Alva und das Rätsel der flüsternden Pflanzen - Yarrow Townsend - E-Book

Alva und das Rätsel der flüsternden Pflanzen E-Book

Yarrow Townsend

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Beschreibung

Geheimnisvolle Reise eines besonderen Mädchens, das mit Pflanzen kommuniziert, für Kinder ab 10 Jahren.

Seit dem Tod ihrer Mutter lebt Alva mit ihrem Pferd in einer Holzhütte am Fluss. Sie hat eine besondere Gabe: Alva versteht die Pflanzen und kann sogar Medizin aus ihnen herstellen. Doch als immer mehr Menschen krank werden, geraten die Pflanzen in den Verdacht, die Krankheit auszulösen. Sie sollen vernichtet werden. Alva will unbedingt die Wahrheit herausfinden und macht sich mit dem Heilpflanzenbuch ihrer Mutter auf eine Reise ins Ungewisse. Und sie ist nicht allein. Zusammen mit Idris und Ariana muss sie einen reißenden Fluss und endlose Wälder bezwingen. Aus der anfänglichen Schicksalsgemeinschaft werden echte Freunde und gegen alle Widerstände gelingt es ihnen, eine geheime Verschwörung aufzudecken und das lebenswichtige Heilmittel zu beschaffen.

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Das Buch

Alvas Zuhause ist in Gefahr. Denn ausgerechnet ihre geliebten Pflanzen sollen etwas mit der Krankheit zu tun haben, die sich überall ausbreitet. Alva will unbedingt die Wahrheit herausfinden! Heimlich schleicht sie sich auf ein Handelsboot, wo sie auf ihre Reisegefährten trifft: Idris und Ariana. Zusammen bezwingen sie wilde Wasser und unbekannte Wälder. Wird es ihnen gelingen, das Geheimnis zu lüften und das Heilmittel zu beschaffen?

Die Autorin

© privat

Yarrow Townsend verbrachte die meiste Zeit ihrer Kindheit im Wald. 2009 ging sie nach Oxford, um Englische und Französische Literatur zu studieren, und entdeckte, dass der Botanische Garten der perfekte Ort war, um für Prüfungen zu lernen. Nach dem Studium wurde sie Englischlehrerin. Heute lebt sie auf einem Boot und reist durch die Kanäle Englands.

Der Verlag

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Viel Spaß beim Lesen!

FürBridie Watts

Die Bewohner hätten das Dörfchen Thorn Creek schon längst aufgeben sollen. Es war ein unangenehmer, feuchtkalter Ort, eine Ansammlung von Holzhäusern, die sich an die Ufer eines Flusses klammerten, als hätten sie Angst, in seine schlammbraunen Strudel zu stürzen oder aber vom Wald verschlungen zu werden. Die sumpfigen Wälder und wilden Moore, die das Dorf umgaben, waren so gefährlich, dass Kinder dort besser nicht hätten spielen sollen. Die Winter waren hier lang und die Sommer klamm, und niemand im Dorf freute sich auf die kurzen düsteren Wintertage, an denen der Nebel vom Fluss heraufquoll und man sogar mit zwei Pullovern übereinander fror. Tage, an denen man nicht viel anderes tun konnte als Feuerholz zu stapeln und Fallobst aufzusammeln.

Niemand außer Alva Carson.

Alva war zwölf Jahre alt, hatte dunkelbraunes Haar, von Brombeerdornen zerkratzte Hände und einen entschlossenen Zug um den Mund. Sie trug eine Jungshose, tagein, tagaus dieselbe, eine Wachsjacke, die nach Bienenwachs und Holzfeuer roch, und ein paar dicke Lederstiefel. Sie wohnte in einem alten, heruntergekommenen Holzhäuschen, das ein Farmer eine Zeit lang als Holzschuppen benutzt hatte. Es stand am Rand des Dorfes, im Schatten des Waldes, inmitten eines verwilderten Gartens mit vielen Schlehensträuchern und Apfelbäumen. Alva hatte schon früher darin gewohnt, mit ihrer Ma, aber seit Ma tot war, lebte sie dort alleine und ganz auf sich gestellt. Sie kümmerte sich um den Garten, und der Garten kümmerte sich um sie. Alva fand, dass sie niemand anderen brauchte.

An jenem trübgrauen Nachmittag stand sie mitten in den kniehohen Brennnesseln und spähte ins Unterholz. Es war der 1. September, und es roch bereits nach Herbst. Dicke Nebelbänke legten sich über den Fluss, und der Beinwell und die Farne am hinteren Ende des Gartens waren von Spinnennetzen überzogen, an denen glitzernde Tautropfen hingen. Die Pflanzen flüsterten Alva zu, ihre leisen Stimmen durchdrangen das Gewirr der Blätter und Stängel.

Nimm von den Stängeln!, rief der Sauerampfer.

Du brauchst mehr als nur zwei Blätter!, riet die Schafgarbe.

Nein, nur ein bisschen was von der Spitze!, widersprachen die Brennnesseln.

»Ich weiß, wie man die Salbe macht«, sagte Alva, während sie Brennnesselstängel auswählte und mit ihrem Messer behutsam abschnitt. Sie fing die fallenden Stängel auf, zupfte die Blattspitzen ab, bevor sie ihr die Haut verbrennen konnten, und stopfte sie in ihre Taschen. Ihr Pferd Captain war am Verandageländer angebunden und ließ den Kopf hängen. Sein Huf war faulig, und Alva musste ihm einen Breiumschlag machen, damit es nicht noch schlimmer wurde.

Vogelmiere!, raunte das Silberblatt mit seinen schimmernden, mondrunden Schoten.

Seggen!, schrie das Purpurleinkraut.

»Hmm«, brummte Alva. Sie schob sich quer durch die Brennnesseln und mitten ins Brombeerdickicht hinein, und die Ranken griffen nach ihrer Wachsjacke und krallten sich an ihrer Hose fest. »Vielleicht. Wir werden sehen. Entschuldigt bitte«, sagte sie und löste die Ranken vom Stoff ihrer Kleidung. »Ihr wisst, dass ich etwas Wichtiges vorhabe.« Sie schlug den Weg ein, der zwischen den knorrigen alten Apfelbäumen zum Fluss hinunterführte. »Brennnesseln, Beinwell, Ton. Das ist alles, was ich brauche.«

Beinwell hilft immer, brüstete sich der Beinwell stolz.

Unten am Wasser wischte sich Alva mit dem Ärmel einen Tautropfen von der Nase und schnitt ein paar Beinwellblätter ab. Sie kannte sie gut: Breit und grün waren sie, mit einem zarten Pelz aus feinen Härchen. Im Sommer schmückte sich die Pflanze mit Glöckchen, die mal rosa, mal weiß und mal violett waren. Doch es waren immer nur die Blätter, die sie für ihre Heilmittel gegen Entzündungen und Prellungen verwendete. Einmal hatte Alva einen Spatz mit Wundbrand am Bein gesund gepflegt, indem sie ein einzelnes Beinwellblatt in Honig eingeweicht und wie einen Verband um das Beinchen gewickelt hatte, so wie Ma es ihr gezeigt hatte. Alva hatte den Vogel mit Haferbrei gefüttert, bis er eines Tages weggeflogen war.

Beinwell half immer.

Beim dritten Mal klappt es, sagte die Pflanze.

Alva biss sich auf die Lippen. »Hoffentlich!«, sagte sie. Captains Huf hatte sich in diesem Sommer schon dreimal entzündet, und Alva hatte ihm Breiumschläge gemacht, so wie sie es gelernt hatte. Beim ersten Mal hatte sie einen wahren Berg von Sauerampfer in die Mischung gegeben. Und letzten Monat einen Klumpen Honig aus dem Bienennest im Apfelbaum. Das hätte das Übel eigentlich beseitigen müssen.

Nicht die da! Die sind nicht gut genug! Mehr Sauerampfer!, sagte die Schlehenhecke.

Mehr Schafgarbe!, riefen die Ringelblumen.

»In Ordnung, ich höre euch doch zu!«, gab Alva zurück.

Sie schob sich die feuchten Strähnen aus den Augen und betrachtete im schwachen Zwielicht die Beinwellblätter. Sie waren kleiner als sonst und hatten schwarze Flecken. Alva versuchte, die Flecken mit dem Finger wegzureiben, doch sie schienen eingewachsen zu sein.

Schlechte Blätter, grummelte das Moos unter den Apfelbäumen.

Sie sind gut genug!, widersprach der Beinwell.

Was du jetzt brauchst, ist etwas Kiefer, flüsterte der Beifuß.

Kiefernsaft und Harz und Teer!, rief der Garten im Chor.

»Kiefernteer, so was«, murmelte Alva, die immer noch über den Beinwell grübelte. Sie steckte die Blätter in die Tasche und kehrte zum Haus zurück. Captain hatte den Kopf gehoben, um die Hecke zu betrachten, die den Garten gegen den Weg abschirmte, und schnupperte an der Luft.

»Schlag dir die Brombeeren aus dem Kopf«, sagte Alva zu ihm und kraulte ihn hinter den Ohren, wie er es gernehatte. Dann hob sie den kranken Huf an. Captain wehrte sich ein bisschen, doch Alva machte »Pscht!« und tätschelte sanft seine Flanke, bevor sie sich den Huf ansah. Er stank ganz furchtbar, und hinten am Ballen trat Flüssigkeit aus. Sie zog das Blätterbündel aus ihrer Tasche und versuchte die Blätter ohne schwarze Flecken herauszufischen, während Captain begeistert an ihnen roch.

Kiefer wäre besser, murmelte der Beifuß.

»Zuerst probieren wir mal meine Idee aus«, sagte Alva und zog unter der kleinen Bank auf der Veranda einen Steinmörser hervor. Sie warf die Blätter in den Mörser und zerstampfte sie mit dem Stößel zu Brei. »So«, meinte sie, als sie den grauen Ton dazugab und zusah, wie er grün wurde, genau wie es sein sollte. »Das reicht. Die Blätter sind in Ordnung, sie haben einfach schon ihre besten Zeiten hinter sich, das ist alles.«

Hmm, machten die Sauerampferstauden zu ihren Füßen.

Tatsächlich?, fragte der Beifuß.

Alva biss auf ihren Lippen herum. »Es wird schon richtig sein«, sagte sie und rührte die Mischung ein letztes Mal um. Sie hob Captains Huf hoch, bestrich ihn mit der grünen Salbe und umwickelte ihn mit einem Stück sauberem Leinen. Es stimmte, die Salbe sah schon ein bisschen dunkler aus als vorhin.

Dann setzte sie Captains Huf ab und rieb ihre Hände an der Hose sauber. »Wenn du das nächste Mal abhaust, dann halte dich vom Dorf fern«, ermahnte sie das Pferd. »Zu viele Glasscherben, zu viele Nägel, zu viel Ärger. Ich brauche dich, ich kann dich nicht entbehren.«

Captain senkte den Kopf, um an seinem Huf zu schnuppern, und schnaubte.

Alva zog eine Augenbraue hoch. »Ich finde, die Salbe sieht gut aus. Es wird dir im Handumdrehen besser gehen.«

Hinter ihrem Rücken hörte sie die Pflanzen flüstern, es klang wie eine Brise, die durch das Schilf strich.

»Ich habe doch schon gesagt, dass ich euch gehört habe!«, sagte sie verärgert.

Kiefernholzteer, sangen die Pflanzen im Chor.

Kiefernholzteer und Asche, koche es, bis es klebt!, riet der Efeu.

Alva warf ihnen einen verächtlichen Blick zu. »Nein, habe ich gesagt.« Sie wischte sich abermals einen Tropfen von der Nase und steckte ihr Messer wieder ein. »Captain wird bald gesund«, sagte sie. »Mein Kaffee ist schon fast angebrannt, und ich muss auch noch Karotten für das Abendessen ernten. Ich ziehe jetzt nicht los und suche Kiefern. Ich weiß, was ich tue.«

Insgeheim aber wusste sie, dass der Efeu recht hatte. Viele, viele Jahre lang hatte er den Garten bewacht, seine kräftigen Wurzeln waren mit dem Fundament des Hauses fest verwachsen.

Beinwell genügt nicht, warnte der Efeu. Kiefern, oder er wird an der Entzündung sterben. Kiefern, dort draußen, auf der anderen Seite des Dorfs. Kiefern aus dem Grenzwald.

Mit zusammengekniffenen Augen schaute Alva nach Thorn Creek hinüber. Ein gewundener Pfad schlängelte sich vom Fluss zu einer Ansammlung dunkler, regennasser Holzhäuser hinauf, zwischen denen gepflasterte Straßen verliefen. Die Straßenlaternen brannten bereits, und rings um das Wirtshaus und die Kirche versammelten sich Schatten und schwebten durch den Nebel. Eine Reihe dunkler Kiefern überragte das Dorf. Die Härchen auf Alvas Armen stellten sich auf. Ihre Füße fühlten sich bleischwer an.

Du hast Angst, stellte der Beifuß fest.

»Ich habe keine Angst«, widersprach Alva, doch ihr Magen hatte sich regelrecht verknotet. Wenn sie ins Dorf musste, ging das nie gut aus.

Alva stapfte ins Haus und verriegelte die Tür. Aus der Kanne, die am Feuer stand, schenkte sie sich einen Becher Eichelkaffee ein und setzte sich in den selbst gebauten Sessel, um sich am Feuer die Füße zu wärmen. Von ihren Stiefeln stieg der Wasserdampf in feinen Spiralen auf. Ab und zu schaute sie nach draußen. Captain stand auf drei Beinen und hielt den kranken Huf mit jämmerlicher Miene hoch. Die Salbe tropfte durch den Leinenverband. Alva musste an die gefleckten Beinwellblätter denken und seufzte. Dann glitt ihr Blick zu der Holztruhe neben dem Ofen: die Truhe, in der Mas Buch lag. Doch sie musste schon lange nicht mehr die Rezepte darin nachlesen. Inzwischen hatte sie alles im Kopf.

Die Dämmerung bricht herein, wisperte draußen das Gras. Die Vögel fliegen zu ihren Schlafplätzen.

Es kann nicht noch einen Tag warten, es kann nicht warten!, rief die Hundsrose.

Zeit, zu gehen, mahnte der Salbei. Zeit, zu gehen.

Alva hatte Captain sehr gern. Sie mochte seine dunklen Augen und seinen schnuppernden Atem, auch wenn sie das niemandem verraten hätte. Für die anderen war er einfach nur ein Pferd, das sich nützlich machte, indem es das Gras unter den Apfelbäumen kurz hielt und die Gemüsebeete düngte. Für Alva aber war Captain ein Freund. Ihr einziger Freund, wenn man mal von den Pflanzen absah. Sie durfte ihn auf gar keinen Fall verlieren.

»Schön«, sagte sie und schaute zu den dunklen Umrissen der Bäume hinter dem Dorf hinüber. »Dann muss es eben Kiefernholzteer sein.«

Alva machte sich auf den Weg zum Grenzwald. Der Pfad, der am Fluss entlang verlief und vom Dorf aus nicht einsehbar war, war sehr schmal und eigentlich eher ein Wildwechsel. Hier wuchs das Schlickgras in lichten Büscheln. Es war voller Spinnweben, in denen glitzernde Tautropfen hingen. Die Gräser beobachteten Alva, doch sie sprachen kaum. Sie waren anders als die Pflanzen im Garten. Sie behielten ihre Geheimnisse für sich und flüsterten leise untereinander.

Ganz allein, murmelten sie. Wo ist dein Pferd?

Warum nimmst du nicht den breiten Weg?

Trampelst durch Schlamm und Matsch.

Alva eilte weiter. »Könnte mir vielleicht jemand zeigen, wo ich eine schöne saftige Kiefer finde?«, fragte sie laut.

Im Wald, im Finsteren, antwortete das Schlickgras.

»Das weiß ich selber«, gab Alva pikiert zurück, zupfte die Träger ihres Rucksacks gerade und schaute zu dem düsteren Wald hinüber. »Was ist denn mit euch los? Ihr könntet mir wenigstens Platz machen.«

Als Alva um die Kurve bog, flog eine Amsel laut rufend zwischen den Grasbüscheln auf. An dieser Stelle floss der Thorn-Creek-Fluss auf den Wald zu, um den Fuß eines Hügels herum. In den Häusern am Hang brannten Kerzen. Ganz oben auf dem Hügel thronte Hind House, als wolle es Wälder und Fluss bewachen. Das dazugehörige Grundstück verlief bis zum Wasser hinunter – ein langes gepflegtes Rasenstück.

Alva näherte sich zögernd. Hier, an der Steinmauer und dem langweiligen Rasen dahinter, endete ihr geheimer Pfad. Ein Bootssteg in das dunkle Wasser. Alva kletterte über die Mauer. Sie hielt kurz inne und schaute zuerst zu den Kiefern jenseits des Rasens und dann zu dem Herrenhaus hinüber.

Anders als die übrigen Häuser des Dorfes war Hind House aus Steinen und Mörtel erbaut. Es hatte drei Stockwerke, ein mit Holzschindeln gedecktes Dach und eine Steinmauer rings um den Garten.

Die Vorhänge waren nicht zugezogen, und Alva konnte Gestalten sehen, die sich im Licht der Lampen bewegten. Der Anblick des Hauses, in dem es sicherlich schön warm war, ließ Alva frösteln. Hind House gehörte Inishowen Atlas, dem Ortsvorsteher von Thorn Creek. Er war der reichste Mann im Dorf, und das, hatte Ma gesagt, war auch der Grund, warum der Gouverneur von Westharbour der Meinung war, Atlas könne im Dorf für Recht und Ordnung sorgen. Dabei hatte Ma verächtlich geschnauft und die Augen verdreht und hinzugefügt, dass es in allen Dörfern dasselbe sei: Die Leute aus der Stadt glauben zu wissen, was das Beste ist. Atlas war kaum jemals zu Hause, weil er die meiste Zeit über in Westharbour herumstolzierte.

Hind House war ein hochherrschaftliches Anwesen und das Zuhause von Atlas’ Schwester Josephine Claw und deren Tochter, einem Mädchen namens Ariana. Alva war sich sicher, dass die dort oben Gans mit Moosbeeren und Wein zum Abendessen hatten. Sie konnte es riechen.

Einen kurzen Augenblick lang stand Josephine Claw am Fenster, in einem langen weißen Kleid. Sie schaute zum Fluss hinunter. Dann schüttelte sie leicht den Kopf und zog die Vorhänge zu.

Ohne das Haus aus den Augen zu verlieren, flitzte Alva quer über den Rasen zum Wald.

Lauf schnell!

Leise, leise!

Zu den Bäumen, in die Dunkelheit hinein!

Die Bäume nahmen sie auf wie ein ruhiges Meer aus leise raschelnden, knarzenden und tropfenden Geräuschen. Alva suchte den Wald nach Kiefern ab, die irgendwo zwischen den Eschen, Buchen und Eichen stehen mussten. Sie schloss die Augen und lauschte.

Tiefer und tiefer hinein, sagten die Bäume.

Es ist lange her, kluges Mädchen, flüsterte eine Nadelrose.

»Aber du erinnerst dich an mich«, erwiderte Alva. »Es ist doch noch gar nicht so lange her.«

Ihr Herz klopfte schneller, als sie daran dachte, wie sie sich früher, wenn sie mit Ma zum Holzsammeln hierhergekommen war, vorgestellt hatte, eine listige Jägerin zu sein. Während Ma nach Morcheln und Zunderschwamm gesucht hatte, war Alva, einen Stock schwenkend, herumgelaufen. Sie hatte einen blauen Schal um den Hals, wie ihn die Schiffer trugen. Sie hatte Ma niemals erzählt, dass sie sich manchmal vorstellte, so frei wie die Schiffer zu sein, die aus allen Ecken des Landes herbeikamen, um für ein paar Silbermünzen auf dem Fluss zu arbeiten. Die Schiffer, die Ma als Verrückte und Hexe beschimpften. Die Schiffer, die Ma irgendwo in den Wäldern verscharrt hatten …

Pass auf, wo du hintrittst, zischte das Geißblatt, das sich an den Bäumen emporrankte.

Schmal und stumm ragten die Waldkiefern vor Alva auf. Ab und zu knarzten sie im Wind, und das Geräusch schien sie zu durchlaufen, von der Krone bis in die Wurzeln hinunter. An einem Kiefernstamm fiel Alva ein Klumpen blasses Kiefernharz auf, an einer Stelle, wo der Wind einen Ast abgebrochen hatte. Der Baum hatte das Harz an der verletzten Stelle austreten lassen, und es hatte die Wunde versiegelt, wie getrocknetes bernsteinfarbenes Blut.

»Hör mal, liebe Kiefer«, sagte Alva und legte ihre Hand sanft auf den Stamm. »Ich nehme mir etwas von deinem Harz, wenn ich darf. Es ist für den Huf meines Pferdes. Der Huf fault, und das Pferd könnte daran sterben. Ich danke dir.«

Alva schwang sich hoch und kletterte zwischen den Ästen hinauf. An der Stelle angekommen, nahm sie die kleine Säge, die sie geschultert hatte. Das Sägeblatt war ein bisschen rostig und wackelte am Griff, doch es würde gehen. Da die Kiefer nichts dagegen zu haben schien, sägte Alva ein faustgroßes Harzstück ab und gleich darauf das nächste, so lange, bis ihr Rucksack voller süß duftender Harzklumpen war.

Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn und schob die Säge wieder an ihrem Arm hinauf.

»So«, sagte sie und tätschelte den Baumstamm. »Jetzt habe ich, was ich brauche.«

Sie nahm die Hand vom Stamm und stutzte. Auf der Rinde war ein schwach erkennbarer dunkler Fleck, als hätte dort jemand mit Tinte eine Markierung angebracht. Alva schüttelte den Kopf. Es wurde immer dunkler, und bestimmt täuschten sich ihre Augen.

Der Wind blies jetzt etwas stärker und vertrieb den Nebel. Der Baum knarzte und stöhnte. Alva begann herunterzuklettern und tastete dabei mit den Zehen vorsichtig nach den Ästen. Erst als sie auf den Boden hinunterschaute, entdeckte sie die unverwechselbare blaue Jacke, die sich unter ihr bewegte.

Ein Schiffer.

Alva erstarrte.

Sie presste ihr Gesicht an den Kiefernstamm und klammerte sich an eine dicke Efeuranke.

»Was macht er da?«, wisperte sie.

Er sucht, antwortete der Efeu. Hat sich verirrt.

Alva spähte hinunter. Der Schiffer lief hin und her, den Blick auf den Boden geheftet. Er tat es auf eine eigenartig vorsichtige Weise, so als ob mit seinen Beinen etwas nicht stimmte. Alva fand, dass er für einen Schiffer ziemlich jung aussah. Er konnte noch keine zwanzig sein. Das Haar fiel in weichen Locken auf seine Schultern. Sein Gesicht kam ihr bekannt vor, doch konnte sie es in der Dunkelheit nicht gut erkennen, und ihr fiel auch nicht ein, wo sie ihm schon mal begegnet sein mochte. Er taumelte auf Alvas Baum zu, und der Holzfeuerduft seiner Jacke drang in ihre Nase, zusammen mit dem modrigen Flussgeruch. Und da war auch noch ein anderer Geruch – einer, der sie an Feuchtigkeit, Krankheit und Fieber erinnerte.

Der Schiffer übersah die Wurzeln am Weg. Er stolperte und hielt sich keuchend an Alvas Kiefernstamm fest, um nicht hinzufallen. Alva wagte nicht mehr zu atmen. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Sie merkte, wie ihre Handflächen schwitzten, und musste sich zusammenreißen, um sich nicht zu bewegen. Langsam schloss sie die Augen und stellte sich vor, wie sie mit dem dunklen Wald verschmolz. Der Schiffer seufzte, fluchte … und taumelte endlich weiter.

Alva wartete eine Weile, bis sie es wagte, von ihrem Baum zu steigen. »Du hättest mich warnen sollen«, sagte sie zum Efeu. Sie bückte sich, um die Wurzel zu untersuchen, über die der Schiffer gestolpert war. Sie war weich und schwarz, wie die Stelle am Kiefernstamm, an der sie die Harzstücke abgesägt hatte.

Alva biss die Zähne zusammen. Plötzlich war ihr furchtbar kalt. Sie hörte den Fluss, sie hörte das Murmeln der Baumkronen.

»Es gibt da etwas, was ihr mir verschweigt«, sagte sie zu den Pflanzen.

Der Wald antwortete ihr nicht. Alva packte den Bügel der Säge fester. Ihre Hände zitterten.

»Ihr müsst mir sagen, was hier los ist«, forderte sie, und ihr war, als würde ihre Wut Funken versprühen. Doch sie wusste, dass es sinnlos war. Die Pflanzen konnten ihr nur mitteilen, was sie sahen, und nicht, was sie fühlten.

»Schön«, sagte Alva schließlich und stürmte davon. »Dann behaltet ihr eure Geheimnisse eben für euch. Ich werde es schon noch herausbekommen.« Ihre Wangen brannten. Die Äste streckten sich ihr wie Hände entgegen, und Alva schlug sie weg. Nichts war, wie es sein sollte. Die Pflanzen im Garten hatten ihr geraten, herzukommen, doch sie konnten ihr nicht sagen, was hier geschah. Waren die schwarzen Flecken auf dem Kiefernstamm die gleichen wie die Flecken auf den Beinwellblättern?

Als Alva aus dem Unterholz herausgekrochen war, stellte sie fest, dass sie sich wieder unterhalb von Hind House befand. Sie rannte über den Rasen und bemerkte, dass am Bootssteg jetzt eine Lampe hing, in der eine orangegelbe Flamme tanzte. Ein am Steg festgetäutes Schifferboot schaukelte zwischen den Schilfhalmen. Alva drehte sich zum Wald um und fragte sich, wie weit sich der Schiffer von seinem Boot entfernt haben mochte.

Das ist nicht gut, flüsterten die Schilfstängel. Überhaupt nicht gut …

Mit weit aufgerissenen Augen kroch Alva zum Wasser hinunter und ließ ihre Hände durch die langen scharfen Halme der Ufergräser gleiten.

Überhaupt nicht gut, wiederholten sie.

Hier hatten die Pflanzen so viele Flecken, dass ihre Stängel ganz schwarz waren. Es war nicht nur der Beinwell in ihrem Garten oder die Kiefer im Wald, mit denen etwas nicht stimmte – die Flecken waren überall.

Das Schifferboot krachte laut gegen den Steg, und Alva spürte, dass ihr Herz raste. Mit sämtlichen Pflanzen von Thorn Creek stimmte etwas nicht, und sie hatte keine Ahnung, was sie dagegen unternehmen sollte.

Pflanzen können krank werden, genau wie Menschen, hatte Ma ihr erklärt.

Alva wusste das. In Thorn Creek war der Boden feucht und schwer, und nicht selten hatten die Pflanzen auf dem Feld Mühe, damit zurechtzukommen. Feuerbrand und Braunrost traten auf, ebenso wie Kartoffelfäule. Obstbäume konnten von Krebs befallen sein, Pflaumenblüten konnten verwelken und abfallen. Doch Ma hatte gewusst, was in solchen Fällen zu tun war. Sie hatten ganze Nachmittage damit verbracht, die alten Äste der Apfelbäume zurückzuschneiden, sodass neue nachwachsen konnten. Sie hatten Unkraut verbrannt und die Samen verblühter Blumen gesammelt, um sie auf ihren Spaziergängen rings um das Dorf zu verstreuen, damit im Frühling bunte Blumen aus dem Boden schossen. Jedes kranke Blatt war Ma sofort aufgefallen, und im darauf folgenden Jahr war die Krankheit vergessen gewesen, und die Pflanze hatte sich erholt. Doch das hier war anders als alles, was Alva bisher gesehen hatte. Noch nie hatte eine Krankheit sowohl die Pflanzen in ihrem Garten als auch die in den Grenzwäldern rings um das Dorf befallen.

Sie würde jetzt Kiefernholzteer brennen, um sich von den kranken Pflanzen abzulenken. Captain döste hinter dem Haus, auf drei Beinen, um den entzündeten Huf zu entlasten. Alva kraulte ihrem Pferd die Mähne und ging dann hinein, um nach einem Topf zu suchen. Das Erdgeschoss ihres Zuhauses war das Reich von Staub und Spinnen. Die gesamte Einrichtung bestand aus einem Stapel von gut abgelagertem Brennholz, Mas Truhe und Mas Sessel vor dem Ofen. Über eine Leiter gelangte man in den ersten Stock, wo unter dem Dachfirst eine Strohmatratze lag. Sie war so groß, dass Alva und ihre Mutter, in Wolldecken gekuschelt, bequem darauf geschlafen hatten. Es gab dort sogar ein kleines Fenster mit einer echten Glasscheibe, die Ma von einer ihrer Reisen mitgebracht hatte. So konnte Alva auf den Garten hinunterschauen und außerdem auch die neugierigen Nachbarn im Auge behalten, zum Beispiel die blond gelockte Ariana Claw, wenn sie mit ihren großen Augen durch die Hecke linste, oder den alten Elias Dawson, der ab und zu herüberkam, um Alva Dinge anzubieten, die sie gar nicht haben wollte.

Unter einem Stapel Decken zog Alva einen schon lange nicht mehr benutzten Topf hervor. Für ihren kleinen Ofen war er zu groß, deshalb schleppte sie ihn nach draußen und stellte ihn auf den Metallrahmen über der Feuerstelle. Sie gab das Kiefernharz hinein und hoffte, dass alles gut gehen würde.

Es fing an zu regnen, schwere lauwarme Tropfen, und Alva suchte unter dem Verandadach Schutz. An Captains Schulter gelehnt sah sie zu, wie die Flammen zischend Funken spuckten.

»Kiefernholzteer, also wirklich«, sagte sie zu den Pflanzen. »Es ist ja schön, dass ihr mir das gesagt habt, aber ihr hättet mir auch sagen können, wie man den macht.« Es sah irgendwie nicht richtig aus. Gar nicht so einfach, das Feuer im Regen in Gang zu halten, ohne dass das Harz anbrannte. »Woher soll ich wissen, wann er fertig ist?«, fragte sie und stocherte mit einem Stock in der klebrigen Masse herum, bekam aber keine Antwort.

»Fein, ihr schmollt«, stellte sie fest. »Woher sollte ich es denn wissen?«

Deine Ma hätte es gewusst, sagte der Beifuß.

Alva zog ihr Messer aus der Tasche und drohte dem Beifuß damit.

»Sag du bloß nichts über Ma. Warum kannst du nicht einfach so wie der Efeu sein?«

Der Beifuß schwieg. Alva wusste, dass alle Pflanzen ihren besonderen Charakter hatten. Der Efeu war weise, der Beinwell loyal. Und der Beifuß … Na ja. Der Beifuß erzählte ihr immer genau das, was sie nicht hören wollte, selbst dann nicht, wenn sie wusste, dass er eigentlich recht hatte.

Unwillkürlich wanderte Alvas Blick zum Haus, in dem die Truhe mit Mas Buch lag.

»Es fehlt nur noch ein bisschen Asche«, sagte Alva, schöpfte aus dem Eimer neben der Tür eine Handvoll davon und rührte sie in den Teer ein.

»Der Huf da sieht nicht gut aus«, sagte eine Stimme auf der anderen Seite der Hecke.

Sie gehörte Elias Dawson, der nun das Gartentor aufschob, um das sich Geißblatt und Efeu rankten. Regenwasser rann ihm über das Gesicht. Er hatte einen dichten Backenbart, der mit seinen Augenbrauen zusammenwuchs, und er sah so ausgelaugt aus, als hätte er zu lange im Wasser gelegen. Das lag an der feuchten Luft von Thorn Creek, sie weichte die Haut der Menschen auf, die ihr ganzes Leben hier verbrachten. Elias war ein Wachszieher, der aus Bienenwachs Kerzen für die Dorfbewohner herstellte und Öllampen für die Boote der Schiffer. Wenn Ma ihre Reisen nach Fleetwater und Westharbour unternahm, hatte sie Alva immer bei Elias und seiner Frau Agnes gelassen.

Elias hatte einen Jutesack bei sich. Alva seufzte. Sie fand, dass der alte Mann ihr schon genug geholfen hatte, sie brauchte seine Hilfe nicht mehr.

»Was willst du?«, fragte sie, während sie den Teer ein weiteres Mal umrührte.

»Vielleicht solltest du mal das ausprobieren, was sie für die Kutschpferde oben in Hind House nehmen«, erwiderte Elias. »Schwarzes Pech oder so etwas in der Art. Es soll wahre Wunder wirken, erzählt man sich.«

»Ich werde überhaupt nichts ausprobieren, was sie oben in Hind House gut finden«, entgegnete Alva, zog sich die Kapuze über den Kopf und wendete sich wieder dem Feuer zu. Das Harz verkochte zu einem dicken dunklen Leim. Sie nahm den Topf vom Feuer, damit der Teer abkühlen konnte.

»Ich habe dir deinen Hafer von Marianne Reed gebracht«, sagte Elias und schwenkte den Sack.

»Ich habe dir doch gesagt, dass Captain den nicht braucht«, entgegnete Alva. »Er findet hier im Garten genug zu fressen.«

»Ich lasse ihn mal hier stehen«, sagte er und stellte den Sack auf Alvas Hackklotz ab.

»Er braucht den Hafer nicht«, wiederholte Alva unfreundlich, während sie Captains kranken Huf hochhob und sich ihn zwischen die Knie klemmte, um ihn mit dem Teer zu bestreichen. Captain schnüffelte daran und zog die Nase kraus.

»Doch, er braucht ihn. Deine Ma bat …«

Alva ließ unvermittelt Captains Huf los und wirbelte herum, um Elias ins Gesicht zu sehen.

»Sie hat euch nicht gebeten, euch einzumischen«, sagte sie wütend. »Wir kommen gut zurecht.«

»Wir passen nur ein bisschen auf dich auf«, erwiderte Elias. »So wie wir es Elizabeth versprochen haben.«

»Und wir wissen beide, wie gut das funktioniert hat.« Mit zusammengekniffenen Lippen und vor der Brust verschränkten Armen machte Alva deutlich, dass sie nur darauf wartete, dass Elias endlich ging.

Doch er rührte sich nicht.

»Du solltest auf mich hören, Alva«, meinte er schließlich. »Hast du nicht mitbekommen, was sie im Dorf sagen?«

»Über Ma?«, fragte Alva verärgert. »Dass sie nicht wusste, was sie tat? Dass sie eine Betrügerin war? Danke, das bekomme ich täglich gesagt.«

Es war, als zöge ein Schatten über Elias’ Gesicht. »Sie sagen, dass eine Krankheit die Pflanzen befallen hat«, erwiderte er. »Ich habe es von Callahan Reed gehört, drüben beim Wirtshaus, und da war kein einziges Wort gelogen. Sie sagen, dass die Pflanzen …«

»Geschwätz«, unterbrach Alva ihn. »Einfach nur Gerede, so wie immer. Den Pflanzen geht es gut.«

»Hast du denn keine kranken Pflanzen in deinem Garten? Na, dann hast du aber Glück.«

»Ma wusste, was sie tat. Ich weiß, was ich tue. Ich habe alles im Griff.«

Elias seufzte. »Vielleicht könntest du mal zugeben, dass deine Ma nicht alles wusste, Alva. Nach dem, was in Hind House passiert ist …«

Plötzlich brannten Alvas Augen. Immer dachten alle, dass sie wüssten, was mit Ma passiert war. Nachdem Ma sie bei Elias und Agnes zurückgelassen hatte, in deren kleinem engem Haus im Dorf. Bevor alles schiefgegangen war. Alva schleuderte den Sack mit dem Hafer unter die Veranda und stapfte zum Tor. Elias schüttelte den Regen von seiner Mütze und öffnete den Mund, so als ob er etwas Tröstliches sagen wollte, bevor er den Garten verließ.

»Ich brauche deine Ansichten nicht«, sagte Alva und warf das Tor hinter ihm mit so viel Schwung zu, dass ihre Hände sich in den Brombeerranken verfingen. »Und ich brauche auch keinen Hafer mehr!«, rief sie Elias hinterher, der sich in der Dunkelheit entfernte. »Dem Garten geht es gut. Uns geht es gut.«

Scharfe Dornen, raunten die Brombeeren, als Alva ihre Hände frei machte.

»Das könnt ihr laut sagen«, murmelte Alva und leckte sich das Blut vom Handrücken. Als sie sich zu Captain umdrehte, sah sie, dass er seine Nase in den Hafersack gesteckt hatte.

»Friss das nicht!«, schimpfte sie. »Das muss noch eine Weile reichen.« Als sie ihm den Sack wegzog, blieb dieser unter ihrem Stiefel hängen und riss entzwei. Alva trat nach dem Topf über dem Feuer und schaute zu, wie die Flammen zischend Funken sprühten. Der Duft von verbranntem Kiefernholz erfüllte die Luft.

Bald ist der Herbst da, sagte der Efeu.

Es wird viel regnen, flüsterten die Gänseblümchen und kniffen ihre Köpfchen zusammen.

Kein Essen, keine Blätter, keine Heilmittel, warnte der Beifuß.

Alva kniete sich auf den Boden, um sich die Beifußstaude näher anzuschauen. Sie war ebenso schwarz gefleckt und dunkel wie alle anderen Pflanzen. Die Pflanzen hatten recht. Ohne die Pflanzen würde sie keine Nahrung und keine Heilmittel haben, weder für sich noch für Captain.

Und keine Freunde, stellte der Beifuß fest.

Als Alva später noch mal rausging, um nach Captains Huf zu schauen, goss es wie aus Kübeln. Das Feuer war niedergebrannt, und abgesehen vom schwachen Widerschein der Glut war es finster im Garten. Captain stand gemächlich kauend neben der Veranda. Die Pflanzen murmelten leise vor sich hin, und Alva konnte sie trotz der Regentropfen, des brausenden Windes und des rauschenden Flusses ständig hören. Die Schlehen wurden lauter, als sie Alva bemerkten.

Da ist jemand, sagten sie.

Alva erstarrte. Sie konnte niemanden sehen.

Die Pflanzen raschelten im Wind.

Da ist jemand, sagten die Brombeeren und machten ihre Ranken bereit.

Da ist jemand, sagten die Brennnesseln und ihre Brennhärchen glitzerten.

Alva nahm den Stock, den sie neben der Tür aufbewahrte, und hielt ihre Laterne höher, um den Garten auszuleuchten.

Es war ein Junge, und er stand neben Captain. Seine Augen blitzten im Licht der Laterne auf.

Es war Idris Romero, der Sohn eines Schiffers.

Er tätschelte Captain, ohne Alva zu begrüßen.

»Geh von meinem Pferd weg!«, rief Alva drohend. »Ich weiß nicht, wie du hier reingekommen bist, aber jetzt mach, dass du wieder rauskommst. Das hier ist Privatbesitz.«

»Ich bin nicht hinter deinem blöden Pferd her«, sagte der Junge.

»Es fehlt mir gerade noch, dass Schiffer in meinen Garten kommen und mir sagen, was ich zu tun habe.«

»Ich bin kein Schiffer«, widersprach er.

»Du hast ihre Jacke an«, sagte Alva. »Und deine Beine sind vollkommen nass. Bist du durch den Fluss gewatet, du Kröte?«

Etwas Scharfes stieg in Alvas Kehle auf. Mit der blauen Jacke und dem wettergegerbten Gesicht sah Idris Romero wirklich wie einer von ihnen aus. Diese Männer, die den Fluss befuhren und mit Getreide und Fellen und allem anderen handelten, was sie in die Finger bekamen. Sie fuhren mit ihren Booten den Fluss hinauf und bis in die Berge hinein oder flussabwärts und aufs Meer hinaus. Idris und sein Bruder Castor lebten schon genauso lange in Thorn Creek wie Alva, vielleicht sogar noch länger. Ihr Pa, ein Schiffer, arbeitete in Westharbour und schickte ihnen einmal im Monat Geld – zumindest hatte Alva mitbekommen, dass man sich das im Dorf erzählte. Sie ballte ihre Fäuste und schaute dem Jungen direkt in die Augen.

»Verschwinde von hier«, zischte sie.

Idris warf ihr einen vernichtenden Blick zu. Er war wütend, das sah man ihm an. Doch da war auch noch ein anderer Ausdruck in seinem Gesicht, den Alva nicht deuten konnte. War es Angst? Er runzelte leicht die Stirn. Dann schüttelte er den Kopf.

»Du musst mit mir kommen«, sagte er. »Es ist wichtig, das schwöre ich bei Gott.«

»Warum sollte ich mit einem Schiffer mitgehen?«, knurrte Alva.

Idris trat einen Schritt vor, in den Lichtkreis der Laterne.

»Mein Bruder, Castor. Er weiß, warum deine Pflanzen krank sind. Und wenn du mitkommst, wird er es dir verraten.«

Sie kamen zu einer Hütte am Flussufer, etwa eine halbe Meile vom Dorf entfernt. Sie war beinahe so klein wie Alvas Häuschen und so niedrig, dass sie auf den ersten Blick aussah, als wäre sie ins Ufer hineingebaut worden. Alva und Idris mussten sich beide ducken, um durch die Tür zu schlüpfen. Auf dem mit Schilfmatten bedeckten Fußboden stand eine Lampe. In ihrem Licht konnte Alva einen Körper erkennen, einen Kopf mit weichen Locken. Erschrocken stellte sie fest, dass es der Schiffer war, den sie im Wald beobachtet hatte. Sie hatte Castor bestimmt seit einem Jahr nicht mehr gesehen, vielleicht auch länger, und jetzt … Jetzt sah er wie ein ganz anderer Mensch aus. Sein Gesicht wirkte ausgemergelt, sein Blick matt. Alva prallte bei seinem Anblick unwillkürlich zurück, so schnell, als hätte sie heißes Metall angefasst.

»Er ist krank«, stellte sie wütend fest. »Du hast mir nicht gesagt, dass er krank ist.«

»Ich habe dich beobachtet, bei den Pflanzen«, erwiderte Idris und klang plötzlich verzweifelt. »Du weißt, was sie können … Du kennst ihre Heilkraft. Ich habe dich beobachtet, wie du all diese Vögel und anderen Tiere behandelt hast, die du gefunden hast. Ich habe dich beobachtet, als du das bei deinem Pferd gemacht hast. Jetzt wirst du dein Wissen einsetzen, damit es meinem Bruder besser geht. Niemand außer dir kann das.«

»Was immer du glaubst: Du irrst dich«, widersprach Alva und schaute sich in dem Raum um. Sie hatte erwartet, lauter Felle und Halbedelsteine und auf Schnüre aufgefädelte getrocknete Fische zu sehen, doch die Hütte war dunkel und düster, ein einziger Raum mit rußgeschwärzten Wänden, an denen ordentlich Netze und Angelruten und Wachsjacken aufgehängt waren. Nirgendwo war ein Erwachsener zu sehen. Auf einem kleinen Tisch lag ein Fischernetz, das wohl gerade geflickt wurde, und Alva fragte sich, ob Idris das Netz selbst geknüpft hatte.

Idris kniete sich neben seinen Bruder.

»Bitte«, sagte er. »Ich habe ihn im Fluss gefunden.«

Alva musste schlucken. Ihr Gefühl riet ihr, wegzulaufen, aber sie musste die Wahrheit erfahren. Wenn Castor wusste, warum die Pflanzen krank waren, musste er es ihr verraten. Doch er sah nicht so aus, als könne er auch nur ein vernünftiges Wort von sich geben. Er war schweißgebadet und so still wie ausgebleichte Knochen. Sein Gesicht war aschgrau, mit trockenen, aufgesprungenen Lippen.

»Er hätte nicht dorthin gehen dürfen«, sagte Idris und zog die Decken fester um seinen Bruder. »Er hätte es nicht tun sollen.«

»Er braucht heißes Wasser«, erwiderte Alva. »Kannst du in diesem Loch ein Feuer anzünden?«