Am Anfang war der Fjord - Sigri Sandberg - E-Book

Am Anfang war der Fjord E-Book

Sigri Sandberg

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Beschreibung

"Ein tiefgründiges Abenteuer auf dem längsten Fjord Norwegens" CARMEN ROHRBACH "Je mehr die Welt und ich am seidenen Faden zu hängen scheinen, desto wichtiger erscheint es mir, in einer Landschaft zu atmen, die ich einst kannte, den Wind zu spüren, den Blick auf das endlose Wasser zu richten, die Ruder zu heben und den Rest des Fjords kennenzulernen, nach Hause zu finden, bevor mir die Zeit davonläuft."  Am Anfang ihrer 200 Kilometer langen Reise stellt Sigri Sandberg sich die Frage, was Heimat ist und was es eigentlich bedeutet, irgendwo hinzugehören. Auf ihrer Suche nach Antworten rudert sie in einem alten traditionellen Holzboot den Sognefjord entlang, mit unterschiedlichen Begleitern, von der Mündung, wo sie als Kind zu Hause war, bis zu dem Apfelgut im Landesinneren, auf dem sie die meiste Zeit im Jahr arbeitet. Eine wunderschöne Reisegeschichte, die uns tief in die Natur und Geschichten des Fjords eintauchen lässt und mit jedem Ruderschlag näher ans Herz rückt.

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Seitenzahl: 214

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Impressum

Die Originalausgabe ist 2022 unter dem Titel »RO. Om Sognefjorden og ein lang rotur heim« bei Det Norske Samlaget erschienen.

www.samlaget.no

© eBook: 2023 GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, Postfach 860366, 81630 München

© Printausgabe: 2023 GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, Postfach 860366, 81630 München

POLYGLOTT ist eine eingetragene Marke der GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH

Alle Rechte vorbehalten. Weiterverbreitung und öffentliche Zugänglichmachung, auch auszugsweise, sowie die Verbreitung durch Film und Funk, Fernsehen und Internet, durch fotomechanische Wiedergabe, Tonträger und Datenverarbeitungssysteme jeder Art nur mit schriftlicher Zustimmung des Verlags.

This translation has been published with the financial support of NORLA.

Leserservice:

GRÄFE UND UNZER Verlag

Grillparzerstraße 12

81675 München

www.graefe-und-unzer.de

Redaktionsleitung: Susanne Kronester-Ritter, Julia Hirner

Übersetzung: Daniela Syczek

Lektorat: Dr. Katharina Theml

Schlusskorrektur: Ulla Thomsen

Covergestaltung: Favoritbuero, München

Karte: Line Monrad-Hansen

eBook-Herstellung: Pia Schwarzmann

ISBN 978-3-8464-1005-9

1. Auflage 2023

GuU 4-1005 09_2023_02

Bildnachweis

Coverabbildung: Steinar Rorgemoen; www.shutterstock.com/korkeng (Hintergrund)

Fotos: Sigri Sandberg; Steinar Rorgemoen; Cecilie Skog

Syndication: www.seasons.agency

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Ansprechpartner für den Anzeigenverkauf:

KV Kommunalverlag GmbH & Co. KG,

MediaCenter München, Tel. 089/928 09 60

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»Sind wir gerade dumm oder mutig?«, frage ich Torunn, die ihre Antwort davon abhängig macht, wie die Nacht heute ausgeht. In meinem Kopf blitzt der Leitsatz »immer auf Sicht fahren« auf, und ich werde mir unweigerlich der Naturgewalt bewusst, die sich nicht wie wir Menschen nach anderen richtet, sie warnt oder schützt. Es liegt allein an uns, ob das hier gut geht oder nicht, die Natur zieht ihr Ding einfach durch.

Wir schöpfen Wasser ab, ständig, denn bei der kleinsten Pause wirft es uns hin und her, was der Die-Flut-bringt-uns-ostwärts-Theorie klar widerspricht. Dieser vermaledeite Wind bläst unsere Vernunft hinweg, beherrscht unser Boot und unsere Gedanken, entreißt sie uns gewaltsam. Wenigstens passen die beiden über uns kreisenden Seeadler auf uns auf. Alles besteht nur noch aus Wellen. Ob wir Angst haben? Nein, ich erinnere mich nicht an ängstliche Gespräche oder Furcht, nur daran, dass wir lachen und rudern, was das Zeug hält.

Für meinen Mann und meine Mutter

»Unterwegs plagt mich Heimweh, doch auch zu Hause ist es da.«

Sondre Bratland

Der Sognefjord

Vorwort

å ro (Norwegisch, Verb): rudern

ro (Norwegisch, Nomen): Ruhe, Gelassenheit

Hallo, mein Name ist Sigri, und ich brauche ein altes Holzboot. Ich möchte damit auf Norwegens Sognefjord landeinwärts rudern. Langsam.

Seit Tausenden von Jahren nutzen wir den Fjord als Straße; Menschen ruderten und segelten entlang der schroffen Felswände des Fjords durch eine Landschaft, die heute als eines der spektakulärsten Reiseziele weltweit gilt. Der Sognefjord ist nicht nur der längste Fjord Norwegens, sondern auch der zweitlängste und tiefste der Erde. Die umliegenden Gletscher haben ihn im Laufe von Millionen von Jahren geschaffen.

Von alldem will ich berichten – während ich rudere. Von den Schiffen und Menschen, die sich hier im Laufe der Jahrhunderte tummelten, von Strömungen, Winden und dem, was sich über und unter der Wasseroberfläche abspielt. Wie geht es dem Fjord? Befindet er sich in einem gesunden Zustand? Wie steht es um die Wesen, die in ihm und um ihn herum leben? Diese und viele andere Fragen möchte ich stellen und dafür Menschen aufsuchen, die den Fjord kennen.

Aber warum will ich das eigentlich? Was hat dieser lange Fjord mit mir zu tun?

Einen Teil meiner Kindheit verbrachte ich in Eivindvik, einem Kaff an der Ausmündung des Sognefjords in den Ozean. Meine Mutter war die Dorfpastorin und ich das älteste von fünf Geschwistern. Wir spielten in den Bergen und fischten im Meer.

Heute verbringe ich einen Teil des Jahres auf einem abgelegenen Apfelhof in Luster, am innersten Punkt des Fjords – denn mein Mann lebt abwechselnd dort und auf Spitzbergen –, und den anderen Teil in Oslo, wo meine Kinder wohnen.

Jede zweite Woche lasse ich meine großen Jungs allein und pendle gen Westen, gen Fjord, Berg und Norden. Wenn mich also jemand fragt, woher ich komme oder wo ich lebe, weiß ich eigentlich nicht, was ich antworten soll. Ich bin ständig im Spagat, hin- und hergerissen zwischen schlechtem Gewissen und einem Gefühl, das man Heimweh nennen könnte und das durch meinen Körper zittert. Wo gehöre ich wirklich hin?

Je fragiler die Welt und ich mir erscheinen, desto wichtiger ist es mir, in einer Landschaft zu atmen, die ich einst kannte, den Wind zu spüren, den Blick auf das endlose Wasser zu richten, die Ruder zu heben und den ganzen Fjord kennenzulernen, nach Hause zu finden, bevor mir die Zeit davonläuft. Besser kann ich es nicht beschreiben.

Also muss ich jetzt rudern. Zumindest muss ich versuchen, die etwas über 200 Kilometer landeinwärts von Eivindvik nach Luster zu schaffen.

Bin ich stark genug für den ganzen Weg? Kann ich eine Verbindung zwischen meiner eigenen Geschichte und der des Sognefjords herstellen? Werde ich zur Ruhe kommen? Ich weiß es nicht. Das hier ist ein Experiment.

Eigentlich brauche ich mehr als ein Boot. Ich brauche eine Mannschaft und ein Rudergerät zum Muskelaufbau.

Den ganzen Sommer über suche ich nach alten Holzruderbooten in akzeptablem Zustand, wodurch sich viele Kontakte zu den verschiedensten Werften ergeben, jedoch kein Kauf.

»Ich brauche ein Ruderboot«, erzähle ich meiner Mutter.

»Willst du das Oselvar haben?«, bietet sie an.

Oselvar nennt man ein kleines Holzboot aus Westnorwegen – das meiner Mutter verfügt über zwei Rudersätze, einen Mast, ein Segel und ein Steuerruder. Meine gesamte Kindheit hindurch hegte und pflegte, schliff und ölte sie das gute Stück jeden Frühling, um es im Sommer zu Wasser zu lassen, mit ihm zu rudern und zu segeln – und es im Herbst wieder einzuholen und winterfest zu machen. Ein paarmal begleitete ich sie, zeigte jedoch kein besonders großes Interesse daran. Im Grunde verdiene ich es also nicht, aber ich möchte es mir trotzdem gern ausleihen. Denn ich habe vor, den gesamten Sognefjord entlangzurudern.

»Schön und gut, aber kannst du denn überhaupt rudern? Und tust du es gern?«, fragt meine Mutter.

Wieder einmal weiß ich nicht, was ich antworten soll. Und schon wird es Herbst.

1 Vor der Reise – eine Winternotiz

Es ist völlig normal, Menschen zu fragen, wo sie leben und woher sie kommen. Das mache ich selbst, sogar ständig und meine es keinesfalls unhöflich, sondern betrachte es als Auftakt zum Kennenlernen – und als eine Methode, Menschen gedanklich irgendwo zu verorten. Ich selbst bin inzwischen 45 Jahre alt und habe in meinem Leben an 23 verschiedenen Adressen gewohnt, an keiner davon jemals allein.

Letzten Sommer meinte einer meiner Nachbarn in Luster, meinem Zweitwohnsitz am nördlichen Ende des Sognefjords: »Wir sind zwar nur Zugezogene, fühlen uns aber trotzdem sehr wohl hier.« Seine Wortwahl geht mir seitdem nicht mehr aus dem Kopf. »Zugezogene.« »Trotzdem.« Ich grübelte und dachte: Ach ja, das trifft mein bisheriges Dasein doch ganz gut, obwohl ich es mir nie wirklich vor Augen geführt hatte.

Zugezogene.

Meine Eltern waren damals Zugezogene in Oslo. Meine Mutter studierte, mein Vater absolvierte seine Facharztausbildung in Nittedal. Ich kam in Ostnorwegen zur Welt, lebte an unterschiedlichen Orten, zog nach Bergen, wo wiederum verschiedene Zuhause auf mich warteten. Ich war eine Zugereiste, als Mutter den Job in Eivindvik annahm und wir auch dort von Haus zu Haus zogen, bis wir nach Bergen gingen und ich aus dem Elternhaus nach Drammen, Tromsø, Bergen und Oslo zog. Von dort verschlug es mich nach Spitzbergen, wo fast alle als Zugezogene gelten, um dann wieder nach Oslo zurückzukehren, in dem auch eine bunte Mischung herrscht. Bei unserem zweiten Aufenthalt in Spitzbergen wurden unsere Kinder geboren, die von sich selbst behaupten, von dort zu stammen. Einige Zeit zogen wir wieder nach Oslo – neue Adresse, neues Leben. Daneben gab es noch meinen Zweitwohnsitz in Luster mit Apfelhof, dem Pendeln und Spagat. Eine Woche hier, eine Woche dort.

An all diesen Orten und auf den Wegen zwischen ihnen fühle ich mich ein bisschen zu Hause. Wie viele Generationen muss ein Mensch irgendwo dauerhaft gelebt haben, um sagen zu können, von dort zu kommen, dort hinzugehören? Ist es möglich, sich mehreren Orten zugehörig zu fühlen?

NOVEMBER

Die Lieferung meines Rudergeräts verzögert sich. Inzwischen haben wir den 14. November, und das Gerät, das ich im August bestellt habe, lässt weiterhin auf sich warten. Vor dem Kauf hatte ich mich gründlich durchs Internet gewühlt, denn es gibt mindestens so viele verschiedene Modelle und Trainingsprogramme wie detaillierte Beschreibungen der Muskeln, die beim richtigen Rudern zum Einsatz kommen.

Es hat den ganzen Herbst über geregnet. Wäre ich abergläubisch, würde ich denken, dass es an dem von mir in der Küche in Oslo aufgehängten Foto liegt. Das Bild zeigt einen Doppeldreier, also ein Boot mit drei Rudersätzen, und strömenden Regen bei der Recherchetour in Solund damals, bei der ich am mittleren Ruder saß.

DEZEMBER

Seit der Notoperation meines Ex-Mannes und Vaters meiner Kinder vergangenen Sommer kommt eine Hiobsbotschaft nach der anderen, seinen Zustand betreffend, herein. Zu viele und große maligne Tumore, die zwar nicht aufzuhalten sind, aber wenigstens langsam wachsen. Zum Glück. Mehr kann oder will ich darüber nicht schreiben, aber dieses Thema liegt definitiv tonnenschwer auf meiner Brust.

Die Lieferung meines Trainingsgerätes steht weiterhin aus. Wie naiv oder verrückt ist eigentlich meine Erwartung, dass Rudern mich zur Ruhe kommen lassen wird?

JANUAR

Am 7. Januar kommt in zwei gigantischen Kartonverpackungen endlich das Rudergerät an und steht erst mal im Wohnzimmer rum.

»Diese Riesenpakete hast du nach Hause geschleppt?«, fragt mein ältester Sohn skeptisch. Er ist fest davon überzeugt, stärker zu sein als ich. »Wollen wir Armdrücken? Ich mach dich platt!« Ohne jegliche Chance zwingt er meinen Handrücken auf den Küchentisch.

In Oslo leben wir auf 65 Quadratmetern in einem elfstöckigen Wohnblock, den ich Fuglefjellet, Taubenschlag, nenne, weil seine Bewohner rein- und rausflattern und meistens nur zum Schlafen nach Hause kommen. Vögel wie Menschen sitzen auf den Balkonen, von denen aus sie sowohl Häuser und Himmel, Autos und geschäftige Leute, Hunde und sogar bis rauf zur Holmenkollen-Schanze und zum Oslofjord alles beobachten können. 52 327 Menschen leben in diesem Stadtteil Oslos, das macht 3856,1 Einwohner pro Quadratkilometer.

Als wir in den Fuglefjellet zogen, dachte ich, es wäre nur für eine kurze Zeit, doch inzwischen habe ich nirgendwo so dauerhaft gelebt wie dort. Die zahlreichen Annehmlichkeiten, von fließendem Warmwasser und einer Spülmaschine über die direkt vor die Tür gelieferte Tageszeitung bis hin zum Lebensmittelladen um die Ecke – ganz zu schweigen vom Fjord, Wald und den lieben Menschen rundherum – gefallen mir. Ein weiteres Plus: überwiegend gemäßigte Wetterverhältnisse. Und natürlich das Wichtigste – muss ich das überhaupt gesondert erwähnen? – die Kinder. Wo sie sind, ist mein Zuhause.

Entgegen allgemeinen Gerüchten steckt man auch nicht fünf Stunden im Stau fest, wenn die Kids in die Schule oder zum Fußballtraining gebracht werden. Wie fast überall auf der Welt kursieren auch über Oslo die typischen Hauptstadt-Vorurteile. Stell dir vor, jemand würde so über deine Heimatstadt sprechen: Wie kannst du nur dort leben? Findest du es da nicht total schrecklich?

Oslo schlägt nie zurück, sondern hält immer die andere Wange hin. Trotzdem brauche ich persönlich noch ein bisschen mehr – sorry, Oslo: höhere Berge, schluchtartigere Fjorde, weniger Menschen. Und all das bekomme ich, wenn ich losziehe, während die Kinder bei ihrem Vater auf der gegenüberliegenden Straßenseite wohnen.

Momentan habe ich diese Möglichkeit jedoch nicht, denn mein Ex-Mann wird im Januar operiert, sodass die Kinder die nächsten Monate bei mir verbringen werden. Das Corona-Virus mutiert, die Welt hängt am seidenen Faden, und ich lasse all das auf mich wirken, bin erschüttert wegen der schrumpfenden Biodiversität, der immer beunruhigenderen Klimaberichte und der stetig steigenden Anzahl an schweren Erkrankungen und Depressionen im Freundeskreis. Mein Lieblingsonkel stirbt, was mir den nächsten Felsen auf die Brust wuchtet, ich werde noch verletzlicher und achte bewusster auf alles, vor allem auf das Wohlbefinden meiner Kinder, und ich schaffe es in dieser Zeit einfach nicht, viel zu schreiben.

Kann ich diese dreiwöchige Rudertour dieses Jahr also überhaupt vor mir selbst vertreten?

Ich reflektiere über mich und mein Leben, das Chaos und meine Mitmenschen. Ich habe das Gefühl, umso mehr rudern zu wollen, je mehr die Welt aus den Fugen gerät. Ganz schön irrational … oder nicht? Mir fehlt der Kontakt zu anderen Erwachsenen, mit denen ich mir meine Dämonen von der Seele lachen könnte.

Am 10. Januar baue ich in mühsamer, mehrstündiger Arbeit mein Rudergerät auf. Das Gerät besteht aus schwarzem Metall und einem weißen Holzrahmen, einem Sitz und einem Griff, der an einem soliden Riemen befestigt ist – und natürlich dem riesigen Tank, den ich mit Wasser fülle. Ich habe im Wohnzimmer Platz geschaffen und kann es, wenn ich es nicht benutze, aufrecht an die Wand lehnen – alles schön und gut so weit. Um es gemütlich angehen zu lassen und die Technik zu üben, rudere ich erst mal zehn Minuten.

»Rudern ist eine durch und durch natürliche Bewegung, die die meisten Menschen schnell erlernen. Lass dich dabei von jemandem beobachten und vergleiche deine Haltung mit der im Video präsentierten. Vermeide zu starkes Ziehen, bevor du die Technik vollständig verinnerlicht hast«, lese ich im Internet.

Zuerst soll ich mich mit den Beinen abdrücken, dann den Oberkörper leicht nach hinten lehnen und erst anschließend meine Hände und die Ruderstange an meinen Körper ziehen.

Im Januar rudere ich fast täglich. Drücke mich ab. Versuche, einen Rhythmus zu finden. Zunächst langsam. Dann etwas schneller. Was für ein Gefühl! Im Internet steht, dass ich jetzt alle großen Muskelgruppen aktiviere: Oberschenkel, Gesäß, Bauch, Rücken, Schultern, Waden und Latissimus, was auch immer das sein soll. Außerdem lese ich, dass ich jetzt wahnsinnig viel Milchsäure produziere, was toll ist, und dass Rudern Gelenke wie Knie und Knöchel schont. Ich schließe meine Augen, strecke meine Beine aus, ziehe die Stange zu mir. Lausche dem Plätschern. Versuche, mir den Fjord vorzustellen. Wellen, um mich herum Berge, die Weite der Ausmündung.

Da sehe ich deutlich meinen Mann vor mir, der mit offenen Armen am Kai ganz am Ende des Fjords steht und mich zu Hause willkommen heißt. Er ist gerade nach Spitzbergen gereist, wo er bis Ende April bleiben wird. Wie naiv von mir, denke ich. Gleichzeitig ringe ich nach Luft und muss irgendwo ankommen.

Ich beginne zu recherchieren und lese über Fische, Wikingerschiffe und die Lebensbedingungen am Grunde des Fjords.

Am 29. Januar spreche ich mit meinem Mann am Telefon über unseren Hof in Luster, vor allem die Apfelbäume, die geschnitten werden müssen, über ein Sommercafé, das wir zusammen mit einem Koch betreiben, und dessen diesjährige Eröffnung, Organisatorisches und die Beschaffung einer Kühltheke. Er fragt, ob es wirklich notwendig sei, den ganzen Fjord entlangzurudern, ob nicht eine kürzere Strecke ausreiche. Er erzählt vom Nordlicht und dem kürzlich bestellten Holzofen.

»Wann kommst du rauf?«, will er wissen.

Ich schiebe noch eine Trainingseinheit ein und merke, dass mein Körper sich verändert. Während des Ruderns gucke ich mir eine ziemlich miese Fernsehserie mit extrem reinem Gewissen an. Das Wasser im Tank plätschert vor sich hin, während eine meiner Schultern anfängt zu schmerzen, weil ich so heftig ziehe. Obwohl ich weiß, dass mein Körper immer schon anfällig für Sehnenentzündungen gewesen ist, kann ich keinen Gang zurückschalten. Vor meinem Fenster schneit es.

FEBRUAR

Wieder telefoniere ich mit meinem Mann, wieder fragt er mich, ob es die ganze Fjordlänge sein müsse, und nun will er auch wissen, ob ich eigentlich eine Ahnung hätte, wie fordernd das sei. Mit diesen Fragen rennt er bei mir offene Türen ein. Mitte Februar wird mir klar, dass ich in der aktuellen Situation ohnehin keine drei Wochen am Stück von den Kindern getrennt sein kann, also wird aus dem Rudertrip dieses Jahr vielleicht gar nichts. Kann sein, dass ich noch eineinhalb Jahre hier in meiner eigenen kleinen Blase im Wohnzimmer herumplanschen muss – puh, dieser Gedanke lässt mich heftiger schnaufen als das tägliche Training.

Über diesen Corona-Wochen liegen eine unbekannte Schwere und zunehmender Ernst, für die ich in den letzten Jahren mit meiner verwöhnten Unbeschwertheit und Geborgenheit wohl nicht ausgerüstet wurde. Nun setzt sich die Schwere mit mir an den Frühstückstisch und verbringt den Tag mit mir.

Alles, was ich eigentlich geplant hatte, wurde abgesagt, aber neben Homeschooling und Homeoffice, Frühstück, Mittag- und Abendessen – alles am selben Tisch – wäre mir ohnehin für nichts Zeit geblieben. Ich schlafe schlecht, sehne mich nach horizontfreundlichen, flachen Landschaften, niedrigen Baumgrenzen und nichts als Ozean, so weit das Auge reicht. Wenn ich das so niederschreibe, klingt es in mir nach Eivindvik. Ich lese über alte Holzschiffe und Klinkerbootsbau, bis mir die Tränen in den Augen stehen und die Worte auf dem Papier ineinanderfließen. Mein Mann schreibt, dass er mich vermisst. Ich antworte, ich vermisse dich ebenfalls.

Meine erste Festanstellung als Journalistin ergatterte ich mit 24 bei einer großen norwegischen Zeitung, und beim nächsten Besuch in Oslo fragte meine Mutter: »Ist es das, womit du dich dein Leben lang beschäftigen willst?«

Inzwischen habe ich mein gesamtes Erwachsenendasein vom Schreiben gelebt und frage mich in diesem Augenblick doch: Ist es wirklich das, womit ich mich beschäftigen will?

Am 19. Februar bedarf es meiner Meinung nach keiner weiteren Worte mehr – ich habe das Gefühl, dass alle schreiben und alles bereits geschrieben wurde. Die Worte haben ihre Macht verloren. Das vergangene Jahr habe ich schließlich damit verbracht, in verschiedenen Genres über die Beziehung zwischen Natur und Mensch zu schreiben. Weshalb aber sollte ich schreiben, wenn sich nichts verändert, die Worte keine Wirkung zeigen, nichts lösen, nicht helfen, den Dingen einen Sinn zu verleihen oder die Menschen gesünder zu machen?

Jetzt will ich einfach nur rudern. Die Ruder heben, in Bewegung sein, das Chaos ausblenden, Probleme und Traurigkeit auf Eis legen. Einfach rudern. Langsam. Scheißegal, ob mein Geschreibsel zu einem veröffentlichungsreifen Text führt oder einfach Geschwafel bleibt. Ich will in diesem Ruderboot auf dem Fjord sitzen und Regen, Wind und Wasser spüren; Meer, Berge und Wellen betrachten; verschwitzt, durchnässt und müde werden. Ignorieren, was ich tun oder lassen sollte. Ruhe finden, Ruhe in der Bewegung finden.

Ist diese Rudertour ein Zwangsgedanke, eine fixe Idee, an die ich mich wie besessen klammere? Wir lesen ja diese Geschichten aus anderen Industrieländern, in denen Menschen sich dazu berufen fühlen, zum Nordpol zu schwimmen oder nackt den New York City Marathon zu laufen, um ihre innere Unruhe zum Schweigen zu bringen. Will ich mich von etwas ablenken, oder ist es mein Versuch, zuerst mir selbst die Sauerstoffmaske aufzusetzen, um danach andere retten zu können? Keine Ahnung.

Bisher bin ich selten allein gewesen. Ich bin oft anderen gefolgt, bin umgezogen und gereist, wohin sie wollten, denn das schien meist einfacher für mich zu sein. Ich legte keinen großen Wert darauf, wo ich war, solange ich schreiben, mit meinen Lieben zusammen sein, genug Zeit in der Natur verbringen und in Bewegung sein konnte. So bilde ich mir zumindest ein, bisher gelebt zu haben. Obwohl dies mein Projekt ist – ganz allein den Fjord entlangzurudern –, traue ich es mir also nicht wirklich zu. Ich will nicht allein rudern. Ich brauche Menschen.

Im vergangenen Herbst und Winter erschienen nach und nach immer mehr Falten auf meiner Stirn und graue Strähnen in meinen Haaren. Nun sitze ich pathetisch auf der Fensterbank und höre viel zu tief in mich hinein, vielleicht sollte ich das lieber lassen. Hängende Mundwinkel, ungeschminkt, die Jogginghose rutscht wegen des ausgeleierten Bundes von der Skiunterwäsche, die Brust voller Ziegelsteine. Ich selbst und mein Grübeln widern mich an, ich vermisse meinen Mann und sollte mir vermutlich mal einen richtigen Job suchen. Halbherzig brate ich ein paar Fischfrikadellen an.

MÄRZ

Anfang März scheint die Frühlingssonne auf das braune Gras vor meinem Fenster. Wer hätte gedacht, dass die Frühlingssonne mir so viel Kraft und Mut geben kann, mich fast aus dem Winterschlaf weckt?

Am 5. März teile ich dem Verlag telefonisch mit, aktuell nicht mehrere Wochen am Stück von meinen Jungs getrennt sein zu können. Im Zuge dessen besprechen wir, ob die Tour auch aufgeteilt werden könnte, à la: eine Teilstrecke im Frühjahr, eine im Sommer und eine im Herbst. So könnte ich mehrere Jahreszeiten festhalten und würde mich nicht überanstrengen, schließlich will ich keinen Rekord brechen oder mit meiner sportlichen Leistung angeben, sondern ein entschleunigtes Experiment durchführen. Wir einigen uns auf diesen Plan, und ich rufe meinen Mann an, der einwilligt, mich auf der ersten Teilstrecke zu begleiten. Juhu!

Begierig lese ich alles, was ich über die seit Jahrhunderten am Fjord fahrenden Schaluppen Westnorwegens namens Sognejekt finden kann.

Mitte März schlafe ich erholsam, lache wieder, ernähre mich gesund, trinke Kaffee und rudere eifrig im Wohnzimmer. Die gute Zeit ist angebrochen, in der ich mir das meiste zutraue, nicht nur, was das Rudern betrifft, sondern auch das Schreiben, die Mini-Rettung der Welt und meiner Lieben – damit es allen besser gehen kann. Auf die Plätze, fertig, los! In einem Anflug von Feierlaune renne ich in den Laden und kaufe Eis zum Nachtisch. Für solche Tage bin ich extrem dankbar, denn da fühlt es sich so an, als gehöre ich überall hin und sei überall zu Hause. Eine Online-Enzyklopädie teilt mir mit, dass die Wörter »Heimat« und »Wohnort« im rein juristischen Sinne einen Ort meinen, an dem man »regelmäßig seine Nachtruhe abhält«, was mir die lexikalische Bestätigung erteilt, überall dort zu Hause zu sein, wo ich mich aufhalte, wo meine Lieben sind, wo ich gebraucht werde.

Ich strecke mich am Boden liegend aus und atme tief und langsam, lasse die Gedanken aus ihrem Tank abfließen. Es hilft.

Bei der Recherche lese ich, dass die Hauptströmung des Sognefjords aufgrund der Erdanziehungskraft nordseitig verläuft. Wir müssen also auf der Südseite landeinwärts rudern. Ich schaue mir die Karte an, plane die Route und nehme Kontakt mit Fjordmenschen und Expertinnen auf. Zwei in großen Gewässern rudererfahrene Frauen, die ich von Spitzbergen kenne, antworten sofort. Sie raten mir zum Tragen von Skihandschuhen, das gesäßschonende Sitzen auf einem Kissen und dazu, unterwegs immer auch Hilfe in Anspruch zu nehmen. Rudern tue Körper und Seele gut, solange man es mit jemandem teile, mit dem auch spielerische Momente möglich sind. Da fallen mir gleich mehrere ein, darunter selbstverständlich mein Mann, ein paar Freundinnen und vielleicht sogar mein Vater.

Roar Moe lebt auf einer kleinen Insel in Solund an der Mündung des Sognefjords, und das seit fast 30 Jahren ganz allein – abgesehen von ein paar wilden Schafen. Ihm gehört der Doppeldreier auf dem Foto in meiner Küche. Das Boot trägt den poetischen Namen Morild – Wasserleuchten – und hat über 130 Jahre auf dem Buckel. Roar besitzt mehrere alte Boote, rudert wie ein Profi und kennt sich wirklich gut damit aus. Zu unterschiedlichen Anlässen habe ich ihn darum bereits interviewt, also rufe ich ihn auch diesmal, am 23. März, an und bitte ihn um Rat zu meiner Expedition. Er warnt mich davor, dass Landgänge im Landesinneren schwieriger werden könnten. Früher habe es ein ausgeklügeltes System mit Gasthäusern entlang des Fjords gegeben, die ein Dach über dem Kopf und einen Schnaps pro Nacht garantiert hätten.

»Das ist eine längere Geschichte«, leitet er seine Erzählungen über die Historie der Fjordbefahrung ein, die sich von Sognejekt-Schaluppen über Dampfschiffe im 19. Jahrhundert bis hin zu Schnellfähren bewegt. Er mahnt mich zur Vorsicht bei herausfordernden Strömungsverhältnissen und Wind, vor allem turbulenten Böen.

»Die können ganz schön unberechenbar sein und aus den Seitentälern wie aus dem Nichts rausschießen«, warnt er und liefert mir gleich die nächsten Tipps: »Pack deine Sachen in wasserdichte Säcke und bereite dich auf Horrorszenarien wie Gegenwind mit sintflutartigen Regenfällen vor. Überleg dir, wie du dann an Land kommst.«

»Und was mache ich, wenn das Boot leckt?«

»Wellen und Schläge können Risse verursachen, weswegen sich Lecks am wahrscheinlichsten an der Naht zwischen den Streben bilden. Nimm Schrauben und eine kleine Holzplatte zum Verbinden der Streben oder etwas Synthetisches wie Tec 7 zum Abdichten mit. Verstaue einen kleinen Werkzeugkasten mit einer Axt im Boot und denk an ein zusätzliches Ruder.«

Er empfiehlt mir, das Boot an Land zu bringen, wenn ich pausiere, das hätten sie früher auch so gemacht.

Nach unserem Telefonat rudere ich eine ganze Stunde, so lange wie noch nie. Beim Essen bringe ich meinen Jüngsten dazu, meine Unterarmmuskeln zu prüfen, und biete ihm an mitzukommen.

»Nur, wenn du mich gut bezahlst … sagen wir hundert Kronen die Stunde?«

Am 27. März nehme ich mit Mund-Nasen-Schutz den Zug nach Bergen, von wo aus meine Mutter mich am nächsten Tag nach Hjelmås begleitet. Wir brauchen eine halbe Stunde von Bergen zum Bootshaus am Osterfjord, in dem strahlend schön das Oselvar liegt. Meine Mutter hat es innen abgeschliffen und dafür die Bodenbretter und Duchten entfernt. Ich schleife die Außenseite des Bootes ab; an lackierten Stellen nur minimal, dort, wo es grün geschmiert worden ist, etwas fester; eifrig entferne ich lose Lackblätter.