Elke Heidenreich bei C. Bertelsmann, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbH© der Originalausgabe 2011 by Oh! Editions, ParisSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-641-07413-5

www.edition-elke-heidenreich.de

1. Kapitel

Noch Worte suchen

die etwas sagen

wo man die Menschen sucht

die nichts mehr sagen

Und wirklich noch Worte finden

die etwas sagen können

wo man Menschen findet

die nichts mehr sagen können?

ERICH FRIED

PAPA MACHT ENTDECKUNGEN. Zum Beispiel verbringt er nicht einen Tag, ohne fünf Minuten lang zu weinen oder drei mal zehn Minuten oder eine ganze Stunde. Das ist neu. Die Tränen versiegen, fließen, versiegen erneut, und es geht wieder von vorn los. Eine reiche Vielfalt an Schluchzern, aber kein Tag ohne. Das verleiht dem Leben eine andere Struktur. Es gibt die plötzlichen Tränen – eine Geste, ein Wort, ein Bild, und sie schießen hervor. Dann gibt es Tränen, die einfach bloß da sind, ohne erkennbaren Grund. Und es gibt völlig unbekannte Tränen, ohne Schluchzer, ohne das übliche verzerrte Gesicht, sogar ohne dass die Nase läuft, einfach nur kullernde Tränen.

Ihm ist hauptsächlich morgens zum Weinen zumute.

Am elften Tag nach meinem Tod brachte Papa meine Bettdecke in die Reinigung. Er läuft die Rue du Couédic entlang, die Arme voll Bettwäsche, in die er seine Nase steckt. Er meint, sie rieche nach mir. In Wahrheit stinkt sie, schließlich habe ich weder die Bezüge noch das Federbett jemals gewaschen. Tage, Wochen und Monate habe ich darin geschlafen. Das empört ihn nicht mehr. Im Gegenteil: Noch ist zwischen den weißen Falten etwas von mir vorhanden, das er zur Reinigung trägt wie das Allerheiligste. Papa weint, die Nase in der Baumwolle. Er vermeidet jeden Blickkontakt, geht Umwege, die nicht nötig wären, biegt nach rechts in die Rue Obscure, läuft erst in die eine Richtung, dann in die andere, Rue le Bihan, Rue Émile-Zola, Les Halles, statt hundert insgesamt vierhundert Meter, er kostet es aus. Papa nimmt noch eine letzte Nase aus dem Federbett und stößt endlich die Ladentür auf.

Yuna de la Friche wirft gerade Münzen in einen Waschautomaten, Hinauszögern geht nicht mehr. Aufrichtiges Beileid … Der Mann von der Reinigung – noch einmal Beileid – nimmt Papa das Federbett ab. Papa hatte gehofft, es würde länger dauern, eine Warteschlange, ein Telefonat mit einem Kunden, eine Lieferung, ein Unwetter, bloß so viel Zeit, um noch ein paar Geruchsfetzen von mir einzuatmen. Papa gibt alles hin, verliert Stück für Stück.

Zurück zu Hause, sieht er den Hund an meinen Pantoffeln herumkauen. Auch an ihnen haftet mein Geruch. Papa, du wirst dich aber bitte nicht mit Yanka streiten, wer an meinen Stinkelatschen herumnuckeln darf, ja?

Bis wann wird der Hund meinen Geruch wiedererkennen? Zu überprüfen in drei Monaten zum Beispiel: Hundert Tage wären die Schonfrist für einen neuen Regierungschef. Und die Schonfrist für einen neuen Verstorbenen, die Zeit, in der alles an ihn erinnert, in der man in Tränen ausbricht, sobald der Name fällt, wie lang ist die? Hundert Tage, ein Jahr, drei Jahre? Wir werden das objektiv beurteilen können. Wie lang wird sich Yanka noch wegen meines Geruchs und wegen des Leders über meine Latschen hermachen? Wann werden Mama und Papa aufhören, überall ehrfurchtsvoll nach Spuren von mir zu suchen, und seien sie noch so klein? Wie lang werden sie sich nahezu unermüdlich ausgerechnet in das vertiefen, was sie zum Weinen bringt? Werde ich irgendwann nicht mehr jeden einzelnen Moment ihres Lebens ausnahmslos beherrschen? Ziemlich interessante Fragen. Papa, gib zu, dass du sie dir auch manchmal stellst, wenn du beim Weinen kurz Luft holst, als würdest du einen ungehörigen Blick in eine Zukunft werfen, die mein Tod ausgeblendet hat!

In deiner neuen Welt herrscht Chaos. Papa, du erbst, allerdings nichts Erfreuliches. »Träum süß, mein Schatz, deine dich liebende Nanie. Gute Nacht, du Schneckchen.« Papa ist etwas peinlich berührt, als er in den Nachrichten in meinem Handy einen der Spitznamen entdeckt, die mir meine Freundin gegeben hat. Aber er kann nicht anders und wühlt weiter, wühlt in allem, was ich zurückgelassen habe. Dass sie sagt, dass sie mich liebt, damit hat er natürlich gerechnet. Dass er erraten muss, dass ich sie »meine Nanie« genannt habe, kein Problem. Es ist der Spitzname »Schneckchen«, der ihn peinlich berührt. Er wird genauere Informationen über Schnecken einholen müssen. Warum hat mich Marie »Schnecke« genannt? Weil ich an ihren Ohren, Lippen oder Brüsten herumgeknabbert habe? Bei Google steht, die Schnecke sei ein nachtaktives Tier. Ist es, weil ich immer erst zu nachtschlafender Zeit ins Bett gegangen bin?

Papa mag keine Kosenamen. Du wirst nie wissen, warum ausgerechnet »Schneckchen« – es sei denn, du gestehst Marie, dass du ihre SMS gelesen hast. Allerdings kann ich mir nicht vorstellen, dass du dich das demnächst schon traust.

Dann wäre da noch die SMS vom 26. September, ein Monat vor meinem Tod, die Papa auch heute Abend in meinem Handy gefunden hat: »Stern der Erlösung, mein guter Lion, news: Bin jetzt in Reims, werde mir mal spaßeshalber die Kathedrale näher anschauen.« Fieberhaft versucht Papa zu entschlüsseln. Eins ist sicher, diese Nachricht bezieht sich auf die Fahrt nach Amsterdam, die ich kurz vor meinem Tod mit Romain gemacht habe. Ich hatte gelogen. Ich hatte erzählt, wir würden nach Reims fahren. Mama und Papa wären ausgeflippt, wenn ich ihnen gesagt hätte, ich fahre ins Kifferparadies – für einen Einundzwanzigjährigen ein Muss, hast du ja wohl auch getan, Papa, vor vierzig Jahren, oder? Nach unserem Hollandtrip ist Romain tatsächlich über Reims gefahren. Ich bin in die Bretagne zurück, das Auto abgeben, an das ich so schwer gekommen war. Aus Reims hat mir Romain dann die Nachricht geschickt.

Rätselhaft bleibt er trotzdem, dieser »Stern der Erlösung«. Es wird dich Jahre kosten, bevor du Romain danach fragst. Momentan erbst du nichts als Rätsel.

Wenn man Papa nach seinem Sternzeichen fragte, erntete man höhnisches Gelächter. Er behauptete, ihm sei es schnurzegal, welches Sternzeichen er sei, und erst recht, welchen Aszendenten er habe. Er wisse nur eines, fügte er immer hinzu, den Namen seines Deszendenten, meinen: »Lion«, der Löwe. Jetzt, da ich tot bin, hat Papa nichts mehr, weder Aszendenten noch Deszendenten.

Am 29. Oktober 2003 um 12 Uhr 45 hatte ich einen Termin beim medizinischen Dienst der Universität. Blöderweise bin ich am 25. Oktober gestorben, vier Tage vorher. Seit wann hatte ich diesen Termin schon? Papa geht diese Frage nicht aus dem Kopf. Den Zettel hat er schon zweimal, vielleicht sogar dreimal in den Fingern gehalten, seitdem er eifrig versucht, meine Papiere in eine sinnvolle Ordnung zu bringen. »Medizinischer Dienst der Universität«: Auf dem kleinen Formular, das ich aufgehoben hatte, nahm er nichts anderes mehr wahr als: »Medizinischer Dienst der Universität, 29. Oktober, 12 Uhr 45, bei Madame …« Notiert ist »Termin bei Madame …«, gefolgt von einer gepunkteten Linie, ohne Namen.

Papa ist mitten im Chaos seiner ersten echten Trauerwoche, nachdem alle Feierlichkeiten stattgefunden haben und die Freunde wieder abgereist sind. Erst mit der Einsamkeit beginnt wirklich der Tod. Papa hat den ganzen Tag lang meine Sachen aufgeräumt, abwechselnd geweint und telefoniert, sich ausgiebig die Nase geputzt und dabei nicht einmal eine Stauballergie vorgeschoben. Er ringt sich dazu durch, meine alten Hefte aus der Oberstufe wegzuwerfen, sobald er den ganzen Schund einmal sorgfältig durchgelesen hat, für den Fall, dass ich in der Pause zwischen Englisch und Mathe eine Bemerkung, ein Bild oder irgendetwas Persönliches, das ihm etwas über mich erzählen könnte, an den Rand geschmiert habe. Er findet nichts, keinen Hinweis, nichts als das sinnlose Gekritzel eines Schülers, der seinem blöden Lehrer nicht richtig zuhört. Nach dieser stundenlangen Suchaktion – die übrigens auch ziemlich indiskret ist, Papa, ich bin tot, einverstanden, aber trotzdem –, voilà, entdeckt er auf einmal ganz unten auf dieser Vorladung, die ihm keine Ruhe gelassen hat, eine mit Filzstift geschriebene Notiz, ziemlich klein. Eine kaum sichtbare, aber entscheidende Information: Ich sollte nicht in die Sprechstunde eines x-beliebigen Doktors gehen, der an dem Tag zufällig für irgendeine jährliche Vorsorgeuntersuchung eines Studenten Zeit hatte, ich hatte eindeutig einen Termin in der Sprechstunde von »Madame Le Gouellec, Psychologin«. Genau so notiert, schwarz und unauffällig: »Madame Le Gouellec, Psychologin«. Eine handschriftliche Notiz, allerdings nicht von mir. Ich hatte also eigenständig um einen Termin bei einer Psychologin gebeten.

Das ändert alles.

In Papa steigt ein altes Gefühl von Beklemmung auf. Bereits im Augenblick meines Todes hatte es ihn kurzzeitig befallen. Er dachte, er habe es verdrängt. Aber da ist dieser beklemmende Schmerz wieder, wie ein Stich. Alles kommt wieder hoch. Erneut bricht die vertraute Gewissheit hervor, die seit Langem wie eine Wahnvorstellung in ihm schwelt: die Allmacht des Unbewussten. Das wahnwitzige Treiben der Lust und der Seele. Ich lebe, weil ich es will. Also sterbe ich auch, weil ich … Selbst in der Wahnvorstellung ist es nicht möglich, den Satz zu beenden.

Schon tausendmal hat sich Papa gefragt, ob es wirklich reines Pech war, das mich in den Tod gerissen hat. Eine bösartige Mikrobe schwirrt zufällig vorbei, und schon bist du tot. Lag es nicht eher daran, dass ich für einen kurzen Augenblick unachtsam gewesen bin? Eine Minute, die ich weniger Lust auf Leben hatte, und zack! Papa hat schon immer geglaubt beziehungsweise mehr oder weniger klare Theorien aufgestellt, dass ein Moment der Achtlosigkeit genügt, und die Todesmächte würden in ihm die Oberhand gewinnen. Eine Sekunde, in der man dem Leben keine Aufmerksamkeit schenkt, und schwupp, alles vorbei. Das ist der Todestrieb, an den er angeblich nicht ernsthaft glaubt, zu dem er aber trotzdem eine Meinung hat: In uns und vor allem in ihm gibt es Triebkräfte, die in der Lage sind, jedes noch so widerstandsfähige Leben zu zerstören. Er hat sich darum gefragt, ob ich nicht auch in jener Zeit meinen eigenen Zerstörungskräften unbewusst, oder sagen wir mehr oder weniger willentlich, die Tür offen stehen gelassen habe.

Jeder Tag seines Lebens ist für Papa wie eine Entscheidung für das Leben, und das, seitdem er denken kann. Woher zweifellos seine Lebenskraft rührt. Jetzt, da ich tot bin, ruft er alle naselang wild entschlossen: »Es lebe das Leben.« Er muss es einfach tun. »Es lebe das Leben! Fiat lux!« Hilft dir das, du alter Spinner? Jeder Todesfall würde somit die Frage aufwerfen, ob man etwas getan oder nicht getan hat, damit er eintritt oder eben nicht. Unser eigener Tod wäre dabei das letzte und im Übrigen unwiderlegbare Beispiel. Sich unentwegt für das Leben entscheiden, tagtäglich diese Entscheidung treffen, dem Teufel ins Gesicht schreien: »Es lebe das Leben.« Bis zu dem Tag, an dem man letztendlich doch verstummt und daran stirbt. Papa schreit ganz allein. Der Termin beim medizinischen Dienst ruft seine gesammelten Wahnvorstellungen wieder auf den Plan. Was ging in meinem Kopf vor, als ich vor drei Wochen nach dem Termin gefragt und mein Leben aufs Spiel gesetzt habe?

Seit ein paar Tagen hatte Papa endlich genau die entgegengesetzte Richtung eingeschlagen, wie befreit von all den Wahnvorstellungen. Freudentränen flossen, als er auf dem Tankanzeiger in meinem Auto sah, dass ich ein paar Stunden vor meinem Tod vollgetankt hatte. Viel Benzin – viele Pläne, nicht wahr? Als einen Beweis für meine Lebenslust deutete er ebenso das Zeitungsabo der Le Monde, das ich erst kürzlich unterschrieben hatte – die erste Ausgabe lag am Tag nach meinem Tod in meinem Briefkasten in Rennes. Ich wollte Le Monde lesen, wollte Leben, Alltag, ich hatte also noch etwas vor auf dieser Welt, oder? Außerdem besaß ich ein Studentenabo bei der Oper von Rennes. Man bestellt keine Abos für Le Monde oder die Oper, man tankt nicht voll, wenn man sterben möchte. Es war der Sensenmann, der mich einfach umgemäht hat, das ist alles, weder Papa noch ich noch irgendwer kann etwas dafür. Der Tod existiert unabhängig von uns; Papa war kurz davor, das zu akzeptieren.

Aber jetzt, krach, bum, wieder alles kaputt. Er hat den Zettel vom medizinischen Dienst endlich ganz durchgelesen. Ich hatte tatsächlich einen Termin bei einer Psychologin – sogar ihr Name steht drauf, man musste nur richtig hinsehen. Nachdem du Stunden über Stunden scheinbar das Lesen verlernt hast, bist du fündig geworden. Hast du möglicherweise die Augen davor verschlossen?

Nächste Frage.

Soll er die Psychologin anrufen, aber warum? Zum Beispiel, um über die Unschlüssigkeit zu leben zu sprechen. Okay … Papa, willst du über meine Unschlüssigkeit zu leben sprechen oder über deine?

Papa dreht sich im Kreis. Blitzschnell sind seine alten Dämonen wieder aufgetaucht, und die Lebenstriebe versagen. Er wird die Psychologin anrufen und sie befragen. Sollte sie etwas über mein Verhältnis zum Leben und zum Tod wissen, wird sie selbstverständlich nichts sagen können, vor allem auf dieser intimen, streng vertraulichen Ebene nicht. Gut, einverstanden, wird sie halt nichts sagen, Berufsethos. Aber wenn er sie nicht anruft, wird es ihn unentwegt beschäftigen. Letzten Endes geht es hier auch um sein Leben. Er beschließt, gleich am nächsten Morgen anzurufen.

Am Abend nach meinem Tod hatte Papa Christine und Jean-Jacques von seinen Wahnvorstellungen erzählt. Sie sind beide Ärzte, Jean-Jacques und Christine, seriös, wissenschaftlich und so weiter. Und wie Geschwister. Unter Tränen fragte er sie: »Kann man sich nicht unbewusst entscheiden zu sterben?« Jean-Jacques, der merkte, worauf Papa hinauswollte, widersprach lauthals, nein, diese Mikrobe hat zugeschlagen, ein für alle Mal, eine richtige Mörderin ist diese Mikrobe, eine Terroristin: Lion ist tot, der große Schnitt ist passiert, und weder Lion kann etwas dafür, noch du kannst etwas dafür. Mit seinem Tod ist unsere Ohnmacht erstarkt, das war’s.

Christine, als Frau, ist feinfühliger, kann mit diesem Humbug mehr anfangen. Sie hatte Papas Zweifel herausgehört: Und wenn ich mich von dem Erreger habe töten lassen? Letzten Endes lebt dieser Erreger – Meningitis fulminans sein Name – ganz normal auch in zahlreichen gesunden Trägern. Warum so plötzlich, ausgerechnet da, in mir, zu dem Zeitpunkt, wieso hat er auf einmal einen günstigen Nährboden vorgefunden? Wer hat ihm erlaubt, wie wild zu wuchern und mein Leben zu vernichten? Das kann kein purer Zufall sein. Ist es nicht vielmehr so, dass sich mein Leben diesem Monster, der völligen Entsagung, dem Tod hingegeben hat?

Papa druckst herum. An diesem Sonntag dachte Christine in seiner Anwesenheit laut über die geheimnisvolle Art so mancher buckeliger, alter Männer nach, von denen du dich freitags mit »Schönes Wochenende, bis Montag« verabschiedest und die dir seelenruhig antworten: »Aber nein, aber nein, Montag bin ich tot!« Und wenn du am Montag wiederkommst, ist der Alte tatsächlich tot, hat den Stecker gezogen. Hat sich abgemeldet. Scheinwerfer aus.

In den letzten Jahren hatte Papa mehrfach versucht, mit den Spekulationen über die Endlichkeit, denen er sich schon immer gern hingegeben hat, aufzuhören. Am Tag nach meinem Tod schien er es endlich einzusehen. Ich bin mitten im Flug explodiert, aufgrund eines tödlichen Erregers, der mir in die Quere gekommen ist. Punkt aus. Seine alten Wahnvorstellungen taugten nichts mehr. Es gibt eben Dinge, die wir nicht in der Hand haben, den Tod, um es kurz zu machen. Und Papa zeigte Fortschritte in der Bekämpfung seines allmächtigen Wahns. Die Bombe fällt auf dich drauf, weil sie auf dich drauffällt, ohne einen anderen Grund, und das deshalb, weil wir Muße brauchen, um anderes auf uns zukommen zu sehen. Der Tod ist das, was wir absolut nicht unter Kontrolle haben.

Beweise dafür glaubte er in meinen Unterlagen zu finden. Ich benutzte zum ersten Mal einen Taschenkalender. Für die kommenden Wochen hatte ich mir ein Konzert von Radiohead am 27. Oktober auf MCM notiert, außerdem eine Versammlung im Nationaltheater der Bretagne am 30., ein Livekonzert einer Rockgruppe in Châteaulin am 18. November und, ohne Angabe eines Datums, dass ich noch einen Schein im Unisekretariat abholen muss. Ich hatte noch einiges zu tun vor dem Sterben.

Papa war kurz davor, einzusehen, über Jahre hinweg mit völlig haltlosen Theorien geliebäugelt zu haben.

Doch an diesem einen Abend in seiner zweiten Woche als Waisenvater taucht aus dem Hinterhalt wieder sein alter Wahn auf. Selten war ich so weit im Voraus verplant gewesen. Prompt spürt er Wasser auf seine rasenden Mühlen fließen. Selten, höchst selten hatte ich so viele Optionen für die Zukunft. Dieses kleine Wörtchen, einmal im Kopf angelangt, besitzt die Macht, wieder ungeheuere, magische Hirngespinste aufflammen zu lassen. Totale Regression. Und wenn der Sohn völlig zu Recht diese Sammelallüren für Lebensprojekte angenommen hat, um gegen eine dunkle, tief verwurzelte Todessehnsucht anzukämpfen? Und wenn er gespürt hat, wie geheime Zweifel in ihn eingedrungen sind? Und wenn … Diese Psychologin, die ich aufsuchen wollte, dieser kleine Zettel in dem Riesendurcheinander auf meinem Schreibtisch in Rennes, sind sie nicht als ein Entschluss zu deuten, den ich versucht habe zu fassen, um die Todessehnsucht in mir zu stillen? Hatte ich vielleicht zu spät versucht, nicht in Versuchung zu geraten? Oder hatte ich womöglich gar nicht richtig gekämpft? Hatte ich die tödliche Entfaltung der Erregerbombe etwa zugelassen, damit ich nicht zu diesem Termin gehen musste, den zu vereinbaren mir nicht leichtgefallen war? Schon drehen Papas altbekannte Spleens wieder wild am Mühlrad.

Als er selbst vor bald vierzig Jahren den ersten Termin für eine Psychoanalyse gemacht hatte, ist er kurz darauf gelb vor Angst geworden. Er wäre vor Angst beinahe gestorben, keine Frage. Aber letzten Endes war er nicht tot, und die Behandlung konnte beginnen. Den ersten Termin mit der Psychologin nahm er wahr. Eine Woche später fing er sich dann Gelbsucht ein. »Ihr Körper spricht eine heftige Sprache«, bemerkte die Analytikerin, die auf die Bezahlung der Sitzungen verzichtete, die er wegen der außerordentlichen somatischen Erscheinung zu Anfang versäumt hatte. Ein Einzug in die Analyse mit Pauken und Trompeten, dreimal pro Woche, sieben Jahre lang. Eines Tages sollte die Psychologin ihm raten, er möge sich besser ein anderes Ausdrucksmittel als seinen anfälligen Körper suchen, das könnte tödlich enden. Papa sei Psychosomatiker. Ein Körper, der heftig gegen jegliche Lust anredet, wird Papas gesamtes Leben beherrschen. Sein Kehlkopfkrebs und später seine Schilddrüsenerkrankung, gehörten sie auch zu dem Körper, der spricht, um nichts zu sagen? Und die Lungenembolie? Die simplen Worte aus der Psychoanalyse, die Teil der täglichen Doxa geworden sind, haben wir ihm bei jeder Gelegenheit untergeschoben, und zwar, dass seine somatischen Beschwerden selbstgemacht sind. Er fand eine Antwort: Meine Genesungen aber letztendlich auch, sie gehören auch zu diesem sprechenden Körper, verdammt noch mal. Und es lebe das Leben! (Refrain.) Immerhin ist er durch die Analyse schlagfertig geworden.

Trotz allem befallen Papa Zweifel. Vielleicht ging ich schon seit Langem zur Analyse, hatte nur nichts erzählt, vor allem ihm nicht. Vielleicht war ich gerade an einem schwierigen Punkt angelangt, und er hatte es nicht erkannt. Papa eingekreist von unzähligen Zweifeln und Gewissensbissen. Hätte er nur … Trauer, die unablässig auf den Punkt gebracht wird, das infame Schuldgefühl leistet ganze Arbeit. Das ist es, was man ewige Reue nennt.

Die ganze Nacht lang geht Papa die Frage nicht mehr aus dem Kopf. Er dreht und wendet sie hin und her. Endlosschleife. Und wenn ich an der brutalen Sprache meines Körpers gestorben bin? Und wenn ich vor Angst gestorben bin, wie er es tun würde, wenn er nur daran dächte, das Unbewusste und die Lust sprechen zu lassen? Und wenn ich wie die Verwandten aus seiner Familie, allen voran sein Vater, auch gefühlsstumm bin? Dank der Analyse ist es bei Papa nicht mehr so ausgeprägt. Nicht immer. Schlafen wird Papa diese Nacht nicht.

Am nächsten Morgen ruft er den medizinischen Dienst der Universität an. Als er seinen Namen nennt, hilft man ihm an der Telefonzentrale sofort weiter: »Ich verbinde Sie nicht erst mit Madame Le Gouellec, sondern am besten gleich mit dem Chefarzt«, sagt eine junge Frau mit sanfter Stimme, noch ehe er die Gründe seines Vorsprechens darlegen kann. Musik in der Warteschleife. In gewisser Hinsicht fühlt er sich erleichtert, nicht wegen der Musik, die wie üblich grauenhaft ist, sondern wegen der aufmerksamen Telefonistin: Sein Anruf kam nicht völlig unerwartet. Anscheinend ist man über den Tod des Patienten, der nicht zum vereinbarten Termin gekommen war, informiert.

Überlege es dir gut, Papa: Noch ist Zeit zum Auflegen. Wie willst du es sagen? Und willst du es wirklich wissen? Und überhaupt: Hast du dich eigentlich gefragt, ob ich gewollt hätte, dass du es erfährst? Die meisten Fragen sind dir ohnehin nicht gestattet. Es gibt ein Berufsgeheimnis, sollte man zumindest hoffen.

Papa will nicht aufgeben. Er fühlt sich verpflichtet durchzuhalten. Um wenigstens Folgendes zu erfahren: Handelte es sich bei dem 29. Oktober um den ersten Termin meines studierenden Sohns bei der Psychologin?

Das ist Grenzüberschreitung, Papa. Was glaubst du im Leben deines Toten zu finden?

Einen Moment später ist Frau Doktor Bernheim in der Leitung. Oder Frau Doktor Barnart? Bernin? Nein, das klingt nach Kardiologe oder Architekt. Papa traut sich nicht nachzufragen und entscheidet sich für Bernheim – klingt mehr nach Psychologe. Die Chefärztin bestätigt das, was Papa befürchtet hat: Man darf ihm nichts sagen. Er bleibt stur. Sie kommt ihm entgegen und lässt ihn erraten, dass es sich um den ersten Termin gehandelt hat – die nachfolgenden Sprechstunden werden nie auf so einem Vordruck notiert, da der weitere Verlauf der Behandlung direkt zwischen Patient und Psychologe vereinbart wird. Dieses Formular kriegst du nur dann, wenn du zum ersten Mal kommst.

Papa ist erleichtert. Ich war also noch nicht in die miesen Fänge dieser Psychologen geraten. Ich machte nicht ohne sein Wissen seit Monaten eine Analyse. Wenigstens etwas, das seinem Schuldgefühl erspart blieb.

Die Zweifel schlüpfen durch eine andere Tür wieder herein. Er gesteht sie ihr am Telefon: Was sonst, als von meinen seelischen Nöten zu erzählen, sollte ich bei einer Psychologin?

Lautlos weint Papa am Telefon. Ich hatte dir nichts erzählt? Ja und? Verdammt, Papa, das war meine Sache, nicht deine. Ich hätte mich sowieso nicht bei dir ausgesprochen.