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Der Bestseller aus Schweden: das Buch des Jahres 2023 Die alte Samin Mariddja lebt ganz im Norden Schwedens mit ihrem dementen Mann Biera in einem verfallenen Haus. Biera darf nicht erfahren, dass sie bald sterben wird. Wie soll er nur allein zurechtkommen? Mariddja hat noch einen Wunsch: Vor ihrem Tod möchte sie sich von ihrem Neffen verabschieden, der viele Jahren wie ein Sohn bei ihr lebte, aber sie weiß nichts über seinen Verbleib. Eine liebenswert kauzige alte Dame, die unbeirrbar durchs Leben geht Nur eine wird in dieser Zeit zu Mariddjas Vertrauter: eine gewisse "Siré", die Telefonistin in Bieras neumodischem Handy. Mit Sirés Hilfe begibt sich Mariddja auf die Suche nach ihrem verlorenen Kind. »Ein leuchtendes Debüt, das einen wärmt wie doppelte Wollhandschuhe in der arktischen Kälte.« Aftonbladet Söndag
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Als wir im Schnee Blumen pflückten
TINA HARNESK, geboren 1984, ist Bibliothekarin und arbeitet nebenbei als Schriftstellerin. Sie ist in Jokkmokk im Norden Schwedens aufgewachsen und wohnt derzeit mit ihrer Familie auf einem kleinen Berg außerhalb von Arvidsjaur. Tina Harnesk ist Sami, und ihr indigenes Erbe spiegelt sich in allen Facetten ihres Lebens wider. Mit ihrem Schreiben setzt sie die mündliche Erzähltradition ihres Volkes fort. Als wir im Schnee Blumen pflückten ist Tina Harnesks Debütroman.
DAS BUCH DES JAHRES 2023 IN SCHWEDEN»Mit einem ganz besonderen Ton – eigensinnig, witzig, berührend, schön – und mit einer unnachahmlichen 85-jährigen Heldin! «Aus der Jurybegründung, Buch des Jahres»Das ist unglaublich gut, ich war völlig in der Geschichte gefangen.«Titti Schultz, Go‘ Kväll
Tina Harnesk
Roman
Aus dem Schwedischen von Susanne Dahmann
Ullstein
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Das Buch
Titelseite
Impressum
PROLOG
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Dank der Autorin
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Cover
Titelseite
Inhalt
PROLOG
Für die Kinder Ejvind & FloraJon-Ánte, Joar, Máhtte, Erik, Signe,Dag-Biehtar, Antaris, Edith, John & Daria … & für dich, den Mann, der mir einen Hund versprochen hat,wenn ich ein Buch schreibe. Your move.
»Eanu, erzähl mir die Geschichte von dem Rentierhirten, der eine Háldin getroffen hat!«
Die Stimme des Jungen klang beharrlich, sie kullerte durch den Raum wie eine Handvoll frostiger Preiselbeeren.
Máriddja lag nebenan in der Kammer und hörte, wie Biera durch ein Zuckerstück zwischen den Zähnen den Kaffee einschlürfte, bevor er die Tasse auf die Tischdecke zurückstellte.
»Na, die hast du ja schon oft gehört, aber ich erzähle sie dir wohl noch einmal«, antwortete Biera dem Jungen mit gespielter Ergebenheit.
Seine Frau wusste, dass er es liebte zu erzählen, denn das Erzählen hatten seine Eltern ihm vererbt, und die hatten es ihrerseits von denen übernommen, die vor ihnen die Pfade des Lebens gewandert waren. So schufen sie Erinnerung, und so hinterließ ein Volk ohne auf Papier festgehaltene Worte seinen Abdruck auf einer Erde, die es nicht zu verändern beabsichtigte.
Vor allen Dingen liebte er es, dem Jungen zu erzählen, der nun mit halb gesenkten Augenlidern auf der Küchenbank saß und die Zuckerdose aus Birkenrinde auf dem Tisch zwischen ihnen kreiseln ließ. Máriddja zupfte etwas an dem Kissen unter ihrer Wange, suchte einen ihrer beiden Zöpfe heraus und legte ihn so zurecht, dass sie bequem in der erholsamen Dunkelheit liegen konnte. Sie schloss die Augen.
Auch sie liebte seine Geschichten, vor allem solche, die so wie jetzt zu ihm kamen: Indem ein Kind sie einforderte. Dort, in der Finsternis der Kammer, sah sie vor sich, wie sein Blick in die Ferne wanderte, während er nach den Worten in sich fahndete, nach dem jungen Rentierhirten suchte – und wenn Biera ihn gefunden hatte, verwandelte sich seine Stimme in die eines anderen und tastete sich durch das Flackern des Holzofens bis nach draußen in die Dunkelheit vor dem Fenster. Schließlich hallte seine Stimme in allen Winkeln des Raumes wider und lockte Wesen aus den Schatten. Plötzlich hörte Máriddja das Klicken der Hufe und die Rentierleiber, die sich auf den offenen Weiten bewegten, dazu den Wind, der durch ihren Pelz fuhr und sie um die Mäuler kitzelte. Und da kam er, der junge Rentierhirte. In wortlosem Zusammenspiel mit seinem Hund lief er den Zuhörern entgegen. Die Wurfleine schwang ein wenig mit, als er über die Steine sprang, und das Messer schlug gegen die Außenseite seines Oberschenkels.
»Nun, es war so«, begann Biera gedehnt, der Tonfall dumpf und schwer wie das Läuten einer Kirchenglocke. Seine Stimme war von den Erinnerungen der Vorfahren erfüllt, die Worte strotzten vor Klarheit. Unmöglich zu sagen, ob jene Kraft, die er heraufbeschwor, von ihm Besitz ergriff oder ob der Rentierhirte in diesem Moment die Kraft besaß – und sie alle mit ihm. Sogar die alte Uhr an der Wand schien vor Erwartung innezuhalten, als Biera auswendig aus dem Buch der ungeschriebenen Geschichten vorlas.
»Eines Sommers waren ein junger Rentierhirt und sein Hund allein mit der Herde draußen im Fjäll. Es gab viel zu tun, und Hund und Hirte waren beide müde, als sie sich zum Schlafen ins Lavvu legten. In dem Feuer, das fast niedergebrannt war, knisterte immer noch heiße Glut zwischen den Steinen. Beinah hätte den Hirten der Schlaf schon übermannt, wie er mit geschlossenen Augen auf seinem Beutel lag, als plötzlich ein Kratzen am Zelttuch zu hören war. Er sah auf, schaute mit zusammengekniffenen Augen ins Halbdunkel und bemerkte, wie sich etwas gegen die Zeltwand drückte, also setzte er sich auf. Klingendes Lachen war zu hören und leise Worte, auf die neckende Weise der Mädchen. Er horchte und sah drei Silhouetten draußen erscheinen. Sie kabbelten miteinander, und als eine von ihnen gegen die Haut der Kota geschubst wurde, konnte er die Form eines Körpers erkennen.
»Den ganzen Tag schon hast du aus der Entfernung gespäht. Jetzt schau mal richtig hin!«
Da begriff der Rentierhirte, dass er es draußen mit Háldimädchen zu tun hatte, denn andere Mädchen gab es hier weit und breit nicht. In der Überlieferung und in den Sagen der Samen waren diese Wesen ganz nah, Seite an Seite mit ihnen, jedoch nur für diejenigen sichtbar, welche die Fähigkeit dazu besaßen. Es gab viele Geschichten, und er hatte alle gehört, die es in seiner Familie gab. Das Vittervolk seinerseits nannte die Samen ihre Vettern, und es gab Methoden, mit ihnen in Kontakt zu treten und sie zu überraschen, sodass sie stehen blieben und man sie anfassen konnte. Manchmal blieben sie sogar da.
Der Hund, der tatsächlich schon geschlafen hatte, war wach geworden, jetzt starrte er auf die Mädchen, sein ganzer Körper angespannt. Ein Knurren ließ seine Kehle beben und verstummte erst, als sein Herr ihm übers gesträubte Fell strich. Mit der anderen Hand griff der junge Mann nach der Messerscheide im Gürtel, und lautlos wie ein Geist zog er den Hornschaft und die scharfe Stahlschneide heraus. Als der Leib der Frau das nächste Mal gegen die Zeltwand fiel, war er bereit – vorsichtig stach er sie mit der Messerspitze in den Po, sodass auf der Haut des Zelttuches eine kleine Blüte aus Blut wuchs.
Draußen wurde es still, als hätte sich dichter Nebel übers Fjäll gelegt. Der Wind hielt die Luft an, die Bäche hörten auf zu singen, und das sanfte Knistern der Glut verstummte abrupt.
Dann wurde das dicke Tuch auseinandergezogen, und die Frauengestalt beugte sich in die Öffnung, um sich sodann mit sanften Bewegungen auf der anderen Seite des Feuers niederzulassen. Sie sah auf. Mit glänzenden Augen, dunkel wie Teiche, schaute die Háldin ihn an, bis fast keine Atemzüge mehr den Weg aus seinem Körper fanden.
Lange betrachtete sie ihn auf diese Weise, als wollte sie sein Innerstes erreichen. Schließlich lächelte sie und sagte mit fester Stimme:
»Du wolltest mich halten. Nun wollen wir sehen, ob du mich auch zu behalten vermagst.«
Ihr Samisch klang altertümlich, und als sie weitersprach, war ihre Stimme stark und ruhig.
»Ich werde deine Ehefrau werden, und mit mir bekommst du meine ganze Herde als Brautgabe. Ich werde dir gesunde Söhne und starke Töchter schenken, und wir werden glücklich sein. Doch eines musst du versprechen.«
Das Herz des Rentierhirten pochte. Er konnte nichts anderes tun, als zu nicken, erfüllt von Glück und Erwartung.
»Du darfst niemals jemandem erzählen, wie ich dein wurde oder was ich bin. Du darfst mich niemals so nennen, als gehörte ich nicht zu deiner Welt.«
Der Jüngling räusperte sich und gelobte mit Eifer und Ernst, zu tun wie geheißen. Dann ging er – wie von dem Mädchen erbeten – hinaus zu dem Platz, an dem seine Familie ihre heilige Sieidi, die Opferstätte aus Stein, errichtet hatte, und schaute mit zusammengekniffenen Augen hinaus in die helle Sommernacht. Nicht einmal die Mücken schienen sich in jener Stunde zu rühren.
Er hörte eine große Rentierherde sich nähern. Mit der Wurfleine in der Hand folgte er dem mächtigen weißen, stolzen Sarven mit dem Blick, wie sie es gewünscht hatte. Schließlich warf er. Und als es ihm gelungen war, den starken Rentierhirsch zu sich zu ziehen, da teilte sich die Herde, und die Hälfte folgte hinterdrein. Die Rentiere wurden regelrecht angesogen, strömten mit gereckten Hälsen hinter dem Leithirsch her und auf den jungen Mann zu.
Es kam, wie das Mädchen gesagt hatte. Sie heirateten, doch während der gesamten Zeremonie gingen sie beide entgegen dem Uhrzeigersinn im Kreis, und der Priester seines Dorfes las das Vaterunser rückwärts. Der weise Schamane sah wohl alles, was die Braut war, unterstand sich aber, darüber zu sprechen. Die Kinder kamen eines nach dem anderen, und durch die ansehnliche Herde der Braut war die Familie reich. Ihnen gelang alles, und sie hatten großes Rentierglück.«
Mit einem Mal war es still in der Küche. Langsam drehte Biera die Kaffeetasse und schaute nachdenklich und vielleicht mit Seherblick in den Kaffeesatz.
»Und was war dann?«, fragte der Junge.
»Das weißt du doch. Eines Abends fuhr der Ehemann mit den Fingern durch das schwarze Haar seiner Frau und flüsterte ihr ins Ohr. Geliebte Ehefrau, meine Liebe … meine Háldi … Die Ehefrau erstarrte zu Stein. Und so langsam, wie eine Wolke am Himmel von der Sonne gleitet, wandte sie sich ab und zog die Kinder an sich. Ohne ihn auch nur anzusehen, gingen sie allesamt schweigend durch die Öffnung der Kota hinaus. Und der Mann musste voller Entsetzen zusehen, wie seine Familie ebenso wie in der Entfernung die Rentierherde sich auflöste und eins wurde mit den ersten Sonnenstrahlen, die auf den Boden fielen.«
Máriddja schauderte es unter ihrer Decke, und sie wartete darauf, dass der Zauber gebrochen würde, so wie es immer geschah, wenn Biera verstummte. Eine Snusdose wurde mit einem Klicken geöffnet. Biera schob eine wulstige Prise ein. Der Junge schwieg eine Weile. Dann fragte er:
»Aber warum ist sie denn verschwunden? Wenn sie ihn doch geliebt hat. Dann hätten die Kinder und sie doch auch bleiben können.«
Biera schien gründlich nachzudenken, ehe er Antwort gab. »Obwohl sie Liebe für ihn empfand, fehlte ihr wohl in ihrem tiefsten Innern etwas. Ich glaube, man hört niemals auf, sich danach zu sehnen, wohin man gehört. Was man auch wird und wo man auch landet, ist das Herz doch verwurzelt.«
Seine Stimme klang so zeitlos, so schicksalsgesättigt, dass Bieras Ehefrau wusste: Er hatte den Blick.
GRÜNES LICHT FÜR JÁBMEMÁHKKÁ
Mitten im schwärzesten Wolfswinter ereilte die alte Dame ihr Urteil. Sie hatte sich konsequent geweigert, dem Blick der Ärztin zu begegnen, in deren Zimmer Kunst mit übertrieben aufgetragener Farbe an den Wänden hing. Vermutlich waren diese grässlichen Landschaftsdarstellungen eigens ausgewählt worden, um genau solche Gespräche einzurahmen, dachte Máriddja zynisch.
Frau Doktor Skruvlenius wartete auf ihre Reaktion und blickte derweil milde und mitleidsvoll unter den schwach grünlich schimmernden Augenbrauen hervor.
Tatsächlich sahen die Brauen in Farbe und Form ein wenig seekrank aus. Wie Larven mit Restalkohol hockten sie über der Brille der Ärztin. Vielleicht eher wie Eidechsen. Bewegliche und kalorienarme Mini-Eidechsen, die wie Pfeile über die Stirn zeigten, als die Ärztin in bedächtiger und gut eingeübter Anteilnahme mit ihr redete.
Könnte es das Licht sein? Im Zimmer roch es stark nach Desinfektionsmittel und Lilien. Máriddja hob das Kinn, um besser zu sehen. Rote Haare bekamen manchmal ja durchaus einen grünlichen Schimmer, wenn man in saurem Wasser duschte. Oder war es umgekehrt? Nicht doch! Das Salzwasser war es, das die Körperhaare grün färbte. Das hatte sie im Fernsehen gesehen, also musste es stimmen.
Die Ärztin summte gedämpft und beruhigend. Offensichtlich war die alte Dame, der sie eben die traurige Nachricht hatte überbringen müssen, sehr schockiert.
»Das hier ist schwer, Maria, das verstehe ich. Leider gibt es keine schmerzlose Weise, eine so unfassbar traurige Nachricht zu übermitteln.«
Die Augenbrauen schaukelten dabei in schnellem Tempo, ehe sie über den Augen der Ärztin wieder ein mitfühlendes A formten.
Máriddja zog ihre eigenen Augenbrauen hoch zur Stirn hinauf, um herauszufinden, ob sie sich wie Reptilien anfühlten, doch leider war dem nicht so. Sie bedauerte es. Eine solche Fertigkeit wäre eine große Freude gewesen. Die Nasenlöcher weiteten sich vor Anstrengung, als Máriddja ein weiteres Mal versuchte, das wunderbare Mienenspiel der Ärztin nachzuahmen. Deren klinisch gezupfte Haarbüschel hatten sich jetzt in dem Versuch, den ausweichenden Blick ihrer Patientin einzufangen, unmöglich tief über die Lider gesenkt.
Konnte man eine solche Fähigkeit womöglich erlernen, fragte sich Máriddja und beugte sich in dem unbequemen und viel zu tiefen Sessel interessiert vor. Sie merkte, dass der Mangel an Reaktion die Ärztin zu belasten begann.
»Wie sieht es denn bei Ihnen zu Hause aus?«, erkundigte sich Frau Doktor Skruvlenius, den Kopf anteilnehmend schräg gelegt. »Gibt es da einen Partner oder einen anderen nahestehenden Menschen, der Ihnen helfen kann, das hier zu verarbeiten?«
Diese Ärztin hatte wirklich eine ärgerliche Art, ihre Fragen so zu artikulieren, als wäre Máriddja schwer von Begriff.
»Wir werden natürlich alles tun, was wir können, um Sie in dieser Zeit zu unterstützen. Es gibt hier ein Gesprächsangebot, und ich kann Ihnen sogar Psychopharmaka verschreiben, wenn Sie meinen, dass Ihnen das helfen würde. Was denken Sie?«
Trotz der sanften Stimme war Máriddja auf der Hut und plötzlich wieder voll und ganz im Raum anwesend. Die Augenbrauenanalyse musste warten.
»Ich bin verheiratet, und der Alte wird schon gut für mich sorgen. Jetzt, da ich weiß, wie die Dinge liegen, brauchen wir nichts.« Máriddja machte Anstalten, sich zu erheben. »Ich danke für die angebotene Hilfe.«
Doktor Skruvlenius hielt sie mit einer ausgestreckten kühlen Hand auf. Die zwei Reptilien krochen über ihrer Nasenwurzel aufeinander zu und beschnüffelten sich gegenseitig.
Die freundliche kleine Doktortatze ruhte auf Máriddjas eigenen krummen Fingern wie Blütenblätter auf einer Krüppelkiefer.
»Ich verstehe, dass dies hier schwer zu begreifen ist, Maria, aber wenn Sie das Gefühl haben, dafür bereit zu sein, dann erzähle ich Ihnen gern von den Alternativen, die wir anzubieten haben. Und auf jeden Fall gibt es auch ein Gesprächsangebot für Ihren Ehemann.«
Máriddja erschrak so, dass sie vergaß, sich darüber zu ärgern, dass die Ärztin sie ein weiteres Mal mit einem falschen Namen angesprochen hatte. Sie schüttelte die Hand der Skruvlenius ab und antwortete: »Nee, der ist nicht so fürs Reden. Wird das hier wohl eher gelassen nehmen. Glaube nicht, dass es ihm irgendwelche Sorgen bereitet.«
Jetzt hüpften die Eidechsen so, dass die Stirn Falten warf. Sie versanken in den Runzeln des Gesichts, als wollten sie ihr Erstaunen oder ihr Entsetzen verbergen.
Unglaublich, was für eine Begabung diese Frau besitzt, dachte Máriddja beeindruckt und verlor den Faden.
»Ja, aber es ist doch selbstverständlich, dass es schwer für ihn werden wird. Einer solchen Situation ohne Unterstützung zu begegnen, ist für einen älteren Menschen wirklich nicht empfehlenswert!« Die etwas monotone Stimme von Skruvlenius gewann in erfrischender Weise an Lautstärke. »Nach so vielen Jahren Gefahr zu laufen, seine andere Hälfte zu verlieren, ist ein schweres Trauma!«, schärfte sie ihr ein.
Máriddja rollte den Kopf in einer zustimmenden Bewegung vor und zurück und sagte dann: »Aber er hat all seine Hunde selbst weggemacht, glauben Sie also nicht, dass der Mann zartbesaitet ist! An den meisten von denen hat er sehr gehangen. Klar hat er ein bisschen geheult, wenn er dachte, dass keiner es sieht, aber dann dauerte es nicht lange, und er war wieder wie neu!«
Die Ärztin war entsetzt. »Aber Sie vergleichen das hier doch wohl nicht mit dem Einschläfern eines Haustiers, oder? Ich meine …« Ihre Augen wirkten tellergroß, und sie war nahe daran, ihre Professionalität zu verlieren. »… Sie sind doch trotz allem kein Hund, sondern seine Ehefrau, oder? Ich bin sicher, dass es nicht …« Sie war außer sich. Dann sammelte sie sich wieder und fuhr mit nüchterner Stimme fort, fest entschlossen, den vorgegebenen Routinen für das Aussprechen von Todesurteilen zu folgen. »So. Wie ist es denn bei Ihnen geregelt? Wohnen Sie in einem Altersheim oder vielleicht mit Haushaltshilfe zu Hause?«
Máriddjas Herz machte einen erschrockenen Satz in ihrem Brustkorb, im Mund schmeckte es plötzlich nach Schuhstroh, und ihre Worte kamen kurz und rasch.
»Nein, keine Haushaltshilfe. Wir mögen keine Fremden bei uns rumlaufen haben. Wir kommen gut klar, verdammt gut sogar. Haben noch nie mit irgendwas Hilfe gebraucht. Wir sind nicht im Geringsten unsauber oder krank, keiner von uns«, erklärte sie der Ärztin, getrost vergessend, was hier eben unmissverständlich über ihren Gesundheitszustand festgestellt worden war.
Skruvlenius räusperte sich enervierend lange und legte den Zeigefinger in einer nachdenklichen Geste über ihr Kinn.
»Ich denke, dass wir dennoch Kontakt zu Ihnen halten sollten, Maria, um zu sehen, wie es geht. Es gibt wie gesagt vieles, was wir immer noch für Sie tun können, auch wenn der Ausgang unausweichlich ist«, sagte sie fürsorglich, aber auch deutlich.
»Nun, dann sind wir hier ja wohl so weit, oder?«, entschied Máriddja und erhob sich ungraziös von dem wenig ergonomischen Sitzmöbel. Die Knie knackten, als sie sich hinabbeugte, um ihre Mütze vom Fußboden aufzuheben, die sie sich danach über die Haare zog.
»Wie Sie wünschen. Wir haben ja Ihre Adresse, dann werden wir uns in ein paar Tagen bei Ihnen melden, wenn sich alles ein wenig gesetzt hat.«
Die Ärztin streckte ihr die Hand hin. Máriddja beantwortete die Geste, indem sie sich ordentlich in das Taschentuch schnäuzte, das die Ärztin ihr im Vorgriff auf das Gespräch gegeben hatte, und reichte es dann der rothaarigen Frau zurück. Die kleinen glänzenden Salamander im oberen Teil des Gesichts sahen erstaunt aus, doch sie beherrschte sich, nahm das Papiertaschentuch entgegen und sagte auf Wiedersehen. Dann blickte Onkologin Dr. Runa Skruvlenius der kleinen Alten hinterher, die mit offener Jacke wie eine zerzauste Krähe im Gegenwind murmelnd über den Linoleumboden flatterte. Bei der stimmte wahrscheinlich nicht nur körperlich was nicht, schien sie zu denken, während ihre Salamander faul in der Hitze ihrer Wechseljahrswallungen dösten.
Máriddja eilte, so schnell ihre krummen Beine sie trugen, durch den Flur des Krankenhauses zum Ausgang. Auf dem Weg zur Haltestelle, wo der Bus in einer Dreiviertelstunde kommen würde, wühlte sie ihr altersschwaches Handy aus der Tasche der Steppjacke – und warf es in den Mülleimer.
Über das hier würde keine Menschenseele etwas erfahren. Dieser Scheiß war allein etwas zwischen Máriddja und ihrem Schöpfer.
Niemand würde rangehen, wenn die grüne Ärztin anrief. Das Klingeln, das sich anhörte wie auf Lifestyle getrimmte Stechmücken, würde in einem muffigen Plastikgrab zwischen Zigarettenkippen und zerknüllten Süßigkeitentüten widerhallen. Die Batterie des verdammten Telefons würde noch vor Máriddjas am Ende sein.
Das war mal sicher.
In dieser Nacht erwachte Máriddja mit feuchten und schmerzenden Wangen jammernd aus einem Traum. Biera lag zu ihr gewandt mit einer schweren Hand auf ihrer Taille.
»Du hast geträumt.« Ihr Gatte sah sie ernst an. Wie ein katholischer Priester, der soeben eine besonders schwere Beichte abgenommen hatte. »Von ihm, glaube ich …«
Máriddja atmete immer noch heftig und brachte ihre Atemzüge mit ganzer Willenskraft zur Ruhe.
Es gab keine Antwort, die sie ihm geben konnte, sie sah ihm nur mit geweiteter Seele in die Augen. Umfasste seine gealterte Hand, und Biera drückte sanft zurück.
»Ich vermisse ihn auch.« Bieras Stimme war dunkel wie die Dämmerung.
Schweigend lagen sie einander zugewandt im Finstern unter der Decke, während beider Gedanken in dem schmalen Raum zwischen ihnen widerhallten. Máriddja stellte sich vor, wie sich sein warmer kleiner Fuß auf ihrer Handfläche anfühlte. Aber inzwischen wäre er natürlich ein erwachsener Mann, dessen Fuß weder in ihre Hand passen noch eine so schöne Schlafstellung bieten würde. Wenn er überhaupt bei ihnen im Bett schlafen würde, was natürlich nicht der Fall wäre. Er würde auf dem Küchensofa schlafen, das vielleicht ein bisschen zu kurz wäre, aber Máriddja würde ein Kissen unter seine Waden legen, damit sie nicht einschliefen, wenn sie raushingen. Und dicke Socken. Auf jeden Fall würde sie dafür sorgen, dass er was Ordentliches an den Füßen hätte, wenn er sie schon unbedingt aus dem Nachtlager heraushängen lassen wollte. Fror man als junger Mensch an den Füßen, dann bekam man als alter Schmerzen, das wusste jeder.
»Es ging doch wohl gut beim Doktor heute, wie du gesagt hast?« Biera klang, als würde der größte Teil von ihm schon schlafen.
Máriddja sah ihn verstohlen mit kurzsichtigem Blick an und tat dann so, als würde sie gähnen. Dabei strich sie ihm beruhigend über den Handrücken.
»Alles gut, frisch wie ein Obstkern. Nicht der kleinste Mist, um den man sich Sorgen machen müsste!«
Sie gab ihm einen kleinen Kuss auf den Daumennagel und schob sich ein wenig von ihm weg, damit er nicht merkte, was sich in ihren Atemzügen verbarg. Die Hand ihres Mannes ruhte immer noch auf ihr, als er mit rasselnden Altmännergeräuschen und angestrengtem Pusten wieder einschlief.
Biera Rijá schlief nun wie ein Kind, und die Gewissheit beruhigte und erschreckte seine Ehefrau gleichermaßen.
Als sie das Kissen herumdrehte und ihre Atemzüge tiefer wurden, hätte sie schwören können, die flaumige kleine Stirn von Heaika-Joná an ihren Lippen zu spüren. Und seinen Duft.
Máriddja sog ihn ein, wie eine Tiermutter den Geruch ihres schlafenden Jungen einsaugt. Sie ließ die Gedanken verdämmern, bis sie nur noch Luft und Kohlendioxid waren und stille Schmerzen, deren Wurzel sich hinter ihrem Nabel befand.
BIERAS VERLORENES MESSER UND MÁRIDDJAS VERLORENER VERSTAND
Sie wohnten einige Kilometer außerhalb des Ortes auf einem Berg recht weit über dem Meeresspiegel. Entlang des gekrümmten kleinen Wegs im Bergdorf namens Sarvesoajvve lagen Hütten und Höfe verstreut in einem ebenso krummen Birkenwald mit einigen uralten Tannen darin. Von den am höchsten gelegenen Häusern konnte man bis nach Guovddo sehen, dem einzigen zusammenhängenden Ort der Gemeinde. Winters glommen die Leuchten auf dem Slalomhügel wie Weihnachtslichterketten hinauf nach Sarvesoajvve.
Hier besaßen Biera und Máriddja Rijá ein Haus. Es war nicht groß, zwei Zimmer und Küche und ein paar Wirtschaftshütten, aber es verfügte zumindest über ein funktionierendes Wasserklosett und eine Satellitenschüssel. Vielleicht könnte die Holzverkleidung einen neuen Anstrich gebrauchen, vor allem auf der Südseite des Hauses, doch die Rijás selbst fanden das unwichtig an der Grenze zu unnötig. Möglicherweise täten der Auffahrt ein paar Schaufeln Kies gut, doch auch das bereitete ihnen keine Sorgen. Das Zuhause genügte, wie es war, so war es schon immer gewesen.
Nein, auf den vielleicht etwas nachlässigen Zustand des Hauses musste man keine Gedanken verschwenden. Biera beunruhigte etwas völlig anderes.
Er kniete beim Holzkasten und fegte mit einem Auerhahnflügel sorgfältig Spreu und Asche von den Bodenplatten. Die Finger waren heute krumm und voller Schmerzen, und er ahnte einen herannahenden Wetterwechsel. Das Thermometer auf der Außenseite des Fensters war in den Schneewehen, die sich gegen die Scheibe lehnten, kaum zu erkennen. Darüber hinaus hatte das Licht es auch heute nicht bis hierher geschafft. Lediglich ein matter Widerschein des Himmels gegen die Schneedecke erhellte den Tag. Glomm gedämpft in den trockenen Flocken und infizierte die Gedanken mit weißer Dunkelheit. Das Quecksilber im Thermometer war derselben Ansicht: Hier herrschte richtiges Kaltwetter.
Biera hängte den Flügel an dem Riemen, der um die Schulterfedern gewickelt war, mit vor Kälte steifen Fingern auf einen Nagel. Der Feger drehte sich in der Wärme vom Ofen ein paarmal, und die Federn des Auerhahns glänzten im Feuerschein. Von alters her war er im Haus als Besen benutzt worden, vor allem um den Kamin herum, doch jetzt sah er langsam ein wenig mottenzerfressen aus. Im Winter würde er einen neuen Auerhahn schießen müssen. Hinter der Ofenklappe knisterte das Feuer, und Biera sah verstohlen zu seiner Ehefrau, die bei der Spüle auf einem Küchenstuhl vor dem alten quäkenden Radio saß und das Schlagerkreuzworträtsel löste. Er wischte den Schmutz auf die Schaufel und ging über den Flickenteppich zum Mülleimer unter der Spüle. Damit er rankam, zog Máriddja zerstreut den Fuß in der dicken Socke weg, der im Takt der Musik wippte. Die Frau saß aufgeplustert da wie eine kleine Krähe auf einem netten Ast und sah zufrieden aus.
Doch völlig entgegengesetzt zu der Stimmung der Frau war Bieras eigene. Er konnte sein Messer nicht finden. Das saß sonst immer wie ein Körperteil an ihm, wie festgeschweißt im Gürtel. Nun fühlte er sich seltsam nackt: nachgerade verstümmelt ohne die Bewegung des Messers an der linken Hüfte. Mehrmals täglich griff seine Hand danach, um Fisch auszunehmen, Brot zu schmieren und alles andere zu tun, wozu ein gutes Messer taugen könnte. Er hatte es selbst gefertigt und kannte seine Form und seine Kraft in- und auswendig. Immer schob er es sofort zurück ins Leder, eine automatische Bewegung, und jetzt konnte er nicht begreifen, wo es geblieben war. Das war alles höchst seltsam und tatsächlich ein wenig unbehaglich. Die Abwesenheit des Messers beunruhigte ihn – aber noch etwas anderes fütterte seine Anspannung.
Biera schaute wieder zu Máriddja hin, sie hielt den Bleistift reglos über die Zeitung, so als würde sie scharf nachdenken. Auf dem Kopf trug sie wie immer eine Mütze, und über den Rücken liefen ihre beiden Zöpfe wie stille graue Winterbäche. Sie trug ein Flanellhemd und einen Rock mit Schürze, die aussah, als hätte sie den Fußboden damit gewischt. Abwesend hatte sie auf seine Frage nach dem Messer geantwortet, das läge neben dem Trockenfleisch auf dem Norrbottens-Kuriren. Was bemerkenswert war, dachte Biera, weil sie doch beide wussten, dass das geräucherte Trockenfleisch wie immer an seinem Nagel hing. Außerdem hatten sie nichts anderes abonniert als den Norrländska Socialdemokraten. Sie hatte etwas spaßig ausgesehen, als er sie darauf hingewiesen hatte, und dann angefangen, von seinen kaputten Handschuhen zu reden.
Womöglich hatten die Háldi das Messer mitgenommen, grübelte Biera. Das machten die manchmal. Da musste man sich nicht drüber aufregen. So wie er die kannte, würde es bald wieder da liegen.
»Leiht es gerne aus, aber ich brauche es bald wieder«, sagte er sicherheitshalber und so leise, dass seine Lippen sich kaum bewegten, während er die Füße in die Stiefel schob. Aber er war überhaupt nicht sicher, ob die Unterirdischen das Messer hatten, und schon gar nicht, wie es um seine Ehefrau stand. Máriddja hatte sich in letzter Zeit verändert. Sie grübelte irgendwie und war – seltsam. Ein besseres Wort fiel Biera nicht ein: In der letzten Zeit hatte sich Máriddja seltsam verhalten. Sie sprach oft von der Vergangenheit, auch über die Dinge, die sie sonst niemals erwähnten. Die verborgenen und schmerzhaften. Und mehrere Male hatte sie schon das angesprochen, was seit vielen Jahre so gut wie unausgesprochen zwischen ihnen gelegen hatte. Biera flüsterte die Buchstaben in seinem Innern. Spürte den Geist des Jungen in seiner Seele, und in seinem alten Herzen wisperte es die ersten Töne des Joik. Dann rieb er sich mit seiner harten, sehnigen Hand die Stirn, um sich zu fassen, und zog die Mütze auf.
»Ich geh mal eben raus.«
Draußen auf der Treppe, umgeben von kalter Luft, als stünde er im Dunst, dachte Biera an den Krankenhausbesuch vor ein paar Wochen. War es da vielleicht um etwas Schlimmeres gegangen als die Kontrolle, von der Máriddja gesprochen hatte? Jetzt bissen die Januarwinde ihn mit scharfen Zähnen in den Leib – auch innen. Sie war einfach nicht mehr sie selbst. Biera fror. Was, wenn sie bei so einem Demenzdoktor gewesen war?
Hearrá don áigá, sie war doch wohl nicht auf dem Weg in die Kindheit?
DAS ENDE
Scharfes strenges TintenbandDurch Familien durch das LandKönigssiegel biss wie BrandFällt von alter Hand
Jedes Mal wenn Kaj im Laufe des vergangenen Jahres seine Mutter besucht hatte, wünschte er sich, dass sie sterben würde. Dafür schämte er sich nicht einmal. Möglicherweise begriff seine Mutter, worauf er hoffte, und gönnte ihm das auch, denn sie beendete alle ihre Zusammentreffen mit einem bedauernden Seufzer durch die Nase. Als würde sie sagen: Tut mir leid, diesmal wieder nicht. Und die trügerische fette Dame Tod schürzte fräuleinhaft die Lippen um ihren Trauergesang. Jedes elendige Mal.
Es war nicht so, dass Kaj seine Mutter leiden sehen wollte. Ganz im Gegenteil gönnte er ihr eine sanfte Fahrt zu einem friedlichen Abgang, wie ihn sich wahrscheinlich alle sehr kranken Menschen in ihrem tiefsten Innern wünschten.
Und er war aufrichtig bemüht, es für sie richtig zu machen. Wenn er meinte, dass ihre Lebensflamme im Verlöschen begriffen war, spielte er zarte Volksweisen über Vöglein für sie, über Frauen, die ihr Fensterlein öffnen und hinausspähen wollten. Er hielt ihre Hand und schenkte – und nahm – summend Trost.
Doch dann war wieder dieses nasale Seufzen vom Krankenbett zu vernehmen, und er gab ihr einen Abschiedskuss auf die grauen Mamalocken. Er nahm sein Buch, seine halb gegessene Tüte mit Schokodragées und sein Handyladekabel. Ebenso zutiefst, wie er eben noch seine Mutter auf die andere Seite gewünscht hatte, betete er jetzt intensiv, dass sie noch etwas länger leben möge. Bis zum nächsten Mal. Denn es ging hier nicht nur um die edle Hoffnung, das Leiden möge für eine Angehörige bald vorüber sein. Darüber war er sich vollkommen im Klaren.
Nein, Kaj wollte dabei sein. Er wollte das Ende erleben.
Also kam er mit seiner Stofftasche in die Klinik von Borlänge. Jeden Tag. Er saß im Sessel beim Fenster, wo die Aussicht von den verschossenen Landeskrankenhausgardinen eingerahmt wurde. Betrachtete sein ehemaliges Gymnasium auf der anderen Straßenseite. Wartete, zog wortlos Bilanz. Den Sommer über hatte die Promenade draußen Hundebesitzer in Regenjacken und kleine Spaniels mit unglücklichen Ohren geboten. Windige Sommertage hatten an den großen Fassadenplakaten der Tankstelle gezerrt wie an den Ohren von Jungs, als würde eine erzieherische Hand sie lang ziehen. Und jeden Tag prägte Kaj sich präzise den Alltag ein, der da draußen vor sich ging. Die womöglich letzte Kulisse im Leben mit einer Mutter.
Eines Nachmittags im August wurde Kaj auf seinem Platz unfreiwillig Zeuge, wie ein Mann mittleren Alters nur mit einem Badelaken unter dem Bierbauch angerannt kam. Es endete damit, dass er in ein Taxi sprang. Mit seinen langen Beinen sah er aus wie ein Weberknecht, und die Umklammerung der wahrscheinlich ziemlich altersfleckigen Finger ums Handtuch war definitiv das Einzige, was einen Flitzerskandal verhinderte.
Kaj empfand eine gewisse Dankbarkeit gegenüber dem armen Taxifahrer … er selbst verspürte kein Verlangen, an dem Tag noch mehr Teile von bleichen, alten Körpern zu sehen. Was hatte den Eilmarsch wohl veranlasst? Sicherlich nichts Ehrbares.
Für den Träger der breiten Gliedkette aus Gold, die gegen einen haarlosen Brustkorb schlug, hatte er jedoch keine Sympathie. Alter Schleimer, fasste Kaj düster für sich zusammen und nahm wieder das Buch auf, das bäuchlings auf seinem Schoß lag: eine schmale Gedichtsammlung. Die hatte seine Lebensgefährtin voriges Weihnachten der Mutter geschenkt.
Er las weiter, wo er aufgehört hatte, nahm das pausierende Wort auf, rückte die Verse zurecht und hängte sie bald einen nach dem anderen wie zerbrechliche Kugeln in einen Weihnachtsbaum. Um seiner schlafenden Mutter eine Freude zu machen. Aber Kaj war froh, dass sie an dem Tag nicht gestorben war. Es wäre unwürdig gewesen, das Atmen einzustellen, während halb nackte Männer mit zwielichtigen Vorhaben Anspruch auch nur auf das kleinste Mikropartikel desselben Sauerstoffs erhoben, der für einen selbst der letzte sein würde.
Fast ebenso oft saß sein sieben Jahre jüngerer Bruder Gustav in diesem Sessel mit zerschlissenem Ledersitz. Sie wechselten sich als ambulante Drohnen in einem Bienenstock ab. Manchmal wachten sie auch gemeinsam. Sie ruhten im sicheren Schatten Ihrer Majestät, bis einer von ihnen die Flügel ausklappte und mit glänzenden Schwingen losflog, raus aus dem stickigen Betonraum in die Sonne und ins Leben. Der andere blieb dann bei seiner sterbenden Bienenkönigin und wartete schaudernd mit ihr auf den Tod.
Und es kam so – Gott sei’s gepriesen –, dass die Mutter in Kajs Schicht starb. Doch verpasste er beinahe den Moment, in dem sie ihr irdisches Ruhelager verließ. Weil er sich auf der Toilette den Orangensaft abzuwischen bemühte, den er sich wie immer in den Halskragen gegossen hatte – ein Versuch, der natürlich zum Scheitern verurteilt war, denn wer kann sich etwas aus dem Kragen wischen, ohne das Kleidungsstück auszuziehen? Nur eine Person, deren Arbeitsplatz eine Zirkusmanege ist, dachte Kaj. Nein: eine Katze. Das Ganze hing wie ein Fluch über seiner Liebe zu Zitrusfrüchten. Wann immer sie zusammentrafen, kam es zur Kernschmelze. Er brach das Bespritzen seines Oberkörpers ab, als er es plötzlich hörte. Aus dem kalten Metallrahmen und der gestärkten Bettwäsche des Landeskrankenhauses: das Räuspern.
Wie Bergkuppen unter lagenweise verwehtem Schnee ragten die Wangenknochen seiner Mutter unter der bleichen, runzligen Haut hervor.
Stark und schwer wie Rosshaar ruhten ihre Haare auf dem Kissen, und zwischen ihren halb geöffneten Lippen schimmerten ihre scharfen Eckzähne. Sie hatte Stil. Sogar in diesem Moment, als es kaum mehr zu irgendetwas dienen konnte, war sie elegant. Die Hände, deren Nägel er vorgestern lackiert hatte, ruhten in einer graziösen Geste auf dem Brustkorb, als würde sie eben den Körper mit Luft füllen wollen. Fast erwartete Kaj, sie mit einer fallenden yoga-artigen Handbewegung entlang des Oberkörpers ausatmen zu sehen, um zu demonstrieren, wie man seine Sauerstoffaufnahme optimierte. Doch das tat sie nicht, wenn sie auch weiteratmete. Unregelmäßig und dünn wehte der Sauerstoff immer noch hörbar aus ihr heraus.
Kaj zog den Stuhl näher heran und setzte sich neben die prachtvolle Frau, die eigentlich im Bett eingesunken hätte liegen müssen, aber gemäß ihrer Gewohnheit so aussah, als würde sie darauf schweben, über allem, was gewöhnliche Menschen beschwerte. Die Gravitation hatte die kühle Überlegenheit seiner Mutter niemals wirklich angefasst. Ihre Schritte waren Schneeflocken auf heißen Steinen gewesen, ihre verhaltenen Bewegungen hatten sie mit fast traumtänzerischen Schwüngen im Leben nach vorn gebracht – wie eine Elfe.
Unfassbar, unnahbar. Unendlich schön.
Ihre rote Brille lag eingeklappt auf dem Nachttisch. Kaj verspürte den seltsamen Impuls, sie aufzusetzen, um durch denselben Schliff zu blicken wie die Frau, die ihn geboren hatte. Er wollte durch ihre Augen schauen. Er wollte sie erahnen und zum allerersten Mal treffen. Jetzt, da es ihr letztes Mal war.
Stattdessen strich er über ihre Decke, die natürlich völlig faltenlos war.
»Möchtest du, dass ich die Schwester rufe? Oder Gustav?«, fragte er mit rostiger Stimme.
Die Mutter schloss für einen Moment die Augen und bewegte den Kopf in einer leisen verneinenden Geste. Sie atmete unregelmäßig und angestrengt, schien aber keine Schmerzen zu haben. Kaj suchte ihren Blick und fand das Erwartete: hellbraun wie eine Tasse Earl Grey mit Milch.
Wie ein Stapel Seidenpapier türmten sich zwischen ihnen Schicht auf Schicht der Sprachlosigkeit, der Geheimnisse, der Vorhänge, Unklarheiten und Fragen auf. Mutter und Sohn sahen einander an, und die Mutter erwies ihm die Ehre, nicht den Blick abzuwenden. Ausnahmsweise. Sie öffnete die Tür zum Verborgenen einen kleinen Spalt, sodass er gerade noch ahnen konnte, dass sich hinter der abweisenden Fassade etwas bewegte. Ihr schlanker Hals ruhte schwanengleich auf dem Kopfkissen, so schwanengleich, dass der Kissenbezug unter ihr wirkte wie eine gekräuselte Wasseroberfläche.
»Nun ist Schluss, Kaj«, flüsterte sie. Das klang, als würde sie auf den Abspann eines netten, aber keineswegs besonderen Films hinweisen, der gerade über den Fernsehbildschirm lief. In dem Bernsteinblick, vor dem sich der Wimpernvorhang hob und senkte, herrschte ein Mittagshoch.
Er sagte – nichts. Die Gedanken kreisten im Kopf, alles, was er zu fragen und zu sagen beschlossen hatte, purzelte im Gehirn herum wie kleine Füchse beim sommerlichen Spiel. Er schluckte. Die Finger der Mutter schoben sich niedlich und sacht in seine Richtung über die Bettdecke, und er nahm sie. Die Nägel mochten an seinen Fingerspitzen hart und kalt sein, doch ihr Ehering war solide und warm. Mit dem Daumen strich er darüber und spürte seinen eigenen Puls brennen und pochen.
Das endlose Warten hatte ihn kein bisschen bereiter sein lassen. Es dürstete ihn nach etwas von ihr. Er wollte mit schmerzhafter Dringlichkeit etwas von seiner Mutter hören, ehe sie von ihm ging, ehe die mütterliche Hand, in der er nie Festigkeit gespürt hatte, aus seiner klebrigen Kinderpranke rutschte. Aber jetzt – jetzt, da die letzte Gelegenheit im ganzen Leben in Reichweite war und ihn friedfertig ansah … da vermochte er nicht darum zu bitten. Seine Lippen waren trocken, wie etwas, das vom langen Liegen in der Sonne keinerlei Spannung mehr besaß.
Er spürte mehr, als dass er es sah, wie der Schwan in der Seele seiner Mutter sich für die Anstrengung wappnete, Luft unter die Schwingen zu bekommen. Noch einmal umfasste Kaj ihre Hand und setzte sich anders hin.
»Mama«, sagte er leise.
Es schien, als würde mit jedem Blinzeln im Rhythmus der sich anschleichenden Schritte des Todes das, was so lange zwischen ihnen gelegen hatte, Schicht um Schicht von ihren Augen fallen. Und am Ende war ihre Iris völlig rein, und sie sah ihn an, direkt und nah, und begann zu reden.
Die Worte klangen leise und melodisch, die Stimme ruhig und weich. Kaj konnte sich nicht wehren. Die Worte flossen mit nie gehörter Natürlichkeit über ihre Lippen. Es war nicht nur die Sprache. Sie redete so leise, aber Nuancen und Klang waren völlig neu. Voller Erstaunen saß er da, mit der Wange an ihrem Atem, um zu hören. So hatte die Mutter noch nie mit ihm gesprochen, es fühlte sich völlig fremd an – und doch so vertraut. Er merkte nicht einmal, wie sie verstummte, jedenfalls nicht bevor er spürte, wie sein Ohr kalt wurde. Als er sie ansah, hatte sie die Augen geschlossen und war mit in den Schwungfedern prasselnden Wassertropfen davongeschwebt.
Nicht seinem Bruder, sondern ihm wurde das Ende der Mutter zuteil. Und auch wenn das Herz wie ein Bluterguss schmerzte, als er sein Telefon nahm, um den Anruf zu tätigen, lag darin eine gewisse Genugtuung angesichts der Gerechtigkeit.
Gustav hatte den Anfang bekommen, das Ende gehörte Kaj. Die Logik dieser Argumentation war für ihn eher kindlich und instinktiv als bestechend. Aber wer wird nicht zu einem kleinen Rotzbengel, wenn die Mutter stirbt?
Bei Weitem zu dünn gekleidet standen die Brüder zwei Wochen später auf dem Friedhof und zitterten, als der Sarg in die klaffende Erdwunde gesenkt wurde. Gustavs Tochter sang »Blott en Dag«. Die unschuldigen, klaren Töne flogen ihre Sekunden durch die Luft. Gustav umklammerte seine mitgebrachten Blumen, als wollte er verhindern, dass sie anfingen zu reden.
Um sie herum standen Grabsteine – Monumente über Leben und Tod von Menschen: alle ihre Träume und Sehnsüchte, ihre Arbeit und ihr Schuften, zusammengefasst in steingemeißelte Zeichen. Eine stille Ansammlung schweigender Klageweiber aus Granit.
Der Schal kratzte an Kajs Kehle, und er zog den Reißverschluss hoch. Die Schwägerin rieb sich mit den Handflächen die Augen.
Er sah zu dem Stein, der das Leben seiner Mutter auf ein paar Ziffern und Buchstaben reduzierte, neben den bereits von Wetter und Wind verwitterten Daten seines Vaters. Die sterblichen Überreste der Mutter würden unter dem Gewicht des Granits ruhen, aber die sanften, zarten Bewegungen ihrer Hände waren auf die Innenseite seines Schädelgewölbes gezeichnet. Als die Söhne den Sarg hinunter in die Schwärze verschwinden sahen, leuchtete über ihren Gesichtern die Milchstraße, deren Licht in ihren Gliedern glühte.
Die Schwermut der Stunde ließ Kaj darüber nachdenken, ob seine Mutter jetzt wohl Ruhe finden würde. In der Seele, die zu verbergen ihr immer gelungen war – wenn nicht gerade etwas jenseits des Fensters den wehmütigen Blick fesselte, während sie ihren Morgenkaffee trank. Oder wenn unter der roten Brille die Tränen hervorquollen, weil sie an einer erschütternden Lebensschilderung in einem Buch Anteil nahm. Würde der Blick jetzt erfassen, was er gesucht hatte? Würde die Quelle der Tränen versiegen?
Er spürte das Brennen hinter seinen Lidern und fragte sich, ob die Mutter nun wirklich in der Erde bleiben würde oder einfach, wie sie es schon immer getan hatte, weiterhin darüber schweben.
Er strich die schulterlangen Haare aus dem Gesicht und betrachtete die aufgereihte kleine Schar: traurige Zinnsoldaten in gebeugter Ehrerbietung um die Ruhestätte der Mutter. Es war nicht so, dass sie zu wenige waren – das Begräbnis hatte gemäß ihrem Wunsch nur innerhalb der engsten Familie stattgefunden. Nein, es war etwas anderes, das an seinem Seelenfrieden kratzte, etwas, das über die offensichtliche Tatsache hinausging, dass die Mutter nicht mehr bei ihm war. Und das tat so verdammt weh.
Er suchte in seiner Tasche und fand einen in Papier gewickelten Apfelstrunk. Behutsam grub er einen Kern aus dem entblößten Schoß der Frucht. Diesen Kern warf er ganz einfach auf den Sargdeckel. Der Pfarrer sah ihn erstaunt an, und Gustav zog die Augenbrauen hoch, doch die Aktion gab Kaj etwas. Vielleicht Frieden?
KONTEMPLATION IM ADAMSKOSTÜM
Am Abend nach der Beerdigung fühlte Kaj sich ausgelaugt und leer. Er war dankbar, dass der Abschied der Mutter von dieser Welt still und würdevoll verlaufen war. Sie war von Angst und Unruhe heimgesucht gewesen, und die starken Medikamente hatten sie verwirrt gemacht. Ständig war sie auf den Verlust ihres Mannes zu sprechen gekommen und hatte seinen vorzeitigen Tod beweint. Unentwegt hatte sie einen Streit wiedergekäut, den sie gehabt hatten, wenige Stunden bevor die Notaufnahme anrief, um ihr mitzuteilen, dass Hans an einem schweren Herzinfarkt gestorben war. Jeden Herbst zog der Todestag wie eine Unwetterwolke am Himmel auf, und ihr ewiges Grübeln darüber wurde nur noch schlimmer.
»Ihr habt euch wegen einer Bagatelle gekabbelt, Mama«, hatte sein Bruder gesagt, seine Brille mit der einen Hand auf die Nase geschoben und die Mutter mit der anderen gestreichelt. »Du kanntest doch Papa, er hatte das alles schon vergessen, noch ehe er rückwärts aus der Auffahrt gefahren war.«
Die Augen ihrer Mutter in dem kantigen Gesicht hatten unverhältnismäßig groß ausgesehen, so wie bei einer Schmeißfliege. Sie hatte stark nach Chemikalien gerochen und nach Gott weiß was noch für Substanzen.