Am Ufer des Rio Piedra saß ich und weinte - Paulo Coelho - E-Book + Hörbuch

Am Ufer des Rio Piedra saß ich und weinte E-Book

Paulo Coelho

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Beschreibung

Sie waren Jugendfreunde, ehe sie sich aus den Augen verloren. In Madrid treffen sie sich wieder: sie, eine angehende Richterin, die das Leben gelehrt hat, stark und vernünftig zu sein; er, Weltenbummler und sehr undogmatischer Seminarist, der vor seiner Ordination Pilar noch einmal wiedersehen will. Beide verbindet ihr Drang, aus ihrem sicheren Leben auszubrechen und ihre Träume zu wagen.

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Paulo Coelho

Am Ufer des Rio Piedra saß ich und weinte

Diogenes

Heilige Maria,

ohne Sünden empfangen,

bete für uns,

die wir uns an dich wenden.

Amen.

»Und doch ist die Weisheit gerechtfertigt worden von allen ihren Kindern.«

Lukas, 7:35

Für I.C. und S.B., deren Liebe mich

das weibliche Antlitz Gottes sehen ließ;

Monica Antunes, Gefährtin der ersten Stunde,

die mit ihrer Zuneigung und Begeisterungsfähigkeit

das Feuer über die ganze Welt verbreitet;

Paulo Rocco für die Fröhlichkeit, mit der

wir gemeinsam kämpften, und für die Würde

der Kämpfe, die wir gemeinsam ausfochten;

Matthew Lore, weil er nicht eine

einzige Zeile des ›I Ging‹ vergessen hat:

»Beharrlichkeit ist günstig.«

Vorwort

Ein spanischer Missionar landete einst auf einer Insel und traf dort auf drei aztekische Priester.

»Wie betet ihr?« fragte der Pater.

»Wir haben nur ein einziges Gebet«, antwortete einer der Azteken. »Wir sagen: ›Gott, Du bist drei, und wir sind drei. Erbarme dich unser.‹«

»Ich werde euch ein Gebet lehren, das Gott erhören wird«, sagte der Missionar. Und er lehrte sie ein katholisches Gebet. Dann reiste er weiter. Auf seiner Rückreise nach Spanien machte er wieder bei dieser Insel halt.

Als sein Schiff sich dem Ufer näherte, kamen die drei Priester ihm auf dem Wasser entgegengelaufen. »Vater, Vater«, rief der eine ihm zu. »Bitte lehre uns noch einmal das Gebet, das Gott erhört. Wir haben die Worte vergessen.«

»Ihr braucht es nicht«, antwortete der Pater angesichts des Wunders. Und er bat Gott um Vergebung, weil er begriffen hatte, daß Er alle Sprachen spricht.

 

Diese Geschichte veranschaulicht, was ich in Am Ufer des Rio Piedra saß ich und weinte erzählen möchte. Nur selten ist uns bewußt, daß ringsum Unerklärliches existiert. Es geschehen Wunder, Zeichen Gottes weisen uns den Weg, die Engel bitten darum, gehört zu werden. Doch da uns beigebracht wurde, daß es Formeln und Regeln gibt, die befolgt werden müssen, um zu Gott zu gelangen, nehmen wir dies alles nicht wahr. Wir müssen erst noch begreifen, daß Gott dort ist, wo man Ihn hereinläßt.

Traditionelle religiöse Praktiken sind wichtig: Sie ermöglichen uns die gemeinsame Erfahrung von Verehrung und Gebet. Doch wir sollten nie vergeßen, dass spirituelle Erfahrung vor allem die Erfahrung gelebter Liebe ist. Und in der Liebe gibt es keine Regeln. Wir können versuchen, was Ratgeberbücher uns vorschlagen, können versuchen, über unser Herz zu gebieten, eine Verhaltensstrategie zu entwickeln –, doch das ist alles dummes Zeug. Am Ende entscheidet das Herz, und allein seine Entscheidung zählt.

Wir alle haben in unserem Leben schon diese Erfahrung gemacht. Irgendwann haben wir alle schon einmal unter Tränen gesagt: »Ich leide wegen einer Liebe, die es nicht wert ist.« Wir leiden, weil wir glauben, mehr zu geben als zu empfangen. Wir leiden, weil unsere Liebe nicht wahrgenommen wird. Wir leiden, weil wir anderen unsere Regeln nicht aufzwingen können.

Letztlich aber gibt es keinen guten Grund, um einer Liebe willen zu leiden: Denn in jeder Liebe liegt eine Keimzelle für unser spirituelles Wachstum. Je mehr wir lieben, umso näher kommen wir der spirituellen Erfahrung. Die wahrhaft Erleuchteten haben mit ihren von der Liebe entflammten Seelen alle Vorurteile ihrer Zeit hinter sich gelassen. Sie sangen, lachten, beteten laut, teilten das miteinander, was Paulus »göttlichen Wahnsinn« nannte. Sie waren fröhlich –, denn wer liebt, hat die diesseitige Welt besiegt, hat keine Angst davor, etwas zu verlieren. Die wahre Liebe ist ein Akt vollkommener Hingebung.

 

Am Ufer des Rio Piedra saß ich und weinte ist ein Buch über ebendiese Art der Hingabe. Pilar und ihr Gefährte sind fiktive Personen, sie verkörpern jedoch die vielen inneren Konflikte, die wir auf der Suche nach der Anderen Seite austragen müssen. Früher oder später müssen wir unsere Ängste überwinden – denn der spirituelle Weg führt über Erfahrung täglich gelebter Liebe.

Der Mönch Thomas Merton sagte einmal sinngemäß: »Spirituelles Leben besteht im Wesentlichen darin zu lieben. Man liebt nicht, weil man jemandem Gutes tun oder helfen oder ihn schützen will. Tun wir dies, sehen wir unseren Nächsten nur als Objekt und uns selber als großzügige, weise Menschen. Mit Liebe hat das nichts zu tun. Lieben heißt eine spirituelle Verbindung mit dem anderen einzugehen und in ihm den Funken Gottes zu entdecken.«

Möge die Geschichte von Pilar, die am Ufer des Rio Piedra weint, uns den Weg zu spiritueller Verbundenheit mit den anderen weisen.

Paulo Coelho 

Am Ufer des Rio Piedra …

… saß ich und weinte. Alles, was in die Wasser dieses Flusses fällt – die Blätter, die Insekten, die Federn der Vögel –, verwandelt sich in seinem Bett zu Steinen, heißt es in der Legende. Wenn ich mir doch das Herz aus der Brust reißen und es in seinen Lauf werfen könnte, dann hätten der Schmerz und die Sehnsucht ein Ende, und es gäbe keine Erinnerungen mehr.

Am Ufer des Rio Piedra saß ich und weinte. Die Winterkälte ließ mich die Tränen auf meinem Gesicht spüren, die sich mit dem an mir vorbeiströmenden eisigen Wasser vermischten. Irgendwo mündet dieser Fluß in einen anderen, dann einen weiteren, bis fern von meinen Blicken und meinem Herzen all diese Wasser im Meer aufgehen.

Wenn doch meine Tränen so weit fließen könnten, daß der, den ich liebe, nie erfährt, daß ich um ihn geweint habe. Wenn doch meine Tränen so weit fließen könnten, weil ich erst dann den Rio Piedra vergessen würde, das Kloster, die Kirche in den Pyrenäen, den Nebel, die Wege, die wir gemeinsam gingen.

Dann würde ich die Straßen, die Berge und die Felder meiner Träume vergessen – meiner Träume, die mir damals nicht bewußt waren.

Ich erinnere mich an meinen magischen Augenblick, diesen Moment, in dem ein Ja oder ein Nein unser ganzes Leben verändern können. Mir kommt es so vor, als läge er schon lange zurück, und doch ist erst eine Woche vergangen, seit ich dem, den ich liebe, wiederbegegnet bin und ihn dann verloren habe.

An den Ufern des Rio Piedra habe ich diese Geschichte aufgeschrieben. Meine Hände waren steif vor Kälte, meine Beine vom Sitzen wie abgestorben, und ich mußte immer wieder innehalten.

»Versuche zu leben. Zurückblicken ist etwas für die Alten«, sagte er.

Vielleicht läßt uns die Liebe vorzeitig altern oder hält uns jung, wenn die Jugend bereits vorüber ist. Doch wie sollte ich mich an all diese Augenblicke nicht erinnern? Ich will die Traurigkeit in Sehnsucht, die Einsamkeit in Erinnerung verwandeln, nur darum schreibe ich, damit ich, wenn alles erzählt wäre, die Geschichte in den Rio Piedra werfen könnte, so, wie mir die Frau riet, die mich bei sich aufgenommen hat. Dann könnte das Wasser – wie eine Heilige einmal gesagt hat – das löschen, was das Feuer geschrieben hat.

Alle Liebesgeschichten sind gleich.

 

Wir hatten unsere Kindheit und Jugend miteinander verlebt. Er ging fort, verließ das Städtchen wie alle jungen Burschen. Er sagte, er wolle die Welt kennenlernen, seine Träume reichten über die Felder von Soria hinaus.

Mehrere Jahre hörte ich nichts von ihm. Dann erhielt ich hin und wieder einen Brief, doch das war alles – denn in die Wälder und die Straßen unserer Kindheit kehrte er nie wieder zurück.

Nach dem Abschluß der Schule ging ich nach Saragossa – und entdeckte, daß er recht hatte. Soria war eine Kleinstadt, und ihr einziger berühmter Dichter hatte gesagt, ein Weg sei dazu da, ihn zu beschreiten. Ich fing an zu studieren, hatte einen festen Freund. Ich bereitete mich auf die Prüfung zur Aufnahme in den öffentlichen Dienst vor, legte sie jedoch nie ab. Ich arbeitete als Verkäuferin, bezahlte von dem Gehalt mein Studium, fiel durch die Abschlußprüfung, trennte mich von meinem festen Freund.

Ich bekam dann häufiger Briefe von meinem Jugendfreund – und die Briefmarken aus anderen Ländern machten mich neidisch. Er war der Ältere, der alles wußte, der durch die Welt reiste, seine Flügel wachsen ließ – während ich versuchte, Wurzeln zu schlagen.

 

In einem Brief sprach er dann plötzlich von Gott, und die Briefe, die folgten, kamen immer aus demselben Ort in Frankreich. In einem sprach er davon, daß er ins Priesterseminar eintreten und sein Leben dem Gebet weihen wollte. Ich schrieb ihm zurück, bat ihn, noch ein wenig zu warten, noch ein wenig seine Freiheit zu genießen, bevor er sich endgültig entschied.

Als ich meinen Brief noch einmal durchlas, zerriß ich ihn: Wer war ich denn schon, um ihm etwas über Freiheit und Verpflichtung zu sagen. Er wußte um diese Dinge, nicht ich.

 

Eines Tages erfuhr ich, daß er Vorträge hielt. Es überraschte mich, denn er war noch zu jung, um irgend etwas zu lehren. Vor zwei Wochen aber schickte er mir dann eine Karte und teilte mir mit, daß er vor einer kleinen Gruppe in Madrid reden würde und großen Wert darauf lege, daß ich auch zugegen sei.

Ich reiste die vier Stunden von Saragossa nach Madrid, weil ich ihn wiedersehen wollte. Ich wollte ihm zuhören. Wollte mich mit ihm in eine Bar setzen, mich an die Zeiten erinnern, in denen wir zusammen spielten und glaubten, die Welt sei zu groß, als daß man sie je ganz kennenlernen konnte.

Samstag, 4. Dezember 1993

Der Vortrag fand in einem förmlicheren Rahmen und vor mehr Leuten statt, als ich erwartet hatte. Ich konnte es mir nicht erklären.

›Wer weiß, vielleicht ist er berühmt geworden‹, dachte ich. In seinen Briefen hatte er mir nichts davon erzählt. Ich hätte gern mit den anderen Zuhörern gesprochen, sie gefragt, warum sie gekommen waren, doch ich traute mich nicht.

Als ich ihn hereinkommen sah, war ich überrascht. Er wirkte anders als der Junge, den ich gekannt hatte – was nicht verwunderlich war, in elf Jahren verändert man sich eben. Er war schöner, und seine Augen leuchteten.

»Er gibt uns zurück, was unser war«, sagte eine Frau neben mir. Ein merkwürdiger Satz.

»Was gibt er zurück?« fragte ich.

»Was uns geraubt wurde. Die Religion.«

»Nein, er gibt sie uns nicht zurück«, sagte eine jüngere Frau, die rechts neben mir saß. »Man kann uns nicht zurückgeben, was uns sowieso gehört.«

»Und was machen Sie dann hier?« fragte die erste Frau ungehalten.

»Ich will ihn hören. Will erfahren, was die Leute hier denken, denn einmal haben sie uns schon verbrannt, und sie könnten es wieder tun.«

»Er ist ein einsamer Rufer«, sagte die Frau, »er tut, was er kann.«

Die junge Frau lächelte ironisch, wandte sich nach vorn und beendete so das Gespräch.

»Für einen Seminaristen ist das sehr mutig«, fuhr die Frau fort und sah mich Zustimmung heischend an.

Ich begriff überhaupt nichts, schwieg, und die Frau ließ es dabei bewenden. Die junge Frau neben mir zwinkerte mir komplizenhaft zu.

Doch ich schwieg aus einem anderen Grund. Mir ging durch den Kopf, was die Dame gesagt hatte. Sie hatte ihn Seminarist genannt.

Das konnte nicht sein. Er hätte es mir gesagt.

Er begann zu sprechen, doch ich konnte mich nicht konzentrieren. ›Ich hätte mich besser anziehen sollen‹, dachte ich und verstand selbst nicht, warum ich mir darüber so viele Gedanken machte. Er hatte mich im Publikum bemerkt, und ich überlegte, was er dachte: Wie er mich wohl fand? Hatte ich mich sehr verändert?

Seine Stimme war dieselbe. Seine Worte hingegen waren es nicht.

 

Man muß Risiken eingehen, sagte er. Wir können das Wunder des Lebens nur richtig verstehen, wenn wir zulassen, daß das Unerwartete geschieht.

Jeden Tag läßt Gott die Sonne aufgehen und schenkt uns jeden Tag einen Augenblick, in dem es möglich ist, alles das zu ändern, was uns unglücklich macht. Tag für Tag übergehen wir diesen Augenblick geflissentlich, als wäre das Heute wie gestern und das Morgen auch nicht anders. Aber derjenige, der seinen Tag bewußt lebt, nimmt den magischen Augenblick wahr. Er kann in dem Moment verborgen sein, in dem wir morgens den Schlüssel ins Schlüsselloch stecken, im Augenblick des Schweigens nach dem Abendessen, in den Tausenden von Dingen, die uns alle gleich anmuten. Diesen Augenblick gibt es – den Augenblick, in dem alle Kraft der Sterne uns durchdringt und uns Wunder vollbringen läßt.

Manchmal ist das Glück ein Geschenk – doch zumeist will es erobert werden. Der magische Augenblick eines Tages hilft uns, etwas zu verändern, läßt uns aufbrechen, um unsere Träume zu verwirklichen.

Wir werden leiden, werden schwierige Momente durchmachen, werden viele Enttäuschungen erleben – doch all dies geht vorüber und hinterläßt keine Spuren. Und später können wir stolz und vertrauensvoll zurückblicken.

Weh dem, der sich davor fürchtet, ein Risiko einzugehen. Vielleicht wird er nie ernüchtert oder enttäuscht und auch nicht leiden wie jene, die träumen und diesen Träumen folgen. Doch wenn er dann zurückblickt – und wir blicken immer zurück –, wird er hören, wie sein Herz ihm sagt: ›Was hast du aus den Wundern gemacht, die Gott über deine Tage verteilt hat? Was hast du mit den Talenten gemacht, die dir dein Meister anvertraut hat? Du hast sie in einer Grube vergraben, weil du Angst hattest, sie zu verlieren. Und so ist dies nun dein Erbe: die Gewißheit, daß du dein Leben vergeudet hast.‹

Weh dem, der diese Worte hört. Denn nun wird er an Wunder glauben, doch die magischen Augenblicke seines Lebens werden bereits verstrichen sein.

Kaum hatte er geendet, da umringten ihn die Leute. Ich wartete, fragte mich, wie er mich nach so vielen Jahren wohl finden würde. Ich fühlte mich wie ein Kind – unsicher, eifersüchtig, weil ich seine neuen Freunde nicht kannte, unbehaglich, weil er sich mehr um die anderen kümmerte als um mich.

Dann kam er auf mich zu. Er errötete und war nicht mehr der Mann, der wichtige Dinge sagte; er war wieder der kleine Junge, der sich mit mir in der Einsiedelei des heiligen Saturius versteckte, mir von seinem Traum erzählte, die Welt zu bereisen – während unsere Eltern die Polizei alarmierten, weil sie glaubten, wir seien im Fluß ertrunken.

»Hallo Pilar«, sagte er.

Ich küßte ihn auf die Wange. Ich hätte ihm gratulieren können. Ich hätte es nicht aushalten können, unter so vielen Leuten zu sein. Ich hätte irgendeinen launigen Kommentar über unsere Kindheit machen können und darüber, wie stolz ich war, ihn von den anderen bewundert zu sehen.

Ich hätte mich mit dem Hinweis, daß ich schnell weg mußte, um den letzten Nachtbus nach Saragossa zu erwischen, aus dem Staube machen können.

Ich hätte es tun können. Wir werden die Tragweite dieses Satzes nie ganz ermessen. Denn in jedem Augenblick unseres Lebens gibt es Dinge, die hätten geschehen können und dann doch nicht geschehen sind. Es gibt magische Augenblicke, die unbeachtet verstreichen, aber auch andere, in denen die Hand des Schicksals unvermittelt unser gesamtes Leben verändert.

Ebendies geschah in diesem Augenblick. Anstatt all der Dinge, die ich hätte tun können, stellte ich eine Frage, die mich eine Woche später an diesen Fluß brachte und dazu, diese Zeilen zu schreiben.

»Wollen wir einen Kaffee trinken?« fragte ich.

Und er ergriff, indem er sich mir zuwandte, die Hand, die ihm das Schicksal reichte: »Ich muß unbedingt mit dir reden. Morgen halte ich einen Vortrag in Bilbao. Ich bin mit dem Auto gekommen.«

»Ich muß nach Saragossa zurück«, antwortete ich, ohne zu wissen, daß dies der letzte Fluchtweg war.

Doch im Bruchteil einer Sekunde, vielleicht weil ich wieder zum Kind geworden war, vielleicht weil nicht wir es sind, die die besten Augenblicke in unserem Leben schreiben, sagte ich: »In ein paar Tagen ist der Tag der Unbefleckten Empfängnis Mariä. Da habe ich frei. Ich kann dich nach Bilbao begleiten und von dort aus zurückfahren.«

Eine Bemerkung zum ›Seminaristen‹ lag mir auf der Zunge.

»Wolltest du mich noch etwas fragen?« meinte er, weil er mir das ansah.

»Ja, schon«, versuchte ich abzulenken. »Vor dem Vortrag sagte eine Frau, daß du ihr zurückgibst, was ihr gehört.«

»Das ist unwichtig.«

»Für mich ist es wichtig. Ich weiß nichts über dein Leben, ich war überrascht, so viele Leute hier zu sehen.«

Er lachte und wandte sich den anderen zu.

»Moment mal«, sagte ich und hielt ihn am Arm fest. »Du hast meine Frage nicht beantwortet.«

»Das interessiert dich doch nicht weiter, Pilar.«

»So oder so, ich möchte es wissen.«

Er atmete tief durch und führte mich in eine Ecke des Saales.

»Die drei großen monotheistischen Religionen – der jüdische Glaube, das Christentum und der Islam – sind männlich. Die Priester sind Männer. Männer regieren die Dogmen und machen die Gesetze.«

»Und was wollte die Frau sagen?«

Er zögerte etwas. Antwortete aber dann doch:

»Daß ich die Dinge anders sehe. Daß ich glaube, daß er auch ein weibliches Gesicht hat.«

Ich atmete erleichtert auf; die Frau hatte sich geirrt. Er konnte kein Seminarist sein, denn Seminaristen sehen die Dinge nicht anders.

»Die Erklärung reicht mir«, antwortete ich.

 

Die junge Frau, die mir zugezwinkert hatte, wartete an der Tür auf mich.

»Ich weiß, daß dich und mich etwas verbindet«, sagte sie. »Ich heiße Brida.«

»Ich weiß nicht, wovon du redest«, antwortete ich.

»Aber natürlich weißt du es«, sagte sie lachend.

Sie packte mich am Arm und zog mich hinaus, noch bevor ich Zeit hatte, etwas klarzustellen. Die Nacht war sehr kalt, und ich wußte nicht recht, was ich bis zum nächsten Morgen machen sollte.

»Wohin gehen wir?«

»Zur Statue der Göttin«, war ihre Antwort.

»Ich brauche ein preiswertes Hotel, um dort die Nacht zu verbringen.«

»Nachher sage ich dir eins.«

Ich hätte mich lieber in ein Café gesetzt, noch etwas geredet, um soviel wie nur möglich über ihn zu erfahren. Doch ich wollte mich nicht mit ihr streiten. Ich ließ mich von ihr über den Paseo de la Castellana führen und schaute mir dabei nach so vielen Jahren einmal wieder Madrid an.

Mitten auf dem Boulevard blieb sie stehen und deutete zum Himmel hinauf.

»Da ist der Mond – oder besser die Mondin«, sagte sie.

Der Vollmond schien durch die kahlen Zweige hindurch.

»Er ist schön«, meinte ich.

Doch sie hörte mir nicht zu. Sie breitete, die Handflächen nach oben gewandt, die Arme aus und blieb in die Betrachtung des Mondes versunken stehen.

›Wo bin ich bloß hineingeraten‹, dachte ich. ›Ich kam her, um mir einen Vortrag anzuhören, und jetzt stehe ich mit dieser Verrückten auf dem Paseo de la Castellana, und morgen reise ich nach Bilbao.‹

»Du Spiegel der Göttin Erde«, sagte das junge Mädchen mit geschlossenen Augen. »Lehr uns unsere Macht, mach, daß die Menschen uns verstehen. In deinem Wachsen, deinem Strahlen, deinem Ersterben und Wiederauferstehen hast du uns den Zyklus des Samens und der Frucht gezeigt.«

Die junge Frau reckte die Arme zum Himmel und blieb lange so stehen. Die Passanten schauten sie an und lachten, doch sie bemerkte es nicht, während ich im Boden hätte versinken mögen, weil ich neben ihr stand.

»Ich mußte das einfach tun«, sagte sie, nachdem sie Luna lange gehuldigt hatte. »Die Göttin möge uns beschützen.«

»Wovon redest du eigentlich?«

»Von genau dem, was dein Freund gesagt hat, nur mit wahren Worten.«

Ich bereute nun, den Vortrag nicht aufmerksamer verfolgt zu haben. Ich wußte einfach nicht mehr, was er gesagt hatte.

»Wir kennen das weibliche Antlitz Gottes«, sagte sie, als wir weitergingen. »Wir, die Frauen, die wir die Große Mutter verstehen und lieben. Wir haben unser Wissen mit Verfolgung und Scheiterhaufen bezahlt, doch wir haben überlebt. Und nun begreifen wir ihr Geheimnis.«

Scheiterhaufen. Hexen.

Ich sah mir die junge Frau neben mir genauer an. Sie war hübsch, ihr rotblondes Haar fiel ihr fast bis auf die Taille.

»Während die Männer auf die Jagd gingen, blieben wir in den Höhlen zurück, im Leib der Mutter, und kümmerten uns um unsere Kinder«, fuhr sie fort. »Und es war die Große Mutter, die uns alles lehrte.

Das Leben des Mannes war Bewegung, wir aber blieben im Leib der Mutter. So lernten wir, daß die Samen zu Pflanzen wurden, und sagten es unseren Männern. Wir backten das erste Brot und ernährten sie. Wir formten das erste Gefäß, damit sie daraus trinken konnten. Und wir begriffen den Zyklus der Schöpfung, denn unser Körper wiederholte den Rhythmus des Mondes.«

Unvermittelt blieb sie stehen.

»Da ist sie.«

Ich schaute. Mitten auf einem allseits vom Verkehr umbrandeten Platz stand ein Brunnen. Inmitten des Brunnens eine Skulptur, die eine Frau mit einem Löwengespann darstellte.

»Das ist der Kybele-Platz«, sagte ich, um zu zeigen, daß ich Madrid kannte. Ich hatte diese Skulptur schon zigmal auf Postkarten gesehen.

Doch sie hörte mir nicht zu. Sie war bereits mitten auf der Fahrbahn, versuchte hakenschlagend durch den Verkehr zu kommen.

Ich beschloß, sie einzuholen, nur um sie nach einem Hotel zu fragen. Soviel Verrücktheit machte mich fertig, und ich sehnte mich nach einem Bett.

Wir gelangten fast gleichzeitig zum Brunnen. Mir schlug das Herz bis zum Hals, sie hatte ein Lächeln auf den Lippen.

»Das Wasser«, sagte sie. »Im Wasser offenbart sie sich.«

»Bitte, ich brauche den Namen eines Hotels.«

Sie tauchte ihre Hände in den Brunnen.

»Mach du es auch«, sagte sie zu mir. »Berühr das Wasser.«

»Auf gar keinen Fall. Aber ich will nicht weiter stören. Ich werde mir selbst ein Hotel suchen.«

»Nur einen Augenblick noch.«

Die junge Frau zog eine kleine Flöte aus der Tasche und begann zu spielen. Die Musik wirkte hypnotisierend: das Geräusch des Verkehrs trat in den Hintergrund, und mein Herz beruhigte sich.

Ich setzte mich auf den Brunnenrand, lauschte, den Blick zum Vollmond über uns gewandt, dem Rauschen des Wassers und dem Klang der Flöte. Irgend etwas sagte mir, obwohl ich es nicht recht verstand, daß ich dort meiner Natur als Frau nahe war.

Ich weiß nicht, wie lange sie spielte. Als sie aufgehört hatte, wandte sie sich zum Brunnen.

»Kybele«, sagte sie. »Eine der Verkörperungen der Großen Mutter. Sie herrscht über die Ernte, erhält die Städte, gibt der Frau ihre Rolle als Priesterin zurück.«

»Wer bist du?« fragte ich. »Warum wolltest du, daß ich dich begleite?«

Sie wandte sich mir zu: »Ich bin das, wofür du mich hältst. Ich gehöre zu denen, die die Mutter Erde als höchste Gottheit betrachten.«

»Was willst du von mir?« beharrte ich.

»Ich kann in deinen Augen lesen. Ich kann in deinem Herzen lesen. Du wirst dich verlieben. Und leiden.«

»Ich?«

»Du weißt, was ich meine. Ich habe gesehen, wie er dich angeblickt hat. Er liebt dich.«

Diese junge Frau war verrückt.

»Deshalb habe ich dich gebeten, mit mir zu kommen«, fuhr sie fort. »Denn er ist wichtig. Auch wenn er Unsinn redet, zumindest erkennt er die Große Mutter an. Laß nicht zu, daß er sich verliert. Hilf ihm.«

»Du weißt nicht, was du da sagst. Du phantasierst«, sagte ich, während ich mich wieder zwischen die Autos stürzte und mir schwor, die Worte des Mädchens zu vergessen.

Sonntag, 5. Dezember 1993

Wir hielten an, um einen Kaffee zu trinken.

»Das Leben hat dich viele Dinge gelehrt«, sagte ich, nur um etwas zu sagen.

»Es hat mich gelehrt, daß wir lernen können, es hat mich gelehrt, daß wir uns verändern können«, antwortete er, »auch wenn es unmöglich erscheinen mag.«

Dann schwieg er. Wir hatten während der zwei Stunden Fahrt kaum miteinander gesprochen, bis wir bei diesem Café an der Straße angelangt waren.

 

Anfangs hatte ich versucht, unsere gemeinsame Kindheit wieder auferstehen zu lassen, doch er zeigte nur höf‌liches Interesse. Er hörte mir überhaupt nicht zu, stellte Fragen zu Dingen, die ich längst gesagt hatte.

Irgend etwas stimmte nicht. Vielleicht hatten Zeit und Entfernung ihn für immer meiner Welt entfremdet. ›Er redet über magische Augenblicke‹, dachte ich. ›Was können ihn da schon die Lebenswege von Carmen, von Santiago oder Maria interessieren?‹ Seine Welt war eine andere, Soria war nur noch eine ferne Erinnerung – dort war die Zeit stehengeblieben, die Freunde der Kindheit waren immer noch Kinder, die Alten lebten noch und machten genau das, was sie vor neunundzwanzig Jahren gemacht hatten.

Ich bereute allmählich, mitgefahren zu sein. Als er im Café wieder das Thema wechselte, beschloß ich, nicht weiter nachzuhaken.

 

Die letzten zwei Stunden bis Bilbao waren eine einzige Tortur. Er schaute auf die Straße, ich blickte aus dem Fenster, und keiner von uns beiden verhehlte das Unbehagen, das sich zwischen uns breitgemacht hatte. Der Mietwagen hatte kein Radio, da blieb einem nichts anderes übrig, als das Schweigen zu ertragen.