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Drei Generationen möchten sterben. Schwiegermonster wird zur Vernichtungsmaschine. Caro hat sich von Michael getrennt. Das Grauen des Kindergeburtstags hallt noch lange nach. So lange er das Traumhaus nicht verlässt, bekommt er seine Söhne nicht zu sehen. Obwohl er rausgeht, tritt eine Richterin respektlos hinterher. Michael schreibt Briefe und klammert sich an kleine Wunder. In der Paar-Therapie gibt Caro klar an, Michael habe sie verletzt. Michael hält die Situation nicht mehr aus. Er flüchtet nur mit einem Rucksack und Zelt nach Südtirol. Oben in den Bergen sucht er nach einer virtuellen Schutzzone, in der er eine Abwehrwaffe gegen den Dauerbeschuss der eisernen Bertha erfinden kann. Über Nacht wird er zum Star der Berge. Man verleiht ihm den Titel eines Kriegers.
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Seitenzahl: 308
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Kapitel 1 Vater überlebt Kindergeburtstag
Kapitel 2 »Schreib alles auf!«
Kapitel 3 Ein Brief von Bertha
Kapitel 4 Rote Rosen & Friedenstaube
Kapitel 5 »Wir drei müssen zusammenhalten!«
Kapitel 6 »Die Hoffnung hebt sich ...«
Kapitel 7 Das Satansweib in der Klosterstube!
Kapitel 8 Sprich Berg!
Kapitel 9 »Warum ist der Papa auf einmal so klein?«
Kapitel 10 »Papa, weinst du jetzt?«
Kapitel 11 Krankenhaus oder krankes Haus?
Kapitel 12 An der Brötchentheke!
Kapitel 13 Die erste Diagnose
Kapitel 14 Ein blindes Huhn findet auch mal ein Schaf.
Kapitel 15 Die Flucht nach Süden
Kapitel 16 »Dann hol mich doch.«
Kapitel 17 Hüttenzauber
Kapitel 18 Die Neutrale Zone
Kapitel 19 Die zweite Diagnose, die Haupt-Diagnose
Der Wagen kippte nicht. In der nächsten scharfen Rechtskurve stand eine tausend Jahre alte Eiche. Ich steuerte auf sie zu. »Mach es einfach!«
Die Reifen quietschten, die Reifen qualmten. Der Wagen zog nach links. Die Stange des Schildes »Landwirtschaftlicher Verkehr kreuzt« drückte sich sanft in die Stoßstange. Für einen Moment blieb ich stehen und starrte auf die deutsche Eiche. So nah war ich ihr noch nie gewesen. Stolz und stumm stand sie vor mir. »Du machst es nicht! Jan und Alex brauchen dich. Du musst denen später alles erklären.«
Beim Einfahren in die Stadt war ich wieder ruhiger. »Ich habe die Alte weder beleidigt noch doof angemacht, ich war sachlich – und zum Ende ein bisschen laut.«
Gemächlich rollte der hochglänzende Firmenwagen mit seinen frechen Blitzleuchten auf den Parkplatz. Kaum schlug ich die Tür des Wagens hinter mir zu, stürmte ich mit eiligen Schritten in das Firmengebäude zielstrebig auf das Büro von Ludwig und Marion zu und riss ruckartig die Tür auf. Beide zuckten zusammen, schauten mich an und setzten schnell ein aufgesetztes, süffisantes Grinsen auf. Es schoss aus mir heraus: »Treibt es nicht auf die Spitze! Und lasst dieses dämliche Grinsen sein!«
Die Tür knallte so dermaßen zu, wie sie noch keiner in diesem Laden hatte knallen lassen – weder zu noch auf. Ich wagte keinen Blick nach hinten. Ich visionierte, dass die Tür aus den schon durch Ludwigs zahlreichecholerische Wutausbrüche ausgeschlagenen Angeln schoss, wie ein Pfeil an meiner Schulter vorbei donnerte und mit dem gegenüberstehenden Prospektständer kollidierte. Aber sie blieb im Rahmen. Es reichte ja auch, dass ich aus dem Rahmen fiel! Wütend und eiligen Schrittes trat ich den Weg zum Büro Meyer an. Die Mitarbeiter aus der Fertigung hatten schon Feierabend.
»Hermann, tu mir ein Gefallen, fahr nach Münchhausen und hau deiner Schwester eine auf die Klappe, dass sie zwei Monate nicht aus ihrem Rattenloch kriechen kann!«
»Wieso?Wieso! Was ist denn.«
»Ich war gerade in Münchhausen und wollte kurz Alexander gratulieren. Das war nicht möglich. Da gibt mir die Alte vor den Kindern Hausverbot und provoziert mich aufs Allerletzte ...«
Hermann sprang auf und eilte zum Büro Schmidt, Andreas hinterher.
»Da hab’ ich dieses Biest erst mal nach Strich und Faden zusammengefaltet.«
Hermann knallte die Tür vom Büro Schmidt auf und ging auf Ludwig zu. Er blieb an seinem Schreibtisch stehen.
»Was sollte das?«, sagte er zu Ludwig.
»Was denn?«, antwortete Marion.
»Frag noch so blöd!«, peitschte ich laut dazwischen.
»Ich habe doch gar nichts gemacht!«, konterte das doch so liebe Bertha-Ablegerchen, welches direkt im Anschluss eine Lektion in respektvollem Umgang unter Kollegen bekam. Ich fuhr sie laut an: »Du! Du mischst doch kräftig mit. Dich hat die Alte anscheinend vorgeschickt. Was sollte das denn am Montag mit der Abmahnung?«
Meyer Senior fügte ein: »Was sollte das?«
Meyer Junior fügte deutlich schärfer ebenfalls hinzu: »Was sollte das?!«
Sie schaute betreten auf den Boden. Ich ließ sie aber nicht lange in ihrer seltsamen Position sitzen:
»Und dann gestern, das mit Stein-Montagen! Das war ja das Allerletzte! Dann zieh’ ich dir die Summe vom Gehalt ab. Das muss ich mir mit Sicherheit von dir nicht bieten lassen.«
»Das war’n Scherz!«,
bekamen wir als peinliche und stillose Antwort.
»Ach! Und warum lacht dann keiner?!«, platzte es aus mir heraus. Andreas fügte hinzu, während er sie mit scharfem Blick ansah:
»Aber doch nicht in so einer Situation! Als wenn hier nicht schon genug Zündstoff ist!«
»Und was sollte diese Schwachsinnsnummer in Münchhausen? Kann man mir nicht vorher Hausverbot erteilen?« Ich äffte Bertha nach: »Das ist unser Treppenstein! Geh runtaa daa! Und das alles vor den Kindern!«
»Schrei doch nicht so rum! Wir können alle gut hören!«, pfiff es frech aus Fräulein Marion. Und ich kam in Fahrt: »Da frag ich dich ganz bestimmt nicht nach. Wann ich schreien darf und wann nicht. Im Moment schreie ich und ich schreie, solange ich will, und ich sage dir jetzt schon, dass ich in drei Minuten aufhören werde zu schreien. Aber im Moment schreie ich.
Kindergeburtstag? Habt ihr so früher Kindergeburtstag in Münchhausen gefeiert? Da hing kein Luftballon. Da waren keine Freunde von Alex. Muss man zwei Tage vor dem Geburtstag die Kinder aus ihrem Elternhaus reißen? Mit welcher Begründung? Wir wollten in zwei Wochen in den Urlaub fahren. Ich soll Caro verletzt haben? Diese Lüge werde ich euch jahrelang um die Ohren hauen. Diesen Tag werden meine Kinder nie vergessen und ich auch nicht. Das lasse ich mir nicht gefallen! Hier hat Bertha eine Grenze überschritten. Jan weinte bitterlich. Er wollte immer zu mir. Caro hat ihn zurückgehalten. Alex irrte orientierungslos auf dem Platz herum. Auf seinem Geburtstag! Das muss man sich mal genau vor Augen halten. Was sollte das alles?
Bertha stand vor mir: ›Schlag mich doch! Schlag mich doch!‹ Was ist das für ein Verhalten? Und ihr sitzt hier rum und grinst blöd vor euch hin. Dabei steckt ihr mit dieser Kreatur unter einer Decke. Sie hat es auf mich abgesehen. Und ich weiß genau, warum. Mich wollte sie auf dem Boden sehen. Ich sollte ausflippen und für geisteskrank erklärt werden. Mich hatte sie im Visier und in ihrem blinden Hass hat sie die Seelen zweier unschuldiger Kinder betäubt.
Schlagen? Ich soll eine sechzigjährige Frau schlagen? Da kann die aber lange warten. Den Firmenwagen wollte ich ihr in die Haustür rammen. Dann hätte diese Dame ihr Ziel erreicht. Was ist bloß aus der Frau geworden?
Ich soll krank sein? Das werden wir ja noch sehen, wer hier krank ist. Ich soll mich an meinen Kindern versündigt haben? Das werden wir ja sehen. Ich werde euch zeigen, wer sich hier an wem versündigt hat! Was meine Kinder da gerade miterleben mussten, wird tiefe Spuren hinterlassen.«
Nach drei Minuten war der wütende Michael wieder ein ganz lieber Michael. Die Meyer-Männer und ich verließen das Büro Schmidt. In der Ausstellung versuchte Andreas, mich weiter runterzuholen. Aber ich war schon unten.
Nach dieser Attacke fiel es mir sehr schwer, einen beruflichen Gedanken zu finden. Arbeitskollege Jens rief an. Wir zwei verstanden uns sehr gut. Viele Stunden diskutierten wir über Politik und Gesellschaft. Wir hatten beide zwei Kinder und wurden für die zusehends moderner denkende Welt immer altmodischer. Familie war uns wichtig. Von Mami mit Manni, Vati mit Kati hielten wir gar nichts.
Umso bestürzter war er gewesen, als Caro vor ein paar Wochen zum ersten Mal zu ihrer Mutter geflüchtet war. »Da steckt die Alte hinter!«
Er fragte, wann die Mitarbeiterbesprechung stattfinden sollte. Wir tauschten noch einige berufliche Kleinigkeiten aus. Dann fragte er: »Und sonst alles klar, Michael?«
Auf diese Frage hatte ich hoffnungsvoll gewartet. Ich machte mir Vorwürfe, weil ich ausgerastet war.
»Alex hat heute Geburtstag.«
»Ah schön! Habt ihr ein bisschen feiern können, trotz der Umstände?«
»Nein, ich stehe kurz vor dem Rausschmiss und mir werden wohl fünf Geschäftsführergehälter gepfändet!
Jens?
Jens? Bist du noch dran?«
»Ja, bin ich.« Mit zitternder Stimme und hörbarer Atmung fragte er: »Was hast du gerade gesagt?« Gelassen wiederholte ich das Gesagte. Er seufzte auf: »Die Alte wieder! Sollte die es tatsächlich schaffen?«
»Nein, nicht die Alte. Das kam von der Jungen!«
»Die muss mitmachen. Das darfst du der Marion nicht verübeln. Und warum hat sie so etwas gesagt?«
»Caro sagte mir am Donnerstag, dass sie mich verlassen werde. Darauf bin ich zuhause geblieben, hatte nicht abgestempelt. Direkt Freitagmorgen kam Marion in mein Büro und patzte mich an, andere Mitarbeiter würden für so ein Verhalten eine Abmahnung bekommen.«
»Der Hermann stempelt doch nie und der Andreas vergisst andauernd, abzustempeln.«
»Das wären aber auch Inhaber und nicht nur Geschäftsführer!«
»Das darf doch nicht wahr sein!«
»Gestern Morgen hatte ich einer Auslieferung zugestimmt für Firma Stein-Montagen!«
»Ah ja, die zwei großen Böden für die Doppelturnhallen. Schön, dass das geklappt hat. Das hatte ich Frau Stein versprochen, dass wir diese Woche kommen.«
»Marion meinte aber, sie müssten erst bezahlen. Das versucht Ludwig, ihr einzuhämmern. Stein-Montagen waren immer schlechte Zahler gewesen, seit vier Generationen. Wir haben noch keinen Euro von denen ausgebucht. Aber das fesche Fräulein Marion flammte mir vor den Kopf: Wenn die pleitegehen, ziehe ich dir die Summe vom Gehalt ab!«
»Ach du gütiger Himmel! Was ist denn in das Mädel gefahren?«
»Das war das kleinste Übel.«
»Wie?Was kam denn noch?«
»Ich bin nach Kramers gefahren und hatte für Alex einen kleinen Löwen gekauft. Dann bin ich nach Münchhausen und wollte Alex kurz gratulieren, ihm das Kuscheltier überreichen und ihn einmal fest drücken. Erst schien alles normal. Alex öffnete die Tür, ich zog wie gewohnt die Schuhe aus und ging rein. Dann kam Caro und sagte mir, ich solle rausgehen. Ich hätte Hausverbot. Ihre Mutter wolle nicht, dass ich reinkomme. Wir sind dann alle raus.« Jens seufzte auf. »Hausverbot, wie albern!«
»Ja, sehr albern! Aber das war mir in dem Moment egal. Ich wollte nur dem Kleinen ein paar nette Worte sagen. Ich kniete vor ihm und dann kam Bertha rausgeschossen.«
»Wie lächerlich macht sich diese Frau?«
»Sie sagte, ich hätte Hausverbot und Grundstücksverbot. Ich sollte mich auf die Straße stellen. Ich sagte ihr, dass ich sofort wieder weg bin, konnte nicht einen Satz zu dem Kleinen sagen. Immer wieder unterbrach sie mich mit:
Los geh!
Runter da!
Das ist unser Treppenstein! Oder mit:
Auf die Straße sollst du dich stellen!« Jens unterbrach energisch: »Alles vor den Kindern?«
»Ja.«
»Und deine Frau?«
»Die stand da und hielt sich am Türgriff fest.«
»Unfassbar! Die Bertha weiß gar nicht, was sie ihren Enkeln damit antut!«
»Das habe ich ihr auch gesagt.«
»Und was hat sie geantwortet?«
»Dass ich mich an ihren Enkeln versündigt hätte.«
»Was hast du da eben mitgemacht? Und deine Kinder! Deine Frau!«
»Als mir klar wurde, dass sie mich nur provozieren wollte, bin ich immer ruhiger geworden.«
»Und dann?«
»Hat sie mich von ihrem heiligen Treppenstein geschubst.«
»Wie alt ist die? 60?«
»Fühlt sich unsterblich, sieht aus wie 32, ist aber 64.«
»O Mann, Michael! Dass du noch scherzen kannst. Das tut mir alles so leid für dich! Und was hat die immer von dir geschwärmt!«
»Und vor wenigen Minuten stand sie vor mir:
Schlag mich doch! Schlag mich doch!«
Jens schwieg. Sein Atem war schwer. Baute sich Wut in ihm auf? Kämpfte er mit den Tränen?
»Sie zeigte mit dem Zeigefinger an ihr Kinn, wiederholte noch einmal:
Schlag mich hierhin!
Hierhin sollst du mich schlagen! Los – nun mach schon!«
Jens sagte kein Wort. Er hörte zu. »Dann zog sie ihre letzte Schublade, die allerunterste, an die normale Menschen nicht drangehen. Sie provozierte mich aufs Äußerste. Ich sei krank. Sie wiederholte noch einmal: An deinen Kindern hast du dich versündigt! Was hast du denen bloß angetan? Ich müsste mich dringend untersuchen lassen, müsste in eine geschlossene Anstalt. Da habe ich laut herumgeschrien!«
Ich erzählte ihm, was sich in Münchhausen und auch im Büro Schmidt ereignet hatte. Er verurteilte Berthas menschenunwürdige Aktion aufs Schärfste. »Wenn du da nicht ausgerastet wärst, dann wären dir deine Familie und die Kleinen egal.
Jeder gute Vater wäre da ausgerastet!
Ich glaube, manch anderer wäre der Alten an die Wäsche gegangen. Ne, ne Michael – du hast alles richtig gemacht. Und die Kleine im Büro? Na ja, die kann nicht anders! Die muss da mitmachen! Die kann einem echt leidtun. Die wollte doch gar nicht in der Firma anfangen. Die wollte doch ins Ausland. Was waren die froh, dass du die Firma weiterführst.«
Tat das gut! Tat das gut, von einem guten Freund und netten Arbeitskollegen diese Worte zu hören. Genau wie seine technischen Beurteilungen fachlich und kritisch durchdacht waren, so redete er, wenn er private Einschätzungen abgab. Ein toller Mensch! Das Gespräch mit Jens gab mir ein gutes Stück Kraft. Ich machte mir einen Kaffee und konnte eineinhalb Stunden recht konzentriert arbeiten. Meine Schwester rief an und fragte, wie sie Alexander gratulieren sollte. Auch sie musste nun die Tatsachen geschildert bekommen und reagierte deutlich impulsiver als Jens. Sie wollte direkt nach Münchhausen fahren und Gegenterror veranstalten. Ich konnte sie jedoch bremsen. Als Patentante wollte sie es sich aber nicht nehmen lassen, dem Kleinen zugratulieren. Sie sagte dann, dass sie abends mit ihrem Freund kurz nach Münchhausen fahre.
Nach 18 Uhr wollte ich zu meinen Eltern fahren und denen ebenfalls die leidige Geschichte erzählen. Doch im Kreisverkehr am Ende des Gewerbegebietes wollten meine Gedanken mit mir Karussell fahren: »Wie kann man nur so ein albernes, kindisches Verhalten zeigen? Will sie deine Familie zerstören? Ich war doch ihr Traumschwiegersohn.« Es passte alles zusammen: seit dem 01.01.2014 Terror! Ohne Waffen, ohne Soldaten, ohne Feuer! Psychoterror! Nein, das war feinster Psychoterror! Das Böse schlug wieder zu!
Das war reinster Tsychoterror!
Was 2010 in unserem Wohnzimmer als große Lachnummer verstummt war, sollte sich nun als die gefährlichste Waffe auf der kleinsten Parzelle auf deutschsprachigem Gebiet bewähren. Sie hatte den Umgang mit dieser Waffe trainiert. Sie beherrschte die Waffe wie keine andere!
Eine Waffe, welche eine Familie auszulöschen vermochte.
Für immer!
Ohne Kugel!
Ohne Knall!
Ohne Strahlen!
Ohne Gas!
»Sei wachsam! Beschütze deine Familie!«
Dieses Wechselbad der Gefühle! Ich fluchte vor mich hin.
»Nur, weil Bertha nicht alt werden will, bin ich mit fast vierzig wieder in der Pubertät.«
Am liebsten wollte ich den Kreisverkehr nicht mehr verlassen. Drinbleiben! Mir fehlte die Richtung, mir fehlte die Orientierung – mir fehlte die Lust am Leben.
Einfach so lange kreiseln, bis man raus- oder hochflog! Dann war da jedoch wieder eine Kraft, die mich lenkte. Ich bog ab. Nicht nach Oberhof! Nein – nach Münchhausen! »Das wollen wir doch mal sehen. Und ob ich meinem Kleinen gratuliere. Meinen Eltern kann ich ja morgen in Ruhe von der Terroraktion erzählen.« Ich war wieder voller Energie. Doch ich war geladener, als ich zugeben wollte. So nutzte ich meine negative Energie. Ich setzte sie um in positive. Meine Eltern waren seelisch und nervlich sehr angeschlagen. Der zweite Auszug von Caro hatte ihnen schon zwei schlaflose Nächte bereitet. Statt also meinen Eltern noch mehr Sorgen zu bereiten, wollte ich meinem Söhnchen ein wenig Horror von seinem Ehrentag nehmen.
Ich fuhr am schwiegerelterlichen Haus vorbei, keine Kinder, keine Menschenseele zu sehen. »Junge! Watt 'nen Geburtstag!«
Ich fuhr an Ludwigs Bootshaus vorbei, welches ein paar Häuser weiter an der Straße lag. Früher war das Gebäude die erste Autowerkstatt in Münchhausen gewesen. Caros Großvater war Stellmacher. Doch schon in Ludwigs Kindheit lohnte sich der Betrieb nicht mehr. Für seine kleine Segeljacht war die historische Räumlichkeit wie geschaffen. Das Tor stand auf. Der zu liebe Schwiegervati war am Werken oder Aufräumen. Ich stellte den Wagen gegenüber auf dem öffentlichen Bürgersteig ab. Da müsste ich wohl Parkerlaubnis haben. Ludwig kam sofort auf mich zu.
»Ich möchte meinem Sohn in Ruhe zum Geburtstag gratulieren.«
»Ja, warte! Warte! Ich hole ihn dir raus.« Wir gingen zum Wohnhaus.
»Wenn ich hier gewesen wäre, wäre das nicht passiert.«
»Tja!«
An der Hofeinfahrt blieb ich stehen, Ludwig ging ins Haus. Er schellte nicht. Nein – auf leisen Sohlen ging er ins Haus, übervorsichtig, wie er immer war, wenn Gefahr drohte, wenn seine holde Ehefrau zu terroristischen Maßnahmen neigte. Oder waren es militärische Kampfhandlungen? Wir waren ja laut Berthas Empfindungen im Krieg. Im totalen Blitzkrieg, wo Kinder und Greise eingesetzt und seelisch und körperlich verletzt oder gar getötet wurden.
Was musste dieser kleine Junge an seinem Geburtstag mit ansehen? Eine grausame Tat, von der er und auch sein Bruder noch oft erzählen würden.
Da stand mein Kleiner!
Er wusste nicht, wohin. Traute sich nicht einen Schritt vor und keinen zurück. Hatte ihn die Aktion so verstört, oder hatten sie ihm was gegeben? Er wirkte wie betäubt. Seine schönen großen Augen strahlten nicht mehr. Er schaute ins Leere. Wo war mein Alexander hin, der mit seinen Freunden unbeschwert und heiter um den Rasensprenger hüpfte? Der so gerne stundenlang in seiner phantastischen Playmobil-Welt versank? Oder der Alexander, der mit seinen Freunden tagelang mit Rohren Leitungen im Sandkasten baute? Keine Freude, kein Lachen. Er hatte bisher noch kein Leid gekannt. Er kannte keine Not. Keinen tragischen Sterbefall, seine Großeltern waren alle noch gesund.
Ich weilte an der Hofeinfahrt und schaute auf meinen kleinen Sohn. Das Grundstück war an der Hauptstraße entlang mit einer Sichtbetonwand eingefasst. Alle zwei Meter mit einer pflegeleichten Designer-Edelstahllampe bestückt. Ich stand an der Betonmauer.
Ein Vater steht an der Mauer und sieht seinen Sohn, kommt aber nicht an ihn ran, weil ein Terrorregime die beiden trennt.
Kindergeburtstag! Wie sehr hatte ich mir als Kind mal einen Kindergeburtstag gewünscht. In den Achtzigern wurde aber noch nicht so viel Wert auf solche Feste gelegt. Alexander erlebte sechs schöne Geburtstage, aber diesen siebten würde er nie vergessen, diesen verflixten siebten Geburtstag!
Caro nahm ihn an die Hand und brachte Alexander auf die Straße. Ein leises »Mmmh!« kam ihm über die Lippen, als ich mich zu ihm runterbeugte. Ich nahm sein kleines rechtes Händchen, drückte es fest zwischen meinen Händen.
»Na, mein Kleiner!« Mehr bekam ich auch nicht raus. Ich nahm Alexander in den Arm. Drückte ihn fest an mich. Seine Ärmchen umfassten mich. Das Wort Geburtstag nahm ich nicht in den Mund. Diese kinderfeindlichen Aktionen sollten am besten nicht in Verbindung mit dem Wort Geburtstag gebracht werden. Ich spürte, wie Alexanders kleines Herzchen raste. Ich spürte, wie gut es ihm tat, dass der Papa so nah bei ihm war. Ich spürte seinen Atem, nahm den Duft seines Kokosshampoos und von ihm selbst, meinem kleinen, süßen Alex, wahr.
Wir brauchten keine Worte.
Wir brauchten nur unsere Nähe.
›Mein Junge! Was hat man dir bloß angetan?!‹
Was haben wohl die Umherstehenden gedacht? Ich glaube, Caro war genauso betäubt wie Alexander. Sie konnte noch nicht klar denken. Wenn es nach Caro gegangen wäre, hätte Alexander schöne Stunden erlebt. Mit einem selbstgebackenen Kuchen, mit Familie, mit Freunden und mit vielen Luftballons – meistens mit Luftballons, die bunte Punkte hatten, so wie die Strampelanzüge aus dem Krankenhaus, in welchem unsere beiden Kinder zur Welt gekommen waren. Nein, dies war nicht Caros Werk.
Als ich mich wieder hinstellte, stand die stahlharte, eiserne Bertha nicht auf ihrem Triumph-Sockel. Konnte sie die Vaterliebe nicht mit ansehen? Wollte sie überhaupt Liebe an diesem Tag sehen? Wäre die Party nicht viel schöner gewesen, wenn der Schwiegersohn in der Nervenklinik gelegen hätte? Oder in Frankfurt unter der Brücke?
Mir wurde erlaubt, mit meinen Kindern ein paar Schritte in den nahegelegenen Wald zu gehen. Welch eine künstliche Stimmung das war. Wir drei unterhielten uns, aber man verstand sich nicht. Selbst die Tiere im Wald, welche keine Worte benutzten, fühlten in ihrem Rudel oder in ihrer Rotte mehr Zusammenhalt als wir. Eine Kunst! Eine Isolation! Wie Hänsel, Gretel und Papa wurden wir von der Großmutter in den Wald geschickt. Wir hatten noch nicht begriffen, was in den letzten Tagen passiert war. Wir hatten das Erlebte des 17. Juni 2014 noch gar nicht verarbeitet und wussten nicht, was in den nächsten Wochen noch auf uns zukommen sollte. Was sollte ich den Kindern denn sagen? Ich, der Vater, dem man ruck- und abartig gleich die drei wichtigsten Menschen wegnahm. Dem seine väterlichen Kompetenzen über Mittag geraubt worden waren. Der selbst ohnmächtig in die Zukunft schaute. Der keinerlei Handhabe besaß, seine Kinder aus dieser quälenden Gefangenschaft herauszuholen. Ich fühlte mich so gedemütigt. Es war eine unbeschreibliche Situation. Man war so hilflos, so orientierungslos!
Wir gingen wieder zum schwiegerelterlichen Grundstück und hielten uns im Bereich der Hofeinfahrt auf, welche ja nun eine Art Grenzübergang war. Meine Schwester und ihr Freund waren eingetroffen. Sie hielten sich ebenfalls vor dem Grenzübergang oder auf der Straße auf. Hatten sie auch Grundstücksverbot? Durften sie auch nicht in die »Trotzzone« einreisen? Aber selbstverständlich durften sie! Denn kaum war der Staatsfeind Nummer eins am »Schreckpoint Skandali« gesichtet, trat die Mächtige wieder hervor:
»Hallo! Hallo Verena, hallo Heiner, kommt rein! Es ist noch Kuchen da. Und wir haben auch Bockwürstchen.«, rief sie von ihrem geschichtsträchtigen Treppenstein, von dem aus sie ihr halbes Reich überblicken konnte, welches mit mehr als 1000 rötlichen Natursteinplatten belegt war. Sie konnte sogar bis zur Mauer schauen und hatte einen herrlichen Blick auf den Grenzübergang.
»Ne, ne! Wir wollen nicht reinkommen. Wir wollten nur kurz gratulieren.«, rief meine Schwester laut zu ihr rüber
und leise zu mir:
»Da rein?! Das wär’ das Letzte, was ich jetzt machen würde! Und wenn ich drei Wochen nichts gegessen hätte!«
Sie überreichte dem kleinen Alexander das Geschenk. Er freute sich darüber. Es freute mich, ihn wenigsten etwas strahlen zu sehen. Während er das Geschenk auspackte,regte sich meine Schwester darüber auf, dass die zweite Patentante Kerstin, die Frau unseres Bruders, scheinbar eingeladen worden war, und sie nicht. Kerstin weilte im Haus. Sie war scheinbar der netten Einladung zum Trauerschmaus gefolgt. Schwägerin Marion sowie Caro und Jan standen um uns herum. Noch während meine Schwester sich über Kerstin beschwerte, ging Marion ins Haus. Schon nach einer kurzen Weile kam Marion mit Kerstin wieder heraus. Beide stellten sich zügig zu uns auf die Straße. Was war denn im Haus Schreckliches passiert? Nun war es ein Solo-Kaffeekränzchen Ü60? Bertha war allein im edlen Saale. Sie kam nicht raus. Sie kam ab und zu vor die Tür, aber nur bis zur Treppensteinkante. Wie früher der Wellensittich von unserem Mieter, dem man eine kleine Badewanne vor die Käfigtür klemmte, bewegte sie sich nur im Haus und auf dem Stein – also vergleichsweise im Käfig und in der Wanne.
Kerstin war in großer Sorge, zumindest sollte ich das glauben: »Hoffentlich wird bei euch wieder alles gut!«
Ich hörte, wie Caro zu meiner Schwester sagte: »... Eine Zeit lang brachte er keine Brötchen mehr mit.«
»Caro! Hier geht es doch nicht um ein paar Brötchen. Deshalb muss man doch nicht gleich abhauen ...«
Da ich meinen Sohn in Ruhe gratulieren hatte können und auf diese Diskussionen absolut keine Lust verspürte, ging ich wieder zum Auto. Meine Schwester kam hinter mir her.
»Warte mal! Was hat der Spion denn vor?«
»Welcher Spion?«
»Na, das kleine Schwesterleinchen! Kerstin sagte mir eben, Marion wäre ins Haus gekommen und hätte ihr gesagt, sie solle mal schnell rauskommen, draußen würde total über sie abgelästert. Ich hatte mich doch aufgeregt, weil ich dachte, dass Caro Kerstin eingeladen hat. Hat sie aber nicht. Kerstin war auch spontan hier hingefahren, wegen Dennis, der wollte Alexander gratulieren und Jan sehen. Also hätten wir das schon mal geklärt.
Aber die Kurze scheint ja ganz schön falsch zu sein.«
»Die ist sogar superfalsch.«
»Wieso?«
»Erzähl’ ich dir mal in Ruhe.«
Ich stieg ins Auto und fuhr wieder. Auf dem Weg nach Hause war mein Denken blockiert. Ich war mehr damit beschäftigt, mir das Erlebte einzuprägen, als dieses zu verarbeiten.
Ein unbeschreiblicher Schmerz. Aus allen Seiten meiner Seele strömte ...
Was strömt aus einer angeschossenen Seele heraus? »Was stellst du dir für seltsame Fragen?« Aus einem Herzen strömt Blut. Was aber strömt aus einer Seele?
»Was geht wohl in Alexanders Köpfchen vor? Warum habe ich keinen Papa mehr? Wo ist mein Papa? Warum ist die Welt denn auf einmal so doof geworden? Ich fand das doch immer schön, wenn Papa mir abends im Bett über den Kopf streichelte und immer ganz leise zumir sagte: Schlaf schön mein Kleiner! Manchmal hat er auch kleines kuscheliges Igelchen zu mir gesagt – oder kleiner Käfer!« Waren das seine Gedanken, frage ich mich im Selbstgespräch.
Und mein Großer! Mein Jan! Er weinte und weinte. Er hatte alles mitbekommen.
Es sollten dunkle Tage kommen, ganz dunkle!
Es sollten Tage kommen, welche an Grausamkeit und Menschenunwürdigkeit nicht mehr zu überbieten waren.
Ich ging noch einmal zu Ludwig und bat ihn um ein Gespräch in meinem Büro. Die kleine Tochter mit den wachen Öhrchen und einem meist müde wirkenden Blick musste ja nicht alles mitbekommen. Zu Ludwig hatte ich schon immer ein gutes Verhältnis gehabt, wobei man nie so richtig an ihn rankam und sein Verhalten in der Firma, besonders in den letzten Monaten, unsere verschwiegerte Beziehung etwas in Mitleidenschaft gezogen hatte. Wir waren uns beide einig, dass das eine ziemlich dumme Aktion von Bertha gewesen war. Ludwig kam sehr schnell auf die beengte Wohnsituation in seinem eigenen Haus zu sprechen.
»Wenn die Caro auszieht, ist das zu umständlich. Die ganzen Möbel müssen raus, dann ...« Ich unterbrach ihn »Warum müssen die denn alle raus?«
»Ja, die gehören doch alle der Caro!«
»Wieso gehören die alle Caro? Was soll das denn heißen? Das Haus gehört uns beiden je zur Hälfte!
Immerhin habe ich 4200 Eigenleistungsstunden in das Haus investiert und bringe seit 10 Jahre allein ordentliches Geld nach Hause …!« Ludwig unterbrach: »Ja, also mir und Caro ist das mit dem Haus und den Möbeln ja auch nicht so wichtig! Aber der Bertha!«
»Die soll sich doch einfach mal raushalten! Dann hätten wir auch kein Problem! Und du könntest auch mal beieuch zuhause auf den Tisch hauen! Was wird hier eigentlich für ein dämliches Spiel abgezogen?«
»Jaja! Ich, ich – ich will nochmal mit der Caro sprechen.«
Daraufhin gingen wir wieder auseinander.
»Wie soll ich denen diesen Wahnsinn erklären?« Diese Aktion konnte ich meinen Eltern nicht verschweigen. Sie wussten noch nichts von dem unrühmlichen Auftritt. »Vater wird sie erschlagen, wenn er die Geschichte hört!« In der Mittagspause ging ich zu ihnen runter. »Und? Was hat sie heute wieder veranstaltet? Dieses Miststück?«, begrüßte mich meine Mutter. Sie hing noch schnell die Wäsche auf. »Gar nichts hat sie heute veranstaltet.«
»Na! Das soll mich nicht wundern! Dann kommt heute Nachmittag noch was.«
»Nein! Ich denke nicht. Das von gestern wird wohl erstmal für ein paar Wochen reichen.«
Sachlich erzählte ich meinen Eltern den Vorfall des 17. Junis in allen Einzelheiten. Sie nahmen es recht gelassen auf. »Die Alte muss eingeliefert werden. Aber ganz schnell!«
»Sagt der Ludwig denn nichts dazu?«
»Der sagte nur: Wenn ich hier gewesen wäre, wäre das nicht passiert.« Mein Vater stöhnte laut auf. »Was für ein Waschlappen! Ne, ne, ne!«
»Das sagte er aber erst abends, als ich zum zweiten Mal da war. Da war eh schon alles gelaufen.«
»Sowas musst du aufschreiben!Schreib alles auf!
Alles, was dieses miese Dreckstück veranstaltet, musst du aufschreiben! Damit man später nachvollziehen kann, was dieser Unmensch seinen Enkelkindern angetan hat. Hast du ihr das erzählt, was ich dir gesagt hatte?«, fragte mein Vater.
»Ja, das habe ich.«
»Und?Wie hat sie reagiert?«
»Sie hat gesagt, ich sei krank und müsste unbedingt untersucht werden.«
»Die muss untersucht werden! Sonst keiner!« Meine Mutter fügte hinzu: »Das hätten wir von der Bertha niemals gedacht!«
Sie nahmen es gelassen auf. Wir waren uns einig: Kein Mensch würde das ernst nehmen. Kein Mensch würde uns diesen Auftritt glauben.
Was war passiert? Eine Vierundsechzigjährige hatte auf dem Kindergeburtstag ihres Enkels auf einem Treppenstein ein Kasperletheater aufgeführt. Mehr war nicht geschehen. Eine alberne Inszenierung einer miesen Alleinunterhalterin. »Das ist unser Treppenstein!« Der Titel, der Inhalt dieses Einakters war miserabel, die Schauspielerin eine Obernull. Der menschliche Wert, die Botschaft der Aufführung waren niveaulos und unterste Schublade.
»Alles klar!«, wäre meine Antwort auf Berthas »Das ist unser Treppenstein. Geh runter da!« gewesen, wennich der »normale« Michael gewesen wäre. Locker und leger wäre ich wieder in den Firmenwagen eingestiegen, hätte sie frech angegrinst und wäre wieder gefahren. Kindergeburtstage waren mir nicht so wichtig. Jeden kleinen Geburtstag feiern, war nicht mein Ding. Das Getue der modernen Zeit ging mir öfter gegen den Strich. Irgendwann hätte Alex das Geschenk schon bekommen. Normalerweise wäre ich eingestiegen und gefahren.
Aber hier war nichts mehr normal!
Hier war nichts mehr normal und auch nicht mehr natürlich. Hier war es kalt, künstlich und unmenschlich.
Am Tag drauf zeigte die Kasperei auf dem Treppenstein ihre Wirkung: »Michael! Wir können nicht mehr!« Wir drohten alle an diesem Treppenstein-Schwur zu ersticken.
»Es ist ein Wunder, dass wir noch leben.«
»Was redest du da? Mutter! Das war eine billige Aufführung. So was können wir doch nicht ernst nehmen.«
»Schau dir doch an, was sie damit anrichtet!
Michael, wir können nicht mehr. So haben wir uns unseren Lebensabend nicht vorgestellt. Wir haben nun drei Nächte lang nicht geschlafen. Wir wollten uns gestern Abend das Leben nehmen. Wir hatten allesvorbereitet. Wir waren zu schwach. Wir waren zu müde!«
Träge kam mein Vater zur Tür herein. Er wiederholte noch einmal: »Schreib alles auf!« Er atmete tief aus. »Schreib jede Tat dieser grausamen Person auf, damit die Nachwelt nachlesen kann, was diese gottlose Kreatur angerichtet hat!«
»Wir wollten uns gestern Abend das Leben nehmen.«
So konnte es nicht mehr weitergehen!
Meine Ehefrau, meine Kinder, meine Eltern waren am Ende. Wo war ich?War ich noch da?
Es musste sich was ändern. Von dem Tag an erzählte ich meinen Eltern nur noch positive Nachrichten.
Das hatte wiederum zur Folge, dass ich ihnen nichts mehr von den eigentlichen Geschehnissen erzählen konnte. Wem sollte ich das Negative erzählen? Wem sollte ich erzählen, dass es schlimmer wurde, wenn ich nichts tat, und dass es noch schlimmer wurde, wenn ich was tat?
Ich schrieb alles auf: Meine handschriftlichen Notizen in einem Kalender wurden sauber in eine Tabelle im Computer eingetragen. Die Tabelle begann am 01.01.2014 und ging bis zu Alexanders Geburtstag. Während zu Anfang nur ein paar Aufzeichnungen zu finden waren, lasman seit der Kommunion von Jan jede Woche eine Schandtat mit klarer Steigerung. In den letzten Tagen vor Alexanders Geburtstag wurde jeden Tag eine Schikane erzeugt. Nach dem Geburtstag wurden keine direkten Angriffe mehr gegen mich gestartet.
Das Ergebnis war erschreckend. Mein Verdacht, dass Bertha es brutal auf mich abgesehen hatte, wurde mehrmals bestätigt! War das ein Beweis? Konnte man so Mobbing beweisen?
Diese Feststellung war für mich einer der wichtigsten Beweise, dass das Ganze von ihr geplant gewesen war! Diese Regelmäßigkeit war ein durchdachter, ausgeklügelter Schlachtplan! Diese Taten waren von einer Person geplant worden mit dem Ziel: »Am 17. Juni werde ich siegen! Den Krieg gewinnen! Und der Feind wird fallen.«
Vielleicht wollte die Alte, wie Schneewittchens Stiefmutter beim zweiten Attentat – also beim zweiten Auszug –, ganz sicher sein, dass es klappte. Aber wir waren nicht im Märchen und ich war weder aus Schnee noch ein Wittchen. Zugegeben war der 17.06.2014 schwarz wie Ebenholz gewesen, mal wurde ich rot wie Blut und sogar auch mal schnoiwitt vor Schreck. Aber der schwiegermütterliche Plan, mich zu Fall zu bringen, war nicht aufgegangen.
»Jetzt wollen wir doch mal schauen, wozu Menschen in der Lage sind!«
Das war mein Plan. Der 17. Juni war der Stichtag. Ein Stich ins Herz, ein Stich in die Seele, ein Stich in die Geschichte meines Lebens.
Von nun an schrieb ich fast täglich Zitate und Handlungen auf und legte mir einen Ordner an.
Am darauffolgenden Samstag lag ich im Bett, schaute durch das große Dachfenster über dem Bett nach draußen in den schönen blauen Himmel und dachte vor mich hin: »Ja, die gehören doch alle der Caro, die Möbel. Ging es um menschliche oder um materielle Werte? Ging es um das Wohl der Kinder oder um das Unwohl der Schwiegermutter?
Das gehört alles uns!
Das Auto, die Firma, das Haus, der Treppenstein!
Geht es um Inventur oder geht es um Liebe?
Ich wollte keine Firma, ich wollte kein Geld. Von mir aus kann man mich enterben. Ich will nur meine Kinder und das Herz meiner Frau zurück.«
Ich war früh wach, noch vor dem Wecker.
»Oh, wie ich meine Caro vermisse!«,
war mein erster Gedanke an diesem schönen Sommermorgen.
»Hoffentlich tut sie sich in ihrer Lage nichts an.« Ich bekam auf einmal unendliche Angst um sie. Ihre Blicke, ihre Stimme verrieten mir oft, dass sie nicht hinter den Taten der vergangenen Wochen stand.
Für Kinder ist eine Mutter das Wichtigste. Ich stand auf und schrieb ihr einen Brief. Ich schrieb allerdings nur,dass ich mir Sorgen um sie machte. Der Regierung in der »Trotzzone« traute ich alles zu. Für einen ausführlichen Brief stellte ich mir erste Gedanken zusammen.
Liebe Caro,
wenn Du wüsstest, wie ich Dich und die Kinder vermisse. Erinnerst Du Dich noch an unsere ersten Stunden? Oder an die Anfänge unserer gemeinsamen Zeit? Wir wollten uns ein schönes Leben machen. Wir wollten immer zwei Kinder haben.
Ich verstehe nicht, dass Du erneut zu Deiner Mutter gezogen bist. Du hattest mir versprochen, nicht mehr dort hinzuziehen. Das hattest Du mir sehr überzeugend vor zwei Wochen gesagt. Was sollte die Aktion auf dem Treppenstein? Wer hat denn Ambrosius auf mich losgelassen? Den erkennt man ja gar nicht mehr wieder, genauso Deine Schwester. Du fandest ihre Mobbingattacken, von welchen ich Dir ja ausführlich erzählte, selbst sehr unfair und unmenschlich. Seltsamerweise gibt es bei jeder Aktion eine Verbindung zu Deiner Mutter! Seitdem ich Geschäftsführer bin, ist sie nicht mehr wiederzuerkennen. Was wird hier gespielt? Will man unsere kleine Familie zerstören?
Liebe Caro! Ich weiß nicht, was ich Dir getan haben soll! Wir hatten verschiedene Ansätze bezüglich unseres Kleinsten. Ich habe mit Dir gemeinsam ein weiteres Kindergartenjahr durchgesetzt. Du machst seit Frühjahralle Therapien mit dem Kleinen, wie Du es für richtig hältst. Wenn ich das alles blockieren würde, könnte ich Deine Reaktion ja verstehen. Aber so nicht!
Lass uns in den Ferien gemeinsam in den Urlaub fahren. Dann klären wir alles in Ruhe. Ich weiß echt nicht, was hier gespielt wird! Bitte ruf mich mal an.
In Liebe
Dein Michael
Nachdem der Brief geschrieben und eingetütet war, kam ich um halb sieben in der Firma an und schaffte einiges vom Schreibtisch. Statt um neun Uhr Brötchen für das familiäre Frühstück zu holen, fuhr ich nach Münchhausen. Da ich ja ein pflichtbewusster und weisungsgebundener Mensch war, fuhr ich nicht auf den Hof, da ja das Grundstückverbot galt. Ich wendete weiter unten auf der Kreuzung, stellte das Auto an der Hofeinfahrt auf der Straße ab und hupte zweimal kurz. Alexander kam raus.
»Alexander, komm mal hierhin, der Papa hat einen Brief für die Mama!«
Bertha kam dazu, ohne mich anzuschauen, ohne ein Wort. »Zieh dir eben die Schuhe an.«, sagte sie zu Alexander. Der Hof war immer wie geleckt und es hatte seit Tagen nicht mehr geregnet. Eigentlich hätte er auch schnell auf Söckchen zum Grenzübergang kommen können. Statt mich schaute sie die erste Edelstahllampedirekt an der Hofeinfahrt an. Weit streckte sie ihren rechten Arm aus.
»Bis hierhin darfst du kommen, und dann darfst du ihm das geben!«
Mein Blick malte einen gedanklichen Strich entlang ihres Armverlaufes und ließ diesen circa auf der Mitte des Hofes enden. Innerlich geriet ich in ein schallendes Gelächter. Was für eine kindische Nummer. Aber genau die hatte ich erwartet. Ich überhörte ihre alberne Anweisung bewusst. Ich gab ihr keine Antwort, stand einfach da. Sie holte die Schuhe. Sie tat sich sehr schwer damit, dem Kleinen die Schuhe anzuziehen. Scheinbar drückte ihr eitriges, manchmal streng riechendes Hühnerauge wieder. Es dauerte recht lange. Es herrschte eine andächtige Stille. Dann kam Alexander in Schlafanzug und Straßenschuhen lächelnd auf mich zu.
»Papa, darfst du hier nicht laufen?«
Spitz und sarkastisch schoss es giftig aus mir heraus:
»Nein, der Papa hat saubere Schuhe an – die will ich mir nicht erst auf dem Pflaster dreckig machen.«
Ich gab ihm den Brief.
»Nächste Woche bist du beim Papa, ja?«,
»Ja!«, strahlte er »Papa, warum willst du nicht in Omas Haus?«
»Da ist es mir zu kalt.«
Bertha stand weiterhin auf ihrem Treppenstein und bekam das Gespräch mit. Sie schaute recht neutral, zeigtekeinerlei Gefühle. Tat es ihr leid? Oder dachte sie sich schon wieder neue Aktionen aus?
»Alexander, dann steigst du Freitag in den Bus!«
»In welchen Bus denn?«
»In den Kindergartenbus! Und dann fährst du nach Hause!«
Er strahlte wieder!
»Ja, mache ich.«
Er lief und hüpfte wieder zurück.
»Tschüss, Alexander!«
»Ja! Tschüss, Papa!«
Ich fuhr wieder zur Firma.
In den nächsten Tagen versuchte ich, Caro telefonisch zu erreichen – vergebens! Ich versuchte es bestimmt 30, 40 Mal. Endlich ging sie mal dran:
»Caro, ich möchte mal unsere Kinder sehen.«
»Die wollen dich nicht sehen. Die haben Angst vor dir!«
Sie redete wirres Zeug und sie kam mir sehr fremd vor. Ein bisschen erinnerte mich das wieder an unsere ersten Telefonate. Sie war sehr träge, verträumt. Betäubt? Ich merkte, dass es keinen Sinn hatte, mit ihr zu reden, und beendete wieder das Gespräch.
Die Kinder bekam ich nicht, obwohl ich es Alex versprochen hatte. Obwohl ich ein Recht auf meine Kinder hatte. Drei Wochen lang! Ich hoffte, dass Caro selbst wieder zu Verstand kommen würde.
Samstagabend mitten im Juni. Es war Sommeranfang: Ich bemerkte nicht, wie schön der Sommer war. Vielen Männer gefiel bestimmt die