Always been you - Lilo Lauer - E-Book

Always been you E-Book

Lilo Lauer

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Beschreibung

Marie und Bo Sie hat alles und doch irgendwie nichts, während ihm zum Glücklichsein nur noch sie fehlt. Maries Leben scheint perfekt zu sein. Neben den weltbesten Freunden hat sie einen zukunftssicheren Job und einen attraktiven Mann an ihrer Seite. Doch mittlerweile trügt der Schein, denn weder die Arbeit als Mikrobiologin noch die langjährige Beziehung erfüllen sie. Jetzt ein neues Lebenskapitel zu beginnen, klingt verlockend, wäre da nicht die tief sitzende Verlustangst, die Marie seit dem Bruch mit ihren Eltern quält und davon abhält, einen Schlussstrich zu ziehen. Zum Glück gibt es noch Bo, ihren nerdigen und einfühlsamen Freund, der für sie und ihre Probleme da ist. Seine Hilfe könnte der Schlüssel sein, um wenigstens ihre Beziehung zu retten, hätte Bo selbst nicht schon längst heimlich Gefühle für Marie entwickelt.

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Seitenzahl: 454

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Über die Autorin

Lilo Lauer, 1994 geboren, lebt mit ihrer Familie in Ulm. Sich selbst und die eigenen Interessen immer wieder zu hinterfragen, ist für sie ein innerer Ansporn und hat sie nach der Geburt ihres ersten Sohnes zum Schreiben von Liebesromanen geführt. Ihre Begeisterung fürs Schreiben teilt sie auf ihrem Instagram-Account @traumschreiben. »Always been you« ist ihr Debüt.

Inhalt

Playlist 7

Kapitel 1 8

Kapitel 2 17

Kapitel 3 27

Kapitel 4 37

Kapitel 5 45

Kapitel 6 57

Kapitel 7 63

Kapitel 8 70

Kapitel 9 82

Kapitel 10 87

Kapitel 11 97

Kapitel 12 108

Kapitel 13 120

Kapitel 14 128

Kapitel 15 139

Kapitel 16 145

Kapitel 17 155

Kapitel 18 168

Kapitel 19 176

Kapitel 20 186

Kapitel 21 196

Kapitel 22 208

Kapitel 23 217

Kapitel 24 225

Kapitel 25 235

Kapitel 26 242

Kapitel 27 252

Kapitel 28 260

Kapitel 29 269

Kapitel 30 275

Danksagung 283

WREADERS E-BOOK

Band 248

Dieser Titel ist auch als Taschenbuch erschienen

Vollständige E-Book-Ausgabe

Copyright © 2024 by Wreaders Verlag, Sassenberg

Verlagsleitung: Lena Weinert

Druck: Sowa Sp z o.o

Bestellung und Vertrieb: Nova MD GmbH, Vachendorf

Umschlaggestaltung: Emily Bähr

Lektorat: Vanessa Janke, Magische Tintenwelt, Maria Klippert

Satz: Annina Anderhalden

www.wreaders.de

Für alle, die ihr Glück suchen.

Und für Sven.

Playlist

Giants – Dermot Kennedy

I Saw Your Face – Emily James

Wait for You – Tom Walker

Can I Be Him – James Arthur

Under Pressure – Queen (feat. David Bowie)

Bigger Person – Lauren Spencer-Smith

Better Days – Dermot Kennedy

You Say – Lauren Daigle

You Are the Reason – Calum Scott

Before You Go – Lewis Capaldi

Who You Are – Jessie J

Lose My Mind – Dean Lewis

Kapitel 1

Marie

Marie wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn und trat einen Schritt zurück, während ein Lächeln über ihre Lippen huschte. Alles war genau so geworden, wie sie es sich vorgestellt hatte. Der kleine Balkon ihrer Wohnung sah aus, als wäre er einem alten französischen Film entsprungen. Die Blumen, die sie am Morgen gekauft hatte, steckten in braunen Blumenkästen und schmückten die Brüstung aus Glas. Sie hatte sich für Geranien in verschiedenen Rot- und Rosatönen entschieden, die zusammen mit dem Lila des Lavendels ein schönes Farbspiel ergaben. Gesäumt wurde das Ensemble von Rosenstöcken, die die Querseiten des Balkons vollständig auskleideten. Zwar war nun kaum mehr Platz, um sich auf einen der beiden Klappstühle an den runden Holztisch zu setzen, doch das machte ihr nichts aus. Für sie sah es perfekt aus.

Ganz in den Moment versunken zuckte sie plötzlich zusammen, als sie eine zärtliche Berührung an ihren Hüften spürte. Marie wollte sich umdrehen, doch die Hände hinderten sie daran, ließen sie verharren, während ein ihr nur allzu vertrauter Duft den Verstand vernebelte. Ein kühler Schauer lief ihren Rücken herunter. Er war endlich hier. Bei ihr. Jetzt konnte der Tag nur noch besser werden.

»Wow, das sind ganz schön viele Blumen«, flüsterte Christoph in ihr Ohr.

Marie entfuhr ein leises Glucksen. »Ja, oder? Findest du nicht, dass es fast wie bei unserem ersten Urlaub aussieht? Das kleine Apartment mit Blick auf den Eiffelturm – es war traumhaft!«

Der Drang, in sein schönes Gesicht zu blicken, in dem sicher die gleiche Freude lag, die sie selbst empfand, wurde unerträglich groß. Wieder wollte sie sich umdrehen und dieses Mal ließ Christoph es zu, ohne sich dabei vollständig von ihr zu lösen.

Er trug das rotschwarze Fahrrad-Outfit, das er am Morgen zu seiner Tour mit dem Rennrad angezogen hatte. Die Klamotten schmiegten sich an seinen Körper, ließen seine breiten Schultern und muskulösen Beine noch definierter erscheinen, als sie es ohnehin schon waren. Alle Proportionen waren genau aufeinander abgestimmt. Es wirkte nicht übertrieben, sondern beinahe natürlich. Aber eben nur beinahe. Denn Christophs Muskeln waren das Ergebnis eines knallharten Sport- und Ernährungsprogramms, gepaart mit einer eisernen Disziplin.

Marie hob den Kopf und blickte in seine blauen Augen, die neben der rosigen Haut und den schweißgetränkten Haaren nur noch intensiver leuchteten. Allerdings nicht vor Begeisterung, wie sie erwartet hatte.

War ihr etwas entgangen? Langsam hob sie ihre Hand, strich ihm über die Wange, um die versteinerte Miene zu lösen. Doch nichts passierte. Die Verbindung, die sie eben noch gespürt hatte, war plötzlich gerissen.

»Gefällt es dir nicht?« Marie warf einen flüchtigen Blick über ihre Schulter, wo alles noch an genau demselben Platz wie ein paar Sekunden zuvor war.

»Doch, schon. Es ist hübsch und erinnert mich wirklich an Paris. Mal abgesehen von der Glasscheibe anstelle des verschnörkelten Geländers, aber darum geht es mir nicht.« Christoph atmete kurz durch und löste die Hände von ihren Hüften. »Hast du vergessen, was heute Abend ist? Die Jungs wollten vorbeikommen.«

»Klar weiß ich, dass ihr zusammen grillen wollt, deswegen habe ich es gemütlicher gemacht. Außerdem ist es doch schön, wenn man langsam sieht, dass ich bei dir eingezogen bin.« Sie versuchte sich an einem Lächeln, welches sich mit einem Mal so falsch anfühlte, dass sie ihm schnell einen flüchtigen Kuss auf die Lippen drückte. Als müsste sie sich auf diese Weise selbst beweisen, dass alles in Ordnung war.

Für einen Augenblick funktionierte es, bevor sein Grinsen so schnell verschwand, wie es aufgetaucht war. »Es ist ganz nett, was du da gemacht hast, aber …« Er brach ab. Dann öffnete er erneut seinen Mund, nur um ihn wortlos wieder zu schließen.

Ihre Sorge war also berechtigt gewesen. Es ging schon wieder darum. Ihr Herz schlug unweigerlich schneller und kräftig gegen ihren plötzlich viel zu engen Brustkorb. Sie kämpfte dagegen an. Sie musste ruhig bleiben. Um jeden Preis.

»Aber was? Du hast mir versprochen, dass ich etwas verändern darf, wenn ich bei dir einziehe. Stell dich also bitte nicht so an, ja? Die Blumen sind in ein paar Wochen sowieso verblüht.« Marie bemerkte, dass sie lauter als beabsichtigt geworden war. Unsicher biss sie sich auf die Unterlippe. Sie wollte keinen Streit provozieren. Nicht schon wieder. Die Wogen hatten sich gerade erst geglättet, nachdem sie ungefragt neue Bilder im Arbeitszimmer aufgehängt hatte, obwohl diese wie durch Zauberhand wieder verschwunden waren.

»Nur wenn du das dann auch wieder wegräumst.« Christoph deutete auf die Gartenmöbel, die sie heute auf einem Flohmarkt erworben hatte. »Wieso redest du nicht mit mir, bevor du etwas veränderst? Wo hast du die Möbel überhaupt her? Die sind ganz schön feminin. Im Urlaub war dieser ganze Firlefanz okay und ja, da hat es mir sogar gefallen, aber das war vor zwei Jahren. Da waren wir frisch verliebt. Das war einfach etwas ganz anderes. Das hier ist meine … äh, unsere Wohnung, und es passt einfach nicht zu uns.«

Das Glücksgefühl, das sie bei seiner Ankunft durchströmt hatte, war nun gänzlich verschwunden. Der Wagen hatte sich in Bewegung gesetzt und steuerte geradewegs auf den Abgrund zu, nur kampflos würde sie nicht aufgeben.

»Ist das dein Ernst? Es ist nicht so, als hätte ich deine Möbel weggeworfen. Der Balkon war leer.« Marie ballte ihre Hände zu Fäusten.

»Ja, das war er, und genau so mochte ich ihn. Da hatten wir beim Grillen wenigstens genug Platz. Keine Ahnung, wie jetzt noch der Campinggrill hierhin passen soll. Außerdem passt der Balkon nicht zur restlichen Einrichtung. Das kann dir gar nicht gefallen.« Mit einem aufgebrachten Seufzen strich sich Christoph durchs Haar und schüttelte den Kopf, als würde er ein Kind tadeln.

Er hätte ihr ebenso gut eine Ohrfeige verpassen können. Marie wich einen Minischritt zurück. Dabei hatte er recht: Der Balkon war das genaue Gegenteil seiner Einrichtung, und genau das liebte sie daran.

Es war nicht so, als hätte Christoph die Wohnung geschmacklos eingerichtet. Sie sah nur so aus, als wäre sie einem Möbelmagazin entsprungen. Einem Möbelmagazin für alleinstehende Männer.

Als sie ihn früher nur besucht hatte, war das okay gewesen. Marie hatte sich immer wohlgefühlt. Doch nun, wo es auch ihr Zuhause war, wollte sie sich auch wie zu Hause fühlen, und das ging nicht, solange alles blieb, wie es war.

»Natürlich darfst du etwas in der Wohnung verändern«, fuhr Christoph fort, »das habe ich dir schließlich gesagt, aber bitte nicht den Balkon und schon gar nicht, wenn ich nicht da bin und ihn am Abend so brauche, wie er ist. Leer und mit Platz für meine Sachen und meine Freunde.«

Ärger blitzte in seinen Augen auf. Doch nicht nur in seinen. Am liebsten wäre Marie ihm wutentbrannt entgegengesprungen, stattdessen wich sie einen weiteren Schritt zurück, sodass sie nun den Absatz des Balkons an ihren Fersen spürte. Es brannte ihr unter den Nägeln, ihn zu fragen, wie genau er sich ihr Zusammenleben vorgestellt hatte und ob er ihr beim nächsten Mal einfach sagen wollte, welchen Bereich der Wohnung sie verändern durfte, damit auch sie sich wohlfühlte. Doch sie sagte nichts dergleichen, sondern presste ihre Lippen noch fester aufeinander. Es war sinnlos, mit ihm zu diskutieren. Er wollte die ganze Sache nicht verstehen.

Marie sehnte sich nach dem Gefühl, das sie gehabt hatte, bevor Christoph nach Hause gekommen war. Die Freude, die sie empfunden hatte, als sie die Blumenerde zwischen ihren Fingern gespürt und die Macht besessen hatte, etwas Wunderschönes zu erschaffen. Alle Handgriffe waren so selbstverständlich gewesen, als wären sie tief in ihr verankert. Verankert in einer weit entfernten Zeit. In einer Zeit ihres Lebens, in der alles noch schwerelos gewesen war. Die Gartenarbeit hatte so viele schöne Erinnerungen heraufbeschworen. Von damals, als sie ihren Eltern noch in der Gärtnerei geholfen hatte, aber auch von einer gemeinsamen Zeit mit Christoph, als die Probleme des Zusammenlebens noch in weiter Ferne gelegen hatten. In der sie zusammen lachten, sich liebten und sie vor Stolz über ihren festen Freund beinahe geplatzt wäre. Ihr Wunsch, dieses Glücksgefühl mit ihm zu teilen, war so groß gewesen. Nun schien es zu zerbrechen, und dafür war sie nicht bereit.

Also atmete Marie einmal tief durch, um ihre Wut schrumpfen zu lassen und in ihrem Inneren zu verstauen. Dann drückte sie den Rücken durch und machte wieder einen Schritt auf Christoph zu. Ihre Maske, die die eigentliche Enttäuschung und den Schmerz verdeckte, war in Form gebracht. Als sie wieder sprach, klang sie ganz ruhig: »Du hast recht. Das Timing war nicht ideal. Es tut mir wirklich leid, aber jetzt ist es so, wie es ist. Lass uns einfach morgen noch einmal darüber reden. Wir werden sicher eine Lösung finden. Ach ja, du solltest duschen gehen, bevor dein Besuch kommt. Ich muss jetzt auch los.«

Christoph wollte etwas entgegnen, doch bevor er dazu kam, lief sie schnellen Schrittes an ihm vorbei. Marie ließ das schwarze Sofa, den Glastisch und die düsteren, geometrischen Kunstwerke hinter sich und ging ins Schlafzimmer, in dem sie ihr kleiner Teddybär erwartete, den sie seit ihrer Kindheit besaß.

»Wir sehen uns heute Abend. Es wird sicher spät!«, rief sie noch, bevor sie die Zimmertür kräftig hinter sich zuzog.

Schnell eilte sie zum Schrank und tauschte ihr pastellfarbenes Joggingoutfit gegen das erstbeste Kleid, das sie ergriff, und richtete ihre Haare so gut es ging. Eigentlich hätte sie selbst eine Dusche gebraucht. Immerhin war die Gartenarbeit schweißtreibender gewesen als gedacht. Nun musste es eben so gehen. Sie wollte einfach raus hier.

Marie warf noch einen prüfenden Blick in den Spiegel neben dem Bett, ehe sie die Schlafzimmertür öffnete. Das Plätschern der Dusche war bereits zu hören, also hatte Christoph ihren Rat befolgt. Natürlich. Seine Eitelkeit machte ihn berechenbar. Sie huschte durch die Tür und eilte den langen Flur entlang zur Wohnungstür. Dort schlüpfte sie in ihre geliebten silbernen College Slipper mit den kleinen Bommeln auf dem Fußrücken und schnappte sich ihre Jacke, ehe sie mit der Handtasche unter dem Arm die Wohnung verließ. Ab jetzt wird der Tag nur noch schöner werden, dachte sie sich und ein Lächeln stahl sich zurück auf ihre Lippen.

Wenig später parkte Marie ihr Auto vor einem gelben Mehrfamilienhaus. Es sah aus, als hätte es schon mehreren Generationen ein Zuhause geboten, denn der Putz blätterte an einigen Stellen von der Fassade ab. Das verschnörkelte bronzefarbene Vordach, das über der imposanten Eingangstür hing, verlieh ihm etwas Königliches und wirkte gleichzeitig deplatziert vor dem schlichten Bau.

Marie sah auf die Uhr. Sie war zu früh. Viel zu früh, wenn man bedachte, dass ihre beste Freundin Romy immer zu spät war. Sie schloss die Augen und lehnte sich in den Autositz zurück.

Obwohl sie sich vorgenommen hatte, alle negativen Gedanken in der Wohnung zurückzulassen, gelang es ihr nicht. Sie dachte an Christophs Hände auf ihrer Hüfte. An das Kribbeln, die Vorfreude und vor allem die Liebe, die sie dabei empfunden hatte. Für eine Sekunde hatte sie gedacht, dass es dieses Mal anders sein würde. Doch jetzt spürte sie wieder die Schwere, die sich auf ihren Burstkorb legte.

Wie konnte es sein, dass ihr Einzug so vieles verändert hatte, obwohl es nur eine reine Formsache gewesen war? Immerhin hatte sie die letzten Monate sowieso bei ihm gewohnt. Es war deshalb nur um die Kündigung ihrer eigenen Wohnung gegangen, aber aus irgendeinem Grund hatte sich dadurch alles verändert. Als hätte sich das Gewicht neu verteilt und so alles durcheinandergebracht. Plötzlich schien in seinem Zuhause kein Platz mehr für sie zu sein, und das in einer riesigen Neubauwohnung.

Marie öffnete die Lider und blickte in ihre eigenen glasigen Augen, die sich in der Fensterscheibe spiegelten. Ein alter Mann lief an ihrem Auto vorbei und warf ihr einen grimmigen Blick zu. Sie zwang sich zu einem höflichen Grinsen, bis er mit seinem Hund in dem gelben Mehrfamilienhaus verschwunden war. Dann entfuhr ihr ein Seufzen und ihre Schultern sackten ein.

Vermutlich hätte sie Christoph nicht vor vollendete Tatsachen stellen, sondern ihn miteinbeziehen sollen. Es ging schließlich um ihre Beziehung, an der sie beide arbeiten mussten. Vielleicht hätte er sogar selbst seinen grünen Daumen entdeckt, wenn sie sich gemeinsam um den Balkon gekümmert hätten. Sie hätten sich zusammen die Hände schmutzig gemacht und wären anschließend duschen gegangen. So, wie sie es früher immer getan hatten. Dann wäre jetzt alles gut und sie müsste sich nicht so schmutzig und verschwitzt fühlen. Oder aber …

Es klopfte.

Erschrocken fuhr Marie zur Seite und sah Romy, die ihre Nase von außen gegen das Beifahrerfenster presste.

Schnell entriegelte sie das Auto und sah zu, wie ihre beste Freundin neben sie rutschte.

Romy sah wie immer umwerfend aus. Sie trug eine schwarze Lederleggins und dazu eine weit ausgeschnittene Leopardenbluse, die ihre Rundungen perfekt in Szene setzte. Ihren braunen Pixie Cut hatte sie streng nach hinten gegelt, was ihr starkes Make-up noch dramatischer erscheinen ließ. Es war provokant, aber nicht billig.

Romy drückte ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange, bevor sie sich anschnallte. »Hallo, meine Liebe. Danke fürs Mitnehmen und sorry für die Verspätung. Diesmal wäre ich sogar pünktlich gewesen, wenn mein Bruder nicht angerufen hätte, weil unsere Eltern bei irgendwas seine Hilfe brauchen und er natürlich keine Zeit dafür hat. Ich musste ihm dann erklären, dass es keine Ausreden gibt und er gefälligst tun soll, was ein guter Sohn eben tut.«

Romys Bruder war gerade achtzehn Jahre alt geworden und genoss seine Unabhängigkeit in vollen Zügen. Der Gedanke, wie er in einem aufgeknöpften Hemd im Paisleymuster den Hammer oder Wischmopp schwang, erschien ihr geradezu absurd.

»Sei nicht so streng mit ihm. Überleg mal, wie wir vor acht Jahren waren. Du hättest deinen Eltern garantiert auch nicht geholfen.«

»Ha! Aber nur, weil ich keine große Schwester hatte, die mich dazu gezwungen hätte.«

Nie im Leben würde Romy sich von jemandem zu etwas drängen lassen, das sie nicht wollte – auch nicht von einer fiktiven älteren Schwester. »Ich glaube nicht, dass …«

»Können wir?«, unterbrach Romy sie, als wäre sie diejenige, die auf Marie gewartet hatte. »Die anderen warten bestimmt schon.« Ungeduldig rutschte sie auf ihrem Sitz herum.

Marie unterdrückte ein Schmunzeln. Die anderen beziehungsweise der Rest der Clique, wartete ganz sicher noch nicht, oder zumindest nicht so lange, wie Romy dachte. Hannah, Karim und Bo hatten schon vor Ewigkeiten beschlossen, Romy nicht mehr die richtige Treffzeit zu verraten. Es war die einzige Möglichkeit, um ihrem chronischen Zuspätkommen Herr zu werden.

»Aye-Aye, Captain.« Marie startete den Motor. »Mal sehen, ob Frau Holle heute Gold oder Pech für uns hat.«

Frau Holle war seit vielen Jahren ihre Stammbar. Einmal im Monat fand dort ein Pubquiz statt, bei dem es für die Gewinner ein Getränk aufs Haus gab und die Verlierer Pech in Form eines unbekannten Shots erfuhren. Dieser Abend bot die perfekte Gelegenheit, um sich trotz der verändernden Lebensumstände regelmäßig zu treffen, weshalb sie ihn offiziell zu ihrem Abend erklärt hatten.

»Heute gibt es Gold, ich bin nämlich in Topform und bereit für alle Fragen dieser Welt.«

»Hoffentlich. Ich könnte einen kleinen Erfolg gebrauchen.«

»Keine Sorge, du musst dich nur um Hannah kümmern, damit sie nicht wie beim letzten Mal falsche Antworten rausposaunt. Genau genommen war nur sie dafür verantwortlich, dass wir diesen ekligen Shot trinken mussten.«

»Ach ja, war das so?«

»Diesmal wird alles anders«, überging Romy ihren fragenden Einwand, »Diesmal gibt es eine goldene Runde aufs Haus! Du weißt, was du tun musst. Und ich …« Sie senkte ihre Stimme, als wären die folgenden Worte mehr für sie selbst als für Marie bestimmt. »Ich werde mit Bo und Karim den Rest erledigen.«

Was für ein teuflischer Plan, dachte Marie sarkastisch, ehe ihr ein lautes Prusten entwich.

»Hey! Lachst du mich aus?« Romy kniff ihr leicht in den Oberarm.

Marie zwang sich, ihre Mundwinkel zu entspannen. »Das würde ich nie«, sagte sie kleinlaut, doch insgeheim genoss sie es. Romy schaffte es immer wieder, sie aufzuheitern. Es war ihre Art, ihre Sicht auf die Dinge und ihre Echtheit.

Sie war so froh gewesen, dass Romy vor zwei Jahren nach ihrem Journalismus-Studium wieder zurück nach Stuttgart gezogen war. Sie waren seit der Schulzeit befreundet, weshalb Romys Umzug nach Berlin für Marie umso schmerzhafter gewesen war. Der Kontakt war zwar nie abgebrochen, und trotzdem war es etwas vollkommen anderes, wenn man die beste Freundin nicht mehr täglich sehen konnte.

»Sonst alles gut bei dir? Wie geht es deinem Schönling?«

Ihrem Schönling. Diesen Titel hatte Romy Christoph verpasst, als sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte.

»Gut, gut. Alles gut.« Sie ignorierte den Stich in ihrer Magengrube und presste ihre Lippen zusammen. Konnte der blaue Wagen vor ihr nicht schneller fahren?

»Ganz schön viele Guts. Bist du dir sicher, dass es wirklich so ist?«

Marie schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter. Sie fühlte sich nicht bereit, Romy von ihren Schwierigkeiten mit Christoph zu erzählen, denn sie würde alldem viel zu viel Gewicht geben, da war sie sich sicher.

»Ja. Ich bin nur abgelenkt. Keine Ahnung, wo der Typ vor uns seinen Führerschein her hat.« Sie fuchtelte mit den Händen hinter dem Lenkrad herum.

»Mhmm.«

Als der Fahrer an der nächsten Kreuzung abbog, entspannte sie sich sofort.

»Hast du die letzten Wochen etwas von Bo gehört?«, fragte Romy nach einer Weile.

»Wieso? Kommt er heute nicht?« Marie hatte sich auf einen lustigen Abend mit der ganzen Clique gefreut. Das war ein Garant für Spaß und genau das brauchte sie gerade mehr denn je.

»Doch, doch. Alle kommen. Hannah hat da nur so etwas angedeutet.«

»Was denn?«

»Dass Bo komplett in der Arbeit abgetaucht ist. Er reagiert wohl kaum auf Nachrichten und Anrufe.«

»Und du glaubst, dass er sich bei mir meldet, wenn er keine Zeit hat, sich bei jemand anderem zu melden?«

»Ja, vielleicht. Ich weiß auch nicht. Es hätte ja sein können.«

»Nein, eigentlich nicht.« Marie machte eine Pause. »Ehrlich gesagt hat sich Bo noch nie einfach so bei mir gemeldet und ich mich auch nicht bei ihm. Ist nicht so unser Ding.«

»Das ist verrückt. Ihr kennt euch doch schon ewig.«

Verrückt? Marie legte die Stirn in Falten. Sie hatte sich nie Gedanken darüber gemacht, wie das auf andere wirken könnte.

Sie alle waren seit so vielen Jahre befreundet. Unzählige Male hatte sie mit Romy und Hannah telefoniert oder sich mit ihnen getroffen. Selbst mit Karim hatte sie sich schon öfter verabredet, um ihm dabei zu helfen, für Hannah, seiner festen Freundin, das richtige Weihnachts- oder Geburtstagsgeschenk auszusuchen. Aber mit Bo … Es hatte einfach noch keinen Grund gegeben, sich abseits der Gruppe mit ihm zu treffen. Das machte die Freundschaft nicht weniger wichtig. Sie existierte nur nicht abseits davon. Ob das für andere seltsam klang? Möglicherweise. Doch für sie war es das nicht.

Kapitel 2

Bo

Das Licht in der Bar war gedämpft. Obwohl der Gewölbekeller, in dem sich die Bar befand, eigentlich kalt wirkte, war es gemütlich, denn die bunten Sessel im Fünfziger-Jahre-Stil schafften mit den kleinen Holztischen und der Beleuchtung eine einladende Atmosphäre. Bo fühlte sich, als wäre er in einem versteckten Wohnzimmer gelandet. Ein geheimer Ort, den man von außen nicht erahnen konnte, lag er doch in einer kleinen Nebenstraße fernab der Feiermeile, in der sich Bars an Clubs reihten.

Karim und er waren vor einigen Jahren durch Zufall darauf gestoßen, als sie ein paar Frauen hinterhergelaufen waren, die sie ansprechen wollten. Beinahe schon stalkermäßig im Nachhinein, aber am Ende ein großes Glück. Seitdem war Frau Holle ihr Treffpunkt, um abends etwas zu trinken und nach Frauen Ausschau zu halten.

Karim hatte es sich damals zur Aufgabe gemacht, Bo eine Freundin zu suchen, doch sein Vorhaben war bisher erfolglos geblieben. Am Ende interessierten sich die meisten Frauen mehr für Karim. Bo konnte es ihnen nicht einmal verübeln. Karim war groß, wenn auch kleiner als er selbst, sportlich, gut aussehend und charismatisch. Neben ihm wirkte er meist wie ein großer, blasser Schatten.

Die Kuppelei hatte glücklicherweise ein Ende gefunden, als Karim Hannah kennenlernte und sich seine Prioritäten veränderten. Er hatte sie im Bus auf dem Weg zur Bar getroffen und sie kurzerhand mitgebracht. Nach ein paar Abenden zu dritt hatte Bo es jedoch nicht mehr allein mit den beiden ausgehalten, denn Karim und Hannah waren schnell zu einem dieser klischeehaften unzertrennlichen Pärchen geworden. Zu Bos Glück brachte Hannah deshalb irgendwann ihre Freundinnen Romy und Marie mit. Niemals hätte er es für möglich gehalten, dass daraus eine Freundschaft entstehen würde, die nun seit mehr als zehn Jahren bestand. Selbst als es alle nach der Schule für eine Weile in andere Städte verschlagen hatte, um zu studieren oder sich selbst zu finden, verloren sie nicht den Kontakt zueinander.

»Wie war dein Tag?«, fragte Karim und nahm einen Schluck Bier, während seine freie Hand auf Hannahs Oberschenkel ruhte. Sie hatten sich einen breiten Sessel geschnappt, sodass sie eng beieinander sitzen konnten.

Seine dunklen Haare hatte Karim kürzlich auf wenige Millimeter getrimmt und sich fürs Erste von seinem Afro verabschiedet. Ein Anblick, an den Bo sich erst gewöhnen musste.

»Gut. Ich musste noch etwas für die Arbeit morgen vorbereiten.«

Karim schnaubte. »Ernsthaft? Es ist Sonntag. Wie kannst du denn schon wieder arbeiten?«

»Morgen steht ein wichtiger Termin an. Könnte eine Beförderung drin sein, wenn alles gut läuft. Da kann man schon mal Extraschichten schieben.« Ein breites Lächeln stahl sich auf Bos Lippen, es hing wirklich viel von diesem Termin ab.

Nach seinem Informatikstudium hatte er vor drei Jahren in einem Start-up-Unternehmen für Internetsicherheit angefangen. Es war ein Wagnis gewesen, ohne viel Erfahrung in einem jungen Unternehmen anzufangen, doch er hatte an die Idee dahinter geglaubt, und allmählich zahlte es sich aus. Die Firma wuchs stetig und daran war er nicht unbeteiligt.

»Du bist ein Workaholic«, mischte sich Hannah ein und verzog das Gesicht. »Vielleicht solltest du dich lieber um deine Freunde kümmern oder mal eine Frau daten, anstatt immer nur zu arbeiten.«

Karim warf ihr einen kurzen, grimmigen Blick zu, der Bo irritierte, bevor er sich mit entspannter Miene wieder seinem Bier zuwandte. »Darum musst du dir keine Sorgen machen. Unser Bo ist mehr unterwegs, als du denkst, Babe. Frauen stehen auf Erfolg.«

Bo biss sich auf die Unterlippe. Das war definitiv kein Gespräch, das er mit Karim und Hannah führen wollte. Wortlos nahm er einen Schluck aus seiner Wasserflasche und drehte den Kopf zur Seite.

Und da … war sie.

Sein Herz schien augenblicklich stehen zu bleiben. Marie lachte und kam Arm in Arm mit Romy zur Tür herein. Sie hatte ihre braunen Haare zusammengesteckt, doch einige Strähnen waren herausgerutscht und umspielten ihr herzförmiges Gesicht. Ihre bernsteinfarbenen Augen strahlten, wie sie es immer taten. Bo spürte seine Mundwinkel unwillkürlich nach oben zucken. Das Funkeln in ihren Augen war so ansteckend. So einnehmend. Es war völlig unmöglich, etwas anderes im Raum wahrzunehmen als sie. Und so folgte er ihr mit seinem Blick, bis die beiden Frauen vor ihm standen.

Romy breitete als Erste die Arme aus. Wie in Trance stand er auf und beugte sich zu ihr hinunter, wobei er sich ungelenk und schlaksig fühlte. Bei keinem anderen fiel ihm seine Körpergröße von einem Meter siebenundneunzig sosehr auf wie bei Romy. Sie sagte etwas, er nickte nur, ohne zu wissen, was sie gesagt hatte, und löste sich wieder von ihr. Er hatte nur noch Augen und Ohren für Marie.

»Hi.« Seine eigene Stimme klang ihm fremd.

»Hey, schön dich zu sehen.« Marie stellte sich auf die Zehenspitzen und streckte ebenfalls die Arme nach ihm aus.

Er umarmte sie, hielt sie fest, atmete ihren Duft ein. In seinem Bauch kribbelte es. Nur widerwillig löste er sich von ihr und sah sie verlegen an. Bo fühlte sich wie ein Teenager. Unsicher, was er als nächstes sagen sollte.

»Dein Kleid sieht irgendwie komisch aus.«

Ihr Lächeln verblasste mit einem Schlag. Mist. Er presste die Lippen zusammen, als könnte er dadurch seine Worte zurücknehmen.

»Was für ein Charmeur mal wieder«, warf Romy ein und verdrehte die Augen. Dann schob sie sich an ihm vorbei und begrüßte Hannah und Karim, während er immer noch völlig verloren vor Marie stand.

»Ich meinte … Du siehst toll aus. Wirklich.« Ihm schoss das Blut in die Wangen. »Es ist nur so, dass das Kleid nicht so richtig zu dir passt.«

Wieso nur kam in ihrer Gegenwart fast jeder Gedanke ungefiltert aus ihm heraus?

»Schon okay. Ich war in Eile, da habe ich das erstbeste Kleid gegriffen.« Ein gequältes Lächeln trat auf ihren Lippen. »Christoph hat es mir aus einer kleinen Boutique in München mitgebracht.«

Christoph. Allein der Klang seines Namens ließ in ihm Übelkeit aufsteigen.

Bo zog die buschigen Augenbrauen zusammen und brummte. »Oh, noch schlimmer. Dann habe ich gerade die Modepolizei kritisiert.«

Die anderen am Tisch lachten, während Marie beschämt den Blick auf den Boden heftete und sich auf den Sessel neben ihn setzte.

Christoph war zu Beginn ihrer Beziehung zu einem ihrer Abende mitgekommen. Anstatt nett zu sein, wie es wohl jeder andere in einer solchen Situation gewesen wäre, hatte er an jedem von ihnen etwas kritisiert und sich dabei selbst lächerlich gemacht. »Ein weißes T-Shirt ist ein Unterhemd«, hatte er zu Bo gesagt. Vollidiot, dachte Bo. Ein weißes T-Shirt war ein Klassiker und würde es auch immer bleiben.

Nach diesem Auftritt hatten sie gemeinschaftlich beschlossen, dass Christoph kein weiteres Mal erwünscht war. Marie war zwar erst enttäuscht gewesen, hatte es aber dann akzeptiert. Ihr schien es ebenfalls unangenehm gewesen zu sein.

»Er sollte dich besser kennen«, flüstere Bo in Maries Richtung, sodass nur sie ihn hören konnte.

Sie hob den Blick und sah ihm direkt in die Augen. Erneut lief ein Kribbeln durch seinen Körper.

»Es war eine nette Geste.« Sie zuckte die Schultern.

»Findest du, dass das reicht?« Er war sich sicher, dass es nicht genügte, denn entweder kannte Christoph sie nicht so, wie er sie kannte, oder er akzeptierte nicht, wer sie war. Beides davon war nicht gerade zufriedenstellend. Marie hatte etwas Besseres verdient. Sie sollte ihre spontane und lebendige Version ausleben dürfen und dazu gehörte definitiv kein Kleid, in dem man kaum sitzen, geschweige denn atmen konnte.

»Habt ihr uns schon mit in die Liste eingetragen?«, fragte Romy in die Runde, bevor Marie antworten konnte.

»Natürlich!«, antwortete Hannah, während sie sich an Karim schmiegte.

»Gut. Die Gewinner vom letzten Mal sind zum Glück nicht wieder da. Unsere Chancen stehen also ganz gut. Ich möchte, dass sich diesmal alle konzentrieren. So eine Pleite akzeptiere ich nicht noch einmal.« Romy blickte demonstrativ zu Hannah, die sich schnell hinter Karims Arm versteckte.

Bo war immer wieder überrascht, wie verbissen Romy sein konnte, wenn es um Wettkämpfe ging. Sie musste gewinnen und wer sie nicht tatkräftig unterstützte, war ihr Feind. Also spielten sie ihr Spiel mit, denn Romy wollte man nicht zum Feind haben.

»Erst mal wird das Turtelpaar getrennt. Das ist eh nicht auszuhalten. Karim und Marie, ihr zwei tauscht die Plätze.« Karim schmunzelte, stand aber gehorsam auf und sprang über Bos Beine, die den Weg zwischen seinem Sessel und dem kleinen Tisch versperrten. Gekonnt theatralisch streckte er Marie die Hand entgegen.

»Mylady, wir wurden aufgefordert, die Plätze zu tauschen.«

»Vielen Dank, der Herr.« Marie ergriff Karims Hand, und als würde sie einen Berg besteigen, kletterte sie über Bos Beine, während er sie stützte.

An ihrem neuen Platz angekommen verbeugte sich Karim und Marie prustete los. Ihr breites Lächeln entblößte die kleine Zahnlücke, die ihre oberen beiden Schneidezähne trennte. Bos Herz machte einen Extraschlag.

»Ihr Spinner.« Hannah schüttelte den Kopf und ließ dabei ihre blonden Locken schwingen.

»Danke, Hannah. Ich erwarte von euch allen volle Konzentration.« Romy sah noch einmal wie ein Trainer vor dem Wettkampf jedem einzelnen in die Augen. Dann griff sie Zettel und Stift, die der Kellner gerade auf den Tisch vor ihnen hinlegte, bevor er die Bestellung der beiden Neuzugänge aufnahm.

Der Klang einer Glocke ertönte.

»Willkommen zu unserem monatlichen Pubquiz.« Ein Mann mit Mikrofon kletterte auf den Tresen und machte es sich darauf bequem. »Ich bin Max und heute dafür zuständig, dass nicht geschummelt wird.« Ein Grölen ging durch den Keller. »Die meisten kennen die Regeln.« Grinsend ließ er den Blick durch den Raum wandern.

Die Bar platzte aus allen Nähten. Jeder Tisch war belegt und ein paar Leute lehnten sogar an den Gemäuern. Es waren offensichtlich Zuschauende, die sich das Spektakel nicht entgehen lassen wollten. Das Pubquiz war schlichtweg das Ereignis des Monats und vermutlich machten die Inhaber an diesem Abend mehr Umsatz als an den restlichen Tagen.

»Es geht um Sieg oder Niederlage, Gold oder Pech. Wir spielen fünf Runden à fünf Fragen, wobei jede Runde einem Themengebiet unterliegt. Zur Beantwortung jeder Frage habt ihr drei Minuten Zeit. Ihr tretet im Team an und könnt euch am Tisch beraten. Im Idealfall so, dass der Nachbartisch nichts mitbekommt. Eure Antworten schreibt ihr auf das Papier. Natürlich sind weder Smart-Devices in irgendeiner Form noch Enzyklopädien erlaubt. Nur für den Fall, dass jemand seine Enzyklopädie-Sammlung mitgebracht hat.« Er lachte über seinen eigenen Witz. »Gibt es noch Fragen?«

Niemand sagte etwas.

»Gut. Wir starten mit eurem geographischen Wissen. Falls ihr früher mit der Beantwortung einer Frage fertig seid, hebt bitte die Hand, dann machen wir direkt weiter. Zum warm werden gibt es eine leichte Frage. Wir wollen ja nicht, dass alle fluchtartig den Raum verlassen.« Max lachte wieder. »Welches ist das höchste Bauwerk in Deutschland?«

Romy kritzelte sofort eine Antwort auf den Zettel. Dann schnellte ihre Hand nach oben. »Soll das ein Witz sein?«, raunte sie in die Runde und schaute herausfordernd zu den anderen Tischen, an denen sich noch beraten wurde. Fehlte nur noch, dass sie mit den Füßen wie ein Rennpferd in der Startbox scharrte.

Eine Hand nach der anderen erhob sich nach kürzester Zeit.

»Okay, ich denke, alle haben ihre Antwort notiert. Fahren wir fort. In welchem Land ist oder war der Dodo beheimatet?«

»Ich glaube, das ist ein Tier«, sagte Hannah schnell.

»Leise!«, zischte Romy und sah dann zu Marie. »Was sagt die Biologin?«

Maries Augen wurden groß, als sie bemerkte, dass alle Blicke auf ihr lagen. Sie wirkte mit einem Mal so hilflos.

»Ich …«, setze sie an.

»Mauritius«, half Bo ihr rasch.

Überrascht schaute sie zu ihm. Diese Augen, dachte er sich. Er würde immer für sie einspringen. Immer, solange er konnte.

»Ja, das stimmt.« Marie nickte ihm zu, doch der gepresste Unterton in ihrer Stimme war ihm nicht entgangen. Den anderen offensichtlich schon, denn der Moment nachzufragen, war schneller vorbei, als er gekommen war.

»Ist notiert.« Wieder kritzelte Romy die Antwort auf den Zettel, bevor ihre Hand nach oben schoss.

Es folgten weitere Fragen zum Taj Mahal, dem Hoover-Damm und Pavlova, die sie gemeinsam beantworteten.

In der zweiten Runde ging es um Prominente. Bo machte sich nicht einmal die Mühe, weiter zuzuhören. Das war definitiv kein Thema, bei dem er einen Beitrag leisten konnte. Vorsichtig sah er zu Marie. Sie unterhielt sich mit Hannah. Die zwei schienen sich ebenfalls vom Quiz verabschiedet zu haben, vermutlich in dem Wissen, dass Romy aufgrund ihrer Arbeit als Kolumnistin bei einer Frauenzeitschrift bestens informiert war und einen Einwand ihrerseits sowieso nicht gelten lassen würde.

Die beiden Frauen wirkten völlig gelöst und lachten über irgendetwas. Nur ein halb so breites Lächeln hatte Bo sich für seine Hilfe zuvor gewünscht. Aber vielleicht war er das auch gar nicht gewesen. Eine Hilfe. Heute vermasselte er es wohl auf ganzer Linie.

»Du weißt, dass das meine Freundin ist?«, fragte Karim amüsiert.

Erschrocken fuhr Bo zu seinem anderen Sitznachbarn herum.

»Sie sieht heute besonders gut aus, aber ich denke, du hast keine Chance.«

Bo hob abwehrend die Hände. »Du weißt, ich würde nie …«

Karim lachte. »Lass dich doch nicht ärgern. Ich weiß, dass du Marie anschaust.«

Ihm klappte der Mund auf. Er hatte nie etwas gesagt, war immer vorsichtig gewesen, weil er nicht wollte, dass jemand von seinen Gefühlen für sie erfuhr. Sie waren hoffnungslos, das wusste er. Schnell zuckte sein Blick zurück zu Hannah und Marie, doch sie unterhielten sich weiterhin angeregt. Erleichtert drehte er sich wieder zu Karim.

»Ich habe zwar keine Ahnung, wovon du redest, aber könntest du bitte leiser sprechen? Du weißt, wie schnell die Mädels tratschen.«

Karim grinste amüsiert. »Wovon ich rede? Ich sehe mir das an, seit du wieder aus Aachen zurück bist. Oder nein, warte, eigentlich schon immer. Als dein bester Freund hätte ich gedacht, dass du mich irgendwann mal offiziell einweihen würdest.« Karim klang gekränkt, doch sein Gesicht sprach eine ganz andere Sprache.

Allmählich brach ihm der Schweiß aus. Marie durfte von diesem Gespräch nichts mitbekommen. »Es gibt nichts zum Einweihen.«

»Sport! Karim, dein Einsatz«, unterbrach Romy sie.

Zum Glück.

Karim schenkte ihm noch ein wissendes Lächeln, das ihm wohl signalisieren sollte, dass das Gespräch noch nicht beendet war. Anschließend beantwortete er brav eine Frage nach der anderen, die der Moderator stellte.

Karim liebte Sport. Dabei war es egal, ob es darum ging, Sport zu treiben oder zu schauen. Ein häufiges Streitthema zwischen ihm und Hannah, wie er wusste. Denn irgendein Match lief immer, das Karim sehen wollte. Die beiden erinnerten Bo an ein altes Ehepaar, das sich oft zankte, nur um sich dann wieder ausgiebig zu versöhnen.

»Bevor es weitergeht, machen wir ein kleines Pipi-Päuschen«, sagte Max nach einer Weile und sprang vom Tresen.

Er sammelte die Zettel mit den bisherigen Antworten ein. Als er vor ihren Tisch trat, lächelte er Romy an. »So einen Enthusiasmus könnten alle Teilnehmer gebrauchen. Du bist mir schon die letzten Abende aufgefallen.« Er verzog sein Gesicht zu einem anzüglichen Grinsen.

Romy warf ihm ihren entwaffnenden Blick zu, dem in der Regel weder Frauen noch Männer widerstehen konnten. Nicht nur ihre Art zu spielen glich der eines Raubtieres. Sie lag auf der Lauer und war stets bereit für den nächsten Sprung, auf wen auch immer.

Schmunzelnd sah Bo zu Marie. Sie dachte offensichtlich an das Gleiche, denn auch auf ihre Lippen schlich sich ein kleines Lächeln, während sie das Szenario beobachtete. Als sie seinen Blick bemerkte, wurde ihr Grinsen noch breiter. Sie lehnte sich zu ihm herüber.

»Falls sie ihn abschleppt, musst du die beiden nach Hause fahren. Ich nehme keine fremden Männer in meinem Auto mit.«

Bo nickte. »Sehr verantwortungsvoll, und trotzdem weiß ich nicht so ganz, was ich von meiner Rolle dabei halten soll.« Er zwinkerte ihr zu.

»Na ja, ich könnte vergessen, dass du heute so charmant«, sie setzte das Adjektiv mit ihren Fingern in Anführungszeichen und zwinkerte zurück, »zu mir warst.«

Sofort verschwand das Lächeln aus seinem Gesicht. »Ich … Es tut mir leid.«

»Also steht der Deal«, überging Marie seine Entschuldigung und streckte ihm die Hand entgegen.

Bo zögerte kurz, ehe er die Geste erwiderte und ihre winzige Hand in seiner verschwinden ließ. Sofort kribbelte seine Haut an der Stelle, wo sie ihn berührte. Marie fühlte sich angenehm kühl an, er hingegen war warm. Warm und … schwitzig. Mist. Schnell ließ er sie los. Hatte sie etwas gemerkt? Würde sie denken, dass er ihretwegen nervös war? Vorsichtig hob er den Blick und sah in ihr Gesicht. Sie strahlte ihn unbeirrt an. Erleichtert atmete er aus und entspannte seine Schultern wieder.

»Sonst geht es dir gut? Du sahst vorhin nachdenklich aus.«

»Beobachtest du mich etwa?«, entgegnete sie neckisch.

Wärme breitete sich in seinen Wangen aus, doch Marie winkte ab. Dann sah sie sich kurz um, mittlerweile waren sie allein am Tisch. Die anderen waren offenbar auf die Toilette verschwunden.

Sie seufzte. »Es war wegen Christoph. Unser Zusammenleben ist nicht so einfach, wie ich dachte. Aber ich weiß ja, dass du nicht viel von ihm hältst.«

»Wieso? Lässt er dich nicht in seinen Fitnessraum?« Spielerisch stupste er gegen ihren Arm.

Ihre Mundwinkel zuckten nach oben, doch ihre Augen blieben ausdruckslos. »Ob du es glaubst oder nicht, ich darf überall hin«, sagte sie, ehe sie in ernsterem Ton fortfuhr, »Ich habe heute den Balkon umgestaltet, was sich als keine gute Idee herausgestellt hat. Es … Ach, es ist kompliziert.«

»Willst du darüber reden?«, fragte er vorsichtig. Es kam nicht oft vor, dass Marie ihm etwas derart Intimes anvertraute.

»Heute nicht.«

Für einen kurzen Moment sah er die Trauer in ihrem Gesicht aufblitzen und alles ihn ihm schrie danach, sie in den Arm zu nehmen. Doch das konnte er unter keinen Umständen tun. Da kam ihm plötzlich ein Gedanke.

»Weißt du was? Ich werde dich morgen nach der Arbeit abholen. Vielleicht möchtest du reden und falls nicht, werde ich für die entsprechende Unterhaltung sorgen.« Um seinen Tatendrang zu verdeutlichen, stemmte er die Hände in seine Seiten und richtete sich in seinem Sessel auf.

»Hast du gerade nicht viel um die Ohren? Ich habe gehört, da wird sogar schon jemand eifersüchtig.« Marie nickte zu Karim, der gerade mit Hannah zu ihrem Tisch schlenderte.

»Hört man das, ja?«

Sie nickte.

Das hatte Hannah also gemeint, als sie behauptete, er vernachlässige seine Freunde. Er seufzte. »Darum werde ich mich wohl auch kümmern müssen, aber das ändert nichts daran, dass ich vorhin etwas Falsches gesagt und dich gekränkt habe, obwohl ich das absolut nicht wollte. Also lass es mich wiedergutmachen und sag mir einfach, wann ich wo sein soll.«

Marie biss sich mit gerunzelter Stirn auf die Unterlippe und blickte zu Hannah und Karim, die sich zu ihnen setzten. Dann sah sie zu Romy, die mittlerweile an einem Nachbartisch stand und die Konkurrenz auscheckte, bevor ihr Blick endlich wieder zu ihm fand.

»Also gut. Ich ruf dich morgen in der Mittagspause an.« Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Offensichtlich wollte sie nicht, dass einer der anderen etwas mitbekam. Bo wusste zwar nicht, wieso, doch das kam ihm gerade recht. Auch er war nicht daran interessiert, dass sich die anderen in die Sache einmischten, was sie zweifelsohne tun würden, wenn sie davon erfuhren.

»So machen wir’s«, antwortete er leise und sein Magen zog sich aufgeregt zusammen.

Wenig später moderierte Max die letzten beiden Runden des Pubquiz. Doch die zogen wie ein Film an Bo vorbei. Zu seinem Glück sprach ihn keiner an, seine Gedanken waren nämlich ganz woanders.

War das gerade wirklich passiert? Würde er sich morgen das erste Mal allein mit Marie treffen? Er hatte keine besonderen Absichten gehabt, und trotzdem waren sie verabredet. Die letzten Jahre hatte er auf eine solche Gelegenheit gewartet und nun war es passiert. Einfach so.

Es war ihm egal, dass sie über Christoph sprechen würden, denn darum ging es nicht. Es ging um Marie. Es ging ihm darum, für sie da zu sein, den traurigen Blick aus ihrem Gesicht zu verbannen und nebenbei ihre Anwesenheit zu genießen, und das siebenundzwanzig Tage vor ihrem offiziellen nächsten Treffen in der Bar.

Kapitel 3

Marie

Der Parkplatz war schon leer, als Marie mit Romy die Bar verließ. Zielstrebig steuerten sie ihr Auto an, da bemerkte Marie Bo. Er war kurz vor ihnen rausgegangen und setzte sich gerade in sein altes klappriges Cabrio, das beinahe ein Oldtimer-Kennzeichen verdient hatte, so lange fuhr er es schon. Dabei war das Auto viel zu klein für ihn. Sie konnte sich kaum vorstellen, wie seine langen Beine unter dem Lenkrad Platz finden sollten. Umso weniger verstand sie, wieso er sich kein neues kaufte. Am Geld konnte es nicht scheitern. Zumindest hatte Karim das mehrfach behauptet und so vehement, wie Bo sich dagegen gewehrt hatte, war sie sich sicher, dass es stimmte.

Bo war bescheiden, aufmerksam, … manchmal etwas zu aufmerksam. Bei dem Gedanken an sein unmögliches Kompliment glitten ihre Mundwinkel nach oben. Sein weiches Gesicht tauchte in ihren Gedanken auf. Die wuscheligen braunen Locken, unter denen seine abstehenden Ohren manchmal hervorblickten. Die schwarze Hornbrille und buschigen Augenbrauen, die sie säumten. Marie schüttelte den Kopf und damit auch den Gedanken an ihn ab und stieg in ihr Auto.

»Fahren wir endlich los?«, fragte Romy genervt.

»Dir ist schon klar, dass ich gerade wieder auf dich warten musste, weil du noch mit unserem Moderator geflirtet hast? Ich hätte wetten können, dass du ihn mitnimmst«, erwiderte Marie und manövrierte ihr Auto aus der Parklücke.

»Max ist ein netter Kerl, aber ich habe keine Lust auf Probleme. Frau Holle und ihre Leute sind tabu. Stell dir mal vor, wir müssten uns eine neue Bar suchen.« Romy schnaubte.

»Da hast du wohl recht.« Immerhin hatte Romy ihre Prinzipien bei der Wahl ihrer Bekanntschaften.

»Ich bin jedenfalls stolz auf uns, dass wir gewonnen haben.« Ein zufriedenes Grinsen schwang in Romys Stimme mit.

»Ja, ich auch! Und ich finde, du könntest Hannah ihren Fauxpas vom letzten Mal vergeben. Ohne sie wäre es heute knapp geworden.«

»Jaja, schon geschehen. Wobei der Tequila-Goldregen dabei nicht gerade unbeteiligt war.«

Marie lachte auf. »Romy, du bist unmöglich! Nächstes Mal solltest du wohl auch lieber zur Apfelschorle greifen.«

»Und mir den Spaß entgehen lassen? Solange du mich heimfährst, eher nicht«, erwiderte sie glucksend.

Den Rest der Heimfahrt erzählte Romy von ihrer Arbeit und dem Beitrag, an dem sie gerade schrieb. Marie lauschte dem beruhigenden Klang ihrer Stimme, ohne jedes einzelne ihrer Worte genau wahrzunehmen. Stattdessen konzentrierte sie sich auf den Verkehr und bemerkte, wie sie sich immer mehr abkapselte. Ganz so, als hätte Romy sie in ein schönes Seidenpapier verpackt.

Als Marie plötzlich vor ihrer Wohnungstür stand, wusste sie nicht einmal mehr genau, wie sie dorthin gekommen war. Sie lauschte einen Moment, doch außer ihrem eigenen Atmen war weit und breit nichts zu hören. Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. Kurz vor zwölf. Christophs Gäste müssten längst verschwunden sein. Ob das gut war? Gute Frage. Sie wusste es nicht. Ihr entfuhr ein Seufzen. Es half ja nichts. Sie musste ins Bett. Ihr Wecker würde morgen bedingungslos klingeln.

Anstatt ihren Schlüssel ins Schloss zu stecken, ließ sie ihren Blick auf der Klinke verharren. Sie war viel zu weit entfernt, beinahe unerreichbar. Marie versuchte ihren Arm zu heben, aber er fühlte sich tonnenschwer an. Wie sollte sie in die Realität zurückkehren, wenn die Flucht davor viel zu schön gewesen war? Sie hatte gelacht, ein Quiz gewonnen und nebenbei hatte sie sich mit Bo verabredet. Mit Bo! Das Leben war so seltsam. Manchmal dachte man an etwas und dann passierte es. Vielleicht war es notwendig, um die Balance des Glücks wiederherzustellen. Aber wer wusste das schon mit Sicherheit?

Bo könnte ihr bei der Sache mit Christoph helfen und würde niemanden, besonders nicht Romy davon erzählen. Davon war sie überzeugt. Und auch wenn er keinen passenden Rat wüsste, er hörte ihr zumindest zu. Mit jemanden darüber zu reden würde ihre wirren Gedanken sortieren und allein das könnte ihre Beziehung wieder in Ordnung bringen. Denn vielleicht war es kein Problem, das zwischen ihr und Christoph stand. Vielleicht hatte sie nur zu hohe Erwartungen an ihn. Immerhin wäre das etwas, das sie ändern konnte. Ändern würde, wenn ihr Leben auf diese Weise wieder genauso schön und perfekt sein würde, wie es früher gewesen war.

Mit diesem Gedanken steckte sie den Schlüssel ins Schloss und stieß die Tür auf, die ins Dunkle der Wohnung führte. Ganz leise legte sie ihre Sachen ab und schlich ins Badezimmer. Erst dort schaltete sie das Licht an und erlaubte sich endlich die Dusche, nach der sie sich den ganzen Abend gesehnt hatte. Es war reinigend, in vielerlei Hinsicht.

Als Marie fertig war, warf sie einen kurzen Blick in den Spiegel. Ihre Haut wirkte nicht länger fahl und ausgelaugt. Nur das Glitzern in ihren Augen war noch nicht ganz zurückgekehrt. Marie versuchte sich an einem Lächeln, doch auch das änderte nichts. Schnell drückte sie auf den Lichtschalter und fand sich prompt in der Dunkelheit wieder. Besser. Sie nahm noch einen tiefen Atemzug, ehe sie sich auf den Weg ins Schlafzimmer machte. Schon von draußen vernahm sie leises Schnarchen. Zumindest heute würde es keinen Streit mehr geben.

Sie ging zum Kleiderschrank, um sich einen Pyjama herauszuholen, doch als sie dort die Schiebetür öffnete, verharrte sie augenblicklich in der Bewegung. Gleißendes Licht flutete ihr Blickfeld. Geblendet presste sie ihre Augenlider aufeinander, während ihr Herz raste. Sekunden verstrichen, bis sie begriff, was geschehen war. Die Innenbeleuchtung des Schranks war angegangen! Musste denn in dieser Wohnung alles bis ins kleinste Detail perfekt sein? Sie wollte die Tür wieder schließen, doch etwas musste sich in den Schienen verfangen haben.

Da hörte sie ein genervtes Stöhnen, gefolgt vom Rascheln der Bettdecke. Ganz langsam drehte sie sich um. Christoph setzte sich bereits auf. Es dauerte ein paar Atemzüge, ehe sich seine Augen weiteten, als er die Silhouette ihres nackten Körpers erkannte.

»Tut mir leid, ich wollte nur schnell …«, begann Marie zaghaft, in der Hoffnung ihn nicht schon wieder verärgert zu haben.

»Komm her«, unterbrach Christoph sie und klang alles andere als verschlafen oder wütend.

»Gleich, ich hole nur –«

»Komm. Her.« Dieses Mal sagte er es bestimmter, gleichzeitig lag in seiner Stimme pure Erregung.

Marie zögerte. Das konnte er nicht ernst meinen, oder? Sie waren im Streit auseinandergegangen. Gefühlt tausend ungeklärte Themen lagen zwischen ihnen. Wie konnte er mit ihr schlafen wollen, ohne all das vorher geklärt zu haben? Und vor allem: Wollte sie das?

Marie blieb keine Zeit mehr, darüber nachzudenken, denn Christoph zog sich schon das T-Shirt über den Kopf. »Ich warte«, raunte er, was sie auf eine ihr unerklärliche Art und Weise erregte.

Sie betrachtete seinen rasierten Oberkörper, inspizierte jeden seiner Muskeln, die im Halbdunkeln noch faszinierender wirkten als bei Tag. Wie um alles in der Welt konnte er so verdammt gut aussehen? Ihre Fassade begann unweigerlich zu bröckeln. Womöglich war das hier genau der richtige Weg, diesen Streit zu beenden oder ihn zumindest zu pausieren. Morgen könnte alles anders sein, vor allem nach ihrem Treffen mit Bo.

Vorsichtig setze Marie einen Fuß vor den anderen, und bevor sie es sich anders überlegen konnte, ließ sie sich auf seinem Schoß nieder.

Um sechs wurde Marie vom Klingeln ihres Weckers aus dem Schlaf gerissen. Viel zu früh für so eine kurze Nacht. Trotzdem breitete sich ein angenehmes Kribbeln vom Bauch in ihrem Körper aus. Das war‘s mir wert, dachte sie zufrieden.

Sie drehte sich auf die andere Seite und sah direkt in Christophs Gesicht. Sein Mund war leicht geöffnet, er schlief noch tief und fest. Maries Finger zuckten. Sie wollte ihn berühren, wollte seine markanten Wangenknochen nachzeichnen, wie sie es vor wenigen Stunden getan hatte. Doch sie ließ es bleiben. Christoph hatte noch Zeit, bis er aufstehen musste, und dieses Mal würde er nicht so freundlich reagieren, wenn sie ihn versehentlich weckte.

Als Immobilienmakler fingen seine Tage deutlich später an als ihre, denn im Labor der Mikrobiologie waren die Morgenstunden ihre wichtigste und effektivste Zeit des Tages. Da hatte sie alle Räumlichkeiten für sich und konnte in Ruhe arbeiten. Es war ihre persönliche Ruhe vor dem Sturm. Trotzdem beneidete sie Christoph manchmal darum, so lange im Bett bleiben zu können, obwohl er im Gegenzug oft bis in den späten Abend und teilweise auch am Wochenende arbeitete. Alles im Leben hatte eben seinen Preis.

Eine lange und gleichzeitig viel zu kurze Autofahrt später erreichte Marie den Parkplatz der Universität. Seufzend hielt sie ihren Ausweis an das Lesegerät der Parkplatzschranke.

Die Schranke schnellte nach oben und ließ sie passieren. Langsam fuhr sie an den Parkplätzen der Professoren vorbei. Jeder von ihnen hatte seinen eigenen, der mit einem Namensschild am Kopfende gekennzeichnet war. Keines davon trug ihren, weshalb sie ihr Auto auf einen der Mitarbeiterparkplätze stellte, der ihrem persönlichen am nächsten kam. Da Marie morgens eine der Ersten war, hatte sie sich schnell ihren Lieblingsplatz ausgesucht. Er war wie eine Konstante und damit einer der wenigen guten Dinge bei der Arbeit.

Schlaftrunken ging sie auf den großen Eingang des Gebäudes zu. Ein Anbau aus Glas, der sich über zwei Etagen erstreckte. Erneut hielt sie ihren Ausweis an das Lesegerät. Sofort fuhren die Glastüren auseinander und öffneten ihr den Weg in den Eingangsbereich, wo keine Menschenseele zu sehen war. Widerwillig steuerte sie die Treppe an.

»Heute so in Gedanken?«

Erschrocken hob Marie den Kopf und sah eine rundliche Frau mit Wischmopp am Treppenabsatz stehen. Natürlich. Es war Montag. Der Tag, an dem Moni alle Flure und Treppen putzte. Die Aufgaben der beiden hatten kaum Schnittpunkte, und doch war Moni ihre Lieblingskollegin.

Ein Lächeln stahl sich auf Maries Lippen. »Guten Morgen!«

»Das gefällt mir schon besser. Anstrengendes Wochenende gehabt?«

»So in der Art.« Marie biss sich verlegen auf die Unterlippe, bevor sie weiter die Treppe hinaufstieg.

»Soso … Mehr Informationen wirst du einer alten Dame wohl nicht geben, oder?«

»Ich sollte los«, überging Marie die Frage. »Wir sehen uns später.« Und bevor Moni weitere Fragen stellen konnte, lief Marie an ihr vorbei. »Mach’s gut.«

»Du auch.«

Mit besserer Laune durchquerte Marie den kleinen Gang, um in den hinteren Teil des Gebäudes zu gelangen, in der sich die Abteilung der Mikrobiologie befand. Ein letztes Mal scannte sie ihren Ausweis am Lesegerät.

Die Tür wurde entriegelt, Marie drückte die Klinke nach unten und sofort schlug ihr ein gäriger und beißender Geruch entgegen. Er war ihr vertraut und gleichzeitig so unangenehm, dass sie sich niemals daran gewöhnen würde. Mit aller Überwindungskraft, die sie aufbringen konnte, betrat sie die Räumlichkeiten.

Zu ihrem Erstaunen vernahmen ihre Ohren jedoch etwas, mit dem sie nicht gerechnet hatte. Ein monotones Sch-Sch-Sch hallte ihr aus dem kleinen Nebenraum entgegen. Marie lief darauf zu und fand den Inkubator, auf dem bereits fünf Kolben mit Bakterienkulturen hin und her schüttelten. Tom, einer der Doktoranden, musste am Wochenende hier gewesen sein und hatte seinen Versuch ohne sie gestartet. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. In den nächsten Stunden würden die Kulturen wachsen, bis genügend Bakterien vorhanden waren, um den nächsten Schritt im Protokoll vorzunehmen. Damit hatte sich ihre heutige Aufgabenliste soeben halbiert.

Leicht beschwingt ging Marie zu ihrem Schreibtisch vor der Glasfront, auf dem nur ein Bildschirm und eine Tastatur standen. Sie ließ sich auf den Bürostuhl fallen und startete ihren Computer. Dann lasst uns mal die Welt retten, dachte sie sarkastisch.

Im nächsten Augenblick vibrierte ihr Handy und ihr Herz schlug augenblicklich schneller. War Christoph schon aufgewacht? Es war lange her, dass er ihr eine Guten-Morgen-Nachricht geschrieben hatte. Womöglich hatte die gemeinsame Nacht mehr bewirkt, als sie erwartet hatte.

Voller Vorfreude griff Marie nach ihrem Handy, doch als sie auf das Display sah, folgte die Ernüchterung. Die Nachricht war nicht von Christoph, sondern von Bo.

Bo: Ich freu mich auf heute Abend.

Mist. Das hatte sie völlig vergessen. Ihre gemeinsame Nacht hatte jeden, der nicht Christoph war, aus ihrem Kopf verdrängt. Umso härter traf sie die Erkenntnis, dass sie sich heute mit Bo treffen wollte. Was gestern nach einem perfekten Plan ausgesehen hatte, ließ plötzlich Zweifel offen. Hatten sie sich nicht gestern Nacht versöhnt? War das Treffen mit Bo überhaupt noch eine gute Idee, um über Probleme zu sprechen, die der Vergangenheit angehörten? Andererseits konnte sie Bo schlecht wieder absagen, nachdem er sich extra Zeit für sie nehmen wollte.

Marie sah aus dem Fenster. Die Sonne war gerade aufgegangen und ein paar weiße Schäfchenwolken zierten den blauen Himmel. Es würde ein wunderschöner Tag werden. Sie presste ihre Lippen zusammen. Vielleicht sollte sie Christoph zumindest Bescheid geben, dass sie sich mit Bo traf. Nur für alle Fälle. Mit klopfendem Herzen wählte sie seine Nummer. Das Freizeichen erklang.

»Ja?«, hörte sie Christophs Stimme nach dem ersten Klingeln. Er klang abwesend.

»Habe ich dich geweckt?«

»Nein, ich bin schon wach. Bereite mich auf meine Kundin nachher vor. Was gibt’s denn?«

»Ähm, also … ich wollte mich später mit Bo treffen.«

»Habt ihr euch nicht erst gestern gesehen?«

»Ja, zusammen mit den anderen, aber er wollte noch etwas allein mit mir besprechen.« Das war wenigstens nicht gelogen.

»Und?«

»Ich –«

»Marie, komm zum Punkt. Ich habe keine Zeit.«

»Ich dachte nur, ich frage dich lieber vorher. Vielleicht willst du das nicht? Oder hattest du den Nachmittag schon anderweitig verplant?« War der Gedanke so abwegig, ihn deswegen anzurufen?

»Natürlich bin ich verplant. Ich muss arbeiten. Du kannst in deiner Freizeit machen, was du willst. Du bist mir keine Rechenschaft schuldig. Und ehrlich gesagt habe ich für so einen Kindergarten auch keine Zeit.«

»Aber …« Wie versteinert saß sie auf dem Stuhl, unfähig, den Satz zu beenden. Sie vergrub ihre Zehen tiefer in den Schuhen, als würde sie so Halt finden.

Was hatte sie sich bei dem Anruf nur gedacht? Offenbar zu wenig. Natürlich musste Christoph arbeiten und natürlich machte es ihm nichts aus, wenn sie sich mit Bo traf. Er wusste ja nichts von dem wahren Grund für das Treffen und eine gut funktionierende Beziehung beruhte schließlich auf Vertrauen, oder nicht?

»War’s das dann?« Christophs genervte Stimme holte sie in die Realität zurück.

»Ich … Ja …«

»Gut. Wir sehen uns heute Abend. Ich liebe dich.«

Er legte auf, ehe sie antworten konnte. Es fühlte sich an, als wäre sie von ihrem Höhenflug mit einer Bruchlandung auf dem Boden der Tatsachen gelandet. Eine schöne Nacht löste wohl keine Schwierigkeiten, sondern verschleierte sie nur. Wenn überhaupt. Ihre Beziehungsprobleme waren größer, als sie vermutet hatte. Daran hatte auch sein Ich liebe dich nichts geändert, das schon einer Beleidigung gleichkam.

Ein negatives Gefühl löste das andere ab. Trotzdem war ihr Wut lieber als Resignation. Christoph konnte ihr gestohlen bleiben. Mögen ihm die Schnürsenkel seiner Anzugschuhe den ganzen Tag immer wieder aufgehen, dachte sich Marie verärgert. Sie würde sich den Tag nicht verderben lassen.

Ein Gesicht flackerte vor ihrem inneren Auge auf. Bo. Er wartete ja noch auf eine Antwort.

Marie: Ich mache früher Schluss. Komm einfach zu mir, wenn du fertig bist. Christoph arbeitet länger.

Wenn es Christoph nicht interessierte, konnte Bo ebenso gut zu ihr kommen. Sie würde den Tag mit einem guten Freund auf ihrem Balkon verbringen.

Bo: Alles klar. Ich bring Essen mit.