An die Totgeborenen Teil 1 - Gefangenschaft - Gregor Samsa - E-Book

An die Totgeborenen Teil 1 - Gefangenschaft E-Book

Gregor Samsa

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Beschreibung

Unter dem Pseudonym Gregor Samsa schrieb dieses ehemalige Mitglied des berühmten DDR-Lyrikclubs Pankow seine Geschichten, um seine Identität nach der Übersiedlung in den Westen zu verbergen. Der erste Band versammelt 22 Kurzgeschichten, deren Stil sich durch die hohe Individualität nur schwer einem Subgenre des Phantastischen zuordnen lässt. Es sind Elemente des Übernatürlichen, des Grotesken, des Horrors, aber auch oft der Gesellschaftskritik enthalten. Erlöse aus meinen privaten Veröffentlichungsprojekten werden für den Naturschutz gespendet.

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Seitenzahl: 172

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Gregor Samsa

An die Totgeborenen

Teil 1 – Gefangenschaft

Zeit

Ein Weltraumschiff

fliegt durch die Ewigkeiten

zu einem fremden Stern

Bevor es ankommt

ist er erloschen

Bereits erschienen:

„Der unheimliche Säugling“ in Die Schwarze Botin, Berlin, 1976 Nr. 1., Brigitte Classen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Urheberrecht, Herausgeber, Titelbild, Verlag, Satz und Korrektorat: Ruth Boose, 2020, Berlin

Druck: epubli, ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Kontaktaufnahme: [email protected]

Inhaltsverzeichnis
Teil 1 – Gefangenschaft
An die Totgeborenen
Grabräuber
Die Reise
Der Fremde
Der Schlüssel
Das Grenzgespenst
Die Fabrik
Exekution
Der Blutfleck
Berufsethos
Das Mädchen mit der Katze
Sterbendes Bild
Haus der Angst
Das Kino
Das Krankenhaus
Die Hochzeit
Die verbotene Stadt
Der unheimliche Säugling
Marathonlauf
Das Labyrinth
Einzelhaft
Klavierspiel
Traum
Über den Autor
Danksagung und Ausblick

An die Totgeborenen

Gestern Ist nie gewesen

Morgen Wird nie sein

Das Heute Ist nur vergängliches Nichts

Doch nur für ewig Sind wir allein

Wir werden erst Morgen geboren

Und sind schon Seit gestern tot

Wir haben das Heute Verloren

Doch niemand Versteht unsre Not

Wir faulen In eurer Enge

Zum Sarg Wird der fruchtbare Schoß

Stolz trägt man unsUnter dem Herzen

Und gebiert dann Verwestes bloß

Nie werden wir Atmen noch schreien

Die Augen sehn niemals Das Licht

Kein Mensch Wird uns zärtlich streicheln

Was Liebe ist Wissen wir nicht

Erstickt am Gift Eures Wesens

Zu früh Vom Verderben bedroht

Sind wir Um das Leben betrogen

Und sinnlos Ist unser Tod

Grabräuber

Die Nacht war kalt. Am Himmel funkelten die Sterne wie Eiskristalle. Schneidend blies der Wind von den nahen Bergen. Das dunkle Blut auf den Steinen war gefroren. Mit durchgeschnittenen Kehlen lagen die Wächter auf den Felsen. Ihre schwarzen Körper waren schon erstarrt. Finstere Gestalten huschten lautlos hin und her. Seit Stunden schon suchten sie den versteckten Eingang. Immer wieder klopften sie den Boden ab, fuhren mit aufgesprungenen Fingern über das harte Gestein, doch das Felstal gab sein Geheimnis nicht preis. Sie hatten den Wachposten die Dolche auf die Brust gesetzt, doch die schwiegen in abergläubischer Furcht und nahmen ihr wertvolles Wissen mit in den Tod.

So waren die Männer allein, angewiesen auf sich und ihr Glück. Sie waren eine unheimliche Gesellschaft – entlaufene Sklaven, die lieber den Tod auf sich nahmen, als sich wieder in das Joch des Pharao zu begeben. Ihre Rücken trugen die Spuren der Peitschenhiebe, aber in ihren Gesichtern lag eine kalte Entschlossenheit. Keiner sprach ein Wort. Ihre Namen hatten sie schon lange vergessen. Um sie war das Schweigen der Nacht.

Sie legten ihr Ohr auf den Fels und lauschten. Manchmal erschien es ihnen, als vernähmen sie Geräusche von da unten – ein leises Scharren und Flüstern – Urstimme aus endloser Tiefe, Worte einer unverständlichen Sprache. Und eine unheimliche Sehnsucht überfiel sie und nahm ihnen fast die Sinne.

Bleich erschien der Mond am Horizont und erhellte die wilde Gegend mit seinem gespenstischen Glanz. Die toten Steine schienen zu seltsamem Leben zu erwachen. Die Leichen warfen bizarre Schatten. Etwas bewegte sich zu ihren Füßen. Die Männer klemmten die Messer zwischen die Zähne und schlichen sich misstrauisch näher. Da scheuchten sie eine riesige Ratte auf. Sie schlüpfte zwischen den Männern hindurch und war urplötzlich verschwunden. Lautlos hatte sie der Fels verschluckt.

Oder hatte ein Spuk sie getäuscht? Wovon konnte eine Ratte in dieser Einöde leben? Wohin war das Tier entwischt? Sie untersuchten die Stelle und entdeckten ein faustgroßes Loch. Senkrecht führte es hinab. Wie kam es hierher? Eine unbestimmte Ahnung stieg in ihnen hoch. Einer griff mit der Hand in die Öffnung. Es war kein Ende abzusehen. Sie warfen einen Stein hinein. Hohl schallte es herauf. Da kannten sie kein Halten mehr. Die Hände, die geschickt die Blöcke für die Pyramiden zurechtgehauen hatten, zerschlugen in kurzer Zeit die Steinplatte. Das also war das Geheimnis der Wüste. Ein tiefer Schacht tat sich auf. Nacheinander ließen sie sich hinab in die unbekannte Finsternis. Ihnen schlug das Herz im Halse. Endlich würden sie auf die Schätze stoßen, mit denen sie ihre Freiheit erkaufen würden. Es war der erste Tag ihres Lebens. Und zum ersten Mal seit vielen Jahren trat in ihre Augen ein hoffnungsvoller Glanz, schienen sich ihre steinernen Mienen aufzuhellen.

Mit brennenden Fackeln drangen sie in den engen Stollen ein. Fantastische Schatten geisterten die Wände entlang. Fremd hallte ihnen das Echo ihrer Schritte aus der Tiefe entgegen. Plötzlich war da etwas – wie ein kalter Windhauch, der durch die Gänge strich und ihnen das Blut erstarren ließ. Mit bleichen Gesichtern sahen sie sich an.

Zitternd schlichen sie weiter. Und es schien ihnen, als ob jemand sie unablässig aus der Dunkelheit beobachtete. Es war wie eine unsichtbare Warnung – unerklärlich und doch stets gegenwärtig. Sie spürten förmlich die lauernden Blicke im Rücken, doch keiner wagte es, sich umzudrehen.

Sie wussten nicht mehr, wie lange sie so gingen. Sie hatten jedes Gefühl für Zeit verloren. Immer unwirklicher wurde die verbotene Welt, in die sie eindrangen. Sie bemerkten rätselhafte Zeichen, die sie nicht zu deuten wussten. Und nach einer Biegung waren die Mauern des Stollens mit bunten Bildern bedeckt.

Der Totengott starrte sie feindselig an. Die stummen Wände erwachten zu gespenstischem Leben. Bemalter Stein, in Stein gehauen ihr Schicksal. Hochmütig thronte der Pharao. Sklaven bedienten ihn, bauten Paläste, verrichteten niedere Arbeiten. Und Aufseher waren zu sehen. Sie schwangen ihre Peitschen und trieben die Menschen an.

Und da glaubten sie, in den Bildern sich selbst zu erkennen. Verborgene Wunden brachen auf. Ein uralter, unbezähmbarer Hass stieg in ihnen hoch. Rasend vor Wut packten sie ihre Meißel und zerstörten die Bildnisse der Aufseher und der Götter, aber auch die der Sklaven, denn so wollten sie sich nicht mehr sehen. Wie im Rausch eilten sie weiter, stürmten in die Grabkammer, zertrümmerten den Sarkophag. Sie rissen die Mumie heraus und warfen sie auf den Steinfußboden. Man rollte sie aus den endlos langen Leinenbahnen. Nackt lag der Pharao vor ihnen, verschrumpelt und vertrocknet, der einstmals gefürchtete Herrscher über Millionen Menschen. Die Messer blitzten in ihren Händen, in Sekunden war der Leichnam in viele Stücke zerfetzt.

Jetzt erst fanden sie Zeit, sich umzusehen. Die Wände waren prächtig bemalt. Um sie herum standen viele Statuen, kleine Götter, riesige Vasen. Schmutzige Hände griffen nach dem Gold, auf dem der Widerschein der Fackeln schaurig hin und her hüpfte.

Zwei Hände fassen nach einem Gott. Ein kurzer Kampf, ein Röcheln, Blut tropft auf die Platten des Bodens. Doch den hastig zugreifenden Fingern entgleitet die kleine Figur, sie zerfällt auf dem Stein in tausend Scherben.

Gold? Wo ist das GOLD? Fassungslos zerschmettern sie auch die anderen Götter. Alles nur bemalter Ton. Sie untersuchen die großen Vasen. Sie sind leer. Gold! Wo ist das Gold? Soll alles umsonst gewesen sein? Hier muss es doch Gold geben. Es war doch ihr Gold. Mit ihrem Schweiß und Blut waren die Reichtümer zusammengetragen worden. Sie haben ein Anrecht darauf. Sind sie erneut betrogen worden? Wie wahnsinnig jagen sie durch die Gänge. Wohin sie blicken, Stein – nichts als Stein. Wo sind die Schätze verborgen? Sie brechen die Wände auf, arbeiten sich in den Fels hinein. Und auf einmal geben die großen Blöcke nach – die Männer springen schnell zurück – die Decke, ohne Halt nun, bricht herab.

Gefangen! Der Ausweg ist verschüttet. Sie schauen sich in die bleichen Gesichter, und sie wissen, dass sie verloren sind. Und auf einmal ist es wieder da, das Entsetzen, wie ein eiskalter Windhauch, der sie erstarren lässt. Eine unnennbare Angst lähmt sie. Sie sitzen in der kühlen Grabkammer und zählen ihre Herzschläge.

Und langsam brennen ihre Fackeln herunter. Und je dunkler es wird, umso mehr scheinen die Wände zusammenzurücken, scheint die schwere Steindecke sich zu senken, um sie zu zerdrücken. Ihr Atem keucht. Sie schnappen nach Luft. Ihre Augen treten aus dem Kopf und um ihren Hals scheint sich eine kalte Hand zu legen, die unbarmherzig immer fester zudrückt. Nie zuvor empfanden sie so stark wie jetzt die Einsamkeit. Sie waren allein. Niemand würde sie herausholen. Und sie fürchteten sich vor der großen Finsternis, die kommen würde. Ihre letzte Fackel erlosch. Und im letzten Aufflackern glaubten sie, aus einem Spalt eine große braune Ratte herauskommen zu sehen.

Die Reise

Mir bleibt wenig Zeit. Gehetzt jage ich durch die menschenleeren Gänge des Bahnhofsgebäudes, haste die Treppe zum Bahnsteig hinauf und schwinge mich in den schon fahrenden Zug. Erschöpft schlage ich die Tür hinter mir zu und lehne mich schwer atmend gegen die kalte Scheibe. Befriedigt sehe ich die Lichter der Stadt schemenhaft an mir vorübergleiten und in der Dunkelheit verschwinden. Draußen tost ein heftiger Schneesturm. Das verwirrende Spiel der hin- und hertanzenden Flocken behindert die Sicht. Kein Wunder, dass ich beinahe die Abfahrt verpasst hätte. Bei solchem Wetter bleibt man vernünftigerweise zu Hause. Doch mein Gepäck ist leicht – und dies war die letzte Möglichkeit, mein Ziel rechtzeitig zu erreichen.

Der Gang des Wagens ist leer. Ich gehe die lange Flucht der Abteile entlang, deren Vorhänge abweisend zugezogen sind, und öffne die erstbeste Tür. Verbrauchte Luft schlägt mir entgegen. Müde Gesichter blinzeln mich an. Der Raum ist nur von bläulichem schwachen Licht erhellt, das die Menschen wie Gespenster erscheinen lässt. Für einen Moment trage ich Unruhe in ihre Reihen. Widerstrebend rückt man zusammen und macht mir eine Ecke frei. Doch schon Sekunden später versinkt alles wieder in tiefsten Schlaf, als hielte ein magischer Zauber alles in Bann. Hier ist es angenehm warm. Es ist noch mitten in der Nacht. Da ich sowieso nicht zum Lesen komme, mache ich es mir – so gut es geht – bequem und versuche ebenfalls, ein wenig Schlaf nachzuholen.

Draußen tobt das Unwetter immer wütender. Immer neue Schneeschauer heulen aus der Finsternis heran und stürzen sich auf die winzig erscheinenden Waggons. Mühsam bahnt sich die Lokomotive ihren Weg über die verschneiten Gleise. Langsam dämmere ich ein und bemerke bloß im Halbschlaf, dass der Zug oft anhält. Sicherlich werden wir heute wieder mit viel Verspätung ankommen, denke ich noch, doch schon überwältigt mich ein bleischwerer Schlaf, aus dem mich nur ab und zu die merkwürdigsten Träume aufschrecken.

So vergehen die Stunden. Der Sturm lässt mit der Zeit nach. Nur manchmal zuckten seltsame Lichter lautlos über den Himmel. Es war wie ein Wetterleuchten, bloß viel unwirklicher, zumal es mitten im Winter war.

Allmählich wurde es hell. Müde reckte ich meine Glieder. Der Schlaf hatte mich nicht erfrischt. Ich fühlte mich auf eine merkwürdige Art erschöpft, so, als seien wir schon Tage unterwegs. Nachdenklich fuhr ich mit der Hand über mein unrasiertes Kinn und schaute mich um. Mir gegenüber saßen eine Frau und ein etwa fünfjähriger Junge, die schon aus mitgebrachten Stullenpaketen und Thermosflasche zu frühstücken begannen, während zwei Soldaten an der Tür noch mit geschlossenen Augen in ihren Ecken lehnten. Wir befanden uns im dicksten Nebel. Von vorn ertönten unablässig die Pfiffe der Lokomotive. Ich schaute mehrmals vergebens durch die angelaufene Scheibe, es war nicht das Geringste zu erkennen.

Wir fuhren in einen Tunnel ein. Jäh überfiel uns die Finsternis, während die Felswände mit wahnsinniger Geschwindigkeit an meinem Fenster vorbeisausten. Ich verlor mich in Gedanken. Monoton hallte das Rattern unseres Zuges durch das enge Gewölbe. Es schien kein Ende nehmen zu wollen. Wie lange rasten wir eigentlich schon hindurch? Ich hatte nicht auf die Uhr gesehen, aber mir erschien es unheimlich lang. Endlich näherte sich uns ein heller Schimmer.

Wir kamen wieder ins Freie. Die Morgensonne beleuchtete die kahle Landschaft. Hier lag kein Schnee mehr. Die ganze Gegend erschien mir merkwürdig fremd. Ich war doch schon oft diese Strecke nach Berlin gefahren, aber ich erinnerte mich nicht, schon einmal hier gewesen zu sein.

Ein jäher Schreck durchzuckt mich. Ich sitze im falschen Zug. Im letzten Moment war ich noch hineingesprungen, ohne darauf zu achten, welche Richtung angezeigt wurde. Dass ich daran nicht gedacht habe! Bei diesem Wetter gerät der ganze Fahrplan durcheinander. Vermutlich fuhr mein Zug heute von einem anderen Bahnsteig ab. Es ist nicht gut, sich immer auf seine Gewohnheiten zu verlassen.

Mich überkommt ein Gefühl der Fremdheit und Verlorenheit. Ich gehöre nicht hierher. Mit jeder Minute trägt mich der Zug weiter von meinem Ziel weg. Stunden bin ich in die falsche Richtung gefahren, und ich habe es nicht einmal gemerkt. Dabei ist mir vollkommen unbekannt, wohin wir uns bewegen. Ich könnte ja die anderen fragen, aber ich möchte mich nicht blamieren. Ich werde lieber abwarten, bis wir zur nächsten Station kommen, und dort aussteigen. Zwar werde ich viel Zeit verloren haben, aber vielleicht ist der Umweg gar nicht so groß. Hoffentlich hält der Zug bald.

Ich schaue aus dem Fenster. Es ist früh am Morgen. Wir fahren durch ein kleines Dorf. Kein Mensch ist draußen zu erblicken. Die Einsamkeit verleiht der Landschaft einen seltsamen Charakter von Verlassenheit. Wenn ich nur wüsste, wohin ich fahre! Ich beneide die anderen. Sie lassen sich mit ruhiger Gewissheit ihrem Ziel entgegentragen. Ihr Leben ist in Ordnung. Immer werden sie im richtigen Zug sitzen.

„Wird uns Tante Käthe in Berlin abholen?“, fragt der kleine Junge in diesem Moment. Ich stutze. Bin ich etwa nicht der Einzige, der sich geirrt hat? Sollten auch andere derselben Täuschung zum Opfer gefallen sein? Unwillkürlich fühle ich mich nicht mehr so einsam, obwohl es eigentlich kein Trost ist, wenn andere vom gleichen Missgeschick betroffen sind.

Auf dem Gang nähert sich der Schaffner und kontrolliert die Reisenden. Schon ist er bloß noch wenige Abteile entfernt. Gleich klärt sich alles auf. Leider muss ich jetzt auch noch nachlösen. Ich beschließe, mich ganz ahnungslos zu stellen; vielleicht kann ich ihn erweichen, sodass er ein Mal ein Auge zudrückt.

Der Schaffner öffnet die Tür. Mit gleichgültiger Miene halte ich ihm meine Fahrkarte hin. Ich bin gespannt, wie er reagieren wird. Er tut, als wäre alles in Ordnung. Er knipst die Karte und reicht sie mir zurück.

„In Schönefeld haben Sie 11.36 Uhr Anschluss nach Potsdam.“ Ich bin verblüfft.

„Ist das hier der Zug nach Berlin?“, frage ich erstaunt.

„Welcher denn sonst?“, entgegnet er leichthin. Er fertigt gleichmütig die übrigen Reisenden ab, aber um seinen Mund liegt ein feines ironisches Lächeln.

Die Tür klappt zu; wir sind wieder allein. In meinem Kopf beginnt es zu arbeiten. Erlaubt man sich einen Spaß mit mir? Wohl habe ich das Lächeln des Schaffners bemerkt. Unsicher hole ich mein Kursbuch aus der Tasche. Welcher andere Zug fuhr etwa zur gleichen Zeit in Erfurt los? Ich finde keine befriedigende Erklärung. Der Berliner Zug ist um diese Zeit der einzige, der im Plan steht.

Aber ich weiß doch ganz sicher, dass ich noch nie in meinem Leben hier gewesen bin. Ich habe mich immer mit offenen Augen durch meine Umwelt bewegt. Und die Landschaft draußen wird immer fremdartiger. Es muss ein Irrtum vorliegen. Ich halte es nicht länger in meinem Sitz aus. Entschlossen stehe ich auf und eile dem Schaffner hinterher. Ich muss mir Gewissheit verschaffen. Ich laufe durch alle Wagen, doch der Mann ist seltsamerweise nicht mehr zu finden. Wohin ist er verschwunden? Er kann sich doch nicht in Luft aufgelöst haben. Im letzten Wagen muss ich meine Suche abbrechen. Nachdenklich schaue ich durch die hintere Tür auf die Gleise, die mit rasender Geschwindigkeit unter dem Zug hervorhuschen und in der unbekannten Gegend zurückbleiben.

Ergebnislos kehre ich ins Abteil zurück. Die anderen unterhalten sich. „Fahren Sie das erste Mal nach Berlin?“, frage ich.

„Ja“, antwortet die Mutter des Jungen, „wir besuchen meine Schwester. Seit fünf Jahren haben wir uns nicht mehr gesehen.“

„Und Sie?“, wende ich mich an die beiden Soldaten.

„Wir fahren hier fast alle 14 Tage. Jedes Mal, wenn wir Urlaub bekommen. Wir haben beide unsere Verlobten in Erfurt.“

„Fällt Ihnen nicht auf, dass wir heute eine andere Strecke fahren?“

„Ach, wissen Sie“, entgegnen sie etwas verlegen, „das können wir nicht genau sagen, da wir in der Bahn meist schlafen. Als Soldat ist man immer müde und schläft, wo sich eine Gelegenheit ergibt.“

„Aber wir fahren heute wirklich eine andere Strecke.“

Ich lasse nicht locker. „Vielleicht kommen wir ganz woanders an, als wir denken.“

Die Frau schaut mich ängstlich an. „Das kann doch gar nicht sein. Ich habe in Erfurt extra den Bahnhofsvorsteher gefragt, ehe ich eingestiegen bin.“

„Vielleicht werden wir umgeleitet“, wirft der Junge ein.

„Natürlich“, meint die Frau aufatmend, „so wird es sein. Bei diesem Wetter kann es leicht vorkommen, dass ein Zug umgeleitet wird.“

„Aber wir haben doch jetzt ganz normale Verhältnisse.“ Ich weise auf den Sonnenschein draußen.

„Bei der Reichsbahn kann der Fahrplan selbst bei dem schönsten Wetter durcheinandergeraten.“

Umgeleitet. Ich klammere mich an diese Erklärung. Aber sicher werden wir dann mit viel Verspätung ankommen. Mich stört es nicht. Mein Termin ist sowieso geplatzt. Ich habe auf einmal viel Zeit. Meinetwegen könnten wir bis ans Ende der Welt fahren. Und die Soldaten freuen sich erst recht über jede Verspätung. Sie drängen sich nicht danach, zeitig wieder ihren Dienst anzutreten. Auch die Mutter mit ihrem Sohn ist gelassen.

„Wenn Käthe merkt, dass wir verspätet ankommen, wird sie sicher wieder nach Hause gehen und dort auf uns warten.“

So fahren wir beruhigt weiter. Irgendwann müssen wir ja doch einmal in Berlin ankommen. Und vielleicht haben wir auch gar nicht so viel Verspätung, denn der Zug fährt jetzt immer schneller.

_______________

Wie lange fahren wir eigentlich schon? Endlose Stunden sind vergangen. Schon längst müssten wir angekommen sein. Ich bezweifle immer mehr, dass wir jemals in Berlin landen werden. Die Gegend draußen wird immer fremdartiger.

Die Sonne steigt. Es wird immer wärmer. Ich öffne das Fenster und schaue hinaus. Wohin fahren wir? Seit Stunden hat der Zug nicht mehr gehalten. Die Signale stehen auf Grün. Irgendwo weit weg ist das Gehirn, das unsere Fahrt steuert, die Weichen stellt, die Signale bedient. Wenn ich nur wüsste, wo unser Weg hinführt!

Wir fahren unentwegt. In der Ferne sehen wir fantastische Städte vorbeihuschen. Ich fühle mich wie in eine ganz andere Zeit versetzt. Und die Gegend wird immer unerklärlicher. Seltsame Bauten erheben sich auf den Hügeln. Fremde, nie gesehene Bäume umgeben die Strecke. Und keiner, den es wundert. Sehen die anderen nicht, dass wir völlig falsch fahren? Wieso lässt es sie so gleichgültig?

Ich gehe wieder zum Schaffner. Diesmal finde ich ihn gleich. Er sitzt in seinem Dienstabteil und schreibt in einem kleinen schwarzen Buch.

Wohin fahren wir eigentlich?“, frage ich. Meine Stimme ist unsicher. Er schaut auf.

„Es besteht kein Grund zur Aufregung. Wir haben etwas Verspätung. Ich kann Ihnen nicht genau sagen, wann wir ankommen werden.“ Ich achte genau auf sein Gesicht, doch dem ist nichts anzumerken. Seine Ruhe ist unerschütterlich.

Ich bin beunruhigt. Irgendjemand treibt ein falsches Spiel mit uns. Ich begebe mich wieder auf meinen Platz. Es ist geradezu heiß geworden. Wir fahren durch eine öde Gegend. Die kahlen Berge sind spärlich mit Gras bewachsen. Vereinzelt stehen verdorrte Bäume. Sie geben der Landschaft einen trostlosen Anstrich. In den Tälern sehen wir manchmal Steinhaufen, wie die Überreste von seit Generationen verlassenen Dörfern.

Der Zug fährt langsamer. Wir überqueren eine Brücke. Unter uns ist eine Schlucht. Flüchtig sehen wir tief unten das ausgetrocknete Flussbett. Langsam quält sich der Zug weiter. Die Umgebung wird immer trostloser. Wohin sind wir bloß geraten?

Wir stehen. Ich schaue aus dem Fenster. Ich kann nicht erkennen, warum wir halten. Kein Bahnhof, kein Signal ist zu sehen. Ich steige aus und laufe nach vorn. Dicht vor der Lokomotive endet das Gleis. Dahinter erstreckt sich eine endlose Wüste. Weiter geht es nicht.

Ich habe genug gesehen. Ich steige wieder ein und suche den Schaffner. „Wir haben uns verfahren“, erkläre ich, „es muss ein Versehen sein, irgendeine falsch gestellte Weiche. Wir sind auf ein Abstellgleis geraten, auf eine Strecke, die seit Jahren nicht mehr benutzt wurde.“

Der Schaffner lächelt etwas mitleidig. „Schon möglich. Es kommt ab und zu einmal vor, dass ein Zug umgeleitet wird. Was ist daran so Besonderes?“

„Aber vor uns endet das Gleis.“

„Unmöglich.“

„So sehen sie es sich doch selbst an!“, rufe ich. Er zuckt mit den Schultern und folgt mir. Draußen erwartet uns eine neue Überraschung. Die Lokomotive ist verschwunden.

„Kein Grund zur Sorge! Wir werden eine andere bekommen. Es war eingeplant, dass die Lok unterwegs ausgetauscht wird. Wie Sie sehen, ist alles in Ordnung.“

Er verließ mich. Ratlos blieb ich zurück. Wohin war die Lok verschwunden? Es war doch eine eingleisige Strecke. Und vor uns war die Wüste.

Es ist so rätselhaft. Und doch weiß ich eines genau: Wir werden nie mehr eine andere Lok bekommen.

Ich schaue in die Wüste. Sie hat eigentlich nichts Bedrohliches an sich. Ich ahne, dass gerade darin ihre Gefährlichkeit besteht. Ich weiß, die Wüste ist endlos. Man könnte sie Ewigkeiten durchwandern – nie käme man an ihr Ende.

Ich muss schleunigst zurück, um Hilfe zu holen.