An die Ränder der Erde - Anna Gyger - E-Book

An die Ränder der Erde E-Book

Anna Gyger

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Beschreibung

Diese wundersame Geschichte erzählt sich am Leben eines jungen, gewöhnlichen Europäers, der von einem Tag auf den anderen eingeholt wird von einer vergessen gehofften, alten Begebenheit. An einem Herbstmorgen wird er aus seinem ruhigen, gut eingerichteten Leben herausgerissen, um sich den quälenden Fragen seiner Herkunft endlich zu stellen. Eine mysteriöse Begegnung am Fluss, eine wirre Seereise und einen leeren Umschlag laden ihn auf eine Reise ein, die ihn bis zum geistigen Rand der Erde und weit über die Verstandeskraft hinaus führt. Aus dem wohligen Komfort des heutigen Europas herausgerufen, stösst er auf unbekannte Spuren, die letztendlich zu seinen Wurzeln und zu der seiner Kultur führen. Auf dieser Reise begegnen ihm Menschen und Menschheitsfragen und am Ende stösst er auf jenes alte, in Vergessenheit geratene Geheimnis, welches so bedeutsam mit ihm und Europa verknüpft ist. Eine alte Geschichte, erzählt auf ganz fremdem Boden. Und eine tief ersehnte, lang gesuchte und umkämpfte Heimreise.

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Seitenzahl: 437

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Ähnliche


Anna Gyger

An die Ränder der Erde

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

An die Ränder der Erde

Herbstmorgen

Der Freund

Seereise

Noer

Derefs Haus

Reise nach Luun

Ein Wiedersehen

Eine alte Geschichte

Aufbruch

Der Krückenverkäufer

Nura

Die Stimme der Nacht

Ein Tag der Fragen

Der Bazar der Weisen

Das Geheimnis der Zeit

Die Klippe

Ein Abend unter Freunden

Der Ruf

Die zwei Bäume

Der Baum des Lebens

Neuer Boden

An die Ränder der Erde - Teil 2 Das Haus des Königs

Lijah

Die Begegnung

Der Hirte

Der Garten

Abschied

Das Königsland

Meerreise

Epilog - Eine Heimreise

Impressum neobooks

An die Ränder der Erde

An die Ränder der Erde

Anna Gyger

Impressum

Texte © Copyright by Anna Gyger

Umschlag © Copyright by Simon Gyger

Verlag Selbstverlag Anna Gyger

Schänzlistrasse 43, 3013 Bern, Schweiz

[email protected]

Druck epubli, ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Printed in Germany

„Und hier, umarmt und verborgen in tiefem Schlaf, sah ich wieder dieses Land. Diese Anmut, die meine Sinne durchströmte und mein Innerstes festhielt. Dieses weite Land, von dem ich wusste, dass ich es suchen musste, würde es auch alle Tage meines Lebens dauern.

Diese Berührung mit dem unerkannten Geheimnis, das doch die erste Sekunde meiner Existenz umgab und niemals mehr ruhen würde. Wie ein inwendiges Feuer, das alle Gewalten des Universums weder erlöschen noch antasten konnten.

Selbst höchste Exzellenz menschlicher Worte vermochten diese Schönheit nicht zu beschreiben.

Diese weiten, tiefgrünen Felder mit ihren tausenden Blumen, deren Pracht alle Paläste und Schätze der Welt erblassen liessen.

Die satten, tiefen Wälder mit ihren Bäumen, die die Wolken des Himmels berührten, sanft und frei, denn sie kannten keinen Winter.

Dieses liebliche Land, mit den warmen Hügeln, die am Horizont in ein Gebirge mündeten, dessen Anblick mir den Atem raubte. Mächtig und kraftvoll, unerklimmbar für menschliche Füße.

Ich sah Seen, klar wie Glas, ich sah tosende Küsten eines weiten, reinen Meeres.

Mir war es, als wären hier die Vegetationen, die mir bekannten und unterschiedlichen Naturgestalten, in einer einzigen, malerischen Fauna vereint. Norden und Süden trafen sich in Einheit. Wälder, Wüsten, Steppen, Gebirge und Weiten fanden ihren Platz neben dem anderen und durchmischten sich in gänzlich neuer Kreativität.

Meine Augen sahen es, als wäre es niemals anders gewesen, als hätte es nie einen Widerspruch gegeben und malten eine nie gekannte Vollkommenheit in mein Herz.

Es waren nur Augenblicke.

Doch gerade eben diese hielten mich gefangen. Niemals könnte ich vergessen.

Mir war, als ob ich gesehen hätte, was neu und was alt war. Was ich schon lange in mir trug und was ich suchte.

Wie immer verblassten die Bilder langsam vor meinen Augen und ich streckte meine Hände aus: Nach der Ruhe, nach der Geborgenheit dieses Ortes, die mich ergriffen und deren Verlust mich wieder erschreckte. Der Heimat nahe, und wieder wurde ich ihr entrissen. Ich wollte nicht erwachen. Ich wollte es festhalten, das Land, welches meine Erinnerung, meine Geschichte schrieb. Mein Land.

Wieder ging es mir verloren. Wieder einmal blieb es verborgen.“

Herbstmorgen

„Die Kirche sagt: Die Erde ist eine Scheibe. Ich aber weiss, dass sie rund ist, da ich ihren Schatten auf dem Mond gesehen habe.“

Fernando Magalhaes (1480 - 1521)

Dies ist Amiels Geschichte.

Amiel schreckte auf. In der wirren Zwischenwelt von Schlaf- und Wachzustand hielt er einen Moment inne und fand schliesslich in seine Realität zurück. Er knipste das Licht an und tastete schlaftrunken nach dem Wecker. „05:12“ flüsterte dieser ihm erbarmungslos entgegen. Für ein paar Minuten liess er sich lustlos zurück ins Kissen fallen und schloss nochmals die Augen.

Da war er also wieder, dieser Traum. Nach zwei Jahren kehrte er unangekündigt zurück und zerstörte die Hoffnung, ihn als späte Kindheitsfantasie abhaken zu können.

An Schlaf war nun nicht mehr zu denken. Er starrte eine Weile zur Decke hoch. Dann, mit einem Seufzer, schaffte er schliesslich den Schwung aus dem Bett und trat ans Fenster seiner kleinen, heimeligen Dachwohnung. Zu früh, um aufzustehen, zu spät, um weiter zu schlafen. Draussen schimmerte das erste, sachte Blau am sonst schwarzen Nachthimmel und unterstrich die dünne Mondsichel, die dem hellen Morgenstern zur Seite stand.

Ein klarer, frischer Herbstmorgen, der früh erweckte Lebensgeister dazu einlud, ihr Erwachen mit ihm zu teilen.

Er machte sich auf ins Bad. Wie jeden Morgen wusch er sich das Gesicht mehrmals mit eiskaltem Wasser. Die einzige Chance, dem Schlaf zu entfliehen und dem neuen Tage entgegen zu treten. Er legte das Handtuch beiseite und blieb einen Moment still stehen. Seine Augen waren auf sein Spiegelbild gerichtet. Bei dessen Anblick beschlichen sein Herz nachdenkliche Zweifel. Seine Gedanken wühlten in einem chaotischen Eintopf von verstaubten Empfindungen und alten Fragen.

Eine vertraute Leere überkam ihn. Der Blick in ein Gesicht, das ihm so vertraut und gleichzeitig so fremd war. Die Begegnung mit dem eigenen Ich erschien ihm an manchen Tagen wie ein Blick hinunter in eine dunkle, nicht enden wollende Leere, als würde man in einen tiefen, dunklen Brunnen blicken ohne dessen Ende zu erahnen.

Es war nicht Schwermut und auch keine Traurigkeit. Seine Wesensart war meist fröhlich und aufgestellt.

Aber sein Gegenüber war einmal mehr schweigsam, kühl und voller unbeantworteter Fragen.

Sein Spiegelbild war der stille Gruss eines Unbekannten, wie ein weites, unentdecktes Land ohne Karte und Kompass.

Er betrachtete sich einige Minuten. Seine etwas aus der Form geratenen, buschigen Augenbrauen, die Grube am Kinn und die breiten Wangenknochen. Er hatte beinahe schwarzes Haar und tiefblaue Augen, ein gelungenes farbliches Zusammenspiel, wie die Leute sagten.

Er strich über den stoppeligen Ansatz seines Bartes, der längst einer Rasur unterzogen werden müsste, doch nun war ihm das egal. Er hatte vor, sich heute in der Werkstatt zu verkriechen und anderen Tätigkeiten möglichst aus dem Wege zu gehen, denn es war ihm nach dieser kurzen Nacht nicht nach Gesellschaft zumute.

Doch nun musste er raus zum Fluss, weg von seltsamen Träumen und alten Gegebenheiten. Im Grunde gab es nichts Herrlicheres als so ein Morgenlauf, nur war ihm der Preis der frühen Stunden oft zu hoch. Nun ergab sich diese Möglichkeit mal wieder.

Also verpasste er dem Spiegelbild eine Grimasse und kehrte dem Anflug von Grübelei bewusst den Rücken zu. Er begann zu summen und zog sich die Kleider über.

In der Küche gönnte er sich ein rasches Frühstück mit Käse und Brot und eilte schliesslich die Treppe hinunter. Wohl zu laut, denn unten war bereits die verärgerte Stimme von Herr Morreux zu vernehmen, den die quietschenden Treppen ebenfalls zu früh aus dem Schlafe rissen.

Amiel kümmerte sich nicht weiter darum. Der gute Herr Morreux war Amiels Vermieter und ein alter Bekannter. Ein feiner Kerl, den er seit Jahren vom Fischfang her kannte. Vor fünf Jahren bot er Amiel die kleine Wohnung auf dem Dachstock an, da dieser vom Elternhaus genug hatte und - von der frischen Meerbrise angezogen - beschloss, nach Westen aufzubrechen. Weg vom ländlichen Bauernland.

Schon immer träumte Amiel vom offenen Ozean und begann bald als Fischverkäufer und Bootsmechaniker zu arbeiten. Ausserdem hatte er in seiner Werkstatt alles Mögliche herumstehen, das ihm die Dorfbewohner zur Reparatur brachten. Das Handwerk hatte ihm stets gelegen.

Die Luft war kühl und liess keinen Zweifel, dass der Sommer sich Richtung südliche Hemisphäre bewegte. Wie jedes Jahr kam mit dem harschen Wind, den kürzer werdenden Tagen und dem morgendlichen Nebel ein Hauch von Wehmut auf.

Jedoch war es zweifellos Amiels liebste Jahreszeit. Sie erinnerte ihn an die Tage der Weinernte, die er als Kind in seiner Heimat miterlebte. Die vielen fröhlichen Stunden gemeinsamer Arbeit und abendlichem Feiern, wo es an gutem Essen, Tanz und Gesang nie mangelte.

Er nahm den bekannten Weg. Die Fischer waren längst auf See und brachten den Tagesfang ein. Das Dorf erwachte. Die Bäcker öffneten ihre Rolläden und der verlockende Duft von frisch gebackenem Brot und Croissants stieg ihm in die Nase. Die Marktfrauen schrubbten den Marktplatz und begannen, Eier und Gemüse aufzutürmen. Autos wurden herbei gefahren, Ware wurde ein- und ausgeladen, in der Schreinerwerkstadt ging das Licht an und zwei kleine Hunde jagten eine Katze mit viel Gebell um den Häuserblock.

Amiel liebte die kleine Stadt, so verschlafen und ein wenig altmodisch wie sie war. Doch hat sie all die Jahre ihren alteuropäischen Charme bewahrt und war mächtig stolz auf ihre winzige, aber schmucke Altstadt.

Sie war berühmt für ihre Steinhäuser mit den alten Ziegeldächern und den verzierten Dachgiebeln. Die Häuser der Altstadt waren ringförmig angelegt. In ihrer Mitte befand sich ein stattlicher Kirchplatz mit Pflastersteinen bestückt und einem alten Dorfbrunnen, den die Frauen im Sommer stets mit frischen Blumen schmückten.

Die Kaffeehäuser waren weit herum bekannt und der allmorgendliche Markt war ein beliebter Treffpunkt für Dorfklatsch und politische Unterredungen. An zwei Tagen die Woche verkaufte Amiel Fisch und war stets amüsiert, den heftig gestikulierenden Dorftanten beim Austausch ihrer neusten Schnäppchen und Skandalberichten zuzuhören.

Es gab nicht viele, die hierherzogen und Amiel brauchte seine Zeit, um das Wohlwollen der alteingesessenen Herren zu gewinnen.

Die Stadt war fern von Metropolen und Mode Erscheinungen. Irgendwo an einer vergessenen Küste, wo der Wind die meisten Besucher vom längeren Verweilen fernhielt. Doch die Menschen hier waren damit vertraut und nahmen es gelassen. Hie und da dachte Amiel daran, ein Leben in Paris oder Wien zu starten, doch waren ihm die runzligen Gesichter zu lieb und die See zu wild, um das alles zu verlassen. Er hatte gute Freunde gefunden und liebte die gesellschaftlichen Abende mit Bier und Männergesprächen, welche hier tief verwurzelte Kultur waren. Es war ein fröhliches und zugleich raues Volk, wie das Meer und die Fischerei es nun mal hervor bringen.

Amiel mochte diesen Weg. Ein kleiner Pfad, der sich Kilometer um Kilometer dem Fluss entlang zog und einem das Gefühl gab, weit in der Wildnis Kanadas verloren zu sein. Nur selten traf er hier auf andere Menschen. Dies war sein liebster Ort und sooft er die Möglichkeit hatte, kam er hierher, sass mit seiner Angel stundenlang auf den grossen Steinen, wanderte oder joggte bis über die Brücke und zurück. Das war seine Zeit zum Nachdenken und Träumen. Ein verkappter Philosoph nannten ihn seine Freunde mit einem Augenzwinkern. Vielleicht war er das, vielleicht auch einfach ein junger Mann, der die Natur liebte und hie und da ein Fleckchen Abgeschiedenheit suchte.

Und der manchmal - wie an diesem Morgen - zurückgeworfen wurde in eine alte Geschichte und in ein Gewirr von Fragen und Erinnerungen, die er verzweifelt zu zuordnen versuchte.

Er grub die Hände tief in seine Jackentasche, denn ihm war kalt. Er hielt an und betrachtete die Flussbiegung, die nun unten am Hügel zu sehen war. Wie er diesen Anblick liebte! Der Nebel lag über dem Fluss und bildete einen geheimnisvollen Hauch von Herbst. Er brach das goldene Morgenlicht wie durch trübes Glas, vollkommener als das Werk jedes Künstlers.

Da fand er sich wieder in den Bildern dieses Traumes, die ihn schmerzlich an der Hand nahmen, und zurückführten in ein vertrautes, ungelöstes Rätsel.

Er erinnerte sich ganz genau. Wann immer er in den Spiegel schaute, kamen Fragmente eines alten Lebensfilmes klar und deutlich vor seine Augen. Viel hätte er darum gegeben, sie endlich von sich zu schütteln, denn er war sie leid und sah keinen Sinn darin, sie Jahr für Jahr mit sich herumzutragen.

Es gelang ihm nicht.

Er war nicht wie alle Anderen.

Er war ein junger Mann, dessen Herkunft niemand kannte. Auch er selbst nicht. Er hatte keine Vergangenheit, zumindest fehlte ihm jegliche Erinnerung daran.

Der Traum der vergangen Nacht war Amiel bekannt. Das Erste, an das sich Amiel in seinem Leben überhaupt erinnern konnte, war exakt derselbe Traum, in voller Intensität und Klarheit.

Er erinnerte sich, wie er damals die Augen aufschlug und sich als fünfjähriges Kind alleine am Waldrand vorfand. Niemand war da und während Stunden sass er starr an Ort und Stelle. In seinem ganzen Leben hatte Amiel nichts Schrecklicheres erfahren, als diese ersten Stunden.

Er erinnerte sich an die völlige Orientierungslosigkeit und Ohnmacht, die es ihm unmöglich machten, in irgendeiner Weise zu agieren. Er sass nur da und fühlte Entsetzen.

Geblieben war ihm nichts als nur dieser Traum, nichts als eine graue Decke und das Gefühl, nackt und bloss im Nirgendwo steckengeblieben zu sein. Keine Erinnerung an seine Eltern, Geschwister, Herkunft oder Ereignisse. Er war einfach da, und vorher gab es nichts.

Stunden später begann er zu laufen. Es wurde bereits dunkel, als er ein Dorf erreichte. Er setzte sich auf die Türschwelle eines Hofes und blieb die ganze Nacht still an derselben Stelle sitzen.

So fand man Amiel. Niemand erfuhr jemals etwas über die Hintergründe.

Wie viele tausend Stunden Amiel auch fieberhaft, mit der Angel in der Hand, bei der grossen Flussbiegung darüber nachdachte, bis er fast die Besinnung verlor, nicht eine Erinnerung kam zurück.

Der Bauer, welcher Amiel auf der Türschwelle fand, gab dem Jungen zu essen und brachte ihn zur Polizei, wo ihm viele Fragen gestellt wurden. Amiel verstand sie, doch wusste er nicht, wie er zu antworten hatte und blieb stumm.

Während acht Monaten lebte Amiel in einem Kinderheim, ohne ein Wort zu sprechen. Er blieb die meiste Zeit still am Rande sitzen und beobachtete, was um ihn herum geschah und gewann ganz langsam Vertrauen in seine neue Umgebung.

An einem schönen Sommernachmittag kam ein Auto und seine neue Mutter und sein neuer Vater holten ihn zu sich. Er erinnerte sich, wie ihn seine Mutter strahlend und ungehemmt in ihre Arme schloss.

Er wurde adoptiert und erhielt alle erdenkliche Güte von zwei lebenslustigen, herzlichen Eltern. Seine Mutter erkannte schnell seine Furcht vor dem Alleinsein und sorgte dafür, dass er an Stabilität und Vertrauen gewann. Mit viel Feingefühl und Liebe begleite sie ihn zurück ins Leben. An manchen Abenden schaltete sie die Musik ein und tanzte mit Amiel wild durchs Haus, bis beiden vor Lachen die Luft wegblieb. Die Liebe und Fürsorge seiner Eltern heilten seine Schüchternheit und so begann Amiel zu sprechen und als die Schulzeit kam, bemerkte niemand mehr Amiels verlorene Jahre.

Er war stets etwas eigensinnig. Er war nicht unbeliebt, aber eben ein Träumer, den man gerne für den eigenen Vorteil gebrauchte. Nicht viele wussten von seinen ungewöhnlichen Herkunftsbedingungen, doch er selbst vergass sie keinen Augenblick.

Mit viel Kraft rang er darum, eine Identität zu entwickeln, die andere längst besassen.

Seine Mutter trug viel Sorge um ihn, doch war umso erfreuter zu sehen, wie ihr Sohn die Schwierigkeiten anpackte und begann, für seine Zukunft zu kämpfen.

Wenn Amiel heute an sie dachte, wurde ihm klar, welche Sorge sie um ihn getragen haben musste.

Natürlich hatten sie ihre Hypothesen, Ängste und Annahmen betreffend seiner Vergangenheit. Wurde ihm Gewalt zugefügt? Welche Art Trauma konnte einem Jungen widerfahren sein, dass er sich an keine Silbe seines vorgängigen Lebens mehr erinnerte? Natürlich fragten sie ihn immer mal wieder, ob er sich an etwas erinnerte. Seine Mutter tat dies mit aller Vorsicht und mütterlichem Feingefühl, doch Amiel sah die Verwirrung in ihrem Gesicht, als auch beim Eintreten seines 7. Lebensjahres kein Funke an Erinnerung zurückkam.

Seine Eltern beobachteten ihn genau, unterstützten ihn auf alle erdenkliche Weise und konnten ihre Zweifel doch nicht ganz verbergen. Verheimlichte er ihnen etwas? Gab es mehr als er erwähnte? Er konnte beobachten, wie die Frage seiner Identität seine Eltern ebenso bedrängte wie ihn selbst. Doch er verheimlichte Ihnen nichts. Ihnen zuliebe verbrachte er manchen Nachmittag, an dem seine Kameraden auf dem Dorfplatz Fussball spielten damit, im selbstgebauten Baumhaus ihres Gartens zu hocken und nachzudenken. Ihnen zuliebe hätte er so gerne eine Antwort gefunden. Doch es kam keine.

Die befürchteten Spätfolgen blieben aus. Er wurde psychiatrisch abgeklärt, doch gab es - bis auf seine träumerische, etwas verschlossene Lebenshaltung - keine Hinweise auf psychische Auffälligkeiten. Er entwickelte sich normal und zeigte - bis auf die biographische Eigenart - keinerlei Störungen. Anfangs war er ein sehr fröhliches, wenn auch ruhiges Kind. Erst im Laufe der Jahre, und mit wachsender Verwirrung über seiner eigenen Geschichte, kam eine gewisse Dunkelheit wie ein langsam aufziehender Schatten über ihn. Er war Amiels geheimer Begleiter und dieser hielt beharrlich jedem Versuch stand, sich seiner zu entledigen.

Der Traum jedoch kam zurück. Manchmal alle paar Wochen, dann blieb er eine Weile aus und kam erneut. In gewisser Weise hasste Amiel diesen Traum, denn immer erinnerte er ihn unmittelbar an seine Lebenswunde. Zugleich aber liebte er ihn! Es gab nichts, was ihm herrlicher vorkam als die Bilder dieses seltsamen Landes. Es war sein Schutzort, sein Geheimnis. An jenem Ort war er geborgen und leicht, ganz und gar sich selbst.

Die Mystik dieses Traumes begeisterte ihn und er sann oft darüber nach. War ihm dieser Ort bekannt? Wohnten dort vielleicht seine vergessenen Eltern? Warum gab es diesen Traum und was wollte er ihm sagen?

Als Kind stellte er sich oft vor, an jenem Ort zu sein. Irgendwo ein Haus zu finden, wo ein Cheminéefeuer brannte und ein gedeckter Tisch in der Küche stand. Am Tisch sassen seine erträumten Eltern, seine Brüder und Schwestern. Dort hatte er eine eigene Familie, zu welcher er gehörte.

Mit 10 Jahren hatte Amiel genug von dieser elenden Grübelei. Er beschloss, das alles hinter sich zu lassen und mit Tagträumereien aufzuhören. Das Nachdenken wurde ihm zuwider und er hatte fest vor, das Leben nicht mehr an seine Vergangenheit zu verschwenden.

In diesem Jahr kam sein Bruder Lyon zur Welt. Alles stand auf dem Kopf. Die Eltern waren zutiefst überrascht, denn schon seit Jahren war ihnen klar, dass sie niemals eigene Kinder bekommen konnten. Lyon jedoch schaffte es, sich durch die medizinische Unmöglichkeit hindurch zu schleichen und brachte grosse, unerwartete Freude in die Familie. Auch für Amiel, denn er hatte sich sehnlichst einen Bruder gewünscht. Selbst wenn dieser ein kleines Baby war und kein ebenbürtiger Spielkamerad, kümmerte er sich rührend um Lyon und platzte oft fast vor Stolz über seinen hübschen Bruder. Die Eltern waren hocherfreut über dieses Geschenk. Es war wie ein frischer Frühling und die sorgenvolle Aufmerksamkeit gegenüber Amiel wurde durch die neue Aufgabe abgelenkt. Über diese gegebene Distanz zu seiner Herkunftsgeschichte war er äusserst dankbar.

Versunken in all diesen Erinnerungen war er am Fluss angekommen. Der Waldboden war übersät mit farbigen Blättern, alles war still und andächtig. Sein Vater war ein begnadeter Pilzesammler und hatte ihm vieles beigebracht. Wie oft waren sie im Wald und suchten nach Pilzen. Er mochte die Naturverbundenheit seines Vaters. Schon sehr früh brachte er ihm das Fischen mit der Angel bei und gelegentlich durfte er mit zur Jagd.

So fand er auch an diesem Morgen einige Pilze, die er zufrieden einsteckte. Er kochte ganz gerne und freute sich auf ein gutes Abendessen. Er begann, nach passenden Kräutern zwischen den Gräsern zu suchen.

Lyon wurde kürzlich 15 Jahre alt. An seinem Geburtstag reiste Amiel seit langen wieder einmal nach Hause. Es war schön zu sehen, welche Fortschritte Lyon machte und wie sehr er sich darüber freute, seinen Bruder zu sehen. Es rührte Amiel tief und er war selber immer wieder überrascht, wie viel Liebe für Lyon in ihm aufstieg, wann immer er ihn sah. Und wie viel Schmerz!

Jahre zurück, als Lyon gerade mal 3 Jahre alt war, änderte sich alles. Amiel wollte nicht daran denken. Er ertrug es schlichtweg nicht.

Es war einer dieser grauen Tage im November. Seine Mutter besuchte eine kranke Arbeitskollegin und bat Amiel, mit Lyon spazieren zu gehen.

An jenem Tag wandelte sich etwas, was sich langsam in seinem Innern angebahnt hatte. Denn sein kleiner Bruder wurde grösser, begann zu laufen und zu sprechen. Amiel beobachtete die Entwicklung seines Bruders, wie fröhlich und unbeschwert er war und wie er jedes Herz im Sturm erobern konnte.

Obwohl seine Eltern sich alle Mühe gaben, Amiel dieselbe Aufmerksamkeit zu schenken war es eine unausweichliche Realität, dass er niemals in derselben Weise zur Familie gehören würde, wie Lyon. Der Gedanke schlich sich ein, ihnen lästig zu sein und unterschwellige Wut begann sich breit zu machen.

Die Jugendjahre brachen an und erneut kamen Selbstzweifel auf. Lyon wurde auf einmal zur Bedrohung, denn er kannte seine Herkunft und ging mit einer so offenherzigen, friedlichen Haltung auf die Welt um sich herum zu. Amiel selbst kannte diesen Frieden nicht. Er spürte, wie Verbitterung ihn antrieb und seinen sonst fröhlichen Geist beschwerte und an gewissen Tagen fühlte er eine Art kalte Hand schwer auf seinen Schultern liegen. Er war anders als alle anderen.

An diesem Tag brach das Kartenhaus zusammen. Während er seinen kleinen Bruder im Kinderwagen die Strasse entlang schob, kam nichts als pure Verzweiflung und einen nie gekannten Ärger über ihn. Er wollte Frieden, eine Heimat, die nur ihm gehörte und die er nicht zu teilen brauchte. Er wollte bedeutend sein, in ihm schrie es nach Anerkennung und Wert, ohne diesen ständigen Unterton von Bemitleidung. Er hatte genug davon, sich allem anzupassen und doch nirgends dazuzugehören.

Wütend war er, zum Zerspringen wütend. Die Rolle des armen, verlassenen Kindes legte ihn in Ketten und er war bereit, alles zu tun, um diese abzuschütteln.

Dann fiel sein Blick wieder auf den friedlich schlafenden Bruder- unbeschwert und geborgen- und sein Gegenüber wurde ihm zum Feind. Er fühlte nur noch Eifersucht und Abscheu.

Mit grosser Wucht stiess er den Kinderwagen den steilen Hang hinunter, auf dem sie beide standen. Und ohne die geringste Gefühlsregung sah er mit an, wie der Wagen schneller und schneller wurde, sich überschlug und sein Bruder mit einem Schrei herausgeschleudert wurde und mit voller Wucht gegen den harten Asphalt prallte.

Erst einige Sekunden später, als Amiel realisierte, dass Lyon weder weinte noch schrie, sondern ganz stumm und reglos am Boden lag, kam Panik in ihm hoch. Wie versteinert stand er da, als ihm die volle Konsequenz seiner Tat bewusst wurde.

Dann rannte er hin zu seinem Bruder, von dessen kleinem Köpfchen Blut über den Asphalt floss.

Mit einem Schrei hob er ihn hoch und rannte so schnell ihn seine Beine trugen zum nächsten Haus. Schreiend und voller Verzweiflung hämmerte er an die fremde Türe, wie in Trance versunken.

Dann ging alles sehr schnell. In Amiels Erinnerung waren es nichts als Bewegungen von Menschen, Rufen, Sirenen, wie Momente in Zeitlupe. Er stand nur da bei seinem blutenden Bruder und war taub und kraftlos.

Er sass auch noch da, regungslos und verstummt, als er seine Mutter den Flur des Krankenhauses hinauf eilen sah, zerbrochen und von Schmerz überwältigt. Sie schüttelte Amiel ungehalten, drückte ihn gleichzeitig in tiefer Verzweiflung an sich und weinte.

Lyon lag über eine Woche im Koma. Die Computertomographie zeigte die Kopfverletzung, welche ein grosses Hämatom im Gehirn verursacht hatte. Über die Tage stellte man fest, dass sich die Blutung zurückbildete und die Ärzte schöpften Hoffnung.

Die Mutter verliess das Krankenhaus keinen einzigen Tag. Sie sass an seinem Bett und weinte, streichelte seine Hand oder las ihm Geschichten vor. Wenn Amiel sie beide mit seinem Vater besuchte, so fürchtete er sich am meisten vor dem Anblick seiner leidenden Mutter.

Natürlich hatten sie ihn gefragt wie dies alles passieren konnte. Die Wahrheit hätte er niemals sagen können, das war ihm klar. Er berichtete, wie er gestrauchelt sei und dadurch den Wagen los gelassen habe.

Sein Vater entbrannte in Wut und schrie ihn an. Er entschuldigte sich später, doch Amiel wollte keine Entschuldigung. Die Hilflosigkeit seines Vaters, der in diesen schweren Tagen bei ihm zu Hause blieb und sein Bestes tat, seinen Ärger über Amiels Missgeschick zu verbergen, prägten sich in die Seele ein. Er sah ihn abends mit geballten Fäusten vor dem Haus auf der Bank sitzen und erkannte seine Stunden schweren Haders mit dem Schicksal. Doch es war kein Schicksal, es war Bosheit, nackte Bosheit und niemand ausser Amiel selbst wusste es. Nicht einmal Lyon würde jemals wissen, dass es kein Unfall war.

Die Schuldgefühle zerfrassen ihn. Wenn er je zu dieser Familie gehört hatte, so hat er sich nun zweifelsohne selbst daraus ausgeschlossen. Die einzigen Menschen, die ihn liebten, hatte er beraubt und zerstört. Er sah in den Spiegel und seine Identitätslosigkeit schien auf Ewigkeiten beschlossen zu sein, denn ein Zurück würde es für ihn nicht mehr geben.

Es gab Tage, da hätte er ihnen so gerne die Wahrheit gesagt und hat darauf gewartet, dass sie ihn vor die Türe stellten und niemals mehr ein Wort mit ihm redeten.

Die Worte krochen einige Male wie von selbst über die Lippen, doch im letzten Moment hielt er sie erschrocken zurück. Wo sollte er denn hingehen? Es gab keine anderen Menschen, die er kannte und die ihn liebten. So entschied er sich für die eigene Feigheit und hasste sich dafür.

Lyon erwachte nach neun Tagen und sein Zustand wurde stabil. Zunächst kam endlose Erleichterung über die Eltern. Seine Mutter kam wieder nach Hause und schlief sich aus, ass und schöpfte Hoffnung. Sie setzte sich hin zu Amiel und begann mit ihm über alles zu sprechen. Er selbst hielt sich so knapp wie möglich. Er hatte es nicht verdient, dass sie sich ihm wieder zuwandte. Ach, was war seine Mutter für eine starke Frau. Sie hatte ihr einziges Kind fast verloren und entschied sich trotzdem, Amiel nichts nachzutragen oder ihm weiter Vorwürfe zu machen. Sie war offen und ehrlich zu ihm, erzählte ihm von ihrem Schmerz und ihrer Enttäuschung. Sie versicherte ihm, dass sie ihn liebte und ihn niemals dafür bestrafen würde. Sie entschuldigte sich für ihre Härte und den schroffen Umgang der letzten Woche.

Sie gab sich wirklich Mühe, ihm Nähe zu zeigen und ihm zu helfen, sich selber zu verzeihen. Doch dies konnte er nicht annehmen. Ihn ihm schlummerte nur der Gedanke, dass sie ihn niemals mehr lieben könnten, wenn sie beide die Wahrheit kannten.

Er zog sich wieder in seine Welten zurück und erstickte den Keim seiner Selbstabwertung in einigen wilden Jugendjahren.

Dies war die eine Seite. Die andere aber versuchte verzweifelt, das Leid in der Familie zu lindern. Wenn er zu Hause war, dann half er, wo er nur konnte und hielt sich selbst für nichts zu schade.

Der Unfall hinterliess seine Spuren. Lyon hatte ein Schädelhirntrauma erlitten und die Blutungen schädigten die Nervenbahnen. Ein halbes Jahr lang blieb Lyon in der Rehabilitation und seine Eltern waren voll damit beschäftigt, für ihn da zu sein und so viel Zeit wie möglich bei ihm zu verbringen.

Der Schicksalsschlag veränderte die Familie und alles wurde anders. Die Mutter hörte mit ihrer Arbeit auf und wohnte hauptsächlich bei Lyon. Der Vater arbeitete den ganzen Tag, erledigte mit Amiel den Haushalt und versuchte, so oft er konnte in die Rehabilitationsklinik zu fahren.

Für Amiel blieb wenig Zeit, doch hätte er dies auch nie erwartet. Mit Sorge betrachtete er, wie die Eltern sich abmühten, das Beste aus der Situation zu machen und für die Familienzukunft zu kämpfen. Doch für ihre Ehe war dies eine Zerreissprobe. Sie waren die meiste Zeit getrennt voneinander und wenn sie sich sahen, dann galt ihre volle Aufmerksamkeit Lyons Gesundheit. Die Genesungsschritte verliefen sehr langsam. Er lernte wieder, alleine zu essen, sich zu bewegen und zu sprechen. Er durchlief täglich mehrere, verschiedene Therapien und wurde nach besten Methoden der Medizin gefördert. Nach einigen Monaten konnte er wieder gehen, doch war es eine mühsame Fortbewegung und sein rechtes Bein hinkte von diesem Zeitpunkt an immer etwas nach. Auch beim Sprechen blieb ein Stottern zurück und er suchte oft lange nach den richtigen Worten.

Mit den Jahren wurde klar, dass Lyons grösste Behinderung auf der kognitiven Ebene lag. Er war stark lernbehindert und hatte Mühe, sich räumlich zu orientieren. Er benötigte für alle Verrichtungen des Alltages viel Zeit und seine Mutter übernahm seine vollzeitliche Pflege.

Als Lyon 8 Jahre alt war, kam er in eine Sonderschule. Zur Überraschung aller machte er auf einmal grosse Fortschritte und man entschied, ihn in eine Schule für lernschwache Kinder zu befördern.

Er schleppte sich durch die Schuljahre und hielt sich stets knapp über Wasser. Er kämpfte und lernte jeden Abend einige Stunden extra. Die Eltern unterstützten ihn und zogen professionelle Hilfe bei. Sie schöpften Hoffnung, dass Lyon doch noch einen Beruf erlernen könnte oder irgendwo als Hilfsarbeiter seinen späteren Lebensunterhalt verdienen könnte und wollten ihm unbedingt eine gute Schulbildung ermöglichen,

Amiel tat sein Möglichstes, seinen Bruder zu unterstützen. Von dem Augenblick, als Lyon aus der Therapie entlassen wurde, schwor sich Amiel, seinen Bruder vor allem Bösen der Welt zu beschützen und sein Möglichstes für sein Wohl zu tun. Er half ihm viele Abende beim Lernen, unterstützte ihn bei seiner Körperpflege, kaufte ihm Süssigkeiten, brachte ihn zur Schule und holte ihn am Abend ab. Seine Mutter war über diese Hilfe sehr erleichtert.

Dabei wurde Amiel Zeuge von Lyons wahrer Prüfung.

Lyon war der Schwächste von allen Schülern. Während die anderen mit leichten Einschränkungen kämpften, so hatte Lyon riesige Berge zu bewältigen.

Je öfter ihn Amiel von der Schule abholte, desto mehr beobachtete er die Peinigungen seines Bruders.

Er sah ihn mit seiner Mappe unter dem Arm die Strasse entlang hinken. Die anderen Jungen umringten ihn und verspotteten ihn lauthals. Sie lachten über Lyons nachgezogenes Bein und seine offensichtlichen Macken. Sie witzelten über sein Stottern und äfften ihn hämisch nach. Sein Bruder erduldete hässliche Beleidigungen, Spott und Hohn.

Amiel begann alles daran zu setzten, seinen Bruder vor ihnen zu beschützen. Er versuchte, immer genau zum Schulschluss bei Lyon zu sein, damit er nicht alleine loslaufen musste. Erwischte er jemanden, der Lyon verspottete, so war er erbarmungslos. Einige Male verteidigte er ihn mit blossen Fäusten und hinterliess einige blaue Augen. Er setzte sich mit den Lehrern in Kontakt, doch die schenkten ihm kaum Gehört. Am allermeisten aber versuchte er, dies vor seiner Mutter geheim zu halten. Sie hätte es nicht ertragen, das wusste er.

Lyon selbst nahm alles schweigend hin. Er brauchte schon genügend Kraft, dem ganzen Lernstoff mit seinen Mängeln gerecht zu werden. Es schmerzte Amiel abgrundtief, ihn so zu sehen. Er wusste, dass er sein Bestes tat, seinen Eltern den Wunsch einer guten Schulausbildung zu ermöglichen. Dafür zahlte er einen hohen Preis.

Amiel rächte den Spott, dem sein Bruders und stand für dessen Wohl ein, so gut er es vermochte.

Lyon verehrte Amiel und wäre ohne ihn nicht in der Lage gewesen, die Schuljahre zu bewältigen. Für ihn war Amiel sein treuster und engster Freund.

Amiel selbst aber fand in der Liebe seines Bruders keinen Frieden. Nur Anklage und die harte Forderung an sich selbst, allem Unrecht, das Lyon zustiess, ein Ende zu schaffen.

Er litt grosses Leid, die Einsamkeit und Verstossenheit seines Bruders mit ansehen zu müssen, so sehr, dass er seine eigene ganz vergass.

Es waren Jahre des Zerrisses.

Die Behinderung von Lyon hinterliess schlussendlich auch eine tiefe Wunde in der Ehe seiner Eltern. Auch wenn sich die Umstände verbesserten und die Arbeit weniger wurde, die Kluft war gross.

Die Anspannung ihres Alltages führte immer öfters zu Streit und Unstimmigkeiten.

Sie arrangierten sich mit der gegebenen Situation und es kam weder zur Scheidung noch zur Heilung. Das einstige Familienleben wurde bestmöglichst fortgeführt.

Lyon schaffte seinen Abschluss und begann, eine Arbeit als Bäckergehilfe in der Dorfbäckerei. Die Jahre seiner Qual waren vorüber, niemand schikanierte ihn mehr.

Amiel konnte aufatmen. Doch wusste er genau, dass die Wunden dieser jahrelangen Ablehnung ihn sein Leben lang begleiten würden. Er würde nie sein wie die anderen. Genau wie Amiel selbst. Er war anders und hatte dieses Schicksal nun seinem Bruder auferlegt. 

Mit 22 Jahren wuchs ihm der ständige Zerriss über den Kopf. Er musste ihn abschütteln, wollte seine eigenen Mängel hinter sich lassen wie auch die Jahre des mitgetragen Leides seines Bruders.

Er wollte hinaus in die Weite und irgendwo ein Neuanfang machen. Seine Eltern liessen ihn schweren Herzens gehen und Lyon war schrecklich traurig. Amiel versprach, so oft es möglich war, nach Hause zu reisen und ihn wöchentlich anzurufen.

Er zog fort ans Meer und begann ein ruhiges Leben, fern von familiären Spannungen und Selbstvorwürfen.

Es gelang ihm ganz gut. Zum ersten Mal fand er gute Freunde und genoss die Einfachheit des Kleinstadtlebens. Handwerk, Segeln, Fischen und die Ruhe eines geregelten Lebens gaben ihm schlussendlich die ersehnte Zufriedenheit zurück.

Der Abstand tat ihm gut und die alten Lasten brachen weg. Er entwickelte sich zu einem ausgeglichenen, kontaktfreudigen jungen Mann, der sich den Freuden und Schönheiten des Lebens nun bewusst zuwandte. Er fühlte sich endlich mit beiden Beinen am Boden eines selbstbestimmten Lebens.

Bis zu dem Tag, als der Traum zurückkehrte und mit ihm seine Kindheit, die weder beantwortet noch versöhnt war. Sie stellte sich eigenmächtig auf die Bühne der Zeit und verwarf die Epoche des friedlichen, stillen Lebens.

An diesem lauen Herbstmorgen war die Idylle wie weggewischt und seine Geschichte tippte ihm sanft, aber bestimmt auf die Schulter.

Und Amiels Abenteuer begann.

„Lebe mit deinem Jahrhundert, aber sei nicht sein Geschöpf!“

Friedrich Schiller

("Über die ästhetische Erziehung des Menschen, in einer Reihe von Briefen, 1793- 1794", 9 Brief)

Der Freund

Vor drei Tagen lag ein Brief in seinem Briefkasten. Nicht durch den Postversand ausgetragen, sondern nur mit seinem Namen versehen, ohne Absender und ohne beigelegte Nachricht.

Das wirklich Seltsame jedoch war sein Inhalt. Im Umschlag steckte ein Blatt Papier, das mit verschiedenen Koordinaten beschriftet war. Zahlencodes und Messdaten. Amiel brauchte einen ganzen Abend, um diese zu enträtseln.

Zum Glück verstand er etwas von der Seefahrt und wusste, dass es eine Ortsangabe sein musste und am Ende konnte er die Daten entschlüsseln. Er rechnete sie mehrmals nach, denn das Ergebnis ergab wenig Sinn. Sie deuteten auf einen Ort inmitten des südlichen indischen Ozeans. Irgendwo zwischen Südafrika und Australien, nördlich der Antarktis. Und beim besten Willen, dort gab es nichts aber auch gar nichts, ausser ein paar kleiner Inseln in weiter Umgebung verstreut. Doch auf diese trafen die Daten nicht zu.

Er konnte sich wirklich keinen Reim darauf machen, was dieser komische Brief bedeuten sollte. Womöglich war es Leo, einer der alten Fischer, der seine Navigations-Kenntnisse testen wollte. Der Gute musste sich selbst wohl etwas vertan haben, er war eben auch nicht mehr der Jüngste.

Nun begrüsste die Sonne den Morgen mit goldrotem Gelb und zeichnete ihre Konturen in den Himmel. Kaum eine Wolke war zu sehen. Der Waldboden war mit trockenem Laub übersät und die Luft angenehm frisch. Schon bald war von der kleinen Stadt nichts mehr zu sehen, und es machte fast den Anschein, als sei jegliche Zivilisation eine Tagesreise entfernt. Der Fluss wand seine Schlaufen durch die Landschaft. Im Sommer bot er eine gute Möglichkeit zum Schwimmen. Amiel war oft mit Freunden hier. Auch zum Jagen, denn hier im Norden gab es viel Wild, besonders um diese Jahreszeit.

Noch lieber war ihm aber das Meer. Kaum war er hierher gezogen, lernte er zu segeln. Schon immer war dies sein grosser Traum gewesen und er lernte schnell. Die Bewohner bewunderten sein Talent, und schon bald nahmen sie ihn zum Fischfang mit.

Amiel sparte seit seiner Ankunft für ein eigenes Boot, für das er sich aber noch gedulden musste. Manchmal träumte er vom Reisen. Ob er eine Atlantiküberquerung schaffen könnte? Oder südlich, nach Afrika? Kap Verde, das war schon immer sein Ziel, da wollte er hin.

Seine Gedanken schweiften hin und her, zwischen dem Traum, seiner Familie und dem Leben hier, das er sich aufgebaut hatte und auf das er stolz war.

Er wünschte sich, dass Lyon ihn bald einmal besuchen würde. Eine Woche zu ihm in den Urlaub fahren könnte. Dann würde er ihn mit raus nehmen, auf die See. Er könnte ihm vielleicht ein wenig Segeln beibringen, das würde ihm bestimmt Freude machen.

Er kam aus einem Waldstück auf den Uferweg. Unten am Fluss zog sich eine Sandbank, mit grossen Steinen und Büschen, am Ufer entlang. Dort unten erblickte er einen Mann am Flussufer sitzen. Ein Fischer, dachte sich Amiel. Ob er ihn wohl kannte? Er ging auf ihn zu.

Der Mann war nicht beim Fischen, sondern sass auf einem Stein und war mit irgendeiner Handarbeit beschäftigt. Er schnitzte an einem Holzstab herum und sass in Gedanken versunken da. Dann jedoch drehte er sich um und winkte Amiel fröhlich zu. „Hallo, mein Freund!“, rief er ihm lachend entgegen. „Wie schön, dich zu sehen. Man trifft nicht viele Wanderer in aller Herrgottsfrühe mitten im Wald an. Bist wohl zu früh aus den Federn gefallen?“

Amiel erkannte den Mann nicht. Er war klein, aber kräftig gebaut. Er hatte braunes, leicht gelocktes, kurzes Haar und auffallend grüne Augen. Sein Gesicht war mit fröhlichen Lachfalten durchzogen und schienen einige Lebensjahre zu zeichnen. Er mochte so um die 50 Jahre alt sein, obwohl dies schwer zu sagen war. Dieser Mann strahlte eine bemerkenswerte Ruhe aus und hatte etwas sehr Geheimnisvolles an sich. Er machte den Anschein, als sei er schon eine ganze Weile unterwegs. Neben ihm standen ein Rucksack und abgetragene Wanderschuhe. Sein Aussehen war dennoch sehr gepflegt und ansehnlich. Er trug Jeans und eine braune Lederjacke.

Irgendetwas machte den Mann von Anfang an interessant. Amiel dachte bei sich, dass ihm einiges an Lebenserfahrung und Herzenstiefe auf den ersten Blick anzusehen war.

„Guten Morgen. Ja, das kann man wohl sagen. Mein Tag hat heute schmerzhaft früh angefangen. Doch was solls, wenn man sich stattdessen aufmacht für einen Morgenspaziergang in dieser herrlichen Umgebung.“ Amiel grinste ihn an. „Ich habe Sie hier noch nie gesehen. Woher sind Sie?“

Der Mann winkte ab. „Nenn mich bloss nicht beim Sie, da komm ich mir ja ganz grau vor. Nee, ich komme nicht von hier, da hast du recht. Meine Heimat ist ganz schön weit weg, und ich bin schon eine Weile auf Reisen. Komm, setz dich. Hast ne Pause verdient.“

Amiel setzte sich neben den Mann auf einen Stein.

„Um ehrlich zu sein, kam ich hierher, um dich zu treffen...“, sagte dieser aus heiterem Himmel. Amiel sah ihn verwundert an. „Nun, da hast du ja Glück gehabt. Bin nämlich selten um diese Uhrzeit hier anzutreffen. Wie ist denn dein Name?“

„Nun Amiel, am besten nennst du mich Dalin. Den mag ich am liebsten. Bedeutet „Freund" in der alten Sprache.“

Amiel war überrascht. „Und woher kennst du meinen Namen und weisst, wann ich wo zu finden bin?“

Dalin lachte. „Ich weiss, die Sache ist ganz schön verwirrend. Sagen wir mal, dass unser Treffen im Grunde längst überfällig war, doch warte ich am liebsten auf den richtigen Zeitpunkt, und wie mir scheint, ist dieser heute Morgen.“

Die Sache wurde Amiel etwas ungemütlich, und er sah sich verstohlen um, ob da noch irgendetwas oder irgendjemand zu sehen war. Doch es schien alles ruhig. Der Mann sah noch immer harmlos und friedlich aus und machte nicht den Anschein eines verwirrten Irren oder gewaltsamen Übeltäters. Die Sache war indes recht kurios.

„Also, wovon sprichst du genau?“, wollte er wissen.

„Manchmal sagen sie mir, ich sei ein guter Traumdeuter.“, sagte Dalin geradeheraus.

Amiel zuckte zusammen. Er sah Dalin prüfend und erschrocken ins Gesicht. Für einen Moment verschlug es ihm die Sprache.

„Traumdeuter?“, kam es ihm stockend über die Lippen.

Dalin legte das Holzstück, an dem er gerade arbeitete, weg und klopfte sein Hemd aus. Die Holzreste fielen zu Boden. Dann sah er Amiel direkt in die Augen.

„Mein Freund, ich weiss, dies ist alles ganz fürchterlich verwirrend. Es wäre ganz schwierig, dir jetzt gleich alles zu erklären. Um etwas Neues zu verstehen braucht es seine Zeit. Deshalb macht es keinen Sinn, dich mit allen Hintergründen gleich voll zu texten. Aber du kannst mir voll und ganz vertrauen. Ich bin gekommen, um dich auf deiner bevorstehenden Reise zu begleiten.

Die Zeit ist gekommen, ein altes Geheimnis aufzudecken, worauf du lange gewartet hast. Wenn ich ein guter Traumdeuter sein will, dann führe ich dich mitten durch die Geschichte hindurch, anstatt sie dir einfach in unpersönlicher Weise vorzubuchstabieren. Denn die Geschichte ist ja mehr als persönlich, und dieser Traum hat schon eine umfängliche Antwort verdient.“

Amiel musste sich einen Moment am Stein festhalten. Er sah diesen Fremden an, hinein in seine tiefgrünen, schimmernden Augen.

War das, was hier gerade vor sich ging, denn möglich? Etwas Übernatürliches rückte in die Form des Natürlichen, ganz unmittelbar und ohne Vorwarnung. Das war zu viel für sein Gehirn. Selbst wenn er diese Dinge nicht ausgeschlossen hatte, passten sie so gar nicht in seine Wahrnehmung. Alles schien ihm verschoben.

Konnte es denn tatsächlich sein, dass es eine Antwort auf seine Fragen gab? Dass jemand ihn kannte und sah, wie er sich den Kopf darüber zerbrach?

„Ich verstehe nicht... seine Stimme war unsicher und überschlug sich ein wenig. „Du kennst mich?“

„Natürlich!“, antwortete Dalin. „Du bist ein ganz fantastischer junger Mann und ich konnte es kaum erwarten, dich endlich zu treffen. Wollte dir schon lange sagen, wie toll ich deine Angelrutensammlung finde. Vielleicht kannst du mir ja was beibringen?“ Er zog den Holzstab wieder hervor. „Schau mal, ich wollte eine spezielle Hochseefischerrute basteln. Bin wohl nicht gerade ein Talent. Aber wir werden eine brauchen. Vielleicht bringst du morgen besser eine mit.“

„Wofür denn? Wohin willst du mich mitnehmen?“

Erstaunt sah ihn Dalin an. „Ja hast du denn meinen Brief nicht bekommen?“

Amiel dachte nach. „Meinst du diesen seltsamen Brief mit den Koordinaten? Ist der etwa von dir?“ Dalin strahlte. „Musste ganz schön rechnen, das kann ich dir sagen. Faszinierend, diese Seefahrt. Die Menschen haben sich schon echt was ausgedacht. Ich bin wirklich sehr froh, dass du so gut Bescheid weisst. Wäre ich der Kapitän, könnte wohl einiges schiefgehen.“

Die Sache wurde Amiel echt zu viel. Was für ein seltsamer Morgen. Am liebsten wäre er weggerannt oder, noch besser, im Bett geblieben.

„Du willst mir also sagen, dass wir zusammen irgendwohin reisen?“, sagte Amiel sichtlich verwirrt. „Ganz genau, mein Freund. Ich hab uns ein prima Segelschiff gekauft. Steht schon am Hafen, die Arbeiter machen es gerade startklar. Ich habe schon alles eingepackt. Proviant für zwei Wochen, man weiss ja nie, wie lange wir genau brauchen. Wasser und Karten und ein paar Flaschen Wein und Spielkarten für die Abende.“

Amiel fand das nun beinahe amüsant. „Nun, mein werter Herr, ihre Rechnenkünste sind nicht gerade die Besten. Für die Route, die du mir da markiert hast, werden wir noch einiges mehr an Gepäck brauchen. Zum Beispiel Tonnen an Wollpullovern und langen Unterhosen, weil wir nämlich mit grosser Wahrscheinlichkeit halb verhungert an der arktischen Küste Anker legen und Pinguine jagen müssen, um zu überleben.“

Dalin hob eine Augenbraue. „Nee nee, mein Freund, wir werden es schon nicht verpassen. So weit südlich werden wir nicht kommen, da vertraue ich ganz auf deine Kenntnisse als Seefahrer. Noer liegt einige tausend Kilometer weiter nördlich.“

„Noer?“, fragte Amiel.

„Noer, genau. So heisst unser Ziel. Eine stattliche Insel mitten im Ozean. Ein bisschen kleiner als Neuseeland, aber es hat doch gewisse Ähnlichkeiten. Dahin werde ich dich bringen und dir die Geschichte von deinem Traum erzählen.“

„Bei allem Respekt, ich bin nicht auf den Kopf gefallen. Ich habe Jahre von Schulbildung hinter mir und bin ein begeisterter Fan der Geographie. An diesem Ort gibt es nichts, aber auch gar nichts. Von einer solchen Insel habe ich nie gehört“, meinte Amiel.

Dalin lächelte nur. „Nun, nicht alles, was nicht sichtbar ist, ist tatsächlich auch nicht da. Ihr wisst ganz schön viel, das ist mir schon klar. Doch da gibt es noch einige kleine Lücken.“

Amiel stand auf. Diese Unterhaltung ging ihm zu weit. Was für ein Verrückter war der denn? Er würde ja bestimmt nicht so blöd sein, mit einem wildfremden, esoterischen Hippie ins Nichts hinaus zu segeln auf der Suche nach irgendeinem fernen Sagaland. Ganz egal, was der alles über ihn wusste, ein bisschen Menschenverstand war ihm doch noch erhalten geblieben, und er hatte echt andere Probleme. Er kannte diese Möchtegernwahrsager. Heute fahren ja alle auf die ab. Doch er war nicht dafür zu begeistern. Er war jemand, der mit beiden Beinen auf dem Boden stand. So schnell liess er sich davon nicht abbringen. „Was für ein komischer Kauz“, dachte er bei sich.

„Nun, Dalin, herzlichen Dank, aber dafür interessiere ich mich echt nicht.“ Dalin wirkte etwas überrascht.

„Nun lauf mal nicht so schnell weg, junger Mann. Wie ich schon sagte, ist mir klar, wie absurd das alles klingt, doch ich kann dir versichern, du wirst mich bald verstehen.

Ich habe alles vorbereitet. Ich dachte mir, am besten fahren wir von Mosambik los, das ist eine gute Strecke. Von da aus sollten wir etwa sechs Tage brauchen bis Noer. Der Wind wird günstig sein und ich habe gewisse Fähigkeiten, die gewohnten Gesetzmässigkeiten etwas zu beschleunigen. Etwa 45 Kilometer südlich von Maxixe, einer der grösseren Städte, ist ein kleiner Fischerhafen. Da hab ich unser Boot. Wir treffen uns morgen da. Ich werde auf dich warten.“

Amiel blieb einige Sekunden lang mit offenem Mund vor ihm stehen. Was für ein durchgeknallter Vogel. Nach Mosambik. Das fehlte ihm gerade noch. Dies war nun eindeutig das Ende dieser verrückten Unterhaltung.

„Guten Tag noch“, zischte Amiel und drehte ihm den Rücken zu. Mit schnellen Schritten ging er davon. Er hörte Dalin rufen. „Amiel, warte doch“, Doch Amiel wartete nicht.

Im Wald beschleunigte er seinen Schritt. Er konnte nicht abstreiten, dass ihm unbehaglich zumute war. Warum mussten immer ihm solche komischen Dinge passieren? Er, der doch so gerne ein ganz normales Leben geführt hätte.

Dann wurde er langsamer. Hie und da blickte er zurück, um zu sehen, ob dieser Typ ihm nicht auch noch folgte. Aber er war allein und langsam beruhigte er sich.

Irgendwann musste er laut lachen. Was für eine schräge Geschichte. Das alles war sehr verwirrend. Erst dieser Traum, dann all die alten Erinnerungen und Fragen und nun noch dieser Irre mitten im Wald. Das war ja mal wieder ein Tag. Er schlug den Weg zum Hafen ein. Er wollte jetzt nicht gleich in die Werkstatt. Er brauchte jetzt einen starken Espresso am Strandcafé, und dann würde er mit dem Boot rausfahren und fischen, um sich von all dem zu erholen.

Es war noch ein gutes Stück durch den Wald. Amiel erinnerte sich nochmals an Dalins Worte. Schon seltsam, was der alles über ihn wusste. Im Grunde äusserst unheimlich, dass ein Fremder all diese Dinge wissen konnte, die Amiel niemandem erzählt hatte. Ihm lief ein Schauer über den Rücken, und er blickte nochmals um sich. Wenn dieser ihn nicht gerade auf eine Schiffsfahrt in die Antarktis eingeladen hätte, dann wäre die Sache mehr als spannend gewesen.

Einen kurzen Moment stieg eine Sehnsucht danach in ihm hoch, all die Fragen beantworten zu können, um sie irgendwann hinter sich zu lassen. Gerne hätte er jemandem von allem erzählt: der ungeklärten Kindheit, dem Traum und der Geschichte seiner Familie.

An diesem Mann war etwas Geheimnisvolles. Etwas, was ihn vertrauenswürdig machte und in Amiel das Bedürfnis weckte, ihn in die eigenen Gedanken einzuweihen.

Einen Moment lang wollte er umkehren und zu Dalin zurückgehen. Vielleicht hatte er diese Chance nur dieses eine Mal. Er blieb stehen. Um ihn herum war es merkwürdig still.

Sollte er nochmals hingehen? Diesen komischen Vogel zum Kaffee einladen und ihm Fragen stellen? Er hätte wirklich viel mehr Fragen stellen sollen, dachte er. Im Grunde wusste er nichts über diesen Mann. Doch nein, das Ganze war ihm zu unheimlich.

Er ging weiter.

Plötzlich fuhr er zusammen. Mitten auf dem Pfad, auf einem Baumstrunk, sass ein kleiner, blonder Junge. Er strahlte Amiel an und baumelte mit den Beinen in der Luft.

Amiel überkam eine Gänsehaut und gleichzeitig fühlte er sich von diesem Kind angezogen. Es war irgendwie anders. Was machte es hier, alleine und mitten im Wald?

„Was machst du denn hier?“, sprach er ihn an.

„Ich zeige dir den Weg!“, meinte der Junge.

„Welchen Weg?“, fragte er.

„Deine Heimreise.“, antwortete das Kind und sah ihn mit grossen Augen an.

Amiel spürte einen stechenden Schmerz im Kopf. Das Gehirn rebellierte. Er rieb sich mit den Zeigefingern in den Augen um den Schmerz zu beheben. Als er sie wieder öffnete, war der Junge verschwunden.

Als Teenager mochte Amiel diese Gruselgeschichten. Beim Zelten am Lagerfeuer. Nie hätte er gedacht, selbst mal Zeuge einer übernatürlichen Begegnung zu werden.

Er sah sich lange um. Das Kind war weg. Es konnte unmöglich davongelaufen sein in dieser kurzen Zeit. Etwas ging hier vor sich.

„Kind? Wo bist du? Welche Heimreise? Ich verstehe nicht?“

Es blieb ruhig.

Er setzte sich auf den Baumstrunk. Die Schläfen hämmerten, sein Herz schlug wie eine innere Faust gegen seine Brust.

Das Kartenhaus zerfiel. Er begriff nichts mehr. Die Formen vermischten sich, verhakten sich ineinander und vor seinen Augen entstand ein heilloses Durcheinander.

Er stand auf und ging weiter. Es musste sein Schicksal sein, ein hilfloser Träumer zu bleiben, der nicht zum Rest der Gesellschaft passte. Das normale, stille Leben blieb ihm verwehrt. Etwas war von der Ferne wieder an ihn herangerückt, war mitten in sein Leben getreten und er wusste, dass Dalin recht hatte. Der Zeitpunkt war da.

Er begann zu rennen. Er musste seine Glieder bewegen und seinen Körper spüren. Er rannte und rannte ohne zu ermüden, bis er plötzlich den Boden unter den Füssen verlor.

Er fiel. Der Waldboden endete abrupt auf einer Anhöhe, die er nicht bemerkt hatte, und fiel dann ab. Amiel stürzte über einen Stein und fiel einige Meter den steilen Hang herunter. Dumpf schlug er mit der Seite auf dem Boden auf. Sein Kopf prallte gegen einen Baum und er sah nur noch kalte, weisse Punkte. Dann schwanden seine Sinne.

„Sag deinem Herzen, dass die Angst des Leidens grösser ist, als das Leiden selbst.

Und kein Herz hat jemals gelitten, wenn es sich auf die Suche nach seinen Träumen gemacht hat.“

Paulo Coelho („Der Alchimist", 1996)

Seereise

Amiel spürte ein Hämmern erbarmungsloser Intensität in seinem Kopf von. Dann stechender Schmerz und eine bleierne Schwere. Er fasste sich an den Kopf. Die Beule war erschreckend gross und er spürte Blut seine Haut wärmen. Langsam drang Licht zu ihm durch, und er öffnete die Augen.

Die Sonne schien ihm mitten in sein Gesicht und blendete ihn. Er schloss die Augen. Sein Körper schmerzte und er beschloss, noch einen Moment still dazuliegen. Von weit her hörte er Stimmen. Es war auf einmal entsetzlich schwül und heiss, der schattige Baum war verschwunden.

Wieder ertastete er seine Kopfwunde. Wird nicht so schlimm sein, dachte er. Er hatte wohl noch einmal Glück gehabt. Dieser Sturz war ganz schön heftig gewesen. Kein Wunder, wenn man wie ein Irrer durch den Wald rennt, ohne zu schauen, wo die Füsse gerade hintreten.

Wieder schlug er die Augen auf und beschirmte sie mit der Hand. Wie seltsam, dachte er. Von dem Wald war keine Spur mehr zu sehen. Er befand sich in einer kargen Landschaft mit Steinen, Staub und Büschen. Er versuchte, sich aufzusetzen. Das Stechen in seinem Kopf wurde wieder heftiger, und er stöhnte auf.

Langsam gewöhnten sich seine Augen an das grelle Sonnenlicht. Er zog seine Jacke aus und krempelte die Hosen hoch. Die Hitze war ungewohnt, und er hatte Durst. Wo war er bloss?

Wieder sah er sich um. Die Erde war kupferfarben, teilweise fast rötlich. Der Boden war trocken, und nur wenige Pflanzen gediehen in dieser Landschaft. Er horchte. In der Nähe mussten Menschen sein, das konnte er hören. Ein kräftiger Wind blies ihm um die Ohren.

Was war dies schon wieder für eine Zauberei, dachte er. Wie konnte er stürzen und an einem anderen Ort wieder zu sich kommen? War dafür dieser Dalin verantwortlich?

Ein äusserst beunruhigender Gedanke kam ihm. Konnte es denn sein, dass....

Er sprang auf - etwas zu eilig für seinen Zustand - und ein heftiger Schmerz durchfuhr seine Knochen. Doch nun war es ihm egal. Er klopfte sich den Staub von seinen Kleidern und sah sich genauer um. Ein kleiner Pfad lag da zu seiner Rechten. Er eilte voran, von einer gänzlich beklemmenden Vorahnung getrieben.

Schon bevor er die Küste sah, wusste er mit völliger Gewissheit, wo er war.

Und so war es. Der Pfad zog sich über einen Hang und ging auf einmal steil hinunter. Das weite Meer tauchte vor ihm auf und kräftige Wellen schlugen ans Ufer. Ein Dorf war nun zu sehen. Ohne Zweifel kein europäisches. Amiel wurde ganz benommen vor Verwunderung.

Da war er also, der Hafen. Schön und zierlich, fast wie in einem Bilderbuch sah er aus. Viele Schiffe aus Holz, alte Fischerboote, Ruderboote und Segelschiffe waren an mehreren langen Holzstegen befestigt. Daneben sah er ein buntes Treiben von Menschen. Ein Markt musste es sein. Amiel sah Wagen mit Gemüse und Handelswaren, die wirr durcheinander auf dem Hafenplatz standen, und eine beträchtliche Anzahl von lachenden, laut feilschenden und diskutierenden Menschen.

Ihre Hautfarbe war dunkel.

Amiel blieb einen Augenblick stehen und sah auf diese Kulisse, die ihm doch sehr unwirklich vorkam, welche aber ohne Zweifel real war. Er gab es auf, eine logische Erklärung dafür zu suchen. Es gab keine. Er konnte nicht mehr wegrennen, sondern musste zu jenem, der für all das verantwortlich war. Denn wenn er tatsächlich hier war, dann konnte Dalin nicht weit weg sein.