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Schon als sie sich das erste Mal begegnen, spüren Carl und Catrin, wie ein Funke von einem zum anderen überspringt. Catrin überredet Carl auf eine Reise in die Toskana, ins Landhaus ihres Freundes Jimmi, um mit Carl die mit Jimmi gelebten Rituale mit Carl neu zu besetzen. Doch dann taucht auch Jimmi auf. Eine Liebesgeschichte?
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Für Kim, auf der anderen Seite der Brücke
Teil 1 Das Exempel
Teil 2 Luftdruckschwankungen
Teil 3 Die Reise
Teil 4 Rituale
Teil 5 Hinter den Kulissen
Carl hat seine eigenen Vorstellungen von Ordnung.
Er nimmt alles von irgendwoher und legt es irgendwo wieder ab. Seine Wohngemeinschaft irritiert das. Ihn nicht. Die Wohngemeinschaft, das sind Beate, Uli, Peter und Theo - und natürlich Carl selbst.
Carl sieht in seinen Mitbewohnern Figuren, die sich auf einem Spielbrett zueinander bewegen. Oder Puzzlestücke, die sich selbsttätig zu einem einheitlichen Bild zusammenzusetzen versuchen.
Carl stört diese Bemühungen.
Bereits beim Frühstück gelingt es ihm, die Vorgaben seiner Wohngenossen umzuordnen. Bis die von ihnen sorgsam angestrebte Ordnung wieder in sich zusammenfällt. Um, wie er meint, dem schöpferischen Chaos wenigstens einen Spaltbreit die Tür zu öffnen. Was seine Mitbewohner dazu veranlasst, den von ihnen so empfundenen Idealzustand hastig wieder herbeizuführen.
Carl amüsiert dieses Spiel. Seine Mitbewohner nicht.
Er stemmt sich von seiner auf dem Boden liegenden Matratze hoch. Schaut verschlafen um sich. Spürt seinen Traumbildern nach. Und stellt bedauernd fest, dass sie verblassen, je mehr er sie in die Wachwelt mit hinüber zu locken versucht. Bis sie sich schließlich ganz auflösen.
Er hängt die Bettdecke zum Lüften übers Fensterbrett. Schleppt sich ins Bad. Und wäscht sich gründlich. Was seine Mitbewohner zu Unrecht bestreiten. Er schrubbt seinen Rücken mit einer harten Wurzelbürste, bis seine Haut zu brennen beginnt. Beim Zähneputzen fällt sein Blick in den Spiegel. Und wie jeden Morgen stellt er fest, dass seine Zähne schief zueinanderstehen. Sein Zahnarzt hat ihm schon mehrmals zu einer Korrektur durch eine Spange geraten. Carl mustert sich im Spiegel. Nicht nur die Zähne, auch die Nase, die Schultern, der Rücken, irgendwie ist alles an ihm schief.
Er verzieht sein Gesicht zu einer Grimasse. Und betrachtet sein Spiegelbild.
Wo soll ich da anfangen? Und sehe ich wirklich so aus? Ich kenne ja nur das von mir, was mir der Spiegel offenbart. Vielleicht ist es nur der Spiegel, der alles an mir ins Schiefe verzerrt. Und falls nicht, würde eine Zahnspange auch nicht viel daran ändern.
Er ist stets als erster in der Küche.
Das Fenster der Küche in der Hiltensperger-Wohngemeinschaft geht nach Norden raus. Und weil auch noch eine riesige Kastanie das Fenster verdeckt, brennt den ganzen Tag Licht.
In der Spüle und auf den Ablagen stapeln sich, wie immer, Geschirr, volle Aschenbecher, leere Dosen, Abfälle. Nicht nur vom Vortag. Wohngemeinschaftsidylle eben.
Carl mag dieses Bild.
Unordnung und Chaos. Das ist für ihn eine unvorhersehbare Folge wandelbare Bilder. Mit Luft nach allen Seiten. Wie er findet. Möglichkeiten in alle Richtungen.
Warum nur versuchen seine Wohngenossen, stets alles in ein stabiles einheitliches Bild zu pressen? Eine den Dingen und ihren Beziehungen zueinander wesensfremde Ordnung überzustülpen?
Carl nimmt eine herumstehende Kanne aus dem Geschirrberg. Setzt Wasser auf. Summt dabei leise vor sich hin. Heute soll sich eine Frau vorstellen. Das war Theos Idee. Eine Frau sei vonnöten, meint er. Mit einer Frau in der Gruppe würde alles anders werden. Womit er besser meint. Jede WeGe brauche eine Frau. Sonst funktioniere sie nicht, behauptet Theo. Theo sagt immer WeGe.
„Heute kommt sie,“ sagt Theo.
„Eine Frau? Warum nicht? Wenn sie gut aussieht,“ gähnt Carl, „aber was soll denn eigentlich anders werden?“
Er schaut mit verschlafenen Augen in die Runde.
„Warum glotzt ihr mich jetzt alle an? Es funktioniert doch eher zu gut. Was soll denn noch besser funktionieren? Lasst doch den Dingen ihren Lauf! Apropos Frau, und was ist mit Beate?“
Theo winkt ab.
„Hör mir mit Beate auf! Eine Frau, die ich mir für unsere Gemeinschaft vorstelle, füllt unsere Beate nicht aus.“
„ Du hörst du aber schon manchmal zu, was du so von dir gibst, Theo?“
„Danke, Carlos! Aber ich kann mich gut selbst verteidigen,“ sagt Beate, schlurft aus der Küche und macht die Badtür hinter sich zu.
Ja, kann sie, stellt Carl fest, tut sie aber nicht.
Seit Beate zwei Wochen auf Formentera war, enden fast alle männlichen Namen für sie auf ‘os’.
Theo rauscht hinter Beate her. Und klopft gegen die Badtür.
„Jetzt sei doch nicht gleich gekränkt, Beatchen! Ich hab das doch nicht so gemeint?
„Und wie, verehrter Theo, hast du es dann gemeint? Und nenn mich nicht Beatchen!“ raunzt es durch die Tür.
„Nicht so jedenfalls.“
„Aha. Dann ist’s ja gut.“
Carl summt weiter vor sich hin. Er ist neugierig auf die Neue. Endlich ein frisches Bild in diesem vergilbten Album.
Der Wassertopf pfeift. Carl schenkt sich Kaffee ein. Dampf verteilt sich über die Essensreste der Vorabende.
Beate kommt nackt aus dem Bad gerannt.
„Du bist ein Schwein, Carl Strausmann!“
Wenn Beate wütend ist, vergisst sie Formentera. Dann ist Carl wieder Carl.
Er betrachtet ihren tropfnassen Körper.
„Im Bad sieht es aus wie in einem Ziegenstall! Und es riecht auch so!“
Carl rührt in seiner Tasse.
„Und natürlich bin ich es wieder, der diesen Zustand nebst anhängigem Geruch verursacht hat!“
„Wer denn sonst?“
„Vielleicht ein Ziegenhirt?“
Beate dreht sich brüsk um. Schaukelt ins Bad zurück. Und reißt geräuschvoll das Fenster auf.
Kurz darauf kommt sie, jetzt trocken aber immer noch nackt, in die Küche zurück. Fingert nach einer der sich in der Spüle stapelnden Tassen. Gießt gelbbraune Flüssigkeit aus einer Kanne. Nippt daran. Und spuckt die Flüssigkeit wieder in die Tasse zurück
„Pfui Teufel! Das machst du absichtlich, Carl! Wie oft habe ich dir gesagt, brühe deinen verdammten Kaffee nicht in der Teekanne auf!“
Carl hebt sein Gesicht aus seiner Tasse.
„Was ist denn daran so schlimm, Beatchen?“
„Trinkst du vielleicht gern aus einem Nachttopf? Und hört endlich auf, mich Beatchen zu nennen!“
Carl wirft ihr einen erstaunten Blick zu.
„Okay, Bea! Aber wieso Nachttopf? Tee und Kaffee, beides wird hier zum Frühstück getrunken.“
„Aber nicht aus derselben Kanne! Und nur du trinkst Kaffee. Wir andern trinken alle Tee.“
„Ja und? Wer trinkt aus dem Nachttopf?“
„Ich finde sie nicht lustig, deine Sprüche.“
Carl betrachtet Beates sehr weiße Haut. Als sei jemand mit Deckweiß darüber gegangen. Denkt er. Ihre Lippen sind voll, aber nicht durchblutet. Sie sind fast so weiß wie ihre Haut.
Wie eine Statue, denkt Carl.
Beate hält ihre Tasse in den Lichtkegel.
„Koste doch mal! Schmeckt wie Jauche!“
„Ach, Bea! Bist du immer noch bei dieser Kanne? So schmeckt Tee eben.“
„Carlos, du bist ein Ignorant!“
Beruhigt stellt Carl fest, dass Beate nun wieder versöhnlicher gestimmt ist. Und verlässt die Wohnung.
Als er am Abend zurückkommt, bemerkt er bereits in der Diele zwei Veränderungen. Geruch nach Angebranntem. Und die Stimme vom Telefon.
Die Neue.
Carl erinnert sich noch genau an das Gespräch und ihre sanfte, leicht zurückhaltende Art des Sprechens, als sie vor ein paar Tagen anrief.
„Also dann komme ich die Tage mal bei euch vorbei, wenn’s recht ist? Wie stehen denn meine Chancen?“
„Keine Ahnung. Ich hab hier nichts zu bestimmen. Ich bin der Chaot in der Truppe.“
Ein fröhliches Lachen hüpfte an sein Ohr.
„Also gut, Mittwochabend. Dann könnt ihr mich alle anglotzen.“
Sie lauschte kurz in den Hörer, fuhr dann fort:
„Was meinst du? Soll ich mich nett anziehen? Oder mögt ihr’s lieber alternativ? Von wegen Chancenerhöhung, meine ich.“
„Alternativ?“
„Ich meine, kommt es vielleicht besser, wenn ich im Sackkleid antanze?“
Carl versuchte ein Bild von ihr zu erfassen. Und ärgerte sich darüber.
„Anziehen ist nicht nötig.“
„Ah ja.“
Pause im Hörer.
„Mit wem spreche ich eigentlich die ganze Zeit?“
„Zuletzt mit mir,“ sagte Carl.
„Ja, der Chaot, ich weiß.“
„Entschuldige! Natürlich, auch Chaoten wollen namentlich erfasst werden. Sie wohl ganz besonders. Da sie ja sonst nichts zusammenhält. Ich heiße Carl. Reicht das? Oder muss ich mein Familienalbum aufschlagen?“
„Reicht,“ sagte die Stimme, „habt ihr denn schon ein Mädchen in eurer Truppe?“
„Nein,“ log Carl, „bisher jedenfalls noch nicht.“
„Oje,“ sagte die Stimme.
Dann knackte es im Hörer.
Jetzt ist sie also da.
Carl schließt leise die Eingangstür. Und lauscht.
Er kann nicht hören, was sie sagt. Aber sie scheint Fragen zu stellen. Denn ihre ruhige akzentuierte Stimme hebt sich leicht vor jeder Pause. Es gefällt ihm, wie sie die für ihn unverständlichen Wörter fast singend aneinanderreiht. Doch er zügelt seine Neugierde. Und bewegt sich behutsam auf sein Zimmer zu. Ein neues Bild. Auf das er sich einstimmen will. Nur nicht voreilig hineinpoltern!
Der scharfe Geruch wird immer stärker.
Sieht sie so umwerfend aus, dass sie vor lauter Starren nicht merken, wie die Kartoffeln anbrennen? Fragt sich Carl. Und schnuppert in alle Richtungen.
Das kommt nicht aus der Küche. Der Geruch scheint aus meinem Zimmer zu kommen. Und es riecht auch nicht nach Angebranntem. Eher faulig, abgestanden. Nach Verdorbenem.
Während er sich weiter den dunklen Flur vortastet, ertappt sich Carl bei dem Gedanken, wie er Eindruck auf die Neue machen könnte. Bloß keine Farbe auftragen, die hinterher abblättert, ermahnt er sich selbst, ich muss Platz für das neue Bild freilassen, ohne es schon vorher von meinen Vorstellungen zu besetzen.
Er öffnet die Tür zu seinem Zimmer. Und fährt erschrocken zurück. Der komplexe Gestank von abgestandenen Küchenresten, vergorenem Gemüse und ranzigem Öl schlägt ihm entgegen. Und sticht in seine Nase.
Carl starrt in ein Sammelsurium von schmutzigem Geschirr. Das sich auf seinem Schreibtisch, auf seinem Fensterbrett, auf seinem Sessel türmt. Und auf allen Regalen, die noch nicht mit übereinandergestapelten Büchern belegt sind. Es ist ihm unbegreiflich, wie all das in der Küche Platz gehabt haben konnte. Das faulig verwesende Gemisch kontrastierender Gerüche unterstreicht die Komposition. Auf seinem Bett verteilen sich unterschiedliche Behälter mit Kuchenresten, Zwiebelschalen und welken Salatblättern. Dosen, Tüten, Tuben. Halbleere Gläser mit schimmelnder Marmelade. Kaffeesatz und feuchte Teeblätter auf durchweichten Zeitungsseiten.
Carl sieht sich im Türrahmen stehen. Löst sich aus sich heraus. Und taucht in die sich vor ihm öffnende Szene ein.
„Was für ein Bild!“ flüstert er, während er von einem Hustenanfall geschüttelt wird. Die herben Gerüche sind zu viel für seine Schleimhäute.
Uli und Theo waren es nicht, denkt Carl immer noch hustend. Sie würden Blech, Glas und Papier säuberlich voneinander getrennt und den für Kompost verwertbaren Abfall gesondert aufgeschüttet haben. Vor allem der Kompost liegt Theo am Herzen. Er sammelt ihn in biologisch abbaubaren Tüten an. Um dann resigniert festzustellen, dass er in Ermangelung eines Gartens keine Verwendung für ihn findet. Irgendwann, wenn die Tüten von den in ihnen stattfindenden Gärprozessen platzen, stülpt Theo neue Tüten darüber und entsorgt sie in der Biomülltonne. Von uns unbemerkt, wie er meint.
Ob sie die Fenster absichtlich geschlossen haben, um die Verdichtung des Gestanks zu begünstigen? Fragt sich Carl.
Er lässt sein Fenster immer offen. Lieber friert er, als abgestandene Luft einzuatmen.
Das haben sie sich fein ausgedacht, denkt er, nicht ohne Bewunderung. Und betrachtet die bunte Palette des Unrats in seinem Zimmer. Zugegeben, es stinkt bestialisch, doch der Anblick ist für ihn zu betörend, um Ärger oder Empörung zu empfinden. Und obwohl die scharfen Gerüche, immer mehr Tränen in seine Augen treiben, verharrt Carl weiter auf der Türschwelle. Und plötzlich bricht Gelächter aus ihm heraus.
Erst als das Bild hinter seinen Tränen zu verschwimmen beginnt, gelingt es Carl, die unsichtbare Linie vor ihm zu überschreiten. Er geht auf sein Bett zu. Rafft sein Laken an allen vier Enden zusammen. Verknotet sie miteinander. Und senkt es mitsamt dem Abfall neben seinem Bett ab.
Irgendwo muss er schließlich schlafen.
Als er die Küche betritt, verstummen die Stimmen.
Uli, Peter und Theo schauen auf dem Küchentisch herum. Fummeln an Papierservietten und klöppeln mit den Fingerspitzen auf die leere Platte. Beate sitzt leicht grinsend abseits. Auch sie fummelt und klopft vor sich hin. Nur die schlanke Frau, die bei ihnen sitzt klopft und fummelt nicht. Ihre Hände ruhen unbewegt auf der Tischplatte. Ihre Finger sind leicht abgespreizt. Als versuche sie, die gesammelte auf ihr lastende Aufmerksamkeit von sich abzudrängen.
Sie hat sich zwischen Peter und Uli gezwängt. Und mustert ihn ohne erkennbaren Ausdruck. Über ihrem leicht gebräunten Gesicht hüpfen dunkelblonde halblange Haare mit goldenen Strähnchen. Ihre Augenbrauen und Wimpern sind schwarz. Die braunen Augen leuchten, als würden sie von einer dahinterliegenden Lampe von innen her angestrahlt. Durch die leicht nach oben gewölbte Oberlippe glitzert ein Speichelfaden auf ihrem Zahnschmelz.
Grinst sie? Lächelt sie? Carl kann es nicht erkennen. Das tief in ihren Augen flackernde Licht fasziniert und verunsichert ihn. Und in diesem Augenblick wird ihm klar: sie ist es, die die Verwandlung seines Zimmers veranlasst hat.
„Richtig ordentlich hier, heute Abend,“ sagt Carl unbeholfen. Und tut, als suche er nach einem Glas. Alles, was die Küche einmal beherbergt hat, häuft sich ja nun in seinem Zimmer. Nur eine Zweiliterflasche Rotwein thront in der Mitte des Tisches. Kein Geschirr. Kein Besteck. Nichts.
Sie trinken den Wein tatsächlich aus der Flasche, denkt Carl angeekelt. Geht in sein Zimmer zurück und holt ein ungewaschenes Glas aus dem herumliegenden Geschirr.
In der Küche empfängt ihn unterdrücktes Kichern. Noch immer fällt kein Wort. Carl hält das Glas unter den Wasserhahn. Schwenkt es hin und her. Und reibt es an seinen Hemdsärmeln trocken. Gießt etwas vom Wein in das Glas. Nimmt einen Schluck. Bewegt ihn in seinem Mund hin und her. Spuckt den Wein wieder in die Spüle. Und hält das leere Glas hoch.
„Auf die allumfassende Ordnung der Dinge!“
Die Neue beobachtet ihn, immer noch ohne erkennbaren Ausdruck in ihrem Gesicht.
Ihre linke Hand ruht weiter auf der Tischplatte. Die rechte wedelt jetzt mit einem zusammengefalteten Hochglanzprospekt vor ihrem Gesicht hin und her. Ihre Haarspitzen hüpfen durch die sanfte Luftbewegung auf und ab.
Beate kichert vor sich hin. Dann fangen auch Peter, Theo und Uli zu kichern an.
„Das macht er immer so,“ sagt Beate zur Neuen gewandt, „er hängt den Weinkenner raus.“
Die Neue wirft einen abwartenden Blick auf Carl. Dabei huscht ein Lächeln über ihr Gesicht. Oder ist es doch ein Grinsen?
Carl spürt, er müsste jetzt etwas sagen. Um seinen Auftritt nicht zu verpatzen, sucht er nach passenden Worten. Doch ihr unverwandt auf ihn gerichteter Blick lähmt ihn.
Beate kommt ihm zu Hilfe.
„Das ist unser Carlos,“ feixt sie.
„Genau. Der, der dort hinten in der Müllhalde haust,“ fügt Carl hinzu.
Die Neue nickt. Ihre Unterlippe schiebt sich über ihre Oberlippe. Ihre Augen bleiben weiter auf Carl gerichtet. Carl kann ihrem Blick nicht länger standhalten.
Was gebe ich für eine lächerliche Figur ab, tönt es in seinem Kopf.
Theo schiebt Brotbrösel zu kleinen Häufchen zusammen. Und rollt sie zu Peter hinüber. Peter pappt alle Brösel zu einem einzigen zusammen. Beate grapscht nach dem Brösel und schnippt ihn auf Carl zu. Carl fängt den Brösel auf. Überlegt, ob er ihn für einen guten Einstieg verwerten könne. Doch sein Kopf ist leer. Seine Arme hängen schlaff an ihm herab. Er knetet den Brösel unschlüssig zwischen seinen Fingerspitzen hin und her.
Vielleicht will ich ja gar nichts sagen, denkt Carl trotzig.
„Ich heiße Catrin Höchst,“ sagt die Neue plötzlich, als habe sie nur auf Carls inneren Entschluss gewartet, „vielleicht motiviert dich das dazu, mich wissen zu lassen, mit wem ich es zu tun habe. Ja, ja ich hab’s gehört, Carlos. Aber ist das alles, was ich über dich erfahren darf?“
Carl sucht immer noch nach dem Zauberwort, das ihn aus seinem Schweigen erlöste.
Mann, tönt es in ihm, du brauchst kein Zauberwort! Sag einfach was! Irgendwas!
Ja. Okay. Aber was ist irgendwas?
Wenn sie nur endlich aufhörte, mich anzustarren!
Wie ein Pennäler stehe ich da. Und lasse mich von ihr angaffen.
Schau einfach weg! Dann siehst du es nicht. Sagt die Stimme in ihm.
„Ich weiß, ich sollte jetzt was sagen, aber irgendwie will mir nichts einfallen, was in diese aufgeräumte Atmosphäre passt.“
Er verbeugt sich.
Was für ein armseliger Auftritt! Denkt Carl.
„Wir haben uns übrigens für Catrin entschieden,“ ertönt nun Theos Stimme.
„Sie hat ihren Einstandstest bestanden,“ fügt Uli hinzu. Und jetzt fangen wieder alle zu kichern an.
„Bin also jetzt ich an der Reihe, sie zu testen,“ kommt es aus Carl heraus, „leider ist mein Bett gerade anderweitig besetzt.“
Theo, Uli und Peter prusten los. Als sie bemerken wie Catrin errötet, würgen sie ihr Lachen wieder in sich hinein.
Jetzt habe ich meinen Auftritt endgültig verpatzt. Denkt Carl beschämt und redet dennoch weiter.
„Da der Test, an dem ich immerhin passiv teilhaben darf nun abgeschlossen zu sein scheint, ist meine Gegenwart hier wohl nicht weiter erforderlich.“
An der Tür dreht Carl sich nochmal um. Das Bild der ihm nachstarrenden Blicke will er sich nicht entgehen lassen.
„Ich heiße übrigens nicht Carlos. Das ist Beates Tick. Sie hätte wohl gern einen Spanier in unserer Gruppe. Ich heiße Carl. Nur einfach Carl.“
„Apropos Beate - hast du am Telefon nicht gesagt, ihr wärt ohne Frau?“ sagt Catrin gegen die Tischplatte.
„Ja, hab ich. Warum?“
Sie schaut auf Beate.
„Und was ist mit ...“
„Lass ihn!“ unterbricht sie Beate, „vergiss es! Carlos liebt mich. Das ist seine Art, sich darüber hinwegzutrösten, dass seine Liebe unerwidert bleibt.“
„Ich dachte, ich wollte…“ stottert Carl.
„Du dachtest, wenn du mich erwähnst, dann kommt sie nicht. Von wegen Konkurrenz und so. Ich verstehe,“ sagt Beate wohlwollend, „das ist schon in Ordnung, Carlos.“
„Beate hat recht. Ich dachte, du würdest nicht kommen, wenn ich sie erwähne.“
Catrin hebt ihren Kopf. Und sieht Carl belustigt an.
„Siehst du, da täuschst du dich, Carlos. Das Gegenteil ist der Fall. Die einzige Frau in einer Männerwohngemeinschaft? Das hat mich eher davon abgehalten.“
„Du bist trotzdem gekommen.“
„Ja. Ich bin trotzdem gekommen,“ sagt Catrin und schaut an Carl vorbei auf die Kastanie vor dem Fenster.
Als Carl am späten Abend heimkommt, ist der Geruch in seinem Zimmer unerträglich geworden. Seine Wohngenossen schlafen schon. Oder sind noch irgendwo unterwegs.
Carl stelzt durch die strengriechende Abfalllandschaft. Hebt seine Matratze vom Boden auf. Trägt sie in die Diele hinaus. Und kuschelt sich in seinen Schlafsack.
Doch er kann nicht einschlafen.
Die Neue spukt in seinem Kopf herum. Ihr Blick verfolgt ihn. Als wolle sie ihm etwas mitteilen. Ach; Unsinn! Was sollte sie mir schon mitteilen wollen? Doch als er endlich einschläft, taucht sie in seinen Träumen wieder auf.
Am nächsten Morgen wird er von einem belustigten Lachen geweckt.
„Das glaub ich jetzt nicht. Der Typ lässt alles wie es ist. Und schläft jetzt hier im Gang!“
Catrins Stimme.
Auch in ihrer Verwunderung klingt ihre Stimme sanft und melodisch. Stellt Carl fest. Und öffnet die Augen. Räkelt sich. Streckt sich in alle Richtungen. Kriecht aus seinem Schlafsack. Und hievt sich hoch. Greift nach der Plastiktüte, die er am Abend zuvor neben sich gestellt hatte. Und tastet sich mit geschlossenen Augen in die Küche.
„Versuch du mal in meinem Zimmer zu schlafen!“
„Und dann ziehst du einfach um in den Gang?“
„Die anderen Zimmer sind schon vergeben,“ gähnt Carl, „guten Morgen übrigens.“
Er lässt seinen Blick durch die Küche schweifen.
„Die anderen sind wohl auswärts frühstücken gegangen?“
„Ja, guten Morgen,“ sagt Catrin und rümpft die Nase, „wundert dich das?“
„Ich hab gestern noch schnell pflegeleichtes Geschirr und Besteck besorgt,“ sagt Carl, hebt die Tüte hoch. Und legt Teller, Tassen und Besteck, ebenfalls aus Plastik, auf den Küchentisch.
„Ist das deine Art zu reagieren, Carl? So war doch dein Name?“
„Ja, ist er immer noch. Du sagtest allerdings Carlos zu mir. Gefiel mir. Klingt irgendwie globaler aus deinem Mund. Aber was meinst du mit reagieren? Worauf sollte ich denn reagieren?“
Catrin deutet auf die Tischplatte.
„Ach, du magst kein Plastik? Hm, das offizielle Wohngemeinschaftsgeschirr ist gerade nicht zugänglich. Und irgendwelches Gerät benötigt der zivilisierte Mensch zur Essenseinnahme. Da dachte ich, ich bringe mal dies hier mit, zur Überbrückung sozusagen.“
„Überbrückung?“
„Nun, bis ihr euch wieder erinnert, dass mein Zimmer nicht der richtige Ort für das ist, was ihr wohl irrtümlich dort abgestellt habt. Trotzdem: Kompliment! Gar nicht so übel, deine Idee, denn es war ja wohl deine Idee, dich mit dem Zumüllen meines Zimmers, sozusagen auf meine Kosten, zu profilieren. Vermutlich als eine Art Erziehungsmaßnahme gedacht. Um den WeGe-Chaoten zu einem ordentlichen und gesellschaftsfähigen Menschen zu ermahnen.“
Der meint das ernst, denkt Catrin und schaut in Carls Gesicht herum.
„Wie kommst du dazu, dass ich das veranlasst haben könnte?“
Carl winkt ab.
„Ach Catrin, ich bin nun schon seit einigen Jahren ein Teil dieser Wohngemeinschaft. Ich weiß, wie es hier läuft. Das wäre den anderen niemals eingefallen.“
„Ah ja?“
„Leider wird dein Happening nicht den beabsichtigten Erfolg herbeiführen. Und du kannst natürlich auch nicht wissen, welche Freude du mir damit bereitet hast.“
„Freude? Soll ich das jetzt komisch finden?“
„Immerhin lachst du.“
„Lach ich?“ prustet Catrin und wackelt mit ihrem Kopf hin und her.
„Carlos, das ist doch Quatsch, was du da inszenierst! Und du weißt das. Der Gestank ist unzumutbar. Merkst du das denn nicht?“
„Was ich inszeniere? Hab ich vielleicht die Küche ausgeräumt und mein Zimmer in eine Müllhalde verwandelt, Catrin Höchst? Ich finde du und die anderen sollten dankbar sein, dass ich dieses Behelfsgeschirr besorgt habe! So müsst ihr künftig nichts mehr in meinem Zimmer abstellen. Könnt das Zeug nach dem Essen einfach wegwerfen! Theo kann es ja, wenn er unbedingt will, im Plastikmüll entsorgen. Beim Penny unten gibt’s dann wieder Nachschub.“
„Vielleicht ist es dir ja noch nicht aufgefallen? Aber du befindest dich in einer Gemeinschaft.“
Carl schaut sie erstaunt an.
„Wow! Du schleichst dich auf meine Kosten in unsere Truppe ein und dann bellt auch noch der Sozial-Wauwau aus dir heraus?“
„Wem willst du mit diesen Sprüchen und deinem albernen Verhalten imponieren, Carlos?“
„Dir!“ sagt Carl.
Catrin sieht ihn forschend an.
„Dein Ernst?“
Carl schaut sich in der Küche um.
„Wem denn sonst?“
Catrin schiebt ihren Stuhl nach hinten.
„Okay, ich will nicht schuld an der Auflösung eurer Gruppe sein. Mit diesem kleinen Exempel hoffte ich, dein Verständnis für das Eingebundensein in eine Gemeinschaft zu sensibilisieren. War wohl nix. Ich merk schon, du scheinst sensibilisierungsresistent zu sein. Am besten ich suche mir eine andere WeGe, bevor ich hier noch alles durcheinanderbringe.“
„Sensibilisierungsresistent! Was für ein Wort!“ ruft Carl begeistert, „cool runter! In dieser Wohngemeinschaft gibt’s nichts mehr durcheinander zu bringen. Das habe ich lange vor dir bewerkstelligt. Versuch nicht meine Bemühungen wieder rückgängig zu machen!“
„Warum habe ich das Gefühl, dass du spinnst, Carlos? Komplett spinnst.“
Carl schaut fasziniert auf ihre Ohrmuscheln. Die in vielen Verästelungen, in zwei Läppchen enden. Nie zuvor ist ihm aufgefallen, wie schön menschliche Ohren sein können. Und sind ihre nicht auch unterschiedlich groß? Doch ja, das linke ist größer. Eindeutig. Ihr Hörohr vermutlich. Jeder Mensch hat angeblich ein Ohr, mit dem er mehr wahrnimmt als mit dem anderen. Das Hörohr sozusagen. Wo habe ich das kürzlich gelesen?
Catrin schlendert zum Küchenfenster. Schaut in die kahlen Äste der Kastanie.
„Ich finde sie nett, deine Wohngenossen. Auch die Lage der Wohnung würde mir passen. Und ich habe den Eindruck, Beate könnte etwas weibliche Verstärkung gebrauchen. Tut mir leid, das mit deinem Zimmer. War vielleicht ein bisschen zu, sagen wir, zu krass. Mein Vorschlag: ich helfe dir beim Aus- und Aufräumen. Und du bringst dich künftig etwas mehr in die Wohngemeinschaft ein. Was meinst du?“
Carl hört in den warmen Klang ihrer Stimme. Und wünscht sich, sie würde weiterreden. Er wartet noch eine Weile. Als nichts mehr von ihr kommt, sagt er:
„Du willst, dass wir dieses von dir so genial gestaltete Arrangement gemeinsam wieder zerstören? Was machst du eigentlich, wenn du gerade keine Happenings gestaltest? Ich meine, was studierst du?“
Catrin bleibt im Türrahmen stehen.
„Wie kommst du darauf, dass ich studiere?“
Dieses Flackern in ihren Pupillen! Denkt Carl.
„Sieht man irgendwie. Der intellektuelle Glanz in deinen Augen.“
Catrin senkt ihren Blick. Schlendert wieder an den Esstisch zurück. Setzt sich. Und rührt in ihrem Kaffee herum. Carl beobachtet, wie sie die Plastiktasse an ihre Lippen hebt, ein paarmal daran nippt. Und die Tasse wieder auf dem Tisch abstellt. Als sie sich eine Haarsträhne aus der Stirn streicht, zucken Lichtblitze durch ihre Wimpern. Sein Blick folgt ihren Fingern, wie sie ihre Haare durchfurchen. Betrachtet die kleinen blonden Härchen auf ihren Unterarmen.
„Ich vertrödele meine Zeit an der Kunstakademie,“ sagt Catrin gereizt, und weicht Carls Blicken aus, „und hör auf, auf mir herumzuschauen! Ich fühl mich wie ein Tier im Zoo.“
Carl sieht sich und Catrin plötzlich innerhalb eines Rahmens, der sie beide in ein Bild klemmt. Und zuckt zusammen.
„Du gefällst mir eben.“
„Was gefällt dir denn?“
„Du. Du gefällst mir.“