Amazonas im Blut - Larissa Haß - E-Book

Amazonas im Blut E-Book

Larissa Haß

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Beschreibung

Was tust du, wenn du deinen heimlichen Schwarm beim Küssen deiner besten Freundin erwischt? Entweder du vergräbst dich in einem dunklen Zimmer oder du übst mit deinem besten Freund aus Kindheitstagen, wie Dates und die Liebe eigentlich funktionieren! Einen Tag vor Beginn der Hamburger Sommerferien muss Thamea auf einer Party dabei zusehen, wie ihr heimlicher Schwarm ihre beste Freundin küsst. Doch obwohl sich Thamea daraufhin am liebsten in ihrem Zimmer verkriechen will, muss sie mit in den Familienurlaub nach Santos in Brasilien, um die Verwandtschaft ihrer Mutter zu besuchen. Als sie dort auf Jaime, ihren Freund aus Kindheitstagen, trifft, wagt sie, sich ihm anzuvertrauen. Damit beginnt für Thamea ein Abenteuer aus Fake-Dates, Musik und der Reise zu sich selbst, während sie ihrem ganz eigenen brasilianischen Herzschlag folgt. Ein Own Voice Roman voller Musik, brasilianischem Rhythmus und luftig-leichter Liebe!

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Amazonas im Blut

Larissa Haß

 

 

 

 

Larissa Haß

Amazonas im Blut

 

 

Content Notes: Rassismus, Häusliche Gewalt, Erbrechen

 

1. Auflage 2025

Copyright © Novel Arc Verlag, Fridolfing 2025

Novel Arc Verlag, Kirchenstraße 10, 83413 Fridolfing

Alle Rechte vorbehalten.

Das Werk darf im Ganzen, wie auch in Teilen, nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben, vervielfältigt, übersetzt, öffentlich zugänglich gemacht oder auf andere Weise in gedruckter oder elektronischer Form verbreitet werden.

 

www.novelarc.de

www.novelarcshop.de

 

Umschlaggestaltung: formlabor

Lektorat: Mareike Westphal (Worttief) & Tino Falke

Korrektorat: Tino Falke

 

Klappenbroschur: 978-3-910238-64-0

E-Book Ausgabe: 978-3-910238-70-1

 

Thameas Playlist

Normal Girl – SZA

White Boy – Jensen McRae

Special – SZA

If I Weren’t Me – Katherine Li

am i not enough for now? – MARO

Who – MUNA

Never – MUNA

oh, mexico – Jeremy Zucker

opposite – Sabrina Carpenter

Undertone – Julia Michaels

Permanent Vacation – The Academic

Rollercoaster – Bleachers

Amigos Até Certa Instância - Jovem Dionisio

i’m just afraid, i’m so afraid – MARO

Wish on an Eyelash – Mallrat

Tell you How I’m Feeling – Kevin Garrett

Só Sei Dançar Com Você – Tulipa Ruiz, Zé Pi

The One – Jorja Smith

Clean – The Japanese House

Labyrinth – Taylor Swift

Little Did I Know – Julia Michaels

 

 

 

Für Midian.

 

 

Kapitel 1

Glasscherben zerspringen laut neben meinem Kopf, und der beißende Geruch von Alkohol sickert durch die weiße Tapete und verbreitet sich in dem stickigen Wohnzimmer.

Meine Muskeln schmerzen, so heftig bin ich zusammengezuckt, doch das ist niemandem aufgefallen.

Die Gruppe von Mistkerlen, die es für eine gute Idee gehalten hat, mit vollen Bierflaschen Völkerball zu spielen, lacht laut und zeigt mit ihren Fingern auf die Stelle, an der die Flasche zersprungen ist.

Einen Zentimeter weiter und das Glas wäre in meinem Gesicht gelandet. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie dann genauso gelacht hätten.

Ich verdrehe die Augen und versuche, so schnell wie möglich das große Wohnzimmer zu verlassen, um mich keinen weiteren Gefahren auszusetzen.

Der Bass der Musik, die durch das gesamte Haus dröhnt, vibriert in meinen Knochen, und ich zwänge mich an einem knutschenden Pärchen im Flur vorbei, um in die Küche zu gelangen.

Dort steht ein großer Vorrat an Alkohol, Chips und Plastikbechern auf der Kücheninsel.

Ich würde gern einen Becher randvoll mit Wodka füllen, um den Abend erträglicher zu machen, doch ich kann den Geschmack von Alkohol nicht ausstehen und muss mich mit einer Cola zufriedengeben.

Mit meinem Becher in der Hand lehne ich an der Kücheninsel und beobachte, wie ab und zu jemand, den ich vom Sehen aus der Schule kenne, hineinkommt und sich ein alkoholisches Getränk mischt.

Ich ziehe bereits in Erwägung, die Party zu verlassen, als ein blondes Mädchen die Küche betritt. Hätte sie mich nicht angefleht, sie zu begleiten, wäre ich zu Hause geblieben und hätte den Rest des Abends mit meiner Gitarre singend in meinem Zimmer verbracht. Die langen, glatten Haare fallen ihr über den Rücken, ihr schlanker Oberkörper steckt in einem seidenen Top, das sie in einen kurzen Rock gesteckt hat.

Als ihr Blick auf mich fällt, weiten sich ihre blauen Augen, und sie lächelt.

»Da bist du ja endlich«, sage ich und umarme sie zur Begrüßung. Dabei streifen meine Hände ihre Frisur.

Ich wünschte, die Party wäre früher angekündigt worden. Dann hätte ich genug Zeit gehabt, um die Haare zu glätten und gut auszusehen. Stattdessen ist mein Afro zu einem hohen Pferdeschwanz gebunden, um ihn aus dem Gesicht zu halten und mich nicht ständig daran zu erinnern, dass ich blöde Locken habe.

»Sorry, dass ich so spät bin, meine Mutter hat darauf bestanden, dass ich mein Zimmer aufräume, bevor ich gehe«, sagt Madita und nimmt sich eine Bierflasche von der Theke hinter mir.

Ihre Haut ist fast so hell wie die Kacheln an der Wand, und ich erwische mich dabei, wie mein Blick abwechselnd von ihrer Hand zu meiner huscht. Egal, wie viel Sonnencreme ich benutze und die Sonne meide, mein Teint ist immer etwas dunkler als der der anderen. Ein weiterer Grund, wieso ich die Haare glätten muss. Dann fällt das mit der Hautfarbe gar nicht so sehr auf. Mit meinen Locken merkt man sofort, dass ich nicht hier reinpasse.

»Hast du Kian schon gesehen?«, fragt Madita, und bei der bloßen Erwähnung seines Namens schlagen die Schmetterlinge in meinem Bauch mit ihren Flügeln.

»Ja«, sage ich. »Er ist im Garten.«

»Hast du schon mit ihm geredet?«

Ich schüttele den Kopf. Wie soll ich auch mit ihm gesprochen haben? Wenn ich nur an ihn denke, verschwindet der Sauerstoff aus meiner Lunge. In seiner Nähe zittert mein gesamter Körper, und ich kann keinen klaren Gedanken mehr fassen.

»Ich habe auf dich gewartet«, gebe ich zu und verfolge, wie Madita die Bierflasche an ihre dünnen Lippen setzt und einen ersten Schluck nimmt.

Ich würde alles dafür tun, um so auszusehen wie sie.

»Na dann los«, sagt sie, greift unter meinen Arm und zieht mich aus der Küche hinaus. In der Zeit, in der ich dort verweilt habe, sind noch mehr Gäste gekommen. Im Wohnzimmer wird kein Völkerball mit Glasflaschen mehr gespielt, stattdessen tanzen die Menschen eng umschlungen. Die Luft im Haus ist stickig und mit dem Geruch von Alkohol geschwängert. Immer wieder werde ich von Leuten angerempelt, und ihre Getränke schwappen auf mein blau gestreiftes T-Shirt. Als ich den Garten betrete, ist die rechte Seite des Stoffes mit Bier befleckt. Die kühle Luft der Sommernacht umspielt meine Nase, und endlich kann ich wieder frei atmen. In den Bäumen hängen Lichterketten, dazwischen brennt ein kleines Lagerfeuer mit Bierbänken drum herum. Eine Bank ist nicht komplett besetzt. Nur ein Junge sitzt dort, seine dunkelblonden Haare sind kurz geschnitten, seine Hände ausgestreckt, um sich an den Flammen zu wärmen. Auch wenn ich nur seinen Rücken sehe, beschleunigt sich mein Puls.

Ich kralle meine Finger in die Oberschenkel, um mich von dem schmerzhaften Pochen meines Herzens gegen die Rippen abzulenken.

Madita stößt mir mit der Hand in die Seite, sodass ich einige Schritte nach vorne taumele, und nickt in seine Richtung. Ihre Lippen verziehen sich zu einem schelmischen Grinsen.

Alles um mich herum fängt an, sich zu drehen, und ich bleibe unmittelbar hinter ihm stehen. Die Wärme des Feuers streicht bereits über meine Wangen, doch ich schaffe es nicht, einen Schritt weiterzugehen.

Und dann dreht er sich um, und mein Herz setzt aus.

Er mustert mein Gesicht aus hellen Augen. Grübchen bilden sich auf seinen Wangen.

»Hey, Thamea«, sagt er, und meinen Namen aus seinem Mund zu hören, lässt mich wie Schokolade an Ort und Stelle schmelzen.

»Hi«, erwidere ich, die Stimme kratzig und leise. Er hat es trotzdem gehört, denn er winkt mich zu sich.

O mein Gott!

Kian Renner winkt mich zu sich.

»Setz dich«, sagt er und klopft auf den freien Platz neben sich.

Ich drehe mich um. Madita ist verschwunden. Sie hat mich mit ihm und meinen Gefühlen allein gelassen.

Als ich mich wieder zu ihm umdrehe, liegt sein Blick noch immer auf mir.

Er wartet darauf, dass ich mich neben ihn setze.

Zitternd atme ich ein und nehme mit wackeligen Knien an seiner Seite Platz.

Sofort klemme ich die Hände unter die Oberschenkel.

Hitze schießt mir ins Gesicht, sodass ich die Schweißperlen spüre, die sich auf meiner Stirn bilden wollen.

»Ich habe vorhin nach dir gesucht«, sagt Kian, und eine Gänsehaut wandert über meinen Rücken. Er hat nach mir gesucht? Er hat nach mir gesucht!

»Ach ja?« Ich versuche, das Zittern in der Stimme so gut wie möglich zu verstecken. Ich will nicht, dass er weiß, wie hilflos ausgeliefert ich meinen Gefühlen für ihn bin.

»Ja, aber ich habe dich nicht gefunden.«

»Ich war in der Küche«, sage ich und starre in die orange züngelnden Flammen.

So viele Fragen schwirren mir durch den Kopf. Wieso hat er nach mir gesucht? Wie lief die Spanischklausur, die ihm Sorgen bereitet hat? Ist er gerade auch so nervös wie ich, weil wir uns nahe sind?

Doch die Lippen bleiben fest aufeinandergepresst, und mein Blick bewegt sich nicht vom Feuer weg. Ich werde wahrscheinlich in Ohnmacht fallen, wenn ich ihm in die Augen sehe und gleichzeitig so nah neben ihm sitze, wie ich es jetzt tue.

»Ich wollte dir noch mal für deine Spanischnotizen danken, die du mir gegeben hast. Ich habe die Klausur bestanden.«

»Glückwunsch«, sage ich und lächele.

Ich kann die Wärme spüren, die von seinem Körper ausgeht. Sie ist intensiver als die des Lagerfeuers. Auch wenn die anderen um uns herum in Gespräche vertieft sind, kann ich nichts hören, außer dem Knistern der Flammen und meinen eigenen Gedanken.

»Was machst du in den Sommerferien?«, frage ich schließlich. Ich will nicht, dass wir schweigen. Dass das zwischen uns, was immer es auch ist, endet.

Ich warte schon ein ganzes Jahr auf ein Zeichen, dass Kian mich ebenfalls mag.

365 Tage lang warte ich darauf, dass er meine Hand nimmt und mich küsst.

Doch alles, was wir tun, ist reden und schweigen.

Und ich fühle.

Auch wenn uns bis zum Abitur noch zwei Jahre bleiben, will ich es nicht riskieren, die Schule abzuschließen, ohne zu wissen, ob er meine Gefühle erwidert.

»Ich fliege mit ein paar Freunden nach Mallorca«, antwortet Kian. »Und du?«

»Ich besuche meine Familie in Brasilien«, sage ich und sehe ihm zum ersten Mal seit Langem direkt ins Gesicht.

»Mit deinen Eltern?«, hakt er nach, und ich nicke. Auch wenn ich zuletzt vor acht Jahren dort war, fühlt es sich so an, als wäre es gestern gewesen.

»Cool«, kommentiert Kian den Plan für meinen Sommer. »Ich wünschte, ich hätte den Amazonas im Blut.«

Seine Schulter ist nur wenige Millimeter von meiner entfernt, und manchmal, wenn er sich bewegt, berühren sie sich. Ein Kribbeln wandert dann von dort über meinen Arm, und ich frage mich, ob er in diesem Moment dasselbe spürt.

Das müsste er, sonst wäre er mir nicht so nahe.

Der flackernde Feuerschein wirft Schatten auf seine Haut, und in diesem Moment werden mir die Konturen seines Gesichts richtig bewusst.

Er hat das perfekte Aussehen, um gemalt zu werden.

Er ist einfach perfekt.

»Kannst du mir was aus Brasilien mitbringen?«, fragt Kian plötzlich, und ich hebe die Augenbrauen.

»Was denn?«

»Einen Fußball!«

Ich lache leise auf. »Einen Fußball?«

»Ja, vielleicht werde ich ja Profifußballer, weil der Ball aus irgendeinem besonderen Stoff besteht, der alle Brasilianer gut in Fußball macht.«

Am liebsten hätte ich in diesem Moment die Augen verdreht. Kian reagiert wie alle anderen, wenn ich ihnen sage, dass meine Mutter aus Brasilien kommt. Sofort strömen etliche Stereotype in seinen Kopf.

Fußball, Samba, Strand und schöne Frauen.

»Ich glaube, der Ball wird dir bei deiner Fußballkarriere nicht viel weiterhelfen, aber ich kann dir gern einen mitbringen.« Ich mag die Idee, ihm etwas mitzubringen. So verlieren wir vielleicht nicht den Kontakt über den Sommer, weil ich ihm mehr Fragen zu dem Ball stellen kann. Und nach den Sommerferien, wenn ich ihm den Fußball überreiche, wird er sehen, dass ich an ihn gedacht und ihm tatsächlich seinen Wunsch erfüllt habe.

Kian lächelt, und sein Lächeln ist wortwörtlich der Himmel auf Erden.

Wir wenden unsere Gesichter voneinander ab und sehen beide wieder ins Lagerfeuer.

Ich muss was trinken, um meine rasenden Gedanken zu beruhigen. Vielleicht weiß ich dann, was ich sagen kann, damit wir die ganze Nacht zusammenbleiben und er mich unter dem Sternenhimmel küsst.

»Ich geh mir was zu trinken holen. Möchtest du auch etwas?«, frage ich und stehe ruckartig auf.

»Ein Bier wäre toll.«

Ich nicke und schaue zum Haus.

»Thamea?« Kian steht plötzlich neben mir und hält mich an der Hand zurück. Bevor ich den Blick senken kann, um sicherzugehen, dass ich nicht träume, drückt sich etwas Warmes auf meine Wange. Ein Zittern fährt durch meinen Körper, und mit geweiteten Augen blinzele ich Kian an, der mir soeben einen Kuss auf die Wange gegeben hat. »Es ist wirklich toll, dass du hier bist.«

Seine Worte lassen mich so fühlen, als würden sich meine Füße vom Boden loslösen und ich davonschweben.

 

Die Musik dröhnt mir in den Ohren, als ich zurück ins Haus trete. Die Anzahl an knutschenden Pärchen hat sich verdoppelt, und im Badezimmer erbrechen sich bereits die ersten Gäste. Doch das ist mir in diesem Moment egal. Wichtig ist nur, dass Kian mir einen Kuss auf die Wange gegeben hat. Es ist die Bestätigung seiner Gefühle, auf die ich so lange gewartet habe.

Auf dem Weg in die Küche halte ich Ausschau nach Madita, aber sie ist nirgendwo zu finden. Ich vermute, dass sie sich inmitten der tanzenden Masse befindet. Wenn sie erst mal ein Bier intus hat, verschwinden ihre Hemmungen, und sie ist fast nicht mehr wiederzukennen. Dann komme ich ins Spiel. Ich bin diejenige, die dafür sorgt, den Schwarm an Jungs von ihr fernzuhalten, der ihre Situation ausnutzen will.

Wahrscheinlich kann ich nun nicht die ganze Nacht mit Kian verbringen, weil ich später wieder Babysitterin spielen muss. Allerdings ist das nicht so schlimm, schließlich weiß ich jetzt, dass er mich mag.

In der Küche fülle ich einen Becher mit Cola und trinke ihn in einem Zug leer. Eine Gruppe von Mädchen hat sich auf die andere Seite der Küchentheke gestellt und plündert eine Chipstüte. Sie reden leise miteinander und lachen. Immer wieder sehen sie zu mir rüber, und Hitze steigt mir in die Wangen. Meine Finger verkrampfen sich um den Becher, und auch wenn ich sie nicht verstehe, übertönt ihr Flüstern selbst das Dröhnen der Musik.

Reden sie über mich?

Instinktiv fasse ich mir in die Haare, um zu überprüfen, ob nicht irgendein Blatt darin hängen geblieben ist, wie es immer mal gern passiert. Dort ist nichts.

Ich schlucke den bitteren Geschmack in meinem Mund hinunter und greife nach einer Bierflasche, bevor ich die Küche und die Mädchen hinter mir zurücklasse. Ich versuche, mich von dieser Begegnung nicht irritieren zu lassen, wahrscheinlich habe ich mir das Ganze nur eingebildet. Auch als ich wieder von der tanzenden Menge angerempelt werde, lächele ich nur. Ich lächele, weil ich weiß, dass sich hinter der Glastür, die in den Garten führt, ein Junge befindet, der dafür sorgt, dass ich an nichts anderes denken kann als an ihn.

Es ist bereits so dunkel draußen, dass die Lichterketten in den Baumkronen nichts mehr bringen und der Großteil des Gartens in Dunkelheit getaucht ist. Auch das Feuer brennt langsam hinunter. Einige Mitschüler, die zuvor auf den Bänken gesessen haben, sind verschwunden. Es sitzen nur noch vier Leute am Lagerfeuer.

Kian ist keiner von ihnen.

Ich runzele die Stirn und blicke zurück zum Haus.

Ist er gegangen? Einfach so? Obwohl er wusste, dass ich ihm ein Bier mitbringe?

In meiner Brust wird es eng, während ich den Blick noch einmal um das Lagerfeuer herumgleiten lasse.

Vielleicht habe ich mir alles eingebildet und bin ihm unwichtig, nur eine von vielen, leicht zu vergessen.

Ich lege den Kopf in den Nacken und starre in den Nachthimmel. Es sind nicht viele Sterne zu sehen, und die, die ich erblicke, schenken mir nicht den Trost, den ich mir erhoffe.

Vielleicht gab es einen Notfall, und er musste schnell gehen?

Ich lasse meinen Blick vom Himmel sinken und betrachte die Lichterketten an den Bäumen. Die Stämme sind kaum beleuchtet, nur an einem kann ich Umrisse erkennen.

Ich kneife die Augen zusammen und versuche, mich auf die Schatten zu konzentrieren, die sich in der Dunkelheit unter dem Baum bewegen.

Sie sind schwer zu erkennen, doch ich kann sie sehen.

Es sind die Umrisse zweier Personen.

Ich mache einen Schritt auf den Baum zu, denn ich will wissen, was oder besser gesagt wer das ist. Vielleicht ist es Madita, die betrunken mit irgendeinem Jungen aus dem Abschlussjahrgang rummacht, und ich muss sichergehen, dass sie dies unter ihrem Alkoholeinfluss auch wirklich will. Obwohl die dumpfe Musik aus dem Haus die Ruhe der Nacht stört, kann ich ein leises Schmatzen vom Baum aus wahrnehmen. Darauf folgt ein unterdrücktes Stöhnen.

Augenblicklich sacken meine Schultern in sich zusammen, und ein unkontrollierbares Zittern befällt mich. Die Stimme könnte ich überall erkennen.

Wenige Sekunden bevor ich die Gesichter der Personen sehe, die eng umschlungen unter dem Baum stehen, reagiert mein Körper bereits.

Das Mädchen, dessen Zunge im Mund des Jungen steckt, neben dem ich vor zehn Minuten noch gesessen habe, ist schlank und blond.

Die Bierflasche fällt mit einem dumpfen Geräusch aus meiner Hand auf den Rasen. Es ist aber so leise, dass die zwei es nicht bemerken. Ganz im Gegenteil.

Das Mädchen krallt ihre Finger in die Haare des Jungen, und sie drehen sich jetzt so, dass das schwache Licht der Lichterketten auf ihre Gesichter fällt.

Auf die Gesichter von Madita und Kian.

Meine beste Freundin und der Junge, von dem sie weiß, dass ich ihn mehr als nur mag.

Ich presse die Hand gegen den Hals, um zu verhindern, dass ich ein lautes Schluchzen ausstoße, und taumele rückwärts.

Tränen füllen meine Augen, während sich blinkende Flecke in die schon eingeschränkte Sicht verirren.

In diesem Moment zerspringt etwas in meiner Seele.

Es ist nicht nur ein Stück meines Herzens, das gebrochen ist. Das Gefühl des Verrats erschüttert meinen Geist bis ins Innerste.

Die Nacht, die bis eben noch voller Möglichkeiten erschien, schnürt mir die Luft ab, und ich stolpere zurück ins Haus.

Meine Augen sind weit aufgerissen, und Tränen fließen die Wange hinunter, tropfen auf mein T-Shirt.

Ich stoße die Menschen weg, die mir zu nahe kommen, und habe nur ein Ziel vor Augen: Ich muss hier weg, so schnell es geht!

Kapitel 2

Wie in Trance mache ich mich um vier Uhr morgens fertig und fahre mit meinen Eltern zum Flughafen. Auf dem dreistündigen Flug in Richtung Lissabon schlafe ich die ganze Zeit. Erst im Gate, wo wir auf den Anschlussflug nach São Paulo warten, bin ich wach genug, um all die Erinnerungen an den gestrigen Abend wie einen Film im Kopf abzuspielen. Immer wieder überprüfe ich mein Handy, doch Kian hat mir nicht geschrieben.

In São Paulo angekommen, holt uns meine Oma, die ich Vovó auf Portugiesisch nenne, vom Flughafen ab und fährt uns zu ihrem Haus in Santos. Über die Stadt hinweg erstrecken sich Stromleitungen, Häuser in den verschiedensten Farben und Größen stehen eng aneinander am Straßenrand. Obwohl sich seit meinem letzten Besuch hier auf den ersten Blick nicht viel verändert hat, fallen mir dann doch kleine Dinge auf, die sich von meinen Erinnerungen unterscheiden. Die Motive für die Graffitis auf den Weg zu Vovós Stadtteil sind anders, die Musik, die im Radio spielt und vom Moderator als Sommerhits bezeichnet wird, kenne ich nicht. In Vovós Auto durch die Straßen von Santos zu fahren, fühlt sich an, wie zu Hause ankommen, und gleichzeitig, wie als Tourist in einem neuen Ort einzutreffen, den man nur von Bildern kennt.

Vovó führt mich ins ehemalige Zimmer meines Onkels, wo ich sofort den Jetlag ausschlafe. Das Erste, was ich nach dem Aufwachen tue, ist mein Notizbuch zu öffnen und zu schreiben. Ich blende alles um mich herum aus, während ich versuche, die richtigen Worte zu finden, um die Party zu beschreiben. Das schwarze lederne Buch gleitet mir fast aus den Händen, als ein lauter Knall ertönt. Das Geräusch kam definitiv von der Eingangstür, was nur eines bedeuten kann. Sie sind hier.

Mein Blick wandert auf die leere Seite, und ich entscheide mich dazu, später weiterzumachen. Jetzt ist die Familie zu Besuch, die ich seit acht Jahren nicht mehr gesehen habe, und sie können mir vielleicht eine gute Ablenkung werden. Ich rutsche von der Kante meines Betts und schlüpfe mit den Füßen in die weißen Havaianas, die Vovó mir gestern Abend nach der Ankunft in Brasilien geschenkt hat. Ich glaube, Flipflops sind ihre Sprache der Liebe, denn mir wird immer ein neues Paar überreicht, wenn wir uns alle paar Jahre über Weihnachten in Hamburg wiedersehen. Ich lasse meinen Blick durch das Zimmer gleiten, um mich mental auf den Besuch vorzubereiten. Unter einem vergitterten Fenster, das aus Sicherheitsgründen in jedem brasilianischen Haus ein Muss ist, steht ein schmales Bett. Daneben befindet sich ein Nachttisch. An der freien Wand hängt ein Bild von Jesus, dessen Blick mich durchlöchert. Gegenüber steht ein hölzerner Kleiderschrank, den Vovó für meine Ankunft leer geräumt hat. Bis jetzt hat mich die Motivation noch nicht gepackt, den Koffer zu öffnen und alles, was sich darin befindet, auszusortieren.

Es sind laute Stimmen zu hören, was das Zeichen für mich ist, herauszukommen und die Gäste zu begrüßen. Als ich die Tür öffne, stehe ich bereits im kleinen Wohnzimmer. Im Fernseher, der sich neben meiner Tür befindet, läuft irgendeine Telenovela auf einer niedrigen Lautstärke, und die Haustür, die direkt ins Wohnzimmer führt, ist weit geöffnet.

Mama ist dabei, ihre drei Geschwister nacheinander zu umarmen, die es alle nicht lassen können, eine Träne zu verdrücken, weil es eine Ewigkeit her ist, seit sie ihre jüngste Schwester gesehen haben. Tio Diego hat jetzt eine Glatze, und Tia Suellen ist die Einzige von allen, die ihre Haare in ihrer natürlichen Afroform trägt. Tia Luciana sieht Mama mit ihrer geglätteten Frisur und derselben Größe am ähnlichsten.

Als meine Tanten, die ich Tias auf Portugiesisch nenne, und mein Onkel, Tio, mich erblicken, bricht lautes Geplapper unter ihnen aus, und ich werde in etliche Umarmungen gezogen. Ich muss mir mehrere Male anhören, wie groß ich bin und was für eine schöne Frau aus mir geworden ist. Ich fühle mich wie ein Ausstellungsstück im Museum.

Papa finde ich in der Küche im Gespräch mit Tio Afonso, der begeistert eine deutsche Bierflasche betrachtet, die wir extra für ihn mitgebracht haben. Tio Afonso, Tia Suellens Mann, und Papa haben sich schon immer besonders gut verstanden.

Am Esstisch sitzt ein Mädchen mit rundem Gesicht und vollen Lippen, typische Merkmale meiner brasilianischen Familie. Ihre dunklen Augen wandern gelangweilt durch den Raum, ihre Haare sind lang und gelockt, aber nicht so lockig wie meine. Ein gelbes Top schmiegt sich um ihre Kurven und betont ihre braune Haut.

»Thamea, sag deiner Cousine doch Hallo«, sagt Mama auf Portugiesisch, als sie bemerkt, wie unbeholfen ich in der Küche stehe und sie anstarre. Mit den Fingern zupfe ich an meinem Shirt, bevor ich mit einem leichten Lächeln auf Malu zugehe und sie umarme. Ich habe sie anders in Erinnerung. Das letzte Mal, als ich sie gesehen habe, haben wir beide komische Zöpfe mit bunten Gummibändern zur Verzierung getragen. Auch wenn wir uns ein Leben lang kennen, hat die Entfernung einen gewissen Abstand zwischen uns getrieben, den ich in diesem Moment sehr zu spüren bekomme.

»Es ist schön, dich wiederzusehen«, sagt Malu und erwidert meine Umarmung. Ich lächele nur, weil ich nicht genau weiß, wie ich darauf auf Portugiesisch antworten soll.

Vovó schiebt sich an uns vorbei und stellt sich an den Herd, um mit der Zubereitung des Essens zu beginnen. Immer wieder bewegt sie ihren kleinen, rundlichen Körper vom Kühlschrank zur Kochplatte und hantiert mit ihren von jahrelanger Arbeit abgenutzten Händen an Töpfen herum.

Alle weiteren Familienmitglieder haben sich an den Esstisch gesetzt und sind in Gespräche vertieft, die ich nur zur Hälfte verstehe. Malu ist mit ihrem Handy beschäftigt, und die Stimmen der anderen ballen sich zu einer unangenehmen Lautstärke zusammen, die auf das Trommelfell drückt. Es fällt keinem auf, dass ich aufstehe und aus der Küche verschwinde, um zurück in mein Zimmer zu gehen. Ich werde so lange dort bleiben, bis das Essen fertig ist. Dann habe ich vielleicht wieder genug Energie, um so viel Portugiesisch auf einmal in meinem Kopf zu übersetzen.

Ich schließe die Zimmertür leise und setze mich wieder auf die Bettkante. Das Notizbuch liegt aufgeschlagen neben mir. Ich habe es in der achten Klasse von Papa geschenkt bekommen, und es hat mich seitdem überallhin begleitet. Der Buchdeckel sieht mit seinen Kratzern und Dellen abgenutzt aus, aber ich werde mir erst ein neues Buch zulegen, wenn es keine leere Stelle mehr darin gibt. Gefüllt ist es mit Worten, die ich schön finde, und ich versuche, die Seiten zu ignorieren, die ich Kian gewidmet habe. Die von der Liebe handeln und vom gemeinsamen Glücklichsein. Diese Seiten, die ernsthafte Konkurrenz für die größten Liebeslieder meiner Zeit sein könnten, die ich aber nie wieder lesen werde, weil sein Name im Titel steht. Es sind mindestens dreißig Seiten, die ich über das letzte Jahr seinetwegen gefüllt habe, und wenn ich daran denke, wie naiv und glücklich ich damals gewesen bin, wird mir schlecht.

Vielleicht sollte ich mir ein neues Buch zulegen oder die alten Seiten rausreißen, bis keine Spur mehr von ihm zurückbleibt. Aber dann müsste ich es mit allem machen, was ich habe. Mein Handy wegschmeißen, weil ich ihn damit kontaktiert habe, sämtliche Lieder blockieren, die ich für immer nur noch mit ihm verbinden werde, und die Schule wechseln.

Madita weiß nicht, dass ich sie mit ihm gesehen habe. Während ich im Haus, in dem die Party stattgefunden hat, meine Sachen zusammengesucht habe, hat sie mich abgefangen. Ich meinte, vorzeitig gehen zu müssen, weil der Flug früh am nächsten Tag ging. Zusätzlich musste ich mir eine Lüge überlegen, um mich für den Rest der Ferien nicht bei ihr zu melden. Ich sagte ihr, dass jemand von den Partygästen seinen Drink auf mein Handy geschüttet hätte und es nicht mehr funktionieren würde. Mein Geburtstag ist erst am Ende der Sommerferien, deswegen war es glaubwürdig, dass ich entsprechend erst nach den Ferien mit dem Geburtstagsgeld ein neues Handy kaufen könne. Ich brauche so viel Abstand von ihr, wie es nur geht.

Niemals hätte ich gedacht, dass es meine beste Freundin sein wird, die mir das Messer in den Rücken rammt. Oder vielleicht doch? Immerhin hat Mama gesagt, dass ihr Name so klingt wie das portugiesische Wort für verflucht, maldita.

Die blaue Tinte des Kugelschreibers drückt sich durch die cremeweiße Farbe des Papiers, und die Geschwindigkeit, mit der ich die Sätze geschrieben habe, um die vergangenen Tage in melodischer Form zu beschreiben, wird langsamer. Kians Gesicht taucht vor meinem inneren Auge auf und die Art, wie seine Mundwinkel zucken, wenn er Madita ansieht. Ich hätte es wissen müssen. Es war immer sie.

Die Sätze in meinem Notizbuch werden zu Wörtern, die sinnlos aneinandergereiht sind.

Ein Echo, das wie Maditas Lachen klingt, schiebt das Bild von Kian und Madita vor dem inneren Auge weg. Hell, schmerzhaft und falsch.

Die Wörter im Notizbuch werden immer kürzer, bis es nur noch zufällige Buchstaben sind. Mein Hals ist schlagartig so rau wie Sandpapier, und die Hand verkrampft so stark, dass der Stift mir aus den Fingern rutscht und mit einem leisen Geräusch auf den Boden fällt. Das, was ich auf der Seite kreiert habe, ist pures Chaos. Mit zitternder Hand blättere ich um, setze den Kugelschreiber erneut an und versuche, mich auf das zu konzentrieren, was ich sagen will.

Jedoch bleibt die Seite leer. Ich habe keine Worte mehr.

»Thamea!« Mamas schrille Stimme reißt mich aus meiner Trance, und ich blinzele sie mit glasigen Augen an. »Was machst du hier? Ich habe dich nicht so erzogen!« Die Wut in ihrem Gesicht lässt alle Alarmglocken in meinem Kopf schrillen. Ich habe irgendetwas falsch gemacht, und sie wird jeden Moment explodieren.

»Ich musste kurz was aufschreiben«, lüge ich, allerdings hat Mama mich schon längst durchschaut.

»Du kannst nicht einfach verschwinden, während wir Gäste zu Besuch haben, die extra deinetwegen gekommen sind!«, zischt sie. Das ist jetzt ein wenig übertrieben. Wenn, dann sind sie unseretwegen hier.

»Ich weiß nicht, wieso du dich so aufregst. Ich bin müde von der Reise und brauchte eine Pause«, erwidere ich, doch mit diesem Satz bin ich auf eine Mine getreten und kann vor dem inneren Auge sehen, wie mein Körper in der Luft zerfetzt wird.

»Thamea, sprich nicht so mit mir!«, sagt Mama mit lauter Stimme. Das Schlimmste ist, dass sie diesen Satz auf Deutsch formuliert. Sie spricht sonst nie Deutsch mit mir. Ich kralle die Finger in die Knie, und der Schmerz schießt durch meine Nerven. Etwas im Magen verknotet sich, und ich beginne zu zittern.

»Ich habe gar nichts gemacht …«

»Hör auf, so respektlos zu sein, und setz dich zu deiner Familie. Oder ich nehme dir das Handy weg!« Was hat denn jetzt mein Handy damit zu tun? Ich habe es immerhin gar nicht angerührt.

Bevor ich etwas sagen kann, ist Mama aus dem Zimmer gestürmt und schlägt die Tür mit einem heftigen Knall zu. Meine Nasenflügel beben, und jetzt fällt mir auf, wie sehr meine Hände zittern. Ich gebe einen frustrierten Laut von mir und boxe mit der Faust auf das Kissen ein. Wieso kann sie mich nicht mal einen Tag in Ruhe lassen? Wieso muss ich immer das tun, was sie will? Wieso kann sie nicht verstehen, wie erschöpft ich bin? Ich werde jetzt ganz bestimmt nicht am Esstisch sitzen. Nicht, wenn es in mir kocht und jedes neue Wort von Mama das Fass zum Überlaufen bringen kann.

Ich schlage das Notizbuch zu und pfeffere es in die Ecke, bevor ich mein Handy greife, die Kopfhörer aus der Hosentasche ziehe und aus dem Haus stürme. Keinem fällt auf, dass ich gehe.

Die schwüle Luft drückt sich wie eine schwere Decke auf mich nieder, und es dauert ein paar Sekunden, bis ich mich daran gewöhnt habe. Ich verbinde die Kopfhörer mit dem Handy und stecke sie in die Ohren, bevor ich meine Playlist einschalte und Vovós Straße hinunterlaufe. Normalerweise wird die Wut auf Mama kleiner, je weiter ich mich von ihr entferne, doch der Jetlag scheint das Gefühl nur intensiver zu machen. Ich lege den Kopf in den Nacken und blinzele gegen die Sonne, während die Musik in voller Lautstärke in meinen Ohren dröhnt.

Über die Stadt hinweg erstrecken sich die überirdischen Stromleitungen, an denen sich öfter mal Drachen verheddert haben, dessen eingerissenes Plastik jetzt traurig in der Luft flattert. An jedem freien Fleck stehen Häuser in den verschiedensten Größen, Farben und Zuständen. Mit der Architektur in Deutschland haben sie nichts gemeinsam. Die meisten Dächer der Gebäude in Brasilien sind flach, und vor der Eingangstür besitzt jedes Haus einen Sicherheitszaun. Hinter den Wohnhäusern erstrecken sich vereinzelt Hochhäuser mit schmutzigen Fassaden, die nicht ganz ins Bild passen.

Ich laufe bis zum Ende der Straße und bleibe für einige Minuten stehen, weil ich nicht weiß, wohin ich gehen soll. Schließlich kenne ich mich hier nicht aus, mein Portugiesisch ist grottenschlecht, und noch dazu ist Brasilien nicht gerade ungefährlich. Wenn Mama erfährt, dass ich allein auf der Straße war, wird sie an die Decke gehen. Ich laufe ein paar Schritte rückwärts und stolpere über etwas am Boden. Das Herz rutscht mir in die Hose, ich wedele mit den Armen, um mein Gleichgewicht wiederzufinden. Ich schaffe es, nicht auf dem Asphalt zu landen und mir den Kopf anzuschlagen, und das Ding, das mich fast umgebracht hat, ist ein Ball, der neben meinem Fuß liegt. Natürlich ist es ein blöder Fußball. Das, was sich Kian gewünscht hat und er von mir nach dieser Aktion auf der Party nicht bekommen wird. Ich schnaube laut, hole mit dem Bein aus und schieße ihn mit voller Kraft und all der geballten Wut von mir. Dabei löst sich mein Flipflop vom Fuß und fliegt mit dem Ball davon.

»Puta que pariu!« Das laute Fluchen einer Person hallt durch die Straße, und ich presse mir die Hand auf den Mund. Einige Meter vor mir steht ein Junge, der sich über den Hinterkopf reibt. Mein Flipflop und der Fußball liegen ihm zu Füßen.

O Gott! Einer meiner Havaianas ist an seinen Kopf geflogen, als er sich mit dem Rücken zu mir zum Ball gebückt hat. Ich reiße mir die Kopfhörer aus den Ohren und laufe mit schnellen Schritten auf ihn zu. Der Boden ist warm unter dem nackten Fuß, und mein Gesicht ist so heiß, dass ich mir ziemlich sicher bin, dass ich kirschrot anlaufe. Großartig! Wenn die nächsten Wochen so viele Probleme bringen werden wie heute, werden das die längsten Sommerferien meines Lebens.

»Es tut mir so leid, das war nicht mit Absicht«, stottere ich mit dem schlechtesten Portugiesisch, das der Typ jemals hören wird. Ich bücke mich und greife nach meinem Flipflop, um ihn mir anzuziehen.

»Ist schon okay, du wolltest den Ball ja nur zurückschießen«, sagt der Junge. Er ist ziemlich groß, trägt ein schwarzes T-Shirt, und seine dunklen Haare fallen ihm ins Gesicht, als er sich bückt, um den Ball aufzuheben und unter seinen Arm zu klemmen.

»Man muss mit den Havaianas aufpassen, die können zu richtigen Mordwaffen werden.« Er lacht, und meine Mundwinkel zucken. Ich habe echt Glück gehabt, dass er nicht sauer auf mich ist.

»Ist übrigens cool, dich wiederzusehen, Thamea«, fügt er hinzu, und sein Lächeln erreicht seine dunklen Augen.

Meine Brauen schießen in die Höhe, und im Kopf rattert es. Woher kennt er meinen Namen? Ich starre ihn wohl zu lange an, denn er streckt die Hand aus, um sich vorzustellen.

»Jaime«, sagt er, und während er mir die Hand schüttelt, suche ich krampfhaft in meinen Erinnerungen nach diesem Namen. Jaime …

»Jaime. Natürlich! Oh, wow, du siehst komplett anders aus, ich hab dich nicht wiedererkannt«, stoße ich überrascht aus.

Als ich das letzte Mal in Brasilien war, waren wir die besten Freunde. Wir haben jeden Tag etwas miteinander unternommen, viel gelacht und uns versprochen, dass wir für immer in Kontakt bleiben würden. Es hat nicht lange gehalten. Nachdem ich mir mit dreizehn meinen Instagram-Account erstellt habe, haben wir uns dort wiedergefunden und folgen uns seitdem. Geschrieben haben wir jedoch nicht miteinander. Wir sehen nur, was der andere veröffentlicht, und liken gegenseitig unsere Beiträge. Er postet aber fast nie etwas, weshalb es kein Wunder ist, dass ich nicht weiß, wie er heute aussieht.

»Niemals habe ich damit gerechnet, dich wiederzusehen.« Ich lache, und die Wut, die bis eben noch Kontrolle über meinen Körper hatte, löst sich in Luft auf. Stattdessen breitet sich bei den Erinnerungen an unsere gemeinsamen Filmabende und die Spiele in Vovós Vorgarten Wärme in meiner Brust aus. Es ist so lange her, aber die Gefühle dieser schönen Zeit schlummern noch immer tief in mir drin.

Jaime wirft einen Blick über die Schulter und trommelt mit seinen Fingern auf der Oberfläche des Fußballs unter seinem Arm.

»Ich freue mich wirklich, aber ich muss zurück zur Arbeit«, sagt er und nickt hinter sich.

»Du spielst Fußball auf der Arbeit?« Ich fixiere den Ball, den er festhält.

»Nein.« Jaime lacht und wirft dabei seinen Kopf in den Nacken. In seinen Wangen bilden sich dabei tiefe Grübchen. »Ich helfe im Café meiner Mutter aus und arbeite dort im Lieferservice. Der einen Familie, der ich gerade das Essen geliefert habe, ist der Ball auf die Straße gerollt, und ich wollte ihn für sie holen.«

»Ach so«, murmele ich und zupfe am Stoff meines T-Shirts. »Bist du sicher, dass ich dir keine Gehirnerschütterung zugefügt habe?«

Jaime fährt sich mit der freien Hand prüfend über seinen Hinterkopf. Dabei spannt sich sein Bizeps an, und mir fällt jetzt erst auf, wie sportlich er aussieht.

»Alles okay«, versichert er mir. »Wir sehen uns!«

Er dreht sich um und eilt mit schnellen Schritten auf ein Haus am Anfang der Straße zu, hinter dessen Sicherheitstor er verschwindet.

Ich wickele das Kopfhörerkabel um mein Handy und stecke es in die Hosentasche, bevor ich zurück in Vovós Haus schleiche. Mama denkt wahrscheinlich, dass ich mich in den Vorgarten zurückgezogen habe, und ihr wütender Blick prallt an mir ab, als ich mich an den Esstisch setze und der Dampf des brasilianischen Essens in meine Nase steigt.

Kapitel 3

Am nächsten Morgen werde ich von lauten Geräuschen aus der Küche geweckt. Obwohl ich am Tag zuvor relativ früh schlafen gegangen bin und mich frühzeitig von meiner Familie verabschiedet habe, fühlt mein Körper sich so an, als wäre ich von einem Lastwagen angefahren worden. Der Lärm aus der Küche ist ein angeregtes Gespräch zwischen Mama und Vovó, das mich zum Frühstück lockt. Ich greife nach dem Essen, das auf dem Tisch steht, und wechsele mit dem Blick zwischen den beiden hin und her.

»Du hörst mir nie zu!« Mama fährt sich frustriert durch die Haare. Vovó steht mit verschränkten Armen an den Herd gelehnt und verzieht das Gesicht.

»Du übertreibst mal wieder!«, gibt sie in einem giftigen Ton zurück, der mir bis ins Mark geht. Normalerweise habe ich Vovó als eine ruhige, ältere Dame in Erinnerung. Es ist das erste Mal, das ich sie so aufgebracht sehe. Mama funkelt sie mit einem wilden Blick an, und ich lasse das Brötchen mit Requeijão, einem brasilianischen Streichkäse, sinken, weil mir der Appetit vergangen ist. Ich habe Vovó und Mama noch nie so heftig streiten sehen, und es erinnert mich sehr an das, was ich jeden Tag mit meiner Mutter durchmachen muss. Papa sitzt verwirrt am Tisch und wechselt mit seinem Blick zwischen Mama und Vovó hin und her. Mamas Kiefermuskeln sind angespannt, und es sieht so aus, als ob sie nichts mehr zu entgegnen hat. Stattdessen gibt sie einen frustrierten Laut von sich und stürmt aus der Küche in ihr Schlafzimmer. Papa steht auf und läuft ihr hinterher. Vovó scheint das Ganze nicht so mitzunehmen wie Mama, denn sie schüttelt nur leicht den Kopf und nimmt einen Becher aus dem Schrank.

»Willst du einen Kaffee, Thamea?«, fragt sie, und ich verneine dankend. Ich habe keine Ahnung, wieso die beiden sich gestritten haben. Ich helfe Vovó beim Aufräumen und Abwaschen, bevor ich mich auf das Sofa setze und die Telenovela ansehe, die den ganzen Tag im TV läuft.

Mama verlässt ihr Schlafzimmer erst, als Malu und Tia Suellen vorbeikommen. Von ihrer Aufgebrachtheit ist nichts mehr zu bemerken, trotzdem bemerke ich die giftigen Blicke, die sie und Vovó sich zuwerfen. Malu lässt sich ächzend neben mir aufs Sofa fallen, während Mama und Tia Suellen in der Küche Kaffee zubereiten.

»Ich glaube, ich bin vom Unglück verfolgt«, sagt Malu, und es ist das erste Mal seit acht Jahren, dass wir richtig miteinander sprechen.

»Glaub mir, ich auch«, erwidere ich und versuche, die Gedanken an Madita und Kian wegzuschieben, die in meinem Hinterkopf lauern. »Vielleicht liegt auf unserer Familie ein Fluch?«, überlege ich laut, und Malu kichert.

»Ein Fluch, der einen fünfzehnten Geburtstag zerstören will?«, murmelt sie und kratzt sich am Kopf. Ach ja, da war ja was. Der Hauptgrund, wieso wir diesen Sommer nach Brasilien geflogen sind. Die Geburtstagsfeier meiner Cousine. Das Event des Jahres. Eine Feier mit Ballkleidern und Sitten, die Malu als Frau in die Gesellschaft einführen.

»Was ist denn passiert?«, frage ich. Ich war noch nie zuvor auf einer festa de quinze anos, und es hat auch keine für mich gegeben. Es wäre zu komisch gewesen, das Ganze mit Freunden in Deutschland zu feiern, also gab es an meinem fünfzehnten Geburtstag nur Kuchen und einen Kinobesuch.

»Der Principe hat abgesagt, und Mãe musste bei Bekannten herumfragen, um mir in letzter Minute einen neuen zu besorgen.«

Mãe heißt Mutter auf Portugiesisch, und der Principe, oder auch Prinz auf Deutsch, ist, soweit ich weiß, die Begleitung, mit der sie auf ihrer Feier tanzen wird.

»Hat sie einen gefunden?«, hake ich nach, und Malu nickt, scheint aber nicht besonders zufrieden damit zu sein.

»Die vielen Tanzstunden mit Filipe, dem ehemaligen Principe, waren umsonst. Jetzt muss ich die ganze Choreografie mit jemand Neuem durchgehen.«

Ich kann ihre Frustration verstehen. Das ist eine ziemliche Zeitverschwendung.

»Und weil unsere Wohnung zu klein ist, finden die Tanzstunden hier bei Vovó statt.«

Von draußen ertönt ein Klatschen, das Malu aufhorchen lässt.

»Das ist er«, sagt sie und steht auf, um das Sicherheitstor zu öffnen. Obwohl Vovó eine Klingel hat, wird diese nie benutzt. Stattdessen klatscht und ruft jeder Besucher. Malu führt eine Frau mit schwarzen langen Haaren ins Haus. Hinter ihr ragt ein Junge mit kurzem Afro und merkwürdiger Fahrrad-Sonnenbrille hervor.

Mama fällt der Frau, die sich mir als Márcia vorstellt, sofort um den Hals.

»Hi, ich bin Valentin, freut mich, euch kennenzulernen«, sagt ihr Sohn zu Malu und mir. Er trägt ein mit gelben Blumen bedrucktes Hawaiihemd, das ihn albern aussehen lässt. Malus vorherige Angespanntheit lässt etwas nach, und sie lächelt ihn freundlich an.

»Danke, dass du das mitmachst«, sagt sie, und ich setze mich amüsiert auf das Sofa, um das Chaos zu beobachten, das sich kurze Zeit später vor mir entfaltet. Tia Suellen spielt Musik von ihrem Handy ab, während Malu versucht, Valentin die Schritte für den Walzer zu erklären, den sie in wenigen Wochen für ihre Feier draufhaben müssen. Mama und Márcia sitzen in der Küche und unterhalten sich. Vovó sitzt neben mir und versucht, über Valentin und Malu hinweg die Telenovela im Fernseher zu sehen.

Valentin ist kein guter Tänzer. Ich würde es aber auch nicht besser hinbekommen, weshalb ich die Kommentare zurückhalte, die mir auf der Zunge liegen, wenn er ihr auf die Füße tritt.

Objektiv gesehen geben die beiden ein gutes Paar ab. Valentin sieht ziemlich gut aus, und auch Malu hat nur die besten Gene der Familie abbekommen. Er hält meine Cousine vorsichtig an der Hüfte, während sie sich durch das kleine Wohnzimmer bewegen, und starrt die meiste Zeit auf den Boden, um ihren Füßen auszuweichen. Malu wiederum hat ihr Kinn angehoben und sieht geradeaus. Manchmal wirft sie mir einen Blick über seine Schulter zu und zieht eine Grimasse, die mich zum Grinsen bringt. Irgendwann ist die Stunde beendet, und Valentin und seine Mutter verabschieden sich.

»Das ist eine Katastrophe«, sagt Malu, als die beiden nicht mehr da sind.

»Ihr müsst nur weiter üben«, sage ich in dem Versuch, sie zu beruhigen, doch Malu ist nicht wirklich davon überzeugt.

Tia Suellen steckt ihren Kopf aus der Küchentür. »Fernanda hat gesagt, wir können vorbeikommen.«

Fragend sehe ich Malu an, die ihre Haare zu einem Pferdeschwanz bindet.

»Fernanda macht das Catering für meine Feier. Ich glaube, wir gehen gleich bei ihr die verschiedenen Essensmöglichkeiten probieren. Willst du mitkommen?«

»Wieso nicht?«, sage ich und begebe mich in mein Zimmer, um mir Sneaker anzuziehen.

Die Sonne brennt auf der Haut, als ich mit Mama, Tia Suellen und Malu die Straße hochlaufe. Es ist so warm, dass mein hellblaues T-Shirt am Oberkörper klebt, und ich bereue es, eine lange Jeanshose angezogen zu haben. Immer wieder fächele ich mir mit der Hand Luft zu und streiche die Locken aus dem Gesicht, die am Schweiß auf meiner Stirn kleben. Auf dem Weg begegnen uns die verschiedensten Leute, und doch ähneln ihre Locken und Hautfarbe Mamas und meiner. Trotzdem kämpfe ich gegen den Kloß in meinem Hals an, der sich bildet, wenn ich vereinzelt Mädchen mit glatten Haaren, die im Wind wehen, oder heller Haut, auf der das Sonnenlicht reflektiert, sehe.

Ich habe heute Morgen vergessen, Sonnencreme zu benutzen. Wenn ich so weitermache, werde ich nie so aussehen wie diese Mädchen mit Porzellanhaut. Meine Zähne bohren sich in meine Unterlippe. Das werde ich sowieso nie, egal, was ich tue.

Wir machen vor einem Café halt, das aussieht, als wäre es in eine Garage gebaut worden.

Weiße runde Plastiktische mit passenden Stühlen stehen am Straßenrand und im Inneren des Cafés, auf die ich mich gern setzen würde, um zu Atem zu kommen. Ich habe unterschätzt, wie steil die Straßen sind und wie anstrengend es ist, in dieser Hitze auf ihnen zu laufen. Zum Glück ist es im Café kühler.

---ENDE DER LESEPROBE---