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Der Wald ist undurchdringlich, der Nebel lässt niemanden gehen. Von der Zivilisation abgeschnitten, fragt sich Kayleigh Bringstine, warum jemand sie entführen sollte. Der kranke alte Mann, mit dem sie sich die Hütte teilt und um den sie sich laut Notiz kümmern soll, redet kein Wort. Von Verzweiflung getrieben, realisiert Kayleigh bald die wahre Natur ihres Gefängnisses. Und weshalb Mächte weit älter als die Menschheit beginnen sich für sie zu interessieren...
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Seitenzahl: 252
Veröffentlichungsjahr: 2016
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Ich danke allen, die es mir ermöglicht haben, meinen Traum in die Tat umzusetzen. Dazu zählen meine Eltern, meine Freunde und meine Vorbilder, insbesondere ein Einsiedler aus der heimeligen Stadt Providence auf Rhode Island.
Mögen unsere alten Wesen eines Tages aufeinandertreffen.
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„Ms Bringstine, wachen Sie endlich auf!“ Der dickleibige Mann mit dem struppigen Schnurrbart donnerte seine fette Faust mit Schmackes auf den Spanplatten-Arbeitstisch.
Der darauffolgende Knall fiel weitaus ohrenbetäubender aus, als die umstehenden Zuschauer es erwarteten, doch verfehlte er seine Wirkung nicht: Kayleigh Bringstine wachte mit einem Schrecken und pochendem Herzen auf.
„W-wie, was, jawohl Mr Bowles“, stotterte die zierliche, blondhaarige Frau ihrem Gegenüber entgegen. Noch während sie ihre Arbeitsutensilien zusammensuchte und hastig ihren Computer aktivierte, der zwischenzeitlich im Ruhemodus auf neuerlichen Betrieb wartete, verriet ihr ein flüchtiger Blick auf den immer noch glühenden Mr Bowles, dass der Ärger noch nicht ausgestanden war.
„Sie sind jetzt zum wiederholten Male bei der Arbeit eingeschlafen! Soll ich Jennings darum bitten, Ihnen ein Kissen zu holen, damit Sie es sich gemütlich machen können?“
„Nein, Mr Bowles. Es tut mir sehr leid, es wird nicht wieder vorkommen.“
Der beleibte Chef der mittelgroßen IT-Firma bebte immer noch vor Wut, das feiste Doppelkinn wabbelte dabei im rhythmischen Takt. Die zu kurz geratenen Ärmel des cremefarbenen Anzugs betonten auf kümmerliche Weise seine kleine Statur und die Ähnlichkeit mit einem brunftigen Schwein ließ sich nicht ohne Schwierigkeiten ignorieren. „Ich erwarte von allen meinen Angestellten hundert Prozent zu geben. Das schließt Sie ebenfalls mit ein, Ms Bringstine, haben wir uns verstanden?“
Kayleigh nickte und ließ ein wisperndes „Ja, Sir“ verlauten.
Dann stapfte Mr Bowles davon in sein Büro und ließ die Tür theatralisch zuknallen.
Sie ärgerte sich. Bereits zum dritten Male war Kayleigh während der Arbeit in einen tiefen und traumlosen Schlaf gefallen. Noch nie hatte sie sich so entkräftet und jeglicher mentaler Schaffenskraft beraubt gefühlt. Auch die dritte Tasse schwarzen Kaffee schaffte es jetzt nur bedingt, ein Gefühl in die leblosen Glieder einzuflößen. Aber sie musste sich zusammenreißen. Der Auftrag, für den sie zusammen mit zwei anderen Arbeitskollegen die Verantwortung trug, durfte nicht an einem Paar schwer wiegender Augenlider scheitern. Kayleigh wollte sich sogleich auf die liegengebliebene Ausarbeitung einer besonders hartnäckigen Kalkulation konzentrieren, als eine ihr wohlbekannte Stimme etwas über die Schulter wisperte.
„Der alte Bowles, was? Eigentlich müsste man dem fetten Penner mal den Stock aus den Speckschwarten ziehen.
Meinst du nicht auch, Kay?“
Die Quelle dieser hämischen Anteilnahme kannte die junge Frau nur zu gut, denn sie teilte sich den Arbeitswürfel mit dem ihrer Ansicht nach schleimigsten Schwerenöter der Welt. Henry Jennings jedoch sah sich ohne Zweifel als einen geborenen Ladiesman, weswegen er auch gleich nachsetzte, sehr zu Kayleighs Unbehagen.
„Wie wäre es, wenn du und ich mal schön einen draufmachen, hm? Nur wir zwei Hübschen. Ich bin natürlich nur schmückendes Beiwerk im Angesicht der Schönheit neben mir.“
In ihrem Magen rumorte es heftig. Jennings Sprüche waren nie einfach zu verkraften, doch heute wirkten sie einfach nur ekelerregend. „Nein danke, Henry. Wie du siehst, bin ich momentan nur schwerlich in der Lage die Augen offenzuhalten.“
„Das habe ich bemerkt.“
„Ich hätte es übrigens begrüßt, wenn du mich geweckt hättest, als der alte Stinkstiefel um die Ecke kam.“
Jennings Mundwinkel verzogen sich zu einem süffisanten Grinsen. „Verzeih mir, aber ich konnte deinem lieblichen Antlitz, wie es seelenruhig auf dem Tisch lag und schwärmerisch träumte, einfach nicht widerstehen.“
Der Würgereiz in Kayleighs Kehle nahm jetzt nur noch weiter zu. Die Vorstellung, dass dieser Ritter von der schmierigen Gestalt sie im Schlaf beobachtete, versetzte ihrem Rücken einen kalten Schauer. „Also, meinst du nicht, ich könnte dich ... die Nacht durch wachhalten?“
„Ich glaube nicht. Miranda sagte mir, deine Ausdauer hält nur für ein paar Minuten. Ich will ja nicht, dass du vor mir einschläfst.“ Das saß. Den vormals selbstbewussten Jennings zierte nun ein köstlich beschämter Gesichtsausdruck, den er auch noch weiterhin beibehielt, als er sich mit hochrotem Kopf seinem eigenen Tisch zuwandte. Wenigstens ein Problem für das Erste beiseite geschafft, dachte Kayleigh, nicht ohne einen leicht amüsierten Unterton.
Die Müdigkeit machte sich jedoch bald erneut bemerkbar und die junge Frau hoffte inständig, dass die Stunden etwas weniger träge dahinschleichen mögen.
Nachdem ihr Wunsch kein Gehör fand und die bleierne Schwere bisweilen dramatische Züge angenommen hatte, sah Kayleigh keine andere Möglichkeit, als etwas früher zu gehen. Sie gab ihrem Chef Mr Bowles Bescheid, nicht ohne ein weiteres Donnerwetter über sich ergehen zu lassen, und informierte die Personalverwaltung, dass sie sich nicht wohl fühle und voraussichtlich morgen krank im Bett liege. Dann schleppte sie sich mit ihrem Rucksack in den Fahrstuhl und trat den anstrengenden Weg nach Hause an.
Der Abend besaß bereits die Eigenschaften einer typischen Nacht zum Herbstanfang. Noch bevor kühle Winde durch die geschäftigen Alleen und Straßen Londons wehten und die Laubblätter ein fescher Rand von bronzener Farbe zierte, umspülten weiterhin angenehme 22 Grad die gehetzten Gesichter aller Bewohner. Von alldem bemerkte Kayleigh nur wenig, doch der Lärm der Autos und ihrer Besitzer schaffte es, etwas Leben zurück in ihre matten Augen zu bringen. Trotzdem fiel es Kayleigh ungemein schwer, im Zug nach Soho zu ihrer Wohnung in der Shaftesbury Avenue wach zu bleiben. Erst als ein Passagier sie darauf aufmerksam machte nicht den Halt zu verlieren – sie saß bereits vornübergebeugt auf dem Sitz –, verdoppelte sie ihre Anstrengungen. Kurzerhand entstieg sie dem Zug, um ihr Gesicht in der Bahnhofstoilette mit Wasser abzukühlen, was einigermaßen Wirkung zeigte. Was ist denn nur mit mir los, fragte sie sich mit Blick in den schmutzigen und gebrochenen Spiegel. Ein jugendliches, ovales Gesicht mit großen, kastanienbraunen Augen und vollen, weichen Lippen schaute ihr erschöpft und ausgemergelt entgegen. Diese Augenringe! Wo und wann hatte sie sich mit dieser ihr unbekannten Krankheit angesteckt? Nicht einmal der Arzt hatte ihr sagen können, für welchen Erreger ihr Körper die Gaststätte spielte. Das Breitbandantibiotikum schien jedenfalls nicht zu helfen.
Entmutigt wankte die junge Frau aus dem übel riechenden Toilettenhäuschen und schaffte es gerade noch rechtzeitig, den richtigen Zug zu erwischen.
Vorbei am Palace Theatre bog Kayleigh in die Shaftesbury Avenue ein und stakste zielgerichtet in Richtung ihrer kleinen Wohnung, die im dritten Stock eines Altbaus aus dem frühen 19. Jahrhundert lag. Im matten Lichtschein der altmodischen Laternen wirkte die Gegend wie aus der Zeit gestohlen und ein Hauch von viktorianischem Glanz mischte sich unter den beständig pulsierenden Herzschlag der Neuzeit.
Noch während Kayleigh verzweifelt mit dem lästigen Schlüsselbund kämpfte, der am heutigen Tag viel zu viele Schlüssel am Ring besaß, überkam sie ein stechendes, unangenehmes Gefühl im Nacken. Verwundert drehte sie sich um, doch bis auf ein angeheitertes Pärchen, das unweit in Richtung des Odeon Cinema Covent Garden schlenderte, befand sich keine Menschenseele unter den Lichtkegeln. Als das Paar um die Ecke bog und Stille sich um das schmutzige Pflaster windete, bereitete die fehlende Geräuschkulisse Kayleigh enormes Unbehagen. Auch wenn sie nichts in den Schatten sehen konnte und es nur wenige Verstecke in den gut beschienenen Ecken gab, so gelang es ihr nicht, die Ahnung abzuschütteln beobachtet zu werden. Sie entspannte sich erst, als der passende Schlüssel sich zeigte und ein erleichterndes Klicken die Tür zum Treppenhaus öffnete. In den hektischen Minuten, in denen sie hastig am geschwungenen Treppengeländer hinauf zu ihrer Wohnung eilte, bemerkte sie, wie die Müdigkeit erneut einer unangenehmen Anspannung wich.
Schließlich stand Kayleigh keuchend vor ihrer Tür und führte den Hauschlüssel in das Schloss. Wahrscheinlich alles nur Einbildung, beschwichtigte sie sich und trat schließlich in ihr Heim. Ihre Tasche abstellend, drückte sie die Wiedergabetaste ihres Anrufbeantworters.
„Schätzchen, bitte ruf doch mal zurück. Meinst du nicht, dass dieses Spielchen jetzt schon lange genug geht? Ich vermisse dich …“
Die Nachricht endete mit einem schrillen Fiepen und ein kurzes Knarzen signalisierte Kayleigh Bringstine, dass keine weiteren Exzesse ihrer Mutter auf dem Gerät einer Abfrage bedurften. Genervt schloss sie die Tür zu ihrer Wohnung ab und warf ihre schwarze Lederjacke auf den erstbesten Stuhl im Wohnzimmer. Im nächsten Moment ließ die junge Frau sich erschöpft auf ihre weiche Ledercouch fallen und schaltete den Fernseher an. Der Tag ist beschissen gelaufen, resümierte sie, während die Nachrichtensprecherin mal wieder vom Untergang der Welt berichtete. Immer noch zehrte das kontinuierliche Anbaggern von Jennings an ihren Nerven. Natürlich versuchte er sie nur ins Bett zu kriegen, wie schon andere vor ihr. Sie sah den Ablauf dieser Entwicklung genau vor sich: Beim Stammtisch wetteten einige der jüngeren Kollegen, wie der Firmengigolo die scharfe 32-jährige Blondine aus der IT-Abteilung in die Horizontale kriegte, ohne dass die drei anderen „Mitbewerberinnen“ etwas davon mitbekämen.
Kayleigh seufzte. Als der Fernseher dann doch keine ansprechende Unterhaltung bot, ging sie in die Küche, um sich einen Früchtetee zu kochen. Nach nur wenigen Minuten, noch bevor der alte, verbeulte Teekessel zu pfeifen begann, ließ ein melodisches Klingeln Kayleigh zusammenschrecken, wobei sie sich dabei ziemlich dämlich vorkam, handelte es sich doch nur um das Telefon. Als sie endlich die Küche verließ, schaltete sich der Anrufbeantworter ein. Kayleigh überlegte für einen Moment, noch schnell ranzugehen, zog die Hand jedoch zurück, als ihr eine wohlbekannte Stimme entgegenschlug.
„Kayleigh? Bist du endlich Zuhause? Ich weiß, dass du nicht mehr arbeitest. Dein netter Kollege von der Firma sagte mir bereits, dass du nach Hause gegangen bist. Jetzt nimm schon ab. Egal was es ist, wir können doch über alles reden. Ich kenn dich doch, so warst du doch sonst nie …“ Klack. Ein Fiepen und das erlösende Knarzen. „Das ist das Problem Mama, du kennst mich viel zu gut“, sagte Kayleigh in einem leicht spöttelnden Ton und wandte sich ihrem Teewasser zu, das mittlerweile lautstark auf sich aufmerksam machte. Begleitet von einem kurzen Gluckern füllte sie den heißen Inhalt des Kessels in ihre Lieblingstasse – auf ihr prangte ein Regenbogen in Aquarellfarben –, ging auf den kleinen Balkon und genoss von ihrem hölzernen Schaukelstuhl aus das wunderschöne Panorama der Londoner Innenstadt. Kayleigh spürte, wie der Stress sich allmählich von ihr abschälte. Ein tiefes, seltenes Empfinden der Ruhe kehrte in ihr ein. Viel zu oft drängten sich missmutige Gefühlsregungen in den Mittelpunkt ihres Alltags und ließen sie schwerfällig und launisch zurück. In solchen Momenten versuchte sie diese Gefühle zu verstecken. Bis jetzt schien das gelungen, denn unter ihren Freunden galt Kayleigh als ausgeglichen und intelligent, keinesfalls als das dümmliche Party-Girl von nebenan, welches vom Lande in die Stadt gezogen und nun ihr Leben auskosten wollte.
In Mußestunden hatte sie bisweilen den Ursprung dessen, was sie störte, zu finden gesucht. Bis jetzt ohne Erfolg.
Der Himmel wechselte die Farben und ging vom Rot der Abenddämmerung in eine tintenschwarze Nacht über.
Müdigkeit kehrte zurück und bewirkte eine angenehme Schwere. Die süße Verlockung des Schlafes, der beizeiten sich bereits bemerkbar gemacht hatte, überzeugten sie ins Bett zu gehen. Ihre ausgetrunkene Tasse stellte Kayleigh auf den kleinen Tisch neben ihrem Stuhl mit der festen Absicht, das Geschirr gleich am nächsten Morgen abzuspülen. Verträumt blickte die junge Frau noch einmal in den Nachthimmel und glaubte eine Sternschnuppe zu sehen.
Doch wer vermochte in einem solchen betäubten Zustand schon zu sagen, was der eingelullte Verstand dem Auge als wahr oder als wünschenswerte Einbildung suggerierte?
Kayleigh zuckte die Achseln, wünschte sich trotzdem etwas – Jennings möge sie endlich in Ruhe lassen – und schleppte sich in ihr Badezimmer.
Doch wie gewöhnlich hatte bereits ein anderer Bewohner der Wohnung das Waschbecken in Beschlag genommen.
„Mirlo, geh da weg, ich bin müde!“ Der schlanke, grauschwarz gestreifte Scottish-Fold-Kater machte jedoch keinerlei Anstalten die angenehme Position in der Keramikschale zu verlassen. Stattdessen ließ er nur ein schwaches Miauen ertönen, schlug leicht mit dem Schwanz aus und schlief eingekugelt weiter. Kayleigh verlor ihre sonst so viel gelobte Geduld und griff nach dem rosa Handtuch, welches über der Badewanne lag. „Geh da weg …“, murmelte Kayleigh völlig schlaftrunken und ohne jegliche Energie, während sie das raue Stück Stoff über das Tier warf und auf die gewünschte Wirkung wartete. Schon nach wenigen Sekunden bequemte sich Mirlo schwerfällig aus dem selbst gewählten Bett und sprang das Becken hinunter, nicht ohne jedoch noch ein leicht empörtes Maunzen loszuwerden. „Ja, ja, du mich auch …“, sagte Kayleigh. Der Blick in den Spiegel zeigte ihr ein schlaffes Gesicht, zu einer indolenten Maske verzerrt. Ich muss erschöpfter gewesen sein, als ich dachte. Ich kriege ja kaum die Augen auf. Daher gab Kayleigh ihre Versuche auf, eine angemessene Abendtoilette durchzuführen.
Ihr Gang zum Schlafzimmer nahm bizarre, torkelnde Züge an. Allein dem Geräusch des maunzenden Katers lauschend, der ihr leicht voranging, gelang es ihr, zur Schlafstätte zu gelangen. Ohne sich auszuziehen, schmiss sie sich auf das weiche Federbett und genoss die Wärme, die sich bald ausbreitete. Hoffentlich wird mein Wunsch wahr, flüsterte Kayleigh als letztes, bevor der Schlaf endgültig über ihr schwaches Bewusstsein triumphierte. Wirre Träume beschäftigten sie.
Sie blinzelte. Erst einmal, dann zweimal. Nur langsam ließen sich Müdigkeit und Schlaf vertreiben und gaben der jungen Frau ein klares Gefühl im Kopf. Noch während sie versuchte wach zu werden, spürte sie das raue, gesplitterte Holz des Bodens unter ihren Fingern und sah den feinen Staub aufwirbeln, der in der Luft Wellen schlug und sich gemächlich niederließ. Etwas ist anders, dachte sie sich.
Etwas stimmt nicht. Dies ist nicht ihre Wohnung.
Kayleigh richtete langsam ihren Oberkörper auf. Ein stechender Schmerz durchfuhr ihren Kopf und ließ sie erschrocken und schmerzerfüllt zusammenzucken. Einige Minuten lang versuchte sie sich mit geschlossenen Lidern zu konzentrieren und abzuwarten, bis das laute Dröhnen von alleine nachließ. Zuerst schien eine Ewigkeit zu vergehen, doch dann begann das schmerzhafte Puckern nachzulassen und Kayleigh öffnete vorsichtig ihre Augen. Was sie sah, versetzte sie in heftige Verwirrung. Sie befand sich an einem anderen Ort als ihrem Zuhause. Im Grunde hatte der Anblick, der sich ihr bot, so wenig Ähnlichkeit mit ihrer Wohnung, wie es nur möglich war.
Sie befand sich in einem Raum mit spröden, alten Kiefernholzdielen und Paneelen an den Wänden, dekoriert mit drei spartanisch anmutenden Stühlen und einem dazugehörigen Tisch aus alter Kiefer, vor ihr in der Mitte platziert. Hinter ihr stand an der Wand eine kleine Metallpritsche, auf der eine fleckige braune Wolldecke lag. Der Anblick dieses Zimmers ließ nicht den kleinsten Hauch von Komfort vermuten. Sie selbst fand sich auf dem völlig verstaubten Boden des Raumes wieder, der einen starken Hustenreiz bei ihr auslöste. Mühsam erhob sie sich, geschwächt von ihren erneut einsetzenden Kopfschmerzen und ihrer Ratlosigkeit und ging zu dem Fenster zu ihrer Rechten. Die kleine runde Glasscheibe gewährte zwar einen Blick nach draußen, doch Staub und mehrere kleine Insekten, manche tot, andere quicklebendig, machten es mehr als schwierig, die Außenwelt zu erkennen. Nur ein steiler Abhang ließ sich durch den milchigen Dunst erkennen.
Als Nächstes begab sich Kayleigh zur gegenüberliegenden kleinen knorrigen Tür, die behelfsmäßig von einigen verrosteten Türangeln zusammengehalten wurde. Vorsichtig griff sie nach dem alten Türknauf aus Messing und ließ durch die vorsichtig geöffnete Tür ein wenig Luft hinein.
Ein eisiger Windstoß schlug durch den Spalt unerwartet auf sie ein und ließ sie frösteln. Um den beißenden Wind abzuwehren, verschränkte Kayleigh die Arme und presste sie dicht an ihren zierlichen Körper. Viel half es jedoch nicht. Trotzdem fasste sie sich ein Herz, öffnete die Türe ganz und schritt nach draußen. Nachdem sich ihre Augen an das matte Tageslicht gewöhnt hatten, erkannte sie, an welch sonderbarem Ort sie sich befand.
Vor ihr erstreckte sich ein riesiger Wald mit dichtem Baumbewuchs. Eichen, Kiefern und Tannen hoben sich in Reih und Glied empor und was an Wildwuchs dem Blickfeld noch freigegeben war, wurde alsbald von einem fast schon stofflichen weißen Nebel verschluckt. Kayleigh blickte sich um, doch egal wohin sie schaute, es gab keine Anzeichen von Zivilisation. Keine Menschen in der Nähe, die einen Hinweis auf ihren Aufenthaltsort geben konnten.
„Das kann doch alles nicht wahr sein!“, murmelte Kayleigh leise vor sich hin. Sie holte tief Luft.
„Haaaalllloooo!! Ist irgendjemand hiiiiieeeer?!!!“
Der Schrei verhallte – außer einem ironischen Echo – unbeantwortet in der nebligen Wildnis, bis nur noch bedrückende Stille herrschte. Was ist das für ein schlechter Scherz? Wo bin ich? Rasend schnell kamen ihr diese Gedanken und andere, weniger geordnete in den Sinn, einer hoffnungsloser und schrecklicher als der andere. Die Kälte hielt Kayleigh fest im Griff, aber zusätzlich erfüllte schreckliche Angst ihr Herz und brachte sie zum Zittern. Tränen schossen ihr in die Augen, als sie um sich blickend erkannte, wo sie aufgewacht war: in einer kleinen, von Moos und Verfall gekennzeichneten Waldhütte, angelehnt an eine hohe Felswand, und die nur spärlich dem heftigen Wind trotzte. Die schmale Anhöhe, auf der sie stand, erweckte nicht den Anschein, als könne der Bau den Naturgewalten lange standhalten. Überhaupt erschien es Kayleigh ohne Sinn, eine Hütte an einem solch gefährlichen Ort zu erbauen. Die lose herabhängenden Wandbretter und dicken Spinnengewebe in jeder Ecke des Raumes ließen auch nicht vermuten, dass irgendjemand hier vor Kurzem gelebt hatte.
Immer noch verwirrt und verängstigt beschloss Kayleigh, lieber in die Hütte zurückzukehren, um wenigstens dem Wind und der Kälte zu entkommen. Nachdenklich drückte sie mit ihrer Hand die sich zum Rauminneren öffnende Tür, als sie ein Geräusch erstarren ließ. Der Ton hörte sich nicht alltäglich an, sondern eher wie ein leises, rasselndes Krächzen. Was ist das jetzt wieder, fragte sich Kayleigh in Gedanken. Für eine Minute blieb sie an der Türschwelle stehen und horchte angestrengt, um die mögliche Identität und Herkunft des Geräusches auszumachen. Doch mit der Zeit machten ihr die Kälte und die immer tauber werdenden Hände klar, dass es keine Alternative gab, als in die Hütte einzutreten.
Die Quelle des Krächzens ließ sich leichter lokalisieren in dem Moment, da Kayleigh die Tür schloss, weil nun kein Laut ihre gespitzten Ohren trüben konnte. Egal was diese rauen Töne auslöste, sie kamen aus der kleinen Kammer im hinteren Teil des Baus, aber der Verursacher blieb versteckt vor ihren neugierigen Augen. Die Dielen knarrten leise bei jedem bedächtigen Schritt, den Kayleigh auf die Kammer zu machte. Sie ließ sich Zeit, viel Zeit. Nicht nur, weil ihre eigene Furcht sie fast zu lähmen schien, sondern auch, um das Etwas nicht zu verschrecken. Vielleicht handelte es sich um ein wildes Tier, dachte Kayleigh. So etwas hörte man ja öfter, dass verwundete Waschbären oder Eber sich in die warmen Häuser der Menschen flüchteten. Was wäre, wenn das stimmte? In die Enge getrieben ging von einer verletzten Ratte eine weitaus größere Gefahr aus als von einem neugierigen Fuchs. Aber konnte die so krächzen? Nervös blickte sich Kayleigh nach einer Waffe oder etwas um, mit dem sie sich verteidigen konnte. Mit zitternden Händen griff sie nach dem staubigen Holzbesen, der in einer Ecke lehnte. Als Waffe eignete er sich möglicherweise nur bedingt, doch allein dieser knorrige Griff beruhigte sie ein wenig. Ungeschickt glitt ihr der Besen aus der Hand und fiel laut zu Boden.
Kayleigh verharrte regungslos an Ort und Stelle und horchte angestrengt. Aber seltsamerweise verstummte das Geräusch nicht. Erst nach einigen Momenten fasste sie sich ein Herz, hob den Besen auf und bewegte sich langsam weiter. Nach einer gefühlten Ewigkeit stand Kayleigh nun vor der Ecke, hinter der die Kammer lag. Schweres Atmen vernahm sie nun deutlich. Der heisere Ton jagte ihr ein Frösteln über den Rücken. Auch lag das Holz schwer in der Hand, doch Kayleigh versuchte all ihren Mut zusammenzunehmen, wenngleich ihr dies wie ein monumentales Unterfangen vorkam in der jetzigen Situation.
Entschlossen öffnete sie mit einem Ruck die Kammertür, den Besen zur Verteidigung vor sich haltend. Sie erstarrte und ließ den Besen vor Schreck fallen. Die zur Faust geschlossene Hand versuchte den Schreckensschrei zu unterdrücken. In der hinteren Ecke der kleinen Kammer kauerte ein alter Mann mit langem, schlohweißem, schütterem Haar auf einem Hocker. Schwer und in ungleichmäßigen Zügen drang sein Atem aus den schmalen durch die Kälte aufgerissenen Lippen hervor.
Kayleigh versuchte ihre Ängste abzuschütteln, was ihr nicht leicht fiel angesichts der Erscheinung des greisen Körpers. Runzelige Hände und Falten am Hals bezeugten sein hohes Alter. Sein weißes Hemd war dreckig und voller Blutspuren, seine braune Cordhose am rechten Bein mehrfach zerrissen. War er geschlagen, gar misshandelt worden? Mit über dem Bauch liegenden Armen und in gekrümmter Haltung wippte er hin und her und ließ erahnen, welchen Schmerzen dieser Greis ausgesetzt war. Schuhe trug er keine und schien sie auch lange nicht besessen zu haben, denn seine Fußsohlen wirkten gestählt wie blaues Gestein.
Oder war dies nur das Werk der Kälte? In Anbetracht der zahllosen Verletzungen gelangte Kayleigh zu der Erkenntnis, dass jemand ihn an diesen Ort gebracht haben musste, denn er allein konnte sich kaum aus eigener Kraft fortbewegen. Aber zu welchem Zweck er hierher verfrachtet worden war, blieb ihr ein Rätsel.
„Hallo? Können Sie mich hören?“
Kayleighs Frage verblieb ohne Reaktion. Wortlos und mit gesenktem Kopf wippte der Alte auf seinem Stuhl und röchelte unbeirrt weiter, völlig zurückgezogen in seinem Martyrium. Die junge Frau schaute ratlos auf das kranke Elend vor ihr. Leider verfügte sie nur über wenige Kenntnisse in der Medizin, und das auch nur aus einem halbherzig besuchten Erste-Hilfe-Kurs. Diese Verletzungen überstiegen bei Weitem ihre Fähigkeiten. Sollte sie Hilfe holen? In welche Richtung sollte sie denn laufen?! Wie sollte sie bei dem Nebel hierher zurückfinden? Nein, orientierungslos würde sie in den Wald hineinlaufen. Das schien doch totaler Wahnsinn.
Abermals machte sich Panik in Kayleighs Herz breit. Der Alte reagierte nicht und sie fühlte sich wie eine Gefangene in einer immer bedrückender werdenden Situation, die ihr keine Möglichkeit gab zu entkommen. Den Tränen nah wankte sie zurück in den Raum und lehnte sich Halt suchend an die Wand. Doch ihre Kräfte verflüchtigten sich, denn sie sackte zusammen. Ihre Hände glitten in die Haare und sie fragte sich mit wimmernder Stimme und geschlossenen Augen: „Was soll das alles? Wurde ich entführt? Aber warum? Ich habe kein Geld. Meine Mutter verfügt über keines. Also was zum Teufel mache ich hier?
Und wer ist dieser alte Mann? Ich verstehe das einfach nicht …“ Fragen über Fragen, Antworten gab es keine.
Der Magen rumorte. Der Hunger meldete sich. Kein Wunder, ihre letzte Mahlzeit konnte wer weiß wie lange her sein. Vielleicht hatte ihr Entführer etwas zu essen dagelassen. Was nützte einem schon eine Geisel, wenn sie an Hunger elendig verreckte? Die Aussicht auf Essbares richtete sie auf. Sogleich wischte sie sich die Augen sauber und begann die Hütte zu durchsuchen. Jeder Winkel kam ihr verkommener und dreckiger als der zuvor untersuchte vor. Doch sie fand nichts außer aufwirbelndem Staub und flüchtenden Insekten. Das durfte einfach nicht sein, dachte die nun fieberhaft Suchende. Irgendetwas musste hier sein.
Wieder drang das Röcheln des alten Mannes an ihr Ohr und stellte seine Existenz in den Vordergrund. Ein neuer Gedanke kam in ihr auf. Der alte Mann. Vielleicht besaß er etwas bei sich, möglicherweise nichts zu essen, aber eine Karte oder ein Handy.
Eilig ging sie in die Kammer zurück und kniete sich vor den immer noch Gekrümmten mit gesenktem Kopf. Vorsichtig streckte sie ihre Hand aus und durchsuchte die Brusttasche. Dabei ließ sie ihn nicht aus den Augen, denn er konnte diese stark verkrampfte Haltung aufgeben und vielleicht handgreiflich werden. Nichts. Sie tastete die Hosentaschen ab. Gleichfalls vergebens. Er besaß nichts von Wert oder Nutzen. Enttäuscht betrachtete sie ihn von der Seite. Da bemerkte sie, dass am Rücken des Alten ein kleines Metallkästchen befestigt war, das behelfsmäßig mit ein paar Schnüren zusammengehalten wurde. Vorsichtig befreite sie die hell glänzende Kassette von der Kordel und öffnete den Deckel. Im Inneren befanden sich einige Seiten Papier, fest gefaltet, damit sie hineinpassten, und lose zusammengehalten durch Büroklammern. Neugierig entnahm Kayleigh die erste Seite und begann langsam zu lesen.
Name: Kayleigh Sophia Bringstine
Alter: 32
Gewicht: 54 kg
Größe: 1,69 m
Blutgruppe: 0
Geburtsort: Providence, Rhode Island
Geburtstag: 04.06.1978
Beziehungsstatus: ledig
Verwandte:
Arbeit: IT-Expertin
Aussehen:
SchlankKastanienbraune AugenDunkelblondes, langes HaarMuttermal am EllenbogenLeicht kurzsichtigProfil:
Die Person verfügt über eine durchschnittliche Intelligenz. Freunde besitzt sie nur wenige, ihre depressiven Launen halten sie davon ab, engere soziale Kontakte als lockere Bekanntschaften zu knüpfen. Der Vater verstarb schon früh, ein Ereignis, welches eine tiefe Wunde in der Seele des Mädchens hinterließ. Eine Therapie verbesserte den Zustand. Eine Beziehung zu einem Mann als auch zu einer Frau führt sie nicht. Arbeitet als IT-Expertin in einer kleinen Firma, doch die Arbeit bedrückt sie. Bezeichnet ihr Leben als „leer“. Neigt zu hysterischen Anfällen.
Kayleigh starrte mit einem fassungslosen Blick auf das Blatt Papier, das Informationen über ihre eigene Person akribisch und nüchtern zusammenfasste. Sie las weiter und erfuhr mehr Details über ihren Werdegang. Da schien jemand überaus fleißig gewesen zu sein. Was stand nur auf den anderen Blättern? Wie viel Seiten enthielt das Kästchen? Unruhig zählte sie die Bögen ab. Zwei Blätter fielen zu Boden. Sie ergriff sie hastig und ging raschen Schrittes zu dem Tisch in der Mitte des Raumes. Hier breitete sie jedes Dokument aus, damit sie so viel wie möglich sehen konnte. Ihr Puls klopfte wie wild, denn jedes dieser Blätter enthielt Angaben zu ihrer Person. Es handelte sich nicht nur um die aktuellen Daten ihrer wenigen Freunde und Familienmitglieder, sondern auch um Angaben zu deren alltäglichen Leben. Das reichte von kleinen belanglosen Dingen bis hin zu intimen Details, minutiös aufgeschrieben. Sogar Fotos lagen manchem Papierbogen angeheftet.
Wut und Entsetzen wechselten miteinander ab. Wer hatte dies geschrieben und ausgedruckt? Kayleigh ergriff den nächsten Bogen. Diesen zierten im Unterschied zu den anderen handgeschriebene Worte. Das Schriftbild wirkte unruhig, als sei der Text mit zittriger Hand und unter großer Mühe geschrieben worden.
Flucht ist unmöglich. Der Nebel ist dicht, die Umgebung gefährlich. Verlasse nicht die Markierungen außerhalb der Hütte, sie sind dein einziger Schutz. Der alte Mann ist wichtig. Tu ihm was an und du wirst bestraft. Entfernst du dich von der Hütte, wirst du bestraft. Dein Essen bringt dir jemand jeden Morgen vor die Tür.
Sprich nicht und warte, bis er nicht mehr zu sehen ist, bevor du es dir nimmst. Ich beobachte dich. Immer.
Die letzten Zeilen lösten in Kayleigh einen Sturm der Panik aus. Ein Weinkrampf überkam sie und schluchzend warf sie sich auf den Boden. Heftiger Wind war aufgekommen und wimmerte um das Gebälk der hölzernen Hütte vor der felsigen Wand. Das Innere der Behausung erfüllte große Traurigkeit. Die junge Frau weinte, der alte Mann atmete heiser – ein höchst melancholisches Schauspiel, aus dem es auch nach Stunden kein Entrinnen würde geben.
Die folgende Nacht erwies sich als weitere Qual. Kayleigh erhob sich von der mehr als unbequemen Pritsche und schaute müde aus dem schmutzigen Fenster. Schlafen konnte sie nicht und auch das einfache Liegen spendete keine Erholung und auch keinen Trost. Sie beunruhigte nicht nur der Wind, der unaufhörlich an der wackligen Fassade rüttelte und zerrte, sondern auch das geräuschvolle, unrhythmische Atmen des alten Mannes. Kayleigh ging noch einmal zu ihm und betrachtete ihn stumm. Aber ihr fiel nichts auf, was sie nicht schon bemerkt hatte. Zum zweiten Mal durchsuchte sie ihn und fand nichts, was ihr von Nutzen sein konnte.
Die gekrümmte, teilnahmslose Hülle von Mensch erweckte ihr Mitleid. Damit er sich nicht weiter verletzte, trug sie ihn vorsichtig aus der engen Kammer und setzte ihn vorsichtig auf den Stuhl. Den ausgemergelten Greis konnte selbst eine so untrainierte Frau wie Kayleigh heben, wenn auch mit einiger Anstrengung. Offensichtlich waren sie beide entführt worden, aber zu welchem Zweck? Und warum trug nur der Alte so viele Wunden davon? Ihr Körper war unverletzt. Wahrscheinlich war sie in einer Art Ohnmacht entführt worden, der Alte vielleicht im Wachzustand, in dem es zum Kampf und so zu den Verletzungen gekommen war.
Kayleigh ging nochmals zum Fenster und beobachtete das Morgengrauen. Das aufkommende Licht verlieh den Naturriesen allmählich neue Gestalt. Plötzlich nahm sie ein leises Knacken wahr. Unser Entführer, schoss es ihr durch den Kopf. Was sollte sie tun? Wie sich retten? Sie erinnerte den Brief, der ihr auszuharren befahl. Kam jetzt gar nicht der Entführer, sondern der Bote, der ihnen das Essen brachte? Wie sah er aus? Tatsächlich huschte eine Person eiligen Schrittes auf die Hütte zu und legte etwas vor der Türe ab. Sie hatte ihn nicht fortgehen sehen.
Kayleigh schlich leise zur Türe und fragte mit gedämpfter, ängstlicher Stimme: „Hallo? Ist da jemand?“
Keine Reaktion. Für einen Moment sah es so aus, als ob sowohl Kayleigh als auch der Bote lauschten, um den jeweils anderen wahrzunehmen. Kayleigh hörte, wie sich Schritte von der Hütte entfernten. Unbeantwortet stand ihre Frage im Raum. Er oder sie ignorierte sie, schloss sie erzürnt und war überaus angewidert. Dieser Mensch war kalt, skrupellos und gleichgültig. Wütend rannte sie zur Tür und hämmerte wie wild dagegen.
„Du verachtenswertes Arschloch! Lass mich gehen! Was erhoffst du dir davon, du mieser Penner?!“, schrie sie aus Leibeskräften. „Lass mich gehen! Lass – mich – geh…“ Kayleigh stoppte abrupt ihr Wutgeschrei, denn auf ihre Schläge gegen die Tür antwortete ein kräftiger Rums, der von außen kam. Erschrocken wich Kayleigh von der Türe zurück, stolperte und fiel nach hinten, wobei ihr Kopf heftig auf die Bohlen traf. Sofort spürte sie einen pochenden Schmerz und griff reflexartig an den Hinterkopf. Sie setzte sich auf und nutzte den Moment, um das Geschehene zu verarbeiten. Er oder sie war also zurückgekommen und hatte gegen die Tür geschlagen. Der Schlag sollte wahrscheinlich daran erinnern, dass sie Ruhe zu bewahren habe, wenn derjenige das Essen vor die Schwelle legte. Wie viel Leid musste sie noch ertragen? Auch die Tür hatte unter dieser Aktion gelitten. Von der Wucht erfasst krümmte sich das Türblatt nun nach innen und der Wind pfiff eisig durch den neu entstandenen Riss. Das obere Scharnier hing nur noch lose in seiner Angel.
Kayleigh versuchte aufzustehen, aber ihr Bauch und Kopf schmerzten. Langsam humpelte sie zum einzigen freien Stuhl in der Hütte. Auf dem anderen röchelte der Alte vor sich hin. Immer noch hielt sie sich die schmerzende Stelle am Hinterkopf und untersuchte daraufhin ihre Hand.
Kayleigh atmete erleichtert auf, denn Blut klebte nicht daran. Wenn sie sich selbst verletzen würde, wäre ihre Situation noch schlechter. Mit Blick auf den Spalt dachte Kayleigh an die kommenden kalten Tage, woraufhin sie schnell ihren Wutausbruch bereute. Sie sah in das Gesicht des alten Mannes und begann sich über die Zukunft Gedanken zu machen.