An des Haffes anderm Strand - Annette Hildebrandt - E-Book

An des Haffes anderm Strand E-Book

Annette Hildebrandt

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Beschreibung

- Eine ostpreußische Familiensaga zwischen 1908 und 1945 - Die Geschichte eines jungen Pfarrers vor dem Hintergrund der Zeit- und Kirchengeschichte des 20. Jahrhunderts - Packend erzählt nach wahren Begebenheiten: Rudolf Bultmann, Karl Barth, Weltwirtschaftskrise, Goldene Zwanziger, Bekennende Kirche und Deutsche Christen, Zweiter Weltkrieg, Flucht aus Königsberg Was passt alles in ein Leben? Weit mehr als man denkt, so das Fazit dieser eindrücklichen ostpreußischen Familiengeschichte. Das Buch erzählt von der Familie des Arthur Preuß. Der junge Arthur will Pfarrer werden. Nach dem Studium der evangelischen Theologie in Königsberg, bei Bultmann in Marburg und Barth in Münster wird er masurischer Landpfarrer. Seine große Schwester Agathe geht indessen als junge, emanzipierte Lehrerin nach Berlin – und erfährt dort die Schattenseiten der neu gewonnenen Freiheit. Entmündigt, verzweifelt und verlassen von der Familie wird sie schließlich Opfer der sogenannten Euthanasie. Arthur hingegen heiratet, gründet eine Familie, wird Pfarrer in Königsberg, erlebt als Soldat die Zerstörung Königsbergs, gerät in Kriegsgefangenschaft. Vor dem Hintergrund einer Zeit voller historischer Umbrüche - vom Ersten Weltkrieg über die Goldenen Zwanziger, die Weltwirtschaftskrise, der Machtergreifung Hitlers, der Kirchenspaltung in Bekennende Kirche und Deutsche Christen, bis hin zum Zweiten Weltkrieg und der Flucht aus dem zerstörten Königsberg erzählt Annette Hildebrandt diese bewegende Familiengeschichte nach wahren Begebenheiten. Mehr noch, das Buch ist eine Hommage an die ostpreußische Landschaft, die legendäre Küche und den unwiderstehlichen Humor der ostpreußischen Menschen. Ergreifend, authentisch und unbedingt lesenswert.

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ANNETTE HILDEBRANDT

AN DES HAFFES ANDERM STRAND

Eine ostpreußische Familiengeschichte

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2023 by edition chrismon in der Evangelischen Verlagsanstalt GmbH • Leipzig

Printed in Germany

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Das Buch wurde auf alterungsbeständigem Papier gedruckt.

Cover: Melissa Fiebig, Weimar

Layout und Satz: Steffi Glauche, Leipzig

Druck und Binden: CPI books GmbH

ISBN 978-3-96038-360-4 // eISBN (E-PUB) 978-3-96038-377-2

www.eva-leipzig.de

Inhalt

Die Rückkehr der Geschichten

1. Kapitel: Elbing, Straßburg, 1907–1914

2. Kapitel: Elbing, Straßburg, Wuppertal, 1914–1922

3. Kapitel: Königsberg, Wuppertal, Berlin, 1922–1926

4. Kapitel: Königsberg, Münster, Marburg, Berlin, Wuppertal, Flensburg, Köln, 1926–1931

5. Kapitel: Berlin, Adlig Kessel, 1931–1932

6. Kapitel: Adlig Kessel, Göttingen, 1932–1934

7. Kapitel: Adlig Kessel, Eberswalde, 1934–1936

8. Kapitel: Kückenmühle, Adlig Kessel, Königsberg, 1936–1939

9. Kapitel: Königsberg, 1939–1940

10. Kapitel: Königsberg, Kückenmühle, 1940–1942

11. Kapitel: Königsberg, 1942–1943

12. Kapitel: Königsberg, 1943–1945

13. Kapitel: Königsberg, Elbing, Danzig, Gotenhafen, Zoppot, Lübeck, Demmin, Januar–Februar 1945

14. Kapitel: Demmin, Königsberg, Danzig, Demmin, Februar–März 1945

15. Kapitel: Königsberg, Danzig, Frische Nehrung, Insterburg, Demmin, Lübeck, März–Mai 1945

16. Kapitel: Königsberg, Hela, Russland, Deutschland, Demmin, Mai–November 1945

NACHWORT

VERZEICHNIS DER BIBELSTELLEN UND GESANGBUCHLIEDER

QUELLENVERZEICHNIS

Hüter, ist die Nacht bald hin?

Hüter, ist die Nacht bald hin?

Der Hüter aber sprach: Wenn auch der Morgen kommt,

so wird es doch Nacht bleiben.

Wenn ihr fragen wollt, so kommt wieder und fragt.

Die Rückkehr der Geschichten

Geschichten ziehen davon wie Schiffe, die dem Horizont entgegensegeln. Wir stehen am Ufer, sehen sie entschwinden, kleiner und kleiner werden, kleinerund kleiner, kleinerund kleiner. Auch wenn wir nicht auf ihre Rückkehr warten, werden die meisten wiederkommen. Ob es uns gefällt oder nicht.

1. Kapitel: Elbing, Straßburg, 1907–1914

Ein Mann der Tat

Emilie hatte ihn zum Witwer gemacht. Vor Jahren schon, fünf waren es inzwischen, war sie gestorben, um ihn zu verlassen. So sah er es damals und so fühlte es sich auch heute noch an. Das Herz war ihm aus dem Leibe gesprungen und bisher nicht zurückgekehrt. Daran konnte auch Agathe nichts ändern, seine Tochter, sein einziges Kind. Nun schon gar nicht, da sie bald aus dem Hause gehen würde. Agathe, mit 18 Jahren Junglehrerin, verließ ihn ebenfalls.

Er, Karl Preuß, war schon oft verlassen worden. Am Tag vor seinem ersten Geburtstag von seiner Mutter. Sie starb an Cholera und fehlte ihm sehr. Knapp fünf Jahre später von seinem Vater. Er starb an Cholera und fehlte ihm noch mehr. Mit seinen Brüdern Otto, Max und August wurde Karl nach dem Ableben des Vaters in das nächstgelegene Waisenhaus gebracht. Dort war der Aufenthalt nicht angenehm und er war froh, als er es verlassen durfte.

Für den Fortgang der Geschichte ist es ebenfalls besser, sich von dort zu entfernen und aus Karls überwiegend düsteren Kinderjahren in das Jahr 1907 zu wechseln.

Gerade war er 44 Jahre alt geworden. Sonst eher geistigen Dingen zugewandt, ergriff er das Heft des Handelns und schritt zur Tat. Anfang Februar, Emilies Leib steckte unwiederbringlich im Grabe fest, suchte Karl bei strengem Frost den allbekannten wie kinderreichen Schiffer Wischnewski auf, um dessen Tochter Ingelore zu freien. Vielleicht würde bei einer neuerlichen Eheschließung Karls Herz in seinen Leib zurückspringen.

Zum Zwecke der Brautwerbung musste der Mann der Tat mit der Bahn von Elbing nach Königsberg fahren. Das ging damals ruckzuck, trotz klirrender Kälte: Die Fahrt dauerte eineinhalb Stunden. Viel zu schnell, nicht schnell genug. Die schneebedeckten Bäume flogen vorbei, die Räder ratterten »tadan, tadan, wir kommen an«.

Ruckzuck ging es dann auch mit seiner Zukünftigen. Alwin Wischnewski und Karl Preuß waren so recht befreundet. Karl gefiel der Kapitän, weil er Kapitän war, und Alwin gefiel der Schulmeister, weil er nicht Kapitän war. Die Begrüßung zwischen den Herren war knapp, das Anliegen trotz gefrorener Nase und tränender Augen konzentriert vorgetragen:

»Gib mir Ingelore. Du weißt, ich brauche eine Frau«, sagte Karl, noch bevor ihn Alwin in die gute Stube bitten konnte.

Ingelore war nicht im Hause.

»Sie ist in einer Stunde wieder da, dann können wir das regeln. Komm rein, setz dich, wärm dich auf!«

Karl trat ein, setzte sich jedoch nicht, sondern hielt um eine andere Hand an – um die von Hedwig. Hedwig war Ingelores Schwester, hatte ihm die Tür geöffnet, war somit anwesend.

»So gib mir Hedwig. Sie wird es auch können.« Karl hoffte, durch dieses Wendemanöver seine Brautwerbung noch zum Erfolg zu führen und die Rückfahrt planmäßig antreten zu können. Die Füße konnte er daheim mit einem heißen Fußbad auftauen. Vielleicht schon als Bräutigam.

Nun war Hedwig eine besondere Blume im Strauß von Alwins Kindern. Sie befuhr mit ihrem Vater das Frische Haff und hatte auf dem Dampfer »Friede« für das leibliche Wohl von Kapitän Wischnewski und seinen Mannen zu sorgen. Eine verantwortungsvolle Aufgabe. Das hieß dann schon mal, mit dem für das Abendbrot vorgesehenen Schinken ein Leck zu stopfen, damit der »Friede«, ohne allzu viel Wasser zu nehmen, den nächstgelegenen Hafen ansteuern konnte. Der Speiseplan war entsprechend umzugestalten. Und zwar so, dass vor allem Alwin Wischnewski satt wurde. Denn Alwin war ein Nimmersatt. Über ihn waren viele Geschichten im Umlauf. Wie die, er habe anlässlich eines Hochzeitsmahles vorab in der Küche alle Königsberger Klopse aufgegessen. Den anderen Gästen blieben nur Kartoffeln und Soße.

So unentbehrlich Hedwig für ihren Vater war, hatte dieser doch ein Einsehen mit dem eiligen Brautwerber und der unversehens auserwählten Tochter, denn Hedwigs biologische Uhr, die damals noch nicht so hieß, tickte bereits ziemlich laut. Das Mädchen war achtundzwanzig Jahre alt. Alwin erfüllte den Wunsch seines Freundes, hatte er doch weitere Blumen in der Vase, und Hedwig erfüllte Karls und ihre eigenen Hoffnungen. Schließlich hatte sie schon eine ganze Weile ein Auge auf ihn geworfen.

Hedwigs Zukünftiger war ein schweigsamer Mensch. Das machte ihr nichts aus. Sein Äußeres hatte es ihr angetan. Da stimmte einfach alles: Er war von schlanker Statur mittlerer Größe, so dass sie zwar etwas, aber nicht zu sehr zu ihm aufsehen musste. Er hielt sich aufrecht, sein Haarwuchs war überaus prächtig und auch der Schnauzbart wuchs stabil und war jederzeit in gute Form zu bringen. Das Schönste an Karl aber waren seine Augen. Wenn sie nicht – wie leider häufig zu bemerken, aber hoffentlich zu beheben – melancholisch umflort in die Welt blickten, strahlten sie dunkelblau oder stählerngrau unter starken Brauen hervor und konnten humorvoll-freundlich, andernfalls kühl und streng blicken. Nase und Kinn waren markant, jedoch angenehm proportioniert. Ein gutaussehender Mann, verlässlich und intelligent. Nicht besonders höflich, nicht besonders freundlich. Dennoch: Die Braut – ja, in eine solche hatte sie sich innerhalb weniger Minuten verwandelt – war ihm sehr zugetan.

Hedwig lächelte holdselig. Sie konnte gar nicht anders. Karl lächelte verhalten zurück. Er konnte gar nicht anders. Verabredungen wurden getroffen und die Heimreise pünktlich angetreten. Schnell war er wieder fort von ihr, seiner Braut. »Tadan, tadan, wir kommen an.«

Tochter Agathe nahm den neuen Familienstand wohlwollend zur Kenntnis, während sie ihrem Vater das Fußbad bereitete. Das Ganze würde ihr im kommenden Jahr den Auszug aus der väterlichen Wohnung erleichtern. Sie kannte Hedwig von mehr als einer Fahrt auf dem Frischen Haff. Die neue Frau würde mit ihrem Vater zurechtkommen.

Karl ging mit warmen Füßen und als Bräutigam zu Bett. Eine Wärmflasche war ihm von Agathe vorausgelegt worden. Er kuschelte sich in sein Nest, lächelte, schloss die Augen, klopfte auf das nachbarliche Bett, sagte: »Das wird schon wieder« und schlief ein. Nach einem Monat, am 3. März 1907, erschienen die Brautleute in der Elbinger Annenkirche vor dem Altar.

Hedwig war ein echter Glückstreffer. Nicht blutjung, aber wunderschön. Klein und zierlich, doch von aufrechter, stolzer Haltung. Modische Löckchen umrahmten ihr liebliches Gesicht, die klaren blauen Augen lagen unter wohlgeformten Brauen. Die gerade Nase – weder Stups noch Geierschnabel – und der volle Mund mit den schön geschwungenen Lippen machten den überaus erfreulichen Anblick ihres offenen, liebreizenden Gesichtes vollkommen. Und freundlich war sie. Noch nie war jemand dauerhaft so freundlich zu Karl gewesen. Und sie konnte kochen! Natürlich konnte sie das.

Karl ging tagein tagaus seinen Pflichten als Volksschullehrer an der Elbinger Marienschule nach. Diese Pflichten beanspruchten ihn maßlos und erschöpfend, wobei niemand maß oder beim Schöpfen half. Er hatte nicht Lehrer werden wollen. Wenn man ihn gefragt hätte, »Was willst du einmal werden?«, hätte er »Pfarrer« gesagt. Aber es hatte niemand gefragt. Warum Pfarrer, warum nicht Lehrer? Pfarrer konnten den Abstand zu den ihnen Anvertrauten größer halten. Ihre Position war dem Himmel näher, nicht nur im übertragenen Sinne. Die Kanzel lag zumeist höher über dem Meeresspiegel als das Katheder.

Die Königliche Prüfungskommission hatte Karl nur in Religionslehre und Naturkunde ein »gut« bescheinigt. In anderen Fächern, wir reden hier von Raumlehre, Geografie, Gartenbau, Zeichnen und Musik, kam er mit einem »fast gut« oder »genügend« aus. Es fehlte ihm nicht an Geistesgaben – für manche Dinge interessierte er sich einfach nicht. Seine zum Zeitpunkt des Wissenserwerbs gelebte geistige Genügsamkeit erzeugte nun angesichts der ihm aufgetragenen Weitervermittlung die oben genannte erschöpfende Beanspruchung. Im Turnen stand gar ein »nicht genügend« in seinem Zeugnis. Dieses Nicht-genügende wurde zeitgleich auch im Ersatz-Reserve-Schein II dokumentiert, der aussagte, dass Karl bei ausbrechendem Kriege nur im Falle außerordentlichen Bedarfs zur Ergänzung des Heeres Verwendung finden könnte.

Seit einem Vierteljahrhundert kämpfte sich Karl durch das Lehrerleben. Ein Anflug von Humor hatte ihn dazu gebracht, noch zu Emilies Zeiten einen der pädagogischen Leitsätze des evangelischen Seminarunterrichts, in eigener Schönschrift verfasst und eigenhändig gerahmt, an die Küchenwand zu hängen: »Der Lehrer aber wird am höchsten stehen, der täglich selbst in der Schule am meisten empfängt, nämlich den Geist der Demut, des Gebets, der Liebe und der Gottesfurcht, die mit göttlicher Furcht und freudigem Zittern seine und der ihm anvertrauten Kindern Seligkeit zu schaffen sucht.« Bei Karl und seinen Schützlingen überstieg das Zittern aufgrund von Schülerfurcht – sie vor ihm und er vor ihnen – das allseitige Gottesfurchtzittern. Das »freudig« wurde weder gesucht noch fand es sich von selbst ein. Einigermaßen freudig ging er fortan daheim zu Werke und tat dort, was von ihm erwartet wurde. Das war zum Glück nicht viel, denn Hedwig kam im Haushalt gut ohne ihn zurecht.

Für das, was zum Entstehen neuen Lebens erforderlich war, ließen die beiden nur eine kurze Übungsphase zu und insgesamt wenig Zeit verstreichen. Sie machten es sich gemütlich, ihre Keimzellen trafen aufeinander, ein Kind wurde gezeugt. Es wuchs und gedieh und schaukelte auf das Leben im Außenbereich zu.

Das Jungchen

Als das Jungchen am 10. Februar 1908 in der Nummer 5 der Elbinger Burgstraße, 2. Etage (ob links oder rechts ist nicht überliefert), fristgemäß in den Geburtskanal gedrängt wurde, hatten Mutter und Sohn ihre liebe Not miteinander. Sie stöhnte sich durch die Wehen. Das Kind wollte nicht hinaus. Warum auch? Nichts von dem, was es erwartete, konnte die Sache besser machen. Wie alle gesunden Babys kommentierte es deshalb die Stunden später erfolgte Evakuierung samt durchtrennter Nabelschnur mit zornigem Geschrei.

»Es ist ein Jungchen!«, frohlockte die Hebamme. Agathe, die ihr zur Hand gegangen war, lächelte.

Hedwig nahm es gelassen. Sie hatte es gewusst. »Arthur soll er heißen. Arthur Emmerich Preuß.«

Wenig später lag Arthur wie handvermessen in Hedwigs Armbeuge, fand die ihm zugedachte Milchquelle und begann zu saugen. So sollte es sein und bleiben! Hedwig war voll der Wonne, die Hebamme voll des Stolzes und Agathe voller Freude darüber, dass neue Zeiten anbrachen. Schließlich wohnte jedem Anfang auch damals schon ein Zauber inne, obwohl Hermann Hesse das dem Wortlaut zugrundeliegende Gedicht noch nicht geschrieben hatte.

Karl kam auch an Arthurs Geburtstag, einem Montag, mäßig motiviert seinen Pflichten nach. Er trat vor seine Schüler, die stets ihre eigene Art hatten, ihm zu begegnen. Für ihn meist nicht vorhersehbar und immer wieder auf neue Weise erschreckend. Nein, sie taten ihm nichts und er behielt jederzeit die Oberhand. Doch es waren Fremde, jeden Tag gleich viele fremd bleibende Fremde. Er hatte nicht die Gabe, das zu ändern. Weder an diesem noch an einem anderen Tag. Als er nach Hause kam, war er erfreut über den Familienzuwachs, doch alsbald der Ruhe bedürftig. Leider war die Wohnung nicht groß genug, ihm Ruhe zu bescheren und man war gerade erst dabei, das Ohropax zu erfinden. Deshalb bediente er sich seiner Ohrenschützer und verstärkte sie pro Ohr mit einem Wattebausch. So hatte jedes Familienglied, was es brauchte: Hedwig das Kind, das Kind Hedwig, Karl seine Ruhe und Agathe ihre Vorfreude auf die neue Zeit.

Zu Hause sein

Dem Jungchen ging es gut. Ein weiteres Kind folgte nicht, es folgte einfach nicht. Hedwig war es zufrieden, Arthur auch, Karl sowieso.

Arthur hielt sich ganz natürlich an die Frauen seiner Familie, zuallererst an seine Mutter. Aber auch Agathe, seine Halbschwester, begegnete ihm liebevoll und durchaus mütterlich, wenn sie – zumeist sonntags nach dem gemeinsamen Kirchgang – zu Besuch kam. So erlebte er früh und behielt im Sinn, dass Frauen dazu neigen, barm- und großherzig, körperlich anschmiegsam und geistig beweglich, aber wenig herausfordernd zu sein. Selbstverständlich waren weder Mutter noch Schwester damit ausreichend charakterisiert, und Arthurs Wissen über und sein Verständnis für Frauen sollte sich nicht nur im Blick auf seine nächsten weiblichen Verwandten als lückenhaft erweisen. Dennoch blieb die frühe Erfahrung an ihm haften wie Schokolade an Buchseiten. Und wer war schuld daran? Die Frauen.

Zum Liebevollen und Großherzigen kamen Hedwigs Kochkünste. Kuchen, Kompott und andere Süßspeisen konnte sie, Rohkost sowieso. Als gute Kaltmamsell hätte sie überall ihr Werk verrichten können. Ihre Gerichte wurden auch in Arthurs Leben ein bestimmendes Element; sie setzten ungeheure Maßstäbe. Nie kam es bei Hedwig zu der Frage: »Was soll es heute bloß zum Mittagessen geben?« Immer wurde mit hauswirtschaftlichem Ehrgeiz, unverstellter Leidenschaft und familiärer Hingabe geplant, kalkuliert, eingekauft, gekocht und aufgetischt. Verlockende Düfte stachelten die stets wache Begierde Arthurs und anderer Nutznießer an, bis die Mahlzeit endlich auf den Tisch kam. Appetit traf auf Appetitliches, Hunger auf Sättigendes, Angebot und Nachfrage waren untrennbar verwoben.

»Hedwig, was kannst du kochen!«, sprach Karl ein ums andere Mal, wenn er vor den Königsberger Klopsen, der Lungensuppe, dem Bregen oder einem Sonstwas der ostpreußischen Küche saß. Abgerundet wurde das tägliche Festmahl durch Quarkplinsen oder Buttermilchspeise, in segensreichen Zeiten gar durch zarte Buttermilch mit Schlagsahne.

Arthur aß, stets aufs Neue begeistert, was auf den Tisch kam. Von Flundern und Heringen bekam er die Gräten los, als hätte er das schon im Mutterleibe geübt. Die Serviette um den Hals gebunden, beackerte er seinen Teller und hielt, falls es sich nicht um Suppe handelte, jederzeit die vorgegebene Anordnung der Speisen auf Tellerhälften oder -dritteln ein. Das kannte Hedwig so nicht, nicht von ihrem Vater, nicht von seinen Schiffsleuten und nicht von ihren Brüdern. Niemand sonst aß so. Auch Karl sah immer zu, dass er zügig und unspektakulär alles vom Teller bekam. Im Waisenhaus hätte es nichts gebracht, lange im Essen herumzustochern und die Einzelheiten zu sortieren. Dann bekam man nicht genug.

Arthur war etwas ganz Besonderes. Er gehorchte seinen Eltern, spielte fröhlich allein in der Sonne oder im Schatten und, wenn der altersmäßig passende Sohn von Onkel Max vorbeikam, der liebe Vetter Ernst, auch fröhlich zu zweit. Arthur wuchs und gedieh. Vater Preuß beförderte dies, indem er Arthur abhängig proportional von dessen Wachstum auf immer längere Wanderungen durch und um die Heimatstadt Elbing mitnahm. Arthurs Zuneigung schwenkte in Richtung Vater und blieb mittig zwischen beiden Eltern stehen.

Inzwischen wohnten die Preußens in der Bismarckstraße 10 im dritten Stock. Vom Erkerfenster aus konnten sie über die Schrebergärten und die Häuschen der Grünstraße hinweg bis zum drei Kilometer entfernten Thumberg schauen. Die Bäume des Vogelsanger Waldes zogen sich bis zu den Haffuferbergen hin. Wenn das Fenster offenstand, drang Stille herein, vom Gezwitscher der Vögel, fernem Hundegebell und den Emsigkeitsgeräuschen der Schrebergärtner einmal abgesehen. Natürliche Stille sozusagen. Karl mochte diese Stille und Arthur lernte, sie auch zu mögen. Die Stille rief nach ihnen, wie immer das auch zuging, und sie riefen nach ihr. Manchmal rief aber auch jemand anderes.

Auf halbem Blick zum Wald, in den Hang hineingebaut, stand eine Kaserne. Das Wort passte zu keinem anderen, das Arthur kannte. Die Ka-ser-ne sah nicht hübsch aus, jedenfalls nicht bunt oder lustig. Langweilig sah sie aus. Und doch war sie interessant. Denn es konnte geschehen, dass sich aus ihr Töne erhoben. Erst ein Ton, dann noch einer und so weiter. Vielleicht kamen sie auch aus den Wolken? Fielen vom Himmel?

»Das war das Signalhorn«, belehrte ihn Karl, als die natürliche Stille wieder einmal unterbrochen wurde. Er schob die Gardinen beiseite, damit sie besser hinaussehen konnten. »Das Signalhorn wird in der Kaserne geblasen, damit alle wissen, was sie als Nächstes zu tun haben.«

»Warum müssen die denn da tuten, die können den Leuten doch sagen, was sie tun sollen?«, fragte Arthur.

»Diedennda gibt es nicht. Das sind Soldaten. Wenn ins Horn geblasen wird, können es alle hören, auch wenn sie etwas weiter weg sind«, erklärte der Vater. »Sie werden morgens vom Horn geweckt und abends ins Bett geschickt.«

Bei geöffnetem Fenster, wenn der Wind aus Richtung der Kaserne blies, hörte es sich an, als tutete das Horn direkt in die Stube. Der Weckruf:

Das Horn konnte natürlich nicht sprechen, aber der Vater kannte den zu der Melodie gehörenden Text und trug ihn Arthur vor. Was für eine höflich gestellte Frage, versehen mit einem Schüsschen Verwunderung.

»Wenn sie noch nicht genug geschlafen haben, dürfen sie dann im Bett bleiben?«, fragte Arthur.

»Nein, das dürfen sie nicht. Es ist das Signal zum Aufstehen, das wissen alle.«

Der Abendruf:

Also war die Kaserne ihr Zuhause.

Und eine Viertelstunde später:

Alles freundliche, gut erzogene Menschen, die Soldaten und ihre Hauptleute, das war unüberhörbar.

Wenn nicht das Horn, sondern die Stille wieder einmal besonders laut gerufen hatte, unternahmen sie den nächsten Vater-Sohn-Spaziergang. Karl sah es als erzieherische Maßnahme in schöner Umgebung an, aber es war ihm nicht nur Pflicht. Arthur war ein niedlicher Kerl, gut zu handhaben.

Für den niedlichen Kerl war es ein anstrengendes Unterfangen, denn der Vater hatte einen forschen Schritt. Meistens taten Arthur die Beine weh, lange bevor die Bismarckstraße wieder erreicht war. Dann schnaufte er und versuchte, das Tempo zu verlangsamen. Irgendwo stehenbleiben, ein Blümchen besehen, einen Schmetterling oder einen Käfer. Wenn es Pfützen gab, konnte man auch gelegentlich nach Molchen oder nach Kaulquappen suchen, Glibberwesen, die auf niedlichste Weise in den Lachen herumwuselten. Manchmal wartete Karl auf ihn, ein anderes Mal wanderte er weiter, so dass Arthur rennen musste, um ihn einzuholen. Niemals nahm Karl ihn Huckepack, immer musste Arthur jeden Schritt allein tun. Jammern half nicht, also ließ er es.

Karls Schweigsamkeit machte die Vater-Sohn-Spaziergänge für Arthur noch auf eine andere Weise beschwerlich. Je mehr sie sich von der Stadt entfernten, desto weniger durfte gesprochen werden. Hatten sie den Wald erreicht, herrschte das Schweigen. Sie sollten nichts von dem verpassen, was die Natur oder deren Schöpfer für ihre Sinne bereithielt. Und: Das Schweigen käme dem Denken zugute, dem jeweils eigenen, behauptete der Vater.

Arthur versuchte damit klarzukommen. Da Fragen mit Reden verbunden war, der Vater fast nie etwas von sich aus äußerte, lernte Arthur durch eine Art Gesamtaufnahme: mit allen Sinnen, Haut und Haaren.

Vater und Sohn waren stummer als sämtliche Wesen in Stadt, Land, Wald und Flur, ja, stummer als die Fische im Wasser und sogar stummer als die so genannten Taubstummen, fand Arthur. Einen Taubstummen kannte er aus der Nachbarschaft. Der war sogar besonders laut. Und seine Gebärdensprache scheuchte selbst die Spatzen vom Dach, so ausladend war sie. Der wusste nichts vom Verstummen und schon gar nichts von Stille.

»Warum schreit er so?«, fragte Arthur eines Tages seinen Vater, als sie dem taubstummen Heinrich samt seiner Mutter bei einem Spaziergang begegneten.

»Der hört nicht, dass er schreit, der hört überhaupt nichts«, antwortete Karl.

»Wenn er nichts hört, warum schreit er dann?«

»Weil er gar nicht merkt, dass er schreit.« Der Vater beschleunigte seinen Schritt. »Nun wollen wir wieder schweigen.«

Arthur musste hüpflaufen, um neben dem Vater zu bleiben. Er hätte gerne noch gefragt, warum jemand, der nicht merkt, dass er schreit, überhaupt schreit, wenn er nichts hört. Der Heinrich musste doch nicht etwa einfach so schreien, oder? Arthur würde das am nächsten Sonntag mit seiner Schwester Agathe besprechen. Sie sprach gerne mit ihm und wusste auf fast jede Frage eine Antwort. Vielleicht kannte sie jemand aus der nicht stummen Taubstummenanstalt.

Tatsächlich kannte sie eine der Betreuerinnen und versuchte sich an einer Erklärung: »Jeder Mensch hat eine Stimme. Schon als Säugling schreit, kräht oder quäkt er, wie ihm gerade ist und was seine Stimme hergibt. Das tun die Taubstummen auch. Aber sie hören es nicht. Deshalb tun sie es einfach immer weiter, weil sie nicht hören, wie es anders gehen könnte. Und weil ihre Stimmen immer kräftiger werden, werden ihre Töne auch immer lauter. Trotzdem sind sie stumm. Denn wer nicht sprechen kann, ist stumm, auch wenn er nicht leise ist. Wenn du nicht sprechen könntest, wärst du auch stumm, aber nicht leise.«

Nein, das glaubte er nicht. Er würde stumm und leise sein. Außerdem würde er zu gerne einmal heimlich in diese Anstalt gehen. Es schien ihm, als wäre das, was dort geschah, besonders interessant. Die Taubstummen waren so lebhaft, fand er, so lebendig.

»Tante Agathe, weißt du, warum die dauernd so herumfuchteln?«, fragte Arthur nach.

»Sie fuchteln nicht herum, das ist ihre Gebärdensprache«, erklärte Agathe ihm. »Mit der unterhalten sie sich.« Also waren sie in gar keinem Sinne stumm.

Wann immer Arthur seinem Vater nach einer ersten noch eine zweite Frage stellte, bekam er also die kurz gehaltene Antwort: »Nun wollen wir wieder schweigen.«

Nicht beide wollten schweigen. Der Vater wollte, dass geschwiegen wurde. Das »Wir« verstärkte das »Ich«, begriff Arthur. Wann immer ein »Ich« auf diese Weise zum »Wir« wurde, stand es besonders stattlich dem anderen »Ich« gegenüber.

Hedwig lachte sich kaputt, als Arthur eines Abends mit ernster Miene äußerte: »Wir wollen noch nicht schlafen gehen!« Das war nicht die Reaktion, die er erhofft hatte.

»Du willst es nicht, aber ich will es. Kein ›Wir‹ und auch kein ›Aber‹.«

Arthur grübelte sich in den Schlaf. Am nächsten Morgen herrschte wieder Klarheit in seinem Kopf. Er, Arthur, verfügte über kein »Wir«, der Vater hingegen schon.

Was Arthur noch bei diesen Spaziergängen lernte, war das Grundrezept für väterliche Gunst: Zeig dich so, wie ich dich haben möchte. Rede nur, wenn du gefragt wirst. Ordne dich nach. Lass mich, und ich lasse dich. Sich zu zeigen wie gewünscht, war erlernbar. Verordnetes Schweigen machte einvernehmliches Schweigen unmöglich; das war bedauerlich, aber praktikabel. Sich nachzuordnen war besser, als sich unterzuordnen. Sich gegenseitig zu lassen, war das Beste. Die Frage, ob eine so gestaltete Zweisamkeit überhaupt ein Beieinandersein war, stellte er sich nicht.

Die wenigen Wörter, die zwischen den beiden auf den Wanderungen gesprochen wurden, waren wie Morsezeichen von Kontinent zu Kontinent. Arthur merkte sich alle und hütete sie besser als das Volk Israel seine Bundeslade. Die Bundeslade ging verloren, die väterlichen Worte nicht. Also hatte Karl recht mit seiner Wortverknappung? Ach, das hatte doch nichts mit Rechthaben zu tun. Karl Preuß ließ das Schweigen herrschen, weil es ihm gefiel. Dazu musste er nichts weiter tun, als den Mund zu halten. Wenn er sein Schweigen brach, war Arthur ganz Ohr. Auch das gefiel Karl.

»Hörst du die Bussarde?«, fragte der Vater an einem der Sommertage, an denen alles harmonierte – das Blau des Himmels mit der Anzahl der Schönwetterwolken mit der Wärme der Sonne mit dem Lichtspiel im Wald. Er zeigte nach oben, wo in der blauen Weite zwei schwarze Punkte schwebten. »Sie benutzen den Aufwind und müssen ihre Flügel gar nicht bewegen.«

Die Bussarde riefen. »Kiaaah!«

Arthur starrte nach oben, bis sein Hals steif wurde. »Sie klingen traurig«, fand er. »Vielleicht kommen sie nie mehr herunter.« Der Vater sagte dazu nichts. Sie gingen tiefer in den Wald hinein.

Ein anderes Mal, im Frühling, betrafen die Morsezeichen des Vaters die Vegetation: »Sieh mal, Arthur, Leberblümchen. Frisch sind sie giftig, getrocknet sind sie gut gegen Gallensteine, sagt man. Nein, nicht abpflücken!« Arthur hatte begehrlich seine Hand ausgestreckt und schrak nun zurück. »Zu Hause sind sie welk. Lass sie stehen.«

Arthur ließ das Blumenpflücken bleiben. Blumen gehörten dorthin, wo sie wuchsen, es sei denn, man brauchte sie als Medizin.

Trotz oder wegen all dem liebte Arthur die Wanderungen mit dem Vater. Auch wenn sich abends seine Beine wie Pudding anfühlten und der Schmerz in den Füßen pochte. Der Wald war so schön, das Rauschen der Bäume, die Waldesluft, das Licht, die Vögel, Blumen und Pilze, die ganze schöne Welt eben. Der Vater gehörte dazu, wie der liebe Gott zum Gottesdienst oder der Engel beim Gutenachtlied.

Andere Ausflüge wurden zu dritt, mit Vater, Mutter, Kind unternommen. Sie waren denen zu zweit deutlich überlegen, wurden von Arthur noch mehr geliebt, hatten sie doch vier Vorteile: Die Mutter kam mit, es durfte mehr geredet werden, es gab etwas zu essen und die Füße konnten sich zwischendurch ausruhen, weil man mit dem Dampfer oder mit der Haffuferbahn fuhr.

An dieser Stelle, endlich, muss es sein, denn es – oder in dem Fall sie – kann jetzt wirklich nicht länger warten: Die ostpreußische Landschaft drängt auf ihr Erscheinen und will ganz ohne Kargheit oder Verknappung beschrieben werden. Das zu verhindern wäre, als ließe man einen Fluss versanden. Da sei die Krutinna, das Frische Haff, die Frische Nehrung, ja, ganz Masuren mit Spirdingsee und allen anderen Wassern vor.

Heute wanderte Familie Preuß auf der Frischen Nehrung. Am wehenden Schilfwald des Haffvorlandes vorüber, an den Rohrkampen und Blänken, den kleinen Häfen und den Weiden an den Molenköpfen. Der Geruch von Schilf und Brackwasser umwehte ihre Nasen, dazu der herbe Duft frisch geteerter Lommen, dieser geisterhaft schnellen Segelschiffe. Der Blick über das weite Wasser und die malerischen Haffuferberge – das alles gehörte zusammen und konnte aus ihrem Leben nicht fortgedacht werden.

Für alle Elbinger war das Frische Haff Lebenselixier. Wie die meisten von ihnen wussten, hatte das »frisch« nichts mit dem üblichen »frisch« zu tun, sondern mit »friesisch«. Sagte man. Andere sagten anderes, nämlich, dass alles Süßwasser, auch das Brackwasser, »frisches Wasser« heißen würde. Das Wasser des Frischen Haffes war ziemlich süß. Wobei süß natürlich nichts mit zuckersüß zu tun hat, sondern an dieser Stelle das Gegenteil von salzig bedeutet. Die Ostsee war ein Brackwassermeer und nur ein ganz klein wenig salzig. Das Frische Haff war noch weniger salzig, dazu frisch und friesisch. Die holländischfriesischen Mennoniten hätten die Niederung am Haff eingedeicht, erklärte der Vater, wenn er Morsezeichen zu diesem Thema sendete.

So gerne die Familie Preuß wanderte, so gerne wasserte sie auch. Am allerliebsten mit dem Dampfer »Möwe«, der die Menschen von der Stadt Elbing über den gleichnamigen Fluss und das Frische Haff ans Ufer der Frischen Nehrung zum Badeörtchen Kahlberg und wieder zurück brachte.

Die beste Windrichtung, die einen ordentlichen Seegang auf dem Haff Richtung Kahlberg versprach, war Nordwest. Da knatterte und klapperte alles, was etwas zum Knattern oder Klappern hatte. Der Wind blies ungesagte Worte hin und her und die gesagten in den Mund zurück; die sogenannte Windstoßfrisur entstand, wenn frau kein Kopftuch und man keine Mütze tragen wollte, Wangen und Nase wurden rot und die Augen tränten.

Heute war so ein Tag mit steifem Nordwestwind. Dank der mütterlichen Beziehungen zum Schifffahrtswesen durften sie wieder einmal die Kommandobrücke der »Möwe« betreten. Hier wetteiferten alle erwachsenen Männer um den Sieg in Sachen Wortverknappung, wobei der Vater gewann, denn er sagte gar nichts. Der Kapitän aber gab Kommandos – in aller Kürze, versteht sich –, dass es eine Freude war; vor allem beim An- und Ablegen: »Volle Kraft voraus!« oder »Maschine stopp!«. Und dann ließ er den Dampfer tuten. Auch wenn es Schiffsbegegnungen gab wurde dampfgehupt.

Manchmal schien es Arthur, als würde die Besatzung sowieso alles von allein machen. Er fragte den Vater danach.

»Ja«, sagte dieser, »das können sie alles auch allein. Aber im Ernstfall, bei schwerem Sturm oder einer Havarie, da muss einer entscheiden, damit nicht alle durcheinanderrennen. Das ist der Kapitän.«

Arthur lernte alle Kommandos auswendig. Er würde einmal Kapitän eines solchen oder noch viel größeren Schiffes werden, wenn irgend möglich. Von oben herab durfte er den Maschinen beim Arbeiten zusehen. Aus dem Maschinenraum wirbelte die Luft in dunstig-heißen Schwaden herauf. Zwei Schraubenwellen drehten sich umeinander. Dazu machten die verschiedenen Kolben die absonderlichsten Verrenkungen. Manche stampften, wie wenn die Mutter am Waschtag die Wäsche stukte. Andere vollführten Bewegungen, wie wenn Hände sich unaufhörlich rieben. Plötzlich schrillte es durch den Raum, ein Zeiger fuhr über eine Tafel und pendelte über einem neuen Kommando aus: »Halbe Kraft voraus!« Der Maschinist griff zu den Dampfdrosseln, sie fielen in das neue Tempo, so dass ein Schütteln durch den Raum ging und das Zittern im ganzen Schiff zu spüren war. Wenn die »volle Kraft voraus« angesagt war, dann hörte das Zittern auf und ein wiegendes Schwingen pflanzte sich durch den Schiffsrumpf bis zum Bug fort. Dann rieben die Hände wie wild und die waschenden Fäuste stukten, dass es nur so eine Art hatte. Die »Möwe« flog.

Von der Abendsonne vergoldet, rauschte das Schiff zurück nach Elbing. Das Ufer leuchtete ihnen in beinahe südländischen Farben entgegen. Eine bunte Mosaiklandschaft, auf deren Hängen Wälder und Wiesen, Getreidefelder und Gärten, Dörfchen und einzelne Gehöfte, Mühlen, Kirchtürme und Ziegeleien einander ablösten.

Arthur tanzte begeistert auf dem Deck herum, als er die winzigen, grauweißen Raupen entdeckte, die am Fuße der Berge aufeinander zukrochen, dem Örtchen Tolkemit entgegen: die Rauchfahnen der beiden Haffuferbahn-Züge. Die Wagen der »HUB« konnte man kaum erkennen, die Rauchfahnen sehr wohl, denn sie waren veränderlich und stiegen gen Himmel. Als sich die Züge im Tolkemiter Bahnhof begegneten, vermengte sich der Rauch zu einer großen Wolke. Doch was geschah nun? Plötzlich gab es überall Wolken und der romantische Sonnenuntergang fiel ins Wasser. Eine Husche wollte sich unbedingt noch abregnen, bevor die »Möwe« anlegte. Arthur, berauscht von Wind und Wetter, war durch nichts zu bewegen, unter Deck zu gehen. Hedwig zog ihm die Kapuze über den Kopf und spannte den Regenschirm auf. Juchhe, er wollte ihr davonfliegen!

»Wir segeln«, schrie Arthur, »lass mich mal halten!«

»Nachher, wenn wir am Ufer sind«, beschied die Mutter. »Sonst fliegst du uns noch mit dem Schirm davon.«

Auf dem Heimweg jagte Arthur die Regenschirmspitze wie einen Schiffsbug durch die Fahrrinne der Straßenbahnschienen. Das darin stehende Regenwasser spritzte wild auseinander, sehr zum Befremden des Schirmes und zum Kurzquieken der Mutter. Arthur quiekte freudig mit, es war zu verlockend. Karls Dauerruhewunsch hin oder her, der Tag war lang gewesen, die Beine waren schwer, da kamen Wasserspiele gerade recht. Zum Schluss wurden eben alle ein bisschen nass. Na und?

Jeden Abend, wenn er im Bette lag, hörte Arthur das Tuten seines Lieblingsdampfers aus allem anderen Getön heraus. Hedwig, die sich mit Schiffssignalen auskannte, wollte es nicht glauben.

»Mutter, gleich muss es tuten!«

»Was wird tuten?«

»Die ›Möwe‹ wird tuten.«

»Woher weißt du, dass sie es ist?«

»Ach, die ›Preußen‹ tutet doch ganz anders. Sie fährt ja auch langsamer und kann noch gar nicht da sein. Und der ›Kahlberg‹ tutet auch anders, so wie ein Dreiklang.« Arthur versuchte sich im Dreiklang-Tuten des Dampfers. Gar nicht so schlecht, fand er, auch wenn ihm leider noch die Tiefe fehlte.

»Genug!«, mahnte die Mutter, »schlaf jetzt!«

Doch erst, nachdem sein Lieblingsschiff tief und samten den Abendgruß geblasen hatte, fielen Arthur die Augen zu. Manchmal geriet das Tuten auch in die Gutenachtgeschichte oder das Abendlied der Mutter hinein. Da schlief es sich noch besser ein.

Menschliche Besonderheiten

Manchmal wunderte sich Arthur. Besonders dann, wenn das Wunder geschah und sein Vater mit den eigenen Eigenheiten brach. So zum Beispiel, als er plötzlich redete, redete und redete. Arthur verstand nicht, was der Vater sagte. Das war wohl nichts für Kinder. Aber warum redete er überhaupt so viel? War er krank? Wenn man immerzu sprach, konnte man dabei überhaupt denken? Arthur konsultierte Ernst, seinen Vetter, bei dem zu Hause sich das Ganze abspielte. Aber der hatte keine Ahnung. Er wusste nur, dass sein Vater, Arthurs Onkel Max, Geburtstag hatte. Deshalb waren sie und viele andere bei Onkel Max zu Besuch.

Arthur sprach vor sich hin, um herauszufinden, ob er dabei denken konnte. »Der Vater ist krank, er wird immer kränker, er spricht immerzu, er spricht immer länger.« Das war ja fast ein Gedicht! Hatte er dabei gedacht? Er wusste es nicht. Er fing noch einmal an. »Der Vater ist krank …«

»Was quasselst du da?«, erkundigte sich Ernst. »Dein Vater ist krank? Vorhin war er noch gesund.«

»Ich denke vielleicht«, rief Arthur und rannte in die Küche, wo seine Mutter der Schwippschwägerin zur Seite stand. Ernst trabte hinterher.

»Ist der Vater krank? Er redet und redet und redet lauter komische Sachen.«

»Ach du liebe Zeit! Nein, der Vater ist nicht krank. Er hält eine Tischrede.«

Hedwig spritzte gerade mithilfe einer angeschnittenen Zellophantüte Schlagsahne auf die zu hübschen Würfeln portionierte Buttermilchspeise. Sie hätte lieber eine Sahnespritze genommen, aber die war in diesem Haushalt nicht vorhanden. Vor Arthurs staunenden Augen entstand dennoch ein wunderhübsches Muster. Doch er ließ sich nicht ablenken, obwohl ihm das Wasser im Munde zusammenlief. »Was ist eine Tischrede? Der Tisch redet doch gar nicht, sondern der Vater!«

»Eine Tischrede ist eine Rede, die am Tisch gehalten wird. Der Vater erzählt den Gästen etwas Lustiges aus dem Leben von Onkel Max, weil der heute seinen sechszigsten Geburtstag feiert.«

Aha. Die Zahl sechzig sagte Arthur in dem Zusammenhang nichts. Natürlich konnte er schon so weit zählen, das hatte Agathe ihm beigebracht und alle waren stolz darauf. Aber ein sechzigster Geburtstag? Onkel Max war alt, das konnte jeder sehen. Und mit Geburtstagsfeiern kannte Arthur sich aus. Gerade war er fünf Jahre alt geworden. Doch da hatte der Vater nicht plötzlich angefangen zu reden. Er war eigentlich den ganzen Tag, außer zu den Mahlzeiten, auf seinem Zimmer geblieben. Warum war das heute nicht so? Ernst fand das auch komisch. Leise schlichen sie sich ins Esszimmer zurück und versteckten sich hinter einer der bodenlangen Gardinen.

Was Arthur und Ernst bisher nicht wussten: Karl war für seine Tischreden regelrecht berühmt. Inzwischen wurden sie bei ihm bestellt, wann immer er es nicht vermeiden konnte, an Tischgesellschaften teilzunehmen. Seine Reden waren so eloquent-glatt-freundlich-verbindlich, dass sich die jeweils Angeredeten behaglich zurechtlehnten wie besonnte Sonnenhungrige auf ihrem Liegestuhl.

Auch heute war das so. Schon während er sich zu seiner Rede erhob, machte der Vater eine Verwandlung durch. Vom leicht abwesend wirkenden Verlegenheitsgast zum kerzengerade stehenden Bedeutungsträger. Als er an sein Glas klopfte, war die Verwandlung abgeschlossen und Karl der Herr über das gesprochene Wort und alle Anwesenden. Der der Rede folgende Beifall verwandelte Karl allerdings umgehend wieder in den Verlegenheitsgast, der, wenn überhaupt, ebenso schlecht zuhörte wie er knapp und wenig höflich um sich sprach.

Arthur arbeitete sich in einem unbeobachteten Moment an das der Gardine nächstgelegene Ende des Esstisches vor, hob das Tischtuch an und kroch in Richtung seines Vaters. Als er ihn an der Hose zupfte, fiel Karl die Serviette herunter. Ärgerlich bückte er sich und entdeckte seinen Sohn.

»Nanu, was machst du denn hier?«

»Was hast du den Leuten eben gesagt?«, wollte Artur wissen.

»Ich habe Onkel Max zum Geburtstag gratuliert.«

»Das hat aber lange gedauert«, meinte Arthur.

»Je älter die Leute werden, desto länger dauern die Reden«, erklärte ihm Karl. »Nun geh mal wieder zur Mutter, die sucht dich bestimmt schon.«

Das stimmte gar nicht. Die Mutter war noch immer in der Küche und schwer beschäftigt. Also verschwand Arthur einfach wieder unter dem Tisch und machte es sich bequem. Ernst gesellte sich zu ihm. Breit wie der Tisch war, konnte sie keiner treten. Sollten sie den Leuten die Schnürsenkel aufbinden und aus den Schuhen ziehen? Sie machten sich ans Werk. Die ergatterten Schnürsenkel verteilten sie wahllos unter dem Tisch.

Immer lauter wurde es um sie herum. Alle redeten durcheinander, klirrten mit den Gläsern, sagten »Prösterchen« und »Wohl bekomm’s« und plötzlich rutschte ein korpulenter Gast zu ihnen unter den Tisch.

»Hoppla«, sagte der Herr. »Da war der Stuhl zu Ende!«

Die Jungen kicherten, krochen von dem Dicken weg und verdrückten sich in die Küche. Das war ihnen nun doch zu toll!

»Mutter, die Leute sind so komisch«, beschwerte sich Arthur. »Eben ist ein Mann vom Stuhl gefallen!«

»Ach du Schreck. Dann bleibt ihr jetzt hier. Es sind noch zwei Portionen Buttermilchspeise übrig.« Vergessen waren seltsame Reden und dicke Männer.

Die Buttermilchspeise bestand aus Buttermilch (wie schon der Name sagte), aus Zucker, Zitronensaft und roter Gelatine. Zu Hause hatten sie manchmal nur farblose, dann war die Speise nicht rosa, sondern weiß. Für den Geschmack spielte das keine Rolle. Gut geraten, zerging sie auf der Zunge, besser als Eis, denn man konnte sie länger im Mund behalten. Schlecht geraten, was ganz selten vorkam, hatte sie ein paar Klümpchen, schmeckte aber immer noch sehr gut. Und nun noch die Schlagsahne! Ein weißer Traum. Arthur verstand nicht, warum aus flüssigen Dingen plötzlich solch cremige Leckereien entstehen konnten, nur weil man in der Milch oder der Sahne herumrührte. Selbst seine Schwester hatte keine ihm verständliche Erklärung parat. Beim Eischnee funktionierte das genauso. Man rührte, quirlte oder schlug wie verrückt, und plötzlich glibberte es nicht mehr, sondern hielt fest und man konnte den Schneebesen oder die Gabel hineinstellen, ohne dass sie umfielen. Oder man konnte den Finger hineinstecken, ihn zu einem Haken krümmen, herausziehen und ablecken.

Das Leben war schön. Die Gäste in der guten Stube hatten zu singen begonnen. Für sie war es wohl auch ein kleines bisschen schön.

***

Manch andere Male wunderte sich Arthur darüber, dass der Vater einfach verschwand. Es geschah immer an einem Sonnabend, ganz ohne Ankündigung. Da kam er von der Schule nicht nach Hause, sondern überließ Weib und Kind dem Herrgott oder sich selbst und nahm den zwanzig Kilometer weiten Weg nach Marienau (gesprochen: Marrjenau) zwischen die Beine, durch allerlei Triften und bei Zeyer über die Nogat hinweg, drei Stunden durch das Danziger Werder. Bei einbrechender Dämmerung hatten ihn seine Füße am Ziel abgeliefert; er und sie waren guter Dinge. Im Ziel trafen sie auf Bruder August und dessen Tochter Marie, die Karl immer überaus Erquickendes und Bekömmliches an Speis und Trank zukommen ließen. (Als würde er zu Hause nicht genug bekommen.)

Er übernachtete auf bescheidener Unterlage und brachte es fertig, in aller Morgenfrühe, ehe die Verwandten sich den Schlaf aus den Augen gerieben hatten, das Hausmädchen Tine aber schon zwischen den Töpfen hantierte, ihm (dem Hausmädchen) eine Art Entschuldigung aufzutragen: Er müsse rechtzeitig in St. Annen zum Gottesdienst sein. Wieder zwanzig Kilometer und die Nogatfähre dazwischen.

Nichte Marie erteilte ihm mithilfe einer besonderen Erklärung Absolution: »Er kam und ging wie ein Ei vom Himmel.«

Zum Glück waren die Marienauer Preußens auf Eifälle dieser Art eingerichtet, denn sie bekamen häufig Besuch. Das Leben war auch in Marienau schön.

Bei seiner Einkehr in die Annenkirche hüllte Karl sich in Schweigen. Die Familie drückte die für sie vorgesehene Kirchenbank, denn auch Agathe, Hedwig und Arthur waren pünktlich eingetroffen. Was Hedwig von Karls Soloausflügen hielt, ist nicht überliefert. Ausnahmsweise hüllte auch sie sich in Schweigen. Beider Schweigen war mitnichten einvernehmlich, soviel spürte Arthur heraus.

Die Annenkirche

Arthur hatte dank Karls Wortverknappung seine eigene Art entwickelt, Belebtes und Unbelebtes um sich herum wahrzunehmen. Diese Art der Wahrnehmung erstreckte sich nicht nur auf die natürliche Natur, sondern auch auf Schiffe, Häuser und andere menschengemachte Konstruktionen. An manche von ihnen, wie zum Beispiel den Dampfer »Möwe«, hängte er sogar sein Herz, jedenfalls ein Stückchen davon. Das nächste Stückchen hängte er an die Annenkirche.

Die Annenkirche war eine wunderschöne Kirche. Sie war für Arthur der Inbegriff von Kirche, eben seine Kirche. Sie machte jeden sonntäglichen Kirchgang zu einem Erlebnis. Schon der sachte Aufstieg auf den Kirchberg war etwas Besonderes, wobei die Strecke in diesem Fall umgekehrt parallel zu Arthurs körperlichem Wachstum immer kürzer wurde. War das ein Wunder? Manchmal kam er aus dem Wundern gar nicht mehr heraus. Hatte er den Berg erklommen und war an den ehrwürdigen Bäumen des Friedhofs vorbeidefiliert – hier ließ sich im Herbst herrlich Laub sammeln –, wuchs die Kirche regelrecht vor Arthur auf. Wenn er stehenblieb, den Kopf in den Nacken legte und zur Kirchturmspitze schaute, musste er sich an jemandem festhalten. Meistens stand Agathe zur Verfügung.

»Der Turm fährt durch den Himmel!«, rief er begeistert.

»Das sind die Wolken, die sich bewegen, nicht der Turm«, klärte Agathe ihn auf.

Stimmte das? Auch wenn keine Wolken am Himmel waren, kam der Turm auf ihn zu, so dass Arthur sich einmal vor Schreck auf den Hintern setzte. Rund um die Annenkirche geschah immer etwas Außergewöhnliches. Und wenn es die Turmfalken waren, die ihren Jungen das Fliegen beibrachten. Jedes Jahr im Frühsommer war es wieder so weit. Und kein Jahr war wie das andere, weder für Arthur noch für die Turmfalken. Manchmal hatten sie nur ein Junges, manchmal sieben. Manche Jungfalken wollten fliegen lernen, andere hingen wie festgeklebt am Turm und ließen ihn nicht los. Schon kamen die Falkeneltern im Sturzflug angeschossen, um die Klammerjungen vom Turm zu schlenkern. Irgendwann, die Eltern hatten die Manöver eingestellt, ließen sie von alleine los und – natürlich konnten sie fliegen! Aber sie wussten es vorher nicht. Dabei waren es doch Vögel.

Wenn Arthur weiter auf die Kirche zuging, fingen die Mauern an, mit ihrer Wärme, ihrer Masse, ihrer Feste auf ihn einzuwirken, ihm zu begegnen, sich auf ihn zu beziehen. Er berührte sie, nahm Fühlung auf, lehnte sich an. Sie waren von ganz anderer Natur als er, deshalb konnte er sie leider nicht durchdringen, sich nicht stofflich mit ihnen verbinden. Wie konnte etwas so groß sein, so mächtig, so stark und so beständig? Dabei so warm und freundlich? Und wie klein war er denn bloß? Irgendwann erfuhr Arthur, dass die Annenkirchen-mauern noch ganz jung waren, damals noch keine zwanzig Jahre alt. Stimmte das?

»Die Menschen haben die Kirchen so gebaut, als wären sie bessere Menschen als sie sind«, sagte der Vater einmal. Was sollte das denn heißen?

Und dann konnte man doch in die Mauern eindringen – durch die Kirchentür. Arthur durchschritt sie jedes Mal so, als würde er durch das goldene Tor bei Frau Holle schreiten. Zwar wurde er nicht mit Gold überschüttet, aber mit dem Wunder des Innenraumes. Kein Königspalast konnte schöner sein. Die Säulen, die Deckenbögen, die Emporen, die geheimnisvollen Türen und Vorhänge, die Anordnung der dunklen Holzbänke, die Kronleuchter und vor allem die Fenster mit ihrem bunten Glas. Selbst während des Gottesdienstes konnte ihm hier niemals langweilig werden. Egal wie oft der Pastor auf und ab lief, wie viele Kreuze er schlug oder andere Bewegungen machte, wie oft er sich zum Altar wendete und wieder zurück, es war großes Theater. Auch die Predigt, für viele von Arthurs Altersgenossen unerträglich lang, unterhielt ihn bestens. Was machte es schon aus, dass er die meisten Worte nicht begriff. Sie klangen gut. So richtig und bedeutungsvoll. Die Sprache der Bibel war ihm wie Gesang. »Am Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.«

Du liebe Zeit, wie großartig, Gott und das Wort. Kein Wunder, dass der Vater da lieber gar nicht reden wollte, wenn das Wort doch bei Gott war.

Manchmal schaltete Arthur die Ohren ab. Und zwar dann, wenn die Prediger auf der Kanzel ihre Stimme verstellten, so dass die Worte hohl klangen. Wenn die Tiraden kein Ende nahmen, vertrieb sich Arthur auf andere Weise die Zeit. Die Menschen um ihn herum interessierten ihn nicht, auch nicht ihre Hüte, Röcke oder Mäntel. Er sah dem Sonnenlicht dabei zu, wie es durch die farbigen Fensterrosetten wanderte. Irgendwann erreichte es immer auch Arthur, es sei denn, die Sonne versteckte sich an diesem Tag, obwohl es ein Sonntag war. Sah er sie kommen, rutschte er auf der Kirchenbank den grünrot-blauen Streifen entgegen, sonnte sich in ihnen, freute sich am Farbenspiel auf Brust, Arm und Bein und rutschte dem Licht so lange hinterher, bis er auf ein – zumeist menschliches – Hindernis traf. Er sah ganz genau, dass das Licht in Strahlen hereinkam. Selbst die Staubkörner färbten sich ein, wenn die Strahlen sie erreichten. Das war vermutlich der Ort, an dem der liebe Gott die Staubkörner zählte. Und Arthur durfte zusehen.

Der Vater billigte das Gerutsche nicht, doch er sagte nichts dazu. Agathe oder die Mutter ließen Arthur gewähren.

Und dann war da noch die Orgel. Sie donnerte, jubilierte, klagte und weinte, ließ Glöckchen erklingen, schwoll an oder ließ die Töne fast verschwinden. Manchmal machte sie Arthur Angst. Das war, wenn der Organist alle Register zog. Dann bebte Arthurs kleines Brustbein im Einklang mit dem sogenannten Zweiunddreißigfuß und seine Ohren gellten von der Stentorflöte. Das war gewaltig und er musste sich wieder bei irgendjemandem festhalten, bis es vorüber war. Hinterher fühlte er sich, als hätte er selbst etwas Gewaltiges vollbracht.

Die Orgel begleitete die Choräle, die er bald mitzusingen lernte. Die ganze Familie sang. Mutter und Agathe hatten feine, liebliche Stimmen, der Vater einen warmen Bariton. Arthur sang ähnlich wie Agathe, nur viel lauter. Das wollte er so und er konnte es. Er bemerkte nicht, dass sich andere Gottesdienstbesucher nach ihm umdrehten. Hedwig ließ ihn singen, wie ihm der Schnabel gewachsen war. Und wenn er in der Kirche nicht genug gesungen hatte, sang er zu Hause weiter, bis der Vater meinte, nun sei es wirklich genug.

Die Annenkirche gab ihm so viel und wollte von ihm nur, dass er da war und sich ordentlich benahm.

Natürlich war der Pastor derjenige, der ihrem Reichtum und den ganzen Wundern vorstand. Arthur würde einmal Pfarrer einer solchen oder noch größeren Kirche werden, wenn irgend möglich. Was für ein wunderbarer Beruf! Arthur begann unverzüglich, sich auf ihn vorzubereiten. (Selbstverständlich wollte er außerdem noch immer Kapitän werden.)

Zu Hause angekommen, holte sich Arthur noch vor dem Mittagessen eine Trittleiter, stellte sie in die Küche und kletterte hinauf. Auf der obersten Stufe angekommen, balancierte er sich aus, nahm Haltung an und predigte mit bestmöglicher Artikulation und tragender Stimme. Seine leicht abstehenden Ohren röteten sich, die Wangen erglühten. Streng fixierte er das Publikum. Die blauen Augen weit aufgerissen, sprach er konzentriert und engagiert: »Liebe Gemeinde! Wir hören heute den Predigttext …« Es folgten Bibelfragmente, Wunderliches aus Arthurs Alltag, ein Kindergedicht, und zum Schluss ein geschmettertes »Amen«. Mutter und Schwester vergaßen beinahe das Kochen, so hingerissen waren sie.

Zum Leidwesen Arthurs gelang es ihm nicht, anlässlich weiterer Auftritte eine auch nur entfernt kanzelartige Konstruktion zu schaffen, die ihm die Möglichkeit des geheimen Aufstiegs eröffnete. Denn eindrucksvoller, als auf einer Trittleiter vor aller Augen nach oben zu kraxeln, war es allemal, wenn man im Altarraum hinter einer Tür verschwinden konnte und dann, für die Gemeinde immer wieder überraschend, zackig den Vorhang aufreißend unter dem Türmchen der Kanzel erschien und das Wort ergriff. Nach einigen ihn selbst nicht überzeugenden Versuchen ließ er das Tritterklimmen bleiben und baute sich ebenerdig vor seinem heimischen Publikum auf. »Liebe Gemeinde …«

Agathe war eine gute Zuhörerin. Ihr Beruf brachte es mit sich, dass sie aufmerksam und kritisch zuhören konnte. Das kam Arthur zugute. Er lernte aus den freundlichen Einwürfen der Schwester, dass unverständliches Geleiere nicht gefiel, sondern Wörter deutlich vorgetragen und verschieden betont werden mussten.

»Aber nicht so, wie der Herr Pastor in der Annenkirche das macht«, warnte Agathe. »Der redet zwar kluge Dinge, schreit aber zu sehr. Sprich laut und deutlich, schlicht und natürlich. Dann hören die Menschen dir zu und schlafen nicht ein.«

Nun war das sehr in die Zukunft gesprochen, denn Arthurs derzeitige Zuhörerschaft schlief keineswegs ein, sondern amüsierte sich köstlich. Aber Arthur verstand, was seine Schwester meinte. Er hatte selbst gesehen, dass manche Leute während der Predigt ein Nickerchen machten. Die erwachten nicht, wenn der Pfarrer plötzlich lauter wurde. An solche Pegelschwankungen waren sie gewöhnt. Ähnlich bellte Nachbars Hund oder gackerten die Hühner im nächstgelegenen Bauernhof.

Sommerzeit

Hühnergackern ist ein gutes Stichwort. Es leitet über zu Arthurs Kindheitsparadies Langhaken. Ein Dörfchen, bestehend aus sechs, sieben strohgedeckten Fischerhäusern, auf der Frischen Nehrung gelegen. Dem Vater gelang es mehrere Sommer hintereinander, ein halbes Häuschen zu mieten, somit ein Vierzehntel des Dorfes. Damit hatten die Preußens die Hälfte einer Veranda zur Verfügung, von der man einen ganzen Blick über das Haff schweifen lassen konnte. Dazu kamen ein Zimmerchen und die Erlaubnis, die Küche zu benutzen.

Weil die Preußens nur dreimal Bettzeug besaßen und Frau Littkemann, die Hausbesitzerin, ihnen keines abzugeben hatte, mussten sie ihre Federbetten aus Elbing mitbringen. So gab es jedes Mal eine Art Umzug. Erst wurden die Betten abgezogen, dann mit allerhand anderem Kram in einen Leiterwagen gestopft, der bis zum Dampfer »Möwe« gezogen wurde. Der Dampfer brachte alle und alles über das Frische Haff nach Kahlberg zum Anlegesteg. Dort wurde das Zeug über den Bug hinweg in das Boot von Frau Littkemann geworfen. Da durfte nichts schiefgehen – bei stürmischem Wetter war das Verfahren höchst riskant. Nicht auszudenken, wenn die Kissen und Zudecken im Brackwasser verschwinden würden. Wundersamerweise ging nie etwas schief. Der Leiterwagen wurde ins Boot verfrachtet – nicht geworfen! – und alles mit kräftigen Ruderschlägen zum Steg des Fischerhäuschens befördert. Auf den Wagen getürmt gelangte ihr Hab und Gut schließlich landeinwärts zu Frau Littkemanns Häuschen.

Neben dem gemieteten Zimmerchen wohnte eine Kuh. Sie hieß »Kuh«. Frau Littkemann, die Kuhbesitzerin, hatte dem Tier keinen eigenen Namen gegeben. Es gab auch keine freundschaftlichen Beziehungen zwischen Frau Littkemann und Kuh. Wenn Kuh Fliegen abwehrte, konnte es geschehen, dass sie Frau Littkemann den Schwanz um die Ohren schlug, während diese gerade mit Kuhs Euter beschäftigt war. So ein Verhältnis hatten die beiden. Weil es keine Wiese zwischen dem Haff und dem Haus gab, kam Kuh nie ins Freie. Das war nicht schön, fand Arthur, und deshalb war Kuh wahrscheinlich nicht besonders gut gelaunt. Sollte er ihr einen Namen geben? Nein. Er würde sie »liebe Kuh« nennen, vielleicht half das schon.

Manchmal rief Frau Littkemann nach Arthur. Dann durfte er mit ihr hinaus, wenn sie mit ihrem Boot zum Binsenmähen das Ufer abfuhr. Sie mähte, bis das Boot fast voll war und Arthur durfte die Halme zusammenbinden. Nun hatte Kuh wieder etwas zu essen.

»Kühe essen nicht, sie fressen«, wurde Arthur von irgendeinem Erwachsenen belehrt.

»Sie beißen etwas ab, sie kauen und sie schlucken. Genau wie wir. Und Kuh schmatzt nicht. Onkel Max zum Beispiel, der schmatzt immer«, widersprach Arthur.

Das mochte nun gar keiner hören. Kühe bissen nicht ab, sie rupften. Sie kauten nicht, sondern sie malmten. Wie das Gemalmte dann in den Schlund geriet und was weiter, wollte niemand wissen. Kuh lieferte Milch mit Sahne. Mehr war da nicht zu bedenken. Arthur dachte trotzdem öfter an Kuh als an Schlagsahne.

Den Vater kümmerte das alles nicht, er wanderte solo in den Nehrungswald (Kiefern, Kiefern, Kiefern) oder ging an den Ostseestrand baden (Nichtschwimmer). Er kümmerte sich um nichts, weil er sich vom Schulbetrieb erholen musste. Die Mutter hatte in der Küche inzwischen für das Essen zu sorgen. Eine Küche ohne Fenster, beleuchtet nur durch den Flur zur Veranda. Da musste Hedwig im Halbdunkeln die Flundern braten und alles andere tun; sie hatte es, was das Kochen anging, viel schwerer als in der Elbinger Wohnung. Aber natürlich war sie nicht immerzu mit Kochen beschäftigt. Und wenn es ihr zu viel wurde oder auch einfach so, ging sie mit Arthur in die Kaddikgründe zu den Blaubeeren oder auf die Dünen, Sandpilze und Blutreizker suchen. Das war eine Freude für beide! Die Mutter zeigte auf die Pilze und Arthur pflückte sie ab und legte sie ins Körbchen. Bei den Blaubeeren allerdings musste ihm die Mutter sagen, dass er möglichst viele in die Milchkanne sammeln und nicht gleich alle in den Mund stopfen sollte.

Manchmal ging auch Hedwig in der Ostsee baden (Nichtschwimmerin). Das war jedes Mal ein Schauspiel für jede lebende Kreatur im Umfeld von, na, mindestens einem halben Kilometer. Vögel blieben in der Luft stehen, Quallen vergaßen zu wabern, Fischschwärme änderten ihre Richtung. Menschen? Na, was wohl. Wer Hedwig jemals hatte baden sehen, reihte dieses Naturereignis zeitlebens ein in die Reihe seiner unvergessenen Erlebnisse und wusste ausführlich darüber zu berichten.

Hedwig war eine tapfere Nichtschwimmerin, ihr Einzug ins Meer eine Sensation. Sie begrüßte jede anrollende Welle mit höchstmöglichem Quieken und ekstatischem Luftschnappen. Welle um Welle nahm sie so, ließ sich weder von ihr verdrängen noch vor ihr retten, nicht von Karl, der dem Quieken ein Ende machen wollte, nicht von herbeieilenden, die Wogen energisch teilenden Kavalieren. Sie stand ihr Bad durch und verließ das Wasser in königlicher Haltung erst, wenn sie an Leib und Seele erfrischt und des eigenen Gejuchzes überdrüssig war. Das nächste Bad ließ nie lange auf sich warten.

Arthur war hin- und hergerissen. Ging es der Mutter gut oder nicht gut, wenn sie quiekte? Ach, er ließ sie einfach quieken. Zu schön war es am Strand, dem riesigen Sandkasten, der außer Sand noch so viele andere Schätze darbot: Muscheln, Steine, glatt geschliffene Hölzchen, sperriges Strandgut.

Ab und an ließ Arthur sich ins Wasser mitnehmen. Vom Vater, versteht sich. Die Mutter war zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Je älter er wurde, desto schöner fand er es, weil er nicht mehr so häufig umfiel und besser verstand, wie sich das Wasser in Bezug auf ihn verhielt. Als er sechs Jahre alt war, lernte er schwimmen. Erst auf der Brust, wie ein Frosch. Das war nicht schlecht, aber bei Wellengang geriet ihm immer Wasser in die Nase. Deshalb bevorzugte er später das Rückenschwimmen, weil er da die Nase in die Luft halten konnte.

Wenn es regnete, machte das Baden besonders viel Spaß, weil Hedwig nicht so laut quieken musste, denn sie war schon nass, bevor sie ins Wasser stieg. Aber auch, weil es schön anzusehen und anzuhören war, wenn der Himmelsregen in das Meer fiel. Was die Tropfen wohl spürten? Wie das Meer sich fühlte? Wasser kam zu Wasser. Kannte es sich von früher? So dachte Arthur nicht, aber er konnte von dem allgegenwärtigen Nass nicht genug bekommen. Kannte er es von früher?

Wenn es besonders viel regnete, regnete es in Frau Littkemanns Häuschen hinein. Die gute Frau hatte wohl niemanden, der das Geschick oder die paar Pfennige aufbrachte, das Dach zu teeren oder eine neue Schicht Dachpappe zu verlegen. Auch Karl hatte weder die Fähigkeit noch die Pfennige dazu und so half sich Frau Littkemann damit, dass sie unter den Zimmerdecken und in der Küche leere Marmeladeneimerchen aufhängte, die die Tropfen in putzig klingendem Spiel auffingen. Es trippelte und trappelte – das konnte einen entweder in den Schlaf klimpern (Arthur) oder den Schlaf kosten (Karl). Zu ändern war es nicht. Die flüssige Ausbeute wurde sogar weiterverwendet, war sie doch die einzige direkte Wasserzufuhr des Hauses. Im Garten gab es einen Brunnen mit so genanntem »Wiesenwasser«, das manchmal nach Frischem Haff schmeckte. Manchmal, und das war besser, schmeckte es nach Regenwasser, also nach nichts.

War schon von den Haffmücken die Rede? Wohl nicht. Sie plagten nicht, denn sie stachen nicht, sondern sie erfreuten. Alle Mücken summten auf demselben Ton. Ein millionenfaches Summen von unendlicher Dauer. Sommermusik am Frischen Haff. Dann, mit einem Mal, wenn an der Kahlberger Mole einer der Dampfer zu tuten begann, ließen die Mücken ihren Gesang anschwellen und erhöhten die Summfrequenz etwa um einen Ton. So lange, bis das Tuten des Dampfers endete, verharrten sie auf diesem Ton, dann summten sie wieder zurück auf den Grundton. Was es alles gab!

Das andere Kind

Kurz vor Beginn einer Sommerzeit fand ein mindestens für diese Geschichte bedeutsames Ereignis statt: Am 10. Mai 1914 wurde in Straßburg (Elsass) Käthe Lefort geboren. Der Vater, Herbert Lefort, war Beamter bei der Deutschen Reichsbahn. Die Mutter, Rose Lefort, war Hausfrau. Den französischen Namen dieser deutschen Familie hatte vor einigen Generationen eine alleinerziehende Französin in den Familienstammbaum eingebracht. Wie interessant!

Das erste Kind des Ehepaars Lefort, Magda, war Jahrgang 1905, demnach neun Jahre älter als Käthe, und hatte dieser damit lebenslang etwas voraus. Herbert Lefort war seinen Töchtern sehr zugetan und viel redefreudiger als beispielsweise Karl Preuß. Rose war auch nett. Magda und Käthe wurden auf Roses Wunsch nicht streng, aber katholisch erzogen.

Was war für die kleine Käthe interessant? Im Garten der wunderschönen Straßburger Fachwerkvilla interessierte sie sich, nachdem sie laufen gelernt hatte, besonders für die Erdhäufchen, die die Regenwürmer bei ihren Grabungen hinterließen. Zählen konnte sie so kurz nach ihrer Geburt noch nicht, aber es dauerte nicht lange, bis sie von selbst darauf kam, dass es verschiedene Mengen von Dingen und Wesen gab. Regenwurm-Humushäufchen gab es etwa so viele wie Erdbeeren. Singvögel waren etwa so häufig wie Kinder in Käthes Nachbarschaft. Die Vögel animierten Käthe dazu, es mit dem Pfeifen zu versuchen. Es gelang ihr schon mit drei Jahren. Bei einer Straßenbahnfahrt mit ihrer Mutter kommentierte das ein Abbé: »Lueg des Klein, des pfifft wie en Otzel!« In anderes Deutsch übersetzt: »Hört euch die Kleine an, die pfeift wie eine Amsel!« Käthe war ein fröhliches Kind und auch sie wuchs und gedieh.

2. Kapitel: Elbing, Straßburg, Wuppertal, 1914–1922

Krieg

Es ist Zeit, es ist Krieg. Gute Zeiten beanspruchen Menschen auf besondere Weise und nicht alle Artgenossen bringen es fertig, dauerhaft friedlich zu bleiben. Die meisten Primaten sind aggressiv.

Der Krieg kam auch nach Elbing. Wobei: Kriege kommen nicht, sie sind nicht zu Besuch da, machen keine Reise in ein fernes Land, eine Art Ausflug oder so. Kriege werden geführt.

***

Vetter Walter, der älteste von Onkel Max Söhnen, umklammerte Arthurs Hand. Sie hasteten durch die Schmiedegasse, über den Friedrich-Wilhelm-Platz, durch den Mühlendamm.

Arthur beschwerte sich. »Warum rennst du so? Lass mich los, du tust mir weh!«

Walter ließ nicht los, lockerte aber seinen Griff. »Komm, nur noch ein Stückchen! Gleich sind wir zu Hause.«

Warum mussten sie rennen und warum rannten die anderen Leute? Wieder andere standen – auf besondere Weise, nicht nur so – herum. Sie standen in Gruppen vor den Läden und redeten mit ausladenden Handbewegungen aufeinander ein, ähnlich wie der taubstumme Heinrich und seine Freunde. Und da, während die beiden und die vielen noch rannten und andere standen, begann es ringsum zu dröhnen. Die redenden Menschen hielten den Atem an und die Herumfuchtelnden erstarrten mitten in der Bewegung, die Laufenden vergaßen den nächsten Schritt und die Rennenden übersprangen die eigenen Füße. Mit den Glocken von Sankt Annen begann es. Sankt Nikolai antwortete, dann fielen die Glocken von den Heiligen Drei Königen ein. Sankt Mariens und Heilig Leichnams Glocken waren auch dabei und selbst die Glöckchen des Türmchens Zum Heiligen Geist schepperten mit. Die Luft war voller Aufruhr.

Plötzlich erhob sich eine Stimme über das Geläut. »Extrablatt!«, rief sie. »Extrablatt!«

Die Menschen stürzten zum Rufer, einer Offenbarung gewärtig, die Bewohner der Häuser rissen die Fenster auf und reckten die Hälse. Ein Wort pflanzte sich fort, das Arthur nicht verstand, das sich ihm jedoch einprägte: »Mobilmachung!«

Der Vetter lieferte Arthur im Hausflur der Bismarckstraße 10 ab und machte sich davon. Arthur stürmte die Treppe hinauf.

»Mobilmachung!«, rief er.

Die Mutter nahm ihn in die Arme. Dann sprach sie ein Gebet: »Gott ist unsre Zuversicht und Stärke, eine Hilfe in den großen Nöten, die uns getroffen haben«.

In den Armen der Mutter war es schön. Doch welche großen Nöte hatten sie getroffen? Wozu brauchten sie jetzt Zuversicht und Stärke? Und warum betete die Mutter mitten am Tage? Was bedeutete »Mobilmachung«? Mobilmachung hieß Krieg. Krieg war etwas Schlimmes. Deshalb das alles.