Ana. Der sanfte Tod einer Rebellin - Cyrill A. Wyss - E-Book

Ana. Der sanfte Tod einer Rebellin E-Book

Cyrill A. Wyss

3,8

Beschreibung

Cyrill A. Wyss präsentiert den 1. Teil seiner Romantrilogie zum Bildungswesen einer Erfolgsgesellschaft und der plötzlichen Ausbreitung von ADHS. Viele Schüler werden mit stark wirkenden und das Bewusstsein verändernden Psychopharmaka ruhig gestellt. Die Medikamente versprechen konzentriertes Arbeiten und bessere Leistungen. Ist dem wirklich so? Der Schweizer Autor Cyrill A. Wyss zeichnet Schicksale von Jugendlichen nach, die ihr Leben als ADHS-Patienten zu meistern haben. - Wer scheitert; wer überlebt? Mit einer Einführung von Pascal Rudin, Repräsentant an den Vereinten Nationen, Kinderrechte und Kindesschutz. Weitere Informationen unter www.anarebel.com

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 355

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
3,8 (16 Bewertungen)
5
6
2
3
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Sammlungen


Ähnliche


Der Schweizer Autor Cyrill A. Wyss arbeitet als Kommunikationsspezialist und Mediaberater. Er ist verheiratet und lebt als Vater von drei erwachsenen Kindern in einer typischen Kleingemeinde auf dem Land.

Teil 1 der Romantrilogie zum Bildungswesen einer Erfolgsgesellschaft sowie zur plötzlichen Ausbreitung von ADHS.

Mit einer Einführung von Pascal Rudin, Repräsentant an den Vereinten Nationen, Kinderrechte und Kindesschutz.

Für weitere Informationen

www.anarebel.com

EINFÜHRUNG

Zeit, aufzuwachen*

von Pascal Rudin, Sozialarbeiter und Soziologe (unser Bild), arbeitet als Repräsentant der International Federation of Social Workers IFSW bei den Vereinten Nationen in Genf. Seine Schwerpunkte umfassen Bildung, Gesundheit und Familie.

*Ins Deutsche übersetzt von U. Erich Friese, B.Sc., M.Sc.

Herrscher einer schlafenden Welt

1931 schrieb Aldous Huxley unter dem Titel „Schöne neue Welt“ einen Zukunftsroman. Seine Vision antizipiert die Fortpflanzungstechnologie, Schlaf-Lernmethoden, psychische Manipulation, klassische Konditionierung des Menschen zur grundlegenden gesellschaftlichen Veränderung. Der Mensch – so die Vorstellung des Autors – soll mit sanften Methoden gefügig gemacht werden. Besonders bemerkenswert ist, dass die Einwirkung auf die menschliche Psyche durch die gezielte Verabreichung von Psychopharmaka unterstützt wird.

Die Masse wird folglich nicht bloß beruhigt und abgelenkt, sondern durch Medikamente konditioniert, damit sie als Maschinerie funktioniert. Und zwar so, dass niemand auf den Gedanken kommt, mit ihm selbst, mit anderen oder in der Welt sei irgendetwas nicht in Ordnung.

Um die Bürgerinnen und Bürger der Gesellschaft widerspruchslos steuern und kontrollieren zu können, wird „Soma“ verabreicht. Der Name des „wohltuenden“ Medikamentes „Soma“ stammt aus dem Griechischen und bedeutet „Schlaf“. Damit wird im Roman Huxleys die Weltherrschaft ohne Widerstand erlangt. Um die Massen von der freiwilligen Einnahme der Glückspille „Soma“ zu überzeugen, genügt folgendes Argument: »Immer ist Soma zur Hand, um Ärger zu besänftigen, einen mit seinen Feinden zu versöhnen, Geduld und Langmut zu verleihen. Früher konnte man das alles nur durch große Willensanstrengung und nach jahrelanger harter Charakterbildung erreichen. Heute schluckt man zwei, drei Halbgrammtabletten, und damit gut!« (Huxley, 2012, S. 324)

In der Öffentlichkeit wurde die Vision Huxleys als allzu utopisch beurteilt. Die wenigsten konnten – und können – sich vorstellen, dass Menschen mit „Glückspillen“ ihr Selbstbewusstsein freiwillig aufgeben, bloß um ein angeblich besserer Mensch zu werden, der das Leben in Ruhe und Gelassenheit sowie frei von Feinden über sich ergehen lässt und dabei hohes Ansehen genießt!

Und dennoch hat seine Erzählung aktuellen Bezug zur heutigen gesellschaftlichen Realität. Ein typisches Beispiel stellt wohl der Schulalltag dar. Kinder werden mit stark wirkenden und das Bewusstsein verändernden Psychopharmaka therapiert. Eine Tatsache, die etwa in Deutschland, der Schweiz oder in den USA nicht mehr wegzudenken ist! Das Erstaunliche dabei ist, dass die Verabreichung von psychotropen Substanzen an die jüngsten Glieder der Gesellschaft – selbst unter den mitbetroffenen Eltern – auf breiter Basis akzeptiert, ja gar gefördert wird. Fakt ist, dass gemäß aktuellen Statistiken täglich Millionen von Kindern „Wunderpillen“ verabreicht werden, damit sie zuerst im Kindergarten, später in der Schule, einwandfrei funktionieren. Kinder sollen für Schule und Lehrkräfte keine unnötige Belastung darstellen und den Unterricht nicht behindern. Den Schatten über die Direktive von Diagnostikern unterschiedlichster Berufe wirft das Konzept der Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Wer ab dem Vorschulalter aus der Perspektive von Lehrpersonen unangenehm auffällt, kann sehr rasch – und zum Erstaunen betroffener, oft schockierter – Eltern vom unbeschwerten, temperamentvollen, lebenslustigen Kind zum unterstützungsbedürftigen „ADHS-Patienten“ mutieren.

Gestützt auf das in der 5. Auflage der „Diagnostic and Statistic Manual of Mental Disorders“ (DSM-5) verankerte Grundprinzip der US-Psychiatrie, wird davon ausgegangen, dass heute eines von vier Kindern eine Störung aufweist und von daher hilfsbedürftig ist (U.S. Department of Education, 2016). Obwohl es immer mehr mögliche Formen von „Störungen“ unter auffälligen Kindern gibt, werden die meisten von ihnen als ADHS-Patienten abgestempelt und mit Psychopharmaka versorgt. Die dadurch entstandene massenhafte Medikamenten-Abgabe für Kinder allen Alters wird mit auffälligem Verhalten begründet.

Kranheitserfindungen

Ohne die Tatsache von der Hand zu weisen, dass unter gewissen, jedoch seltenen, Umständen der wohldosierte Einsatz von psychotropen Substanzen nutzvoller Teil eines holistischen, also ganzheitlichen Behandlungsplans sein kann, gibt es jetzt nahezu universelle Bestätigung in Hinsicht auf die Überdiagnose und Übermedikation von Kindern im Zusammenhang mit ADHS (Leo & Lacasse, 2015).

Innerhalb der vergangenen zehn Jahre ist dem Phänomen ADHS sehr viel Aufmerksamkeit geschenkt worden, sowohl in der akademischen Welt wie in den Medien. Die Mehrdeutigkeit der Kernsymptome von ADHS, die internationale Widersprüchlichkeit der diagnostischen Vorgänge und Richtlinien sowie der ansteigende globale Einsatz von psychotropen Substanzen zur Behandlung von ADHS, bezeichnen die zentralen Probleme gegenwärtiger Diskurse. Trotz aller Forschungsbemühungen erweist es sich als schwierig, eine Übereinstimmung zu finden.

Was also ist ADHS? Aufgrund der oben erwähnten „5. Auflage des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“, abgekürzt DSM-5, einer Publikation der Amerikanischen Psychiatrie, handelt es sich bei ADHS „um eine gehirnbasierte Erkrankung, wobei Aufmerksamkeitsmangel, Hyperaktivität und Impulsivität die drei zentralen Punkte des symptomatischen Verhaltens bilden. Die laufende Erweiterung der Definition von ADHS innerhalb der vergangenen zehn Jahre ermöglicht die Diagnose von ADHS bei Kindern mit oder ohne Überaktivität, und mit oder ohne anderer diagnostischen Labels“ (Baumgaertel et al. 1995). Mit dem Erscheinen der DSM-5-Publikation gewann die Krankheitserfindung ADHS unverhältnismäßig hohe Bedeutung und wurde gesellschaftlich etabliert.

Unter diesen Voraussetzungen überrascht es nicht, wenn Wissenschaftler, die sich insbesondere mit der Verbreitung sowie den Ursachen und Folgen von gesundheitsbezogenen Zuständen und Ereignissen in Bevölkerungen oder Populationen beschäftigen, in ihren epidemiologischen Studien zum Schluss kommen, dass die Krankheitshäufigkeit von ADHS bis zu 26% beträgt! (Timimi & Taylor, 2003). Vereinfacht gesagt: Abhängig von einer Vielzahl an Faktoren leidet eines von vier Kindern unter ADHS.

Psychotrope Substanzen als Beweis für physiologische Pathologie

Trotz aller Forschungsbemühungen gibt es immer noch keinen spezifisch-kognitiven, metabolischen, neurologischen oder medizinischen Test für ADHS. Stattdessen wird der Spieß umgedreht: Man verabreicht Kindern psychotrope Substanzen, hauptsächlich Methylphenidate (bekannt als Ritalin), um einen Krankheitsbeweis zu erhalten. Wie Comstock argumentiert, entweder durch Fehlinterpretation oder durch die Erstellung eines neuen Rahmens von Zusammenhängen früherer Forschungsresultate: Viele klinische Forscher behaupteten etwa, wenn eine Versuchsperson nach Verabreichung des Medikamentes abnormal reagiere, oder wenn das Medikament die Versuchsperson tendenziell beruhige, gelte dies als Beweis für eine analogisch-physiologische Pathologie des Probanden (2011: 60). Mit anderen Worten: Maßgebende Beeinflusser, Meinungs- und Entscheidungsträger sind heute der Auffassung, „dass Kinder, die Ritalin konsumieren, auch ADHS-Patienten sind, sofern sie sich nach der Medikamenten-Einnahme beruhigen und sich auf eine einzige Aufgabe konzentrieren können. Und dies ungeachtet der Tatsache, dass sich jedes „normale“ Kind nach dem Konsum dieser Droge genauso verhält!“ (Timimi & Taylor, 2003).

In Anerkennung des ständig wachsenden Literaturvolumens, das die Gültigkeit solcher Diagnosen infrage stellt, scheint es ratsam, wenn sich Eltern und Erzieher kritisch gegenüber hegemonischen, also autoritären, bio-medizinischen Diagnosen verhalten. Auch wenn ADHS eine der meistuntersuchtesten psychiatrischen- und neurobiologischen Krankheitserscheinungen ist: Deren Ursachen sind und bleiben schwer bestimmbar. Mögliche Beweise für eine neurobiologische Basis dieser Erkrankung sind aufgrund bisheriger Untersuchungen alles andere als beweiskräftig oder sogar widersprüchlich, wodurch die Hypothesen zu ADHS als neuronale Dysfunktion nach wie vor komplett unbestätigt bleiben (Cooper, 2001).

Im Gegensatz zu einem vereinfachten bio-medizinischen Modell schlägt Thomas Szasz, der bekannte US-amerikanische Psychiater ungarischer Herkunft, vor, dass wenn keine nachweisbare biologische Pathologie vorliege, eine Geisteskrankheit – wie ADHS – eine Metapher sei für „kulturell missbilligende Gedanken, Gefühle und – ganz besonders – missbilligendes Verhalten.“ Singh bezieht sich in ähnlicher Weise auf die Arbeit von Conrad und Schneider (1980), und argumentiert, mit der Krankheitsbezeichnung ADHS werde „abweichendes Verhalten mit einer diagnostischen Label und Bestrafung in Form einer Behandlung mit psychotropen Substanzen verändert, reguliert und eliminiert“ (Singh, 2002: 362).

Degradierung der „Normalität“

Während die Hypothese einer neurologischen Basis für ADHS unbestätigt bleibt, ist die markante Zunahme von ADHS-Diagnosen empirisch gut dokumentiert. Beispiele: In Deutschland schnellte die Zahl der Kinder mit ADHS von 5.000 im Jahr 1995 auf 380.000 im Jahr 2008 hoch. Experten erwarten, dass die Zahl im Jahr 2012 auf 600.000 ansteigt (DGSP, 2013: 8). Noch alarmierender muten die Zahlen aus den USA an: Dort sind im Jahr 2011 rund 6.4 Millionen Kinder, das sind 11% der Gesamtbevölkerung, mit ADHS diagnostiziert worden. Zwischen 2003 und 2011 haben sich die Raten für ADHS-Diagnosen im Durchschnitt um 5 % pro Jahr erhöht (Center of Disease Control and Prevention, 2016).

Wie Abraham vermutet, kann die Tendenz, Kinder im steigenden Maße mit psychotropen Substanzen zu behandeln, zu einer Degradierung der ‚Normalität‘ führen: „Über die vergangenen 40 Jahre hinweg sind diagnostische Maßstäbe für ADHS ständig erweitert worden, sodass es nahezu unmöglich geworden ist, die erhöhte Erkennung von ADHS-Erkrankten von der erhöhten Medikationsrate zu entwirren. Dies führt zur Besorgnis, dass die Schwelle zwischen ‚normalem Verhalten‘ und ADHS zu niedrig angesetzt ist“ (Abraham, 2010: 608).

Während die Untersuchung der berühmten vielfachen Behandlungsmethode (Multi-Treatment Approach, MTA) ursprünglich zu dem Ergebnis kam, dass es möglicherweise von Vorteil sei, Kinder mit Drogen zu behandeln, beobachteten die gleichen Forscher in ihren drei- und achtjährigen Nachuntersuchungen, dass der Einsatz von Ritalin keinen erkennbaren Vorteil ergab (Molina et al., 2007; Molina et al., 2009): Darüber hinaus ergibt die vor Kurzem veröffentlichte Cochrane-Untersuchung, dass die Verabreichung von psychotropen Substanzen für ADHS-Patienten viele nachteilige Wirkungen zeigt, während nicht mit Sicherheit gesagt werden kann, dass sich das Leben von Kindern und Jugendlichen, die als ADHS-Patienten gelten, verbessert, weil ihnen Methylphebidate verabreicht werden. Die Nebenwirkungen von Ritalin schließen ein: nervöses oder gereiztes Gefühl, Schlafprobleme (Schlaflosigkeit), Appetitverlust, Übelkeit, Bauchschmerzen, Kopfschmerzen, Sinnestäuschungen, neue Verhaltensprobleme, Aggression, Feindseligkeit, Paranoia und sogar „plötzlicher Tod von gewissen Leuten“ (Cerner Multum Inc., 2016).

Wie kommen Eltern im Angesicht solcher Nebenwirkungen dazu, ihren über alles geliebten Kindern Methylphenidate und andere riskante psychotrope Substanzen verabreichen zu lassen? – „Mama, was habe ich falsch gemacht?“ – Die Antwort auf diese Frage bleibt für viele lebenslang offen.

Fünf zentrale Treiber zur rasanten globalen Ausbreitung der Krankheit ADHS

Nach Conrad & Berger gibt es fünf zentrale Treiber für die gegenwärtige, teilweise erschreckende globale Ausbreitung von ADHS:

Die transnationale pharmazeutische Industrie hat ihre erfolgreiche Vermarktung entsprechend ausgedehnt, sodass nicht nur Konsumenten und Ärzte eingeschlossen sind, sondern auch nicht-medizinische Berufe, wie z.B. Lehrer. Häufig spielen Pädagogen eine wichtige Rolle in der Diagnose und Behandlung von ADHS. Die machtvolle Pharma-Industrie hat es verstanden, in einer wohlwollenden und maßgebenden Art und Weise die Ansichten von Lehrkräften über ADHS zu beeinflussen und auf eine medizinische Behandlung hinzulenken.

Das dominante biologische Modell von ADHS, das pharmazeutische Behandlung verlangt, ist von der US-Psychiatrie erfolgreich gefördert worden und zwar weit über die Vereinigten Staaten hinaus.

Der steigende Einfluss der US-Psychiatrie ist auf den wachsenden Beachtungsgrad der DSM-Publikation auf allen Kontinenten zurückzuführen. Dazu ein Beispiel: Europäische Ärzte orientierten sich bis vor wenigen Jahren traditionell immer am ICD der Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization, WHO), der Sonderorganisation der Vereinten Nationen mit Sitz in Genf. Während die Prävalenzrate von ADHS auf der Basis dieser ICD-Massstäbe unter 1 % liegt, ist sie gemäß DSM-Publikation weitaus höher.

Ein weiterer, ebenso wichtiger Faktor zum hohen Bekanntheitsgrad von ADHS stellen die vielen Informationen im Internet dar. Vielfach stehen – direkt oder indirekt – führende Pharmaunternehmen dahinter. Mit unterschiedlichsten Etiketten werden zum Thema ADHS nicht bloß Gesundheitsinformationen vermittelt. Angeboten werden Checklisten, Prüfgeräte, Therapiemöglichkeiten, Beratungen und Produkte.

Eine immer größere Rolle spielen Interessengruppen, die häufig von der Pharmaindustrie finanziert werden. Letztere spielen eine wichtige Rolle bei der Verbreitung von ADHS-Diagnosen sowie der Behandlung von ADHS-Patienten mit psychotropen Stoffen. (Conrad & Berger, 2014)

Ob all dieser in Gang gesetzten Mechanismen zur Steigerung des Bekanntheitsgrades der ADHS-Krankheit bleibt Hoffnung auf eine Wende: Die Unterstützung könnte von hoher Instanz aus erfolgen, nämlich von Seiten der Vereinten Nationen.

Zeit, aufzuwachen!

Im Februar 2015 brachte der Kinderrechtsausschuss der Vereinten Nationen seine Besorgnis über die „übermäßigen Diagnosen von Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung (ADHS), Aufmerksamkeitsstörung (ADD) sowie über die darauf folgende Erhöhung der Rezeptierung von psycho-stimulierenden Drogen für Kinder“ zum Ausdruck. Besonders hervorgehoben wurden dabei Methylphenidate, die „trotz nachgewiesenen schädlichen Auswirkungen“ (UN Committee on the Right of the Child, 2015: 14) verordnet werden. Der Ausschuss schlug der Schweiz vor, ein Forschungsprogramm einzurichten, um die Ursachen von Aufmerksamkeitsmangel im Klassenzimmer genauer zu untersuchen und um nicht-pharmakologische Methoden zur Unterstützung von ADHS-betroffenen Kindern zu ermitteln. Außerdem hob der Ausschuss die Wichtigkeit der Kompetenz von Personen, die für Kinder oder mit Kindern arbeiten, besonders hervor. Wer mit Kindern zu tun habe, müsse die ADHS-Kriterien genauer kennen, wurde seitens des UN-Ausschusses deutlich gemacht. (ebenda).

Bleibt zu hoffen, dass die UN-Empfehlungen an die Schweiz demnächst z.B. auch für die USA, Deutschland, Holland oder Spanien richtungsweisenden Charakter haben werden. Die Entwicklungen rund um ADHS sind von daher bei einer der höchsten Autoritäten unserer internationalen Gesellschaft erkannt. Es liegt jedoch in der Hand der einzelnen zivilen Gesellschaften diesen UN-Empfehlungen zu folgen, damit die Bürgerinnen und Bürger die Risiken und Gefahren rund um die Medikalisierung sozialer Problemlagen erkennen. Letztendlich geht es jedoch um die Frage, was tun wir? – Ich und Du?

Literatur- und Quellenverzeichnis: siehe Anhang

Der Roman zum Zeitgeschehen ist frei erfunden. Personen, Orte der Handlungen, Berufsgruppen, Vertretungen etc. sind fiktiv. Allfällige Ähnlichkeiten mit wahren Begebenheiten, existierenden Namen, Persönlichkeiten etc. wären rein zufällig.

Jede Art der Vervielfältigung (auch nur Teile davon) ist ohne Genehmigung des Urhebers unzulässig.

Füralle Eltern, die lieber mit Kindern, statt mit strebsamen Anpassern leben. Gegen alle Übereifrigen, die unbequeme Kinder mit Pillen zum Gehorsam zwingen! Damit niemand zur Bestie wird, um doch zu leben.

Ana Kämpfer im Begleitbrief zu ihrem Vermächtnis am 9.1.2015.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel I: Die Kinder Pinocchios

Kapitel II: Der Todesengel

Kapitel III: Das Erwachen der Rebellin

Kapitel IV: Im Kreis von Vertrauten

Kapitel V: Der Pianist

Kapitel VI: Das Vermächtnis

Kapitel VII: Grigori

Kapitel VIII: Das Geschäft

Kapitel IX: Swinger-Party

Kapitel X: „Wash-Boys“

Kapitel XI: Die Einladung

Kapitel XII: Dr Ethan W. Smith

Kapitel XIII: Sepp Hinderschwand

Kapitel XIV: Der Zappelphilipp-Preis

Kapitel XV: Das Mädchen aus der Lombardei

Kapitel XVI: Der Eklat

Kapitel XVII: Bigi

Kapitel XVIII: «Tod im Alpenglühn!»

Kapitel XIX: Kernpunkt

Epilog

KAPITEL I
Die Kinder Pinocchios

Grelle Blitze, dicht gefolgt von peitschenden Donnerschüssen zerfetzten das Dunkel der Nacht. Sonntagabend. Das Ende eines herrlichen Sommertages. Sylvie knallte Ben eine Zeitung auf den Tisch.

»Hier will jemand sein Herz ausschütten! Eine Frau, angeblich im besten Alter, sucht jemanden, der ein Buch über sie schreibt.«

Ben zog die Augenbrauen hoch und sah nach dem Blatt. Eine Gratiszeitung, von denen es viele gab. Die meisten berichteten über Sieger für Verlierer.

Wer mochte die Frau sein, die hier mit einer Annonce nach einem Autor suchte? Weshalb ging sie nicht zu einer PR-Agentur? Und was hatte sie mitzuteilen? Im Inserat war eine Handy-Nummer vermerkt. Ben griff nach seinem iPhone und wählte ihre Nummer.

»Schön, dass du anrufst! Ich wandere im Moment auf einer Alp und beobachte die herrlichen Berge, die stämmigen Steinböcke und die herrliche Pflanzenwelt. Bitte ruf später wieder an. Ich wünsche dir eine gute Zeit. Bis dann.«

Ben brach die Verbindung ab. »Nicht das übliche Blabla, wie es normalerweise von Anrufbeantwortern zu hören ist.« Sylvie schaute ihn fragend an und ging in die Küche.

***

Auf ihrem Handy, das achtlos auf dem Nachttisch lag, hatte es zum zweiten Mal gepiepst. Die schwere Frau lag bewegungslos im schweren Bett ihres Krankenzimmers. Sie war müde und wollte Ruhe. Die täglichen Therapien, die sie zur Wiedererlangung ihrer psychischen und körperlichen Fähigkeiten über sich ergehen lassen musste, verlangten ihr viel ab. Zwei Pflegerinnen hatten sie nach dem Bad wieder auf ihre Liege gebracht. Dazu war eine spezielle Kranvorrichtung nötig.

Über 81 Pfund hatte sie im letzten Halbjahr abgenommen. Doch 150 Kilo waren immer noch viel. Zu viel. Ihr Körper war praktisch bewegungsunfähig.

Es war für die Pflegerinnen ihrer Abteilung nicht leicht, sie zuerst aus dem Bett, dann ins Bad und anschließend wieder auf die Liege zu hieven. Die Klinikleitung ließ sich dazu einen elektrisch angetriebenen Gabelstapler anfertigen. Damit wurde die Patientin auf einer kaum dehnbaren, 150 Zentimeter breiten Hartgummimatte rauf und runter gehoben.

Jetzt war Zeit für die Vorbereitung ihres Nachtlagers. Nicht nur für Ana Kämpfer, sondern auch für die Krankenschwestern eine unangenehme Sache. So lag sie da, erschöpft, auf ihrem Rücken, stumm auf die Deckenstruktur starrend. Wie immer in solchen Momenten. Sie verfolgte einzelne Muster. Einzelne kleine Erhebungen, die wie kleine weiße Bergspitzen von oben nach unten ragten und im dumpfen Licht des Zimmers winzige Schatten warfen.

Die beiden Pflegerinnen hatten ihre Knochenarbeit verrichtet und den Kran an die Seite zum Fenster geschoben. Sie verabschiedeten sich lächelnd und huschten davon. Schwester Anette, sie war Deutsche, zupfte an der Bettdecke herum.

»Soll ich Ihnen den Fernseher noch einschalten, oder möchten Sie zuerst noch etwas die Ruhe genießen, Frau Kämpfer?«

»Seien Sie doch so nett und geben Sie mir die Fernbedienung. Ich habe vorhin mein Handy nicht gesehen. Seien Sie so lieb und schauen Sie bitte nach, wo das geblieben ist.«

»Ich schau mich gleich mal um. Ah, ich hab es schon gefunden! Es liegt oben auf dem Nachttisch. Da! Schauen Sie mal, Sie haben einen Anruf erhalten!«

»Das ist bestimmt meine Stiefschwester. Sie will ihr schlechtes Gewissen beruhigen, weil sie mich heute nicht besucht hat! Bitte legen Sie es dahin, sie wird es später nochmals versuchen!«

»Ist es Ihnen so bequem, Frau Kämpfer?«

»Es geht schon, danke.«

»Gut. Das Abendessen kommt in ein paar Minuten. Dann wünsche ich Ihnen eine ruhige Nacht. Schlafen Sie gut.«

»Das wünsch ich Ihnen auch. Vielen Dank, Schwester.«

***

»Und? Hast du die Inserentin angerufen?« Sylvie hatte nicht zugehört. Sie setzte sich erwartungsvoll auf die gegenüberliegende Couch des Wohnzimmers. Ben winkte ab.

»Ich hab sie nicht erwischt, nein. Sie sei auf einer Bergtour, hieß es auf ihrem Anrufbeantworter.«

Er nahm einen Anlauf per SMS:

18.31: Haben Sie noch Bedarf am Journalisten für ihre spannende Lebensgeschichte?

18.34: Doch, haben Sie sich nicht schon mal gemeldet?

18.53: Nein, aber ich bin der, den sie benötigen.

18.55: Das klingt selbstbewusst. Wann können wir telefonieren?

18.59: Montag zwischen 10 und 11 bin ich für sie auf Empfang.

19.01: Gerne. Nur noch eine Frage. Sind Sie von Zürich oder aus New York?

19.05: Nein, von Zwischendurch.

19.08: Ich auch. Bin in der Sahara mit 40 Kamelen unterwegs.

Hihi. Nei schade, hast du keine Zeit. Mein Name ist Trudi Gester.

Ich möchte gerne plaudern. Sicher dumm, wenn man verheiratet ist!

19.12: Du musst es ja wissen. Ich bin eigenständig.

19.28: Bis morgen. Träum süß.

Wer war diese Frau? SMS sagt mehr! Trudi Gester war Märchenerzählerin. Seit Jahren tot. War die Inserentin mit ihrer angeblichen Suche nach einem Journalisten eher auf der Suche nach Beachtung und Gesellschaft?

Vereinbarter Gesprächstermin, Montag, 09.15 Uhr: Ben ruft die Inserentin an. Niemand nimmt ab; kein Anrufbeantworter. Ben legt auf und wirft die Gratiszeitung in den Papierkorb.

***

Die Patientin begann zu schmunzeln, als das Telefon klingelte. »Ich glaub es nicht!« Wieder war eine doofe Tussi von der Zeitung auf ihren alten Trick reingefallen und wieder war von ihr ein Inserat erschienen, das sie niemals bezahlen würde! Sie ließ es läuten. Das erhöhte die Spannung für sie und diesen neugierigen Journalisten!

Wieder nahm das von ihr inszenierte Schauspiel seinen Lauf. Ana hatte das Drehbuch vor ihrem geistigen Auge entworfen. Sie malte sich aus, wie sie von einem dieser naiven Schreiberlinge Besuch bekäme, wie er ihr die erbetenen Naschereien ans Bett brächte.

Ana Kämpfer seufzte erleichtert. Wenigstens ein Lichtblick. Eine gute Methode, sich Süßigkeiten aus dem Supermarkt mitbringen zu lassen. Spezialitäten, die sie mochte.

Journalistenbesuche waren so ziemlich der einzige Lichtblick, den die Patientin in ihrem tristen Alltag sah. Die meisten hatten Mitleid mit ihr, wenn sie sie da liegen sahen. Allein und hilflos. Einmal mehr würde sie einen von ihnen am Bett empfangen und ihm aus ihrem Leben erzählen. Dann war wenigstens jemand da, der sich tatsächlich für sie und ihr bewegtes Leben interessierte.

Ana Kämpfer sah solche Empfänge als Zeitvertreib im Rahmen dieser tristen Einöde mit diesen blassen Gestalten, die täglich durch ihr Zimmer geisterten!

Auch wenn – wie bis jetzt – niemand ein Buch über sie schrieb, machten diese Piraten-Inserate, wie sie sie nannte, Sinn für sie. So bekam sie Menschen zu Gesicht, die von draußen kamen. Aus einer Welt, die ihr so sehr fehlte. An ihnen spürte sie so etwas wie einen Hauch von Freiheit. Auch das tat gut.

Dass sie mit ihrem Annoncen-Trick auch ihrem Beistand etwas zu tun gab, freute sie. Schließlich hatte sich der 81-jährige Advokat bei der Behörde selber dafür beworben, in ihrem Namen administrative Dinge zu erledigen. Wenn sich der Alte schon nicht von seinen Ämtern lösen konnte, dann sollte er zwischendurch auch etwas Arbeit von ihr bekommen! Und diese gab sie ihm mit all ihren Bestellungen, die sie nicht bezahlen konnte, immer wieder. Als erstes würde er die an sie adressierte Rechnung bekommen. Ein paar Wochen später kamen Mahnungen in loser Reihenfolge. Nach Ablauf aller Zahlungsfristen hatte der Jurist die Betreibungsurkunde entgegenzunehmen. Eine von vielen. Der gute Mann ordnete sie in einem mit ihrem Namen beschrifteten Bundesordner ein. Nach Eingangsdaten platziert.

Dass Ana Kämpfer längst pleite war, erfuhren die meisten Gläubiger erst, wenn sie beim Betreibungsbeamten versuchten, an ihr Geld zu kommen. Zum Beispiel die leutseligen einheimischen Schokoladenfabrikanten! Sie waren ihre beliebtesten Opfer.

Statt vor dem Versand nachzusehen, ob sie auch zahlungsfähig war, schickten sie ihr die exklusiven Pralinen in wunderschönen Verpackungen einfach zu. Einen Teil der Ware behielt sie für sich und genoss.

Die anderen Süßigkeiten ließ sie ans Pflegepersonal verteilen. Diesbezüglich war sie sauber. Sie schätzte die Dienste ihr gegenüber. Deshalb sollten die Helferinnen bei ihr nicht zu kurz kommen. Schließlich kümmerten sie sich Tag für Tag um sie. Auch in unangenehmen Situationen. Die meisten waren nett und hilfsbereit. Von Ausnahmen abgesehen.

Am liebsten hatte sie Bettina! Die feurige und temperamentvolle Helferin zeigte sich immer besonders herzlich. Ihre Übergröße und ihre damit verbundene unbeholfene und äußerst komplizierte Pflegebedürftigkeit schienen die junge Frau gar nicht zu interessieren.

Sie ließ den Dingen ihren Lauf und erfüllte ihre Pflicht. Ohne großes Wenn und Aber. Mürrisches oder zaghaftes Arbeiten schienen Bettina fremd. Stattdessen erzählte sie einen Witz oder machte aufmunternde Sprüche. Sie zeigte Humor und sorgte damit für eine gute Stimmung. Nicht nur ihr gegenüber als Patientin. Alle schienen sie zu mögen und arbeiteten gern mit ihr. Doch das Leben ihrer fröhlichen Lieblingsschwester aus dem Wallis drohte sich vor wenigen Wochen auf tragische Art zu verändern.

Eines Morgens trat Bettina traurig an ihr Bett. Zuerst meinte Ana, sie habe Masern. Aber die Schwester winkte ab, nein, ihre Hautrötungen hätten eine andere Ursache. Der Arzt wisse nichts Genaues. Wenn sie Glück habe, würden die Rötungen wieder verschwinden, wie sie gekommen seien! Aber das sei ein schwacher Trost für sie. Der ganze Körper sei übersät. Ihr Freund ziehe sich zurück. Und er sei nicht der einzige. Auch ihre Arbeitskolleginnen gingen ihr aus dem Weg. »Alle meinen, ich hätte eine ansteckende Krankheit!«

Sie schäme sich und traue sich nicht mehr unter die Leute. Bettina schluchzte. Ana Kämpfer hatte Mitleid. Das arme Mädchen! Mit Trost allein war ihm nicht geholfen. Die Patientin überlegte lange. Was konnte sie für ihre Krankenschwester tun? Ein Gedanke kam ihr, als sie eine regionale Wochenzeitung durchblätterte.

Eines der Inserate enthielt einen Coupon zur Bestellung einer Mustersendung für die Powerfrau mit Charme. Die Werbung stammte von einer renommierten Kosmetikfirma in Frankreich. Das Unternehmen hatte vor einem halben Jahr seinen Hauptsitz in die Schweiz verlegt. Angestellte klagten öffentlich über lange Arbeitszeiten und niedrige Löhne! Der Konzernchef dementierte persönlich. Seither hatte das Unternehmen ein Imageproblem. Die Arbeitnehmerorganisationen protestierten und riefen zu Protestkundgebungen vor den neueröffneten Beauty-Shops in verschiedenen Städten des Landes auf.

In den Medien wurde nicht bloß darüber berichtet. In einem Fernseh-Interview kamen auch französische Politikerinnen und Politiker zu Wort, die sich über das Unternehmen beklagten und zu Boykotten aufriefen, weil die Konzernleitung den Standortwechsel ins Steuerparadies aus reiner Geldgier vollzogen habe.

Die Kosmetikfirma offerierte nicht bloß Geschenkpakete, sie lud die geneigte Leserschaft auch zur Kennenlernparty in ihre Salons ein: »Tauchen Sie bei uns in die Welt der klassischen Schönheit ein! Tauschen Sie sich mit unseren Kundinnen und Kunden aus. Genießen Sie ein Glas Champagner mit unseren Beraterinnen und Beratern. Schließen Sie Freundschaften, die Freude bereiten – Aujourd’hui et demain!«

Für Ana Kämpfer war klar: In der Geschenk- und Prosecco-Kampagne ging es um die Gunst der kritischen Damenwelt. Eine gute Gelegenheit, um die unglückliche Bettina mit einem Kosmetik-Koffer zu überraschen! Die Patientin rief per Handy am Zuger Hauptsitz an und verlangte jemanden von der Marketingabteilung ans Telefon.

Sie wurde dreimal weiterverbunden, bis sich »Monsieur Du Pont« meldete. Ana Känpfer wünschte ihm einen guten Tag und berichtete, sie habe am Fernsehen erfahren, dass sein Unternehmen schweizerisch geworden sei. Deshalb wende sie sich mit ihrem Anliegen direkt an ihn. Er könne ihr bestimmt eine Empfehlung abgeben. Sie sei gestern völlig überraschend in diese Schönheitsklinik ins Berner Oberland gerufen worden. Da die Wartelisten für Schönheitsoperationen sehr lang seien, habe sie die Chance am Schopf gepackt und sei spontan hierhergefahren.

Nun wolle sie ihre Zeit so gut wie möglich nutzen und auch ihrem Gesicht und den Händen optisch etwas gönnen. Schließlich brauche sie ja nicht bloß jene Körperstellen zu stylen, die meistens doch niemand zu Gesicht bekomme. Was er dazu meine.

Ana Kämpfers Gesprächspartner zeigte sich erfreut. Sie habe richtig entschieden, er helfe gerne. Woran sie denke. Er sei der Experte, was er ihr empfehle. Der gesprächsfreudige Schönheitsexperte erwähnte als erstes ein 100-teiliges exklusives Beautyset, das eben auf den Markt gekommen sei. Wegen dem Umfang brauche sie sich keine Sorgen zu machen, bei allen Produkten sei eine lange Lebensdauer garantiert. Das Preis-Leistungs-Verhältnis sei äußerst vorteilhaft.

»Sie werden sehr zufrieden sein, Madame. Diese Linie ist exklusiv und wird ihnen auch – Comment dit? – après votre séjour de beauté? … viel Freude bereiten!«

Ana ließ sich nach einigen Minuten vom Angebot des sehr charmanten und überaus zuvorkommenden Marketingexperten begeistern. Als Lieferadresse gab sie die schönheitschirurgische Abteilung an. Sie ließ aber ausdrücklich ihre Zimmernummer und die zweite Etage des Spital- und Betreuungskomplexes vermerken. Die Rechnung ließ sie an ihren Beistand in Bern schicken. Sie habe nämlich ihren Anwalt, Herrn Dr von Siebenthal, damit beauftragt, sich in ihrer Abwesenheit um die administrativen Belange zu kümmern. Nachdem alle weiteren Fragen geklärt waren, legte die Patientin schmunzelnd ihr Handy auf den Nachttisch zurück. Die Bestellung war in die Wege geleitet!

Tage später bekam Ana Kämpfer das bestellte Paket direkt ans Bett gestellt. Am Nachmittag ließ sie sich die Sendung von einer jungen Praktikantin zeigen. Das Mädchen erwarb im Spital berufspraktische Handlungskompetenzen und lachte über beide Ohren, als sie die vielen Lippenstifte, Schönheitscrèmes, Puderdosen, Pinsel und Farbtöpfchen auspackte. »Ist das alles für Sie?« Ana grinste. »Jetzt siehst du mal, was die wahre Schönheit einer in die Jahre gekommenen Frau von heute ausmacht!« Beide lachten. Ana erklärte der Praktikantin, die Artikel seien für eine ihrer Freundinnen bestimmt. Sie möchte die Sachen im Schrank verräumen und die Verpackung entsorgen.

Am späteren Abend bat sie die Nachtschwester, die Beauty-Sets so zu verpacken, als handle es sich um ein Geburtstagsgeschenk. Sie wolle jemanden überraschen. Als Bettina K. anderntags mit gesenkten Mundwinkeln an ihr Bett trat, um Anas Puls zu fühlen und den Blutdruck zu messen, forderte sie sie auf, ihren Zimmerschrank zu öffnen. Sie finde dort »eine kleine Wertschätzung.«

»Oh, vielen Dank, aber jetzt habe ich keine Zeit dafür! Ich komme in der Pause vorbei! Bist du einverstanden?«

Gegen 10 Uhr erschien Bettina wieder. Sie staunte, als sie die große Geschenkpackung sah. »Ist das für mich?« Ana nickte.

»Nimm es, und versorg es in deinem Wagen, bevor es die anderen sehen!« Bettina zögerte. Dann packte sie das Paket mit beiden Händen und trug es wortlos davon.

Gegen Abend kam Bettina zurück. Sie huschte leise an Anas Bett. Die aus dem Schlaf erwachte Patientin musste zweimal schauen, bis sie ihre fröhliche Besucherin erkannte. Bettina trug eine wilde offene Frisur und schien ein anderer Mensch zu sein. Sie drehte sich in einem knallroten schwingenden Tellerrock im Kreis und warf sich Ana um den Hals. Bettina war typgerecht geschminkt. Auf ihrem übermütigen Gesicht waren die störenden Rötungen nicht mehr zu sehen.

Sie hatte sich die Haut durch ein Beige mattiert, das zu ihrem natürlichen und südländisch wirkenden Erscheinen passte. Ihre Wimpern waren leicht getuscht und die Lider wirkten mit Schattierung verführerisch. Die Lippen waren durch ein starkes Rot als Blickfang betont. Selbst an ihren Beinen, Armen und Händen waren die rötlichen Flecken nicht mehr zu sehen.

Bettina drückte Anas Hand und gab ihr wortlos einen Kuss auf die Wange. Plötzlich wurde sie ernst und schaute sie fürsorglich an. »Ich wollte mich nur schnell zeigen und dir Merci sagen. Vielen herzlichen Dank! Ana! Das ist so lieb von dir!«

»Siehst du, wie schön du bist! Genieß das Leben und sei froh, wenn es andere mit dir teilen. Schau mich an! Meinst du ich hätte je gedacht, als 150 Kilo schweres Fleischstück in einem solchen Bett zu enden?«

»Ana! Sag nicht so was.«

Bettina wurde wieder heiter. Sie öffnete ihre Handtasche und zog eine angebrochene Kaugummi-Packung hervor. »Schau, ich habe dir ein paar Glücksbringer mitgebracht. Es sind genau 10 Stück. Nimm höchstens eine davon. Und nicht mehr als eine pro Woche. Die Dinger sind brutaler als Morphium und machen süchtig! Lass die Packung nicht herumliegen. Ana! Versprichst du mir das?«

Ana Kämpfer schaute ihre Freundin lächelnd an und winkte sie näher zu sich. »Bettina, mein Schätzchen. Hab keine Angst. Glaub mir, ich kenn mich aus mit dem Zeug!«

»Gut! Schau, ich versorg sie in der Kaugummipackung bei der Haarbürste in deinem Necessaire!«

»Okay! Vielen Dank! Gehst du jetzt noch aus?«

»Ja, ich hab mit Freunden was abgemacht!«

»Schön, ich wünschte, ich könnte dich begleiten! Dann würden wir zusammen feiern, dass die Post abgeht!«

Bettina war glücklich. Sie bedankte sich nochmals und verabschiedete sich mit einem Kuss auf die Wange der Patientin. Diese freute sich ihrerseits über ihren spontanen Besuch. Toll, dass sie bei ihrem Geschenk ins Schwarze getroffen hatte! Das galt übrigens auch umgekehrt!

Am nächsten Tag rief Alexander von Siebenthal an. Zu Beginn war er höflich und schien um das Wohl seiner Protégée besorgt. Nachdem Ana Kämpfer seine Fragen freundlich beantwortet und ihm versichert hatte, es gehe ihr gut, wechselte er plötzlich das Thema und setzte einen strengen, vorwurfsvollen Ton an. Er habe die Rechnung für eine Lieferung von Kosmetikartikeln erhalten. Wie sie dazu komme, einen 120 Franken teuren Schminkkoffer zu bestellen, obwohl sie ganz genau wisse, dass sie weder das Make-up gebrauchen, geschweige denn die Ware bezahlen könne. Dann begann er auszuteilen.

»Das ist ein Skandal. Was erlauben Sie sich überhaupt! Erst kürzlich haben Sie Schokolade bestellt, dann haben Sie diese Journalisten-Inserate aufgegeben und jetzt bestellen Sie einen teuren Schminkkoffer, den Sie nicht bezahlen können!

Ich will Ihnen jetzt mal was sagen: Ihre Dreistigkeit ist eine Zumutung für jeden, der täglich zur Arbeit geht, pünktlich Steuern bezahlt. All diese fleißigen Bürgerinnen und Bürger tragen nämlich dazu bei, dass Sie wie eine reiche Privatpatientin behandelt werden. Und das in einem Ferienparadies in bester Lage am See! Sie fristen ihr Dasein auf Kosten ehrbarer Leute! Frau Kämpfer, schämen Sie sich!«

Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er zornig fort. Einmal mehr zeige sich, dass sie eine unberechenbare Psychopathin sei. Sie schade der Allgemeinheit und gehöre eher in die geschlossene Abteilung einer Klinik für Geisteskranke als in ein Luxus-Zimmer im Berner Oberland!

»Ich setze Ihnen eine Frist: Wenn Sie den Koffer nicht innerhalb von zwei Tagen an den Absender zurückschicken, werde ich Sie anzeigen und Ihnen einen Polizeibeamten vorbeischicken lassen, der die Ware sicherstellt und dafür sorgt, dass Sie zur Verantwortung gezogen werden. Ich habe genug von Ihnen. Ihrem Spiel wird jetzt ein für alle Mal ein Ende gesetzt!«

Dann war Ruhe.

Der Jurist blieb in der Leitung. Am liebsten hätte ihm Ana in den Hörer geschrien, was er für ein Schwein sei. Ein ehemaliger Staatsangestellter mit hoher Pension, der im hohen Alter noch so gierig sei, dass er jungen Stellensuchenden Arbeit und Verdienstquellen wegstehle.

Doch Ana Kämpfer schwieg. Sie weinte und zitterte am ganzen Körper. Die niederschmetternden Worte des Alten trafen sie mitten ins Herz. Ihr Schicksal schien ihn überhaupt nicht zu berühren.

Sie schluchzte laut auf. Am Hörer war ein weiches Rauschen zu hören, das manchmal durch leises Knacken unterbrochen wurde. Ana überlegte. Ihr Beistand war betagt. Aber er hatte Lebenserfahrung. Früher schlug er sich mit vielen Schlitzohren herum. Zuerst als Gerichtsschreiber, dann als Staatsanwalt, später als Strafverteidiger, schließlich als Mitglied und späterer Präsident der Strafkammer. Er hatte nicht bloß Biografien von Angeklagten studiert. Er kannte die Angeklagten persönlich, die die Macht und die Härte des Staates am eigenen Leib erfahren sollten.

Der Jurist hatte im Laufe seiner Karriere ausreichend gelernt, persönliche Schicksale von Angeklagten so zu interpretieren, wie es seine berufliche Position von ihm verlangte. Ob als Ankläger, Verteidiger oder Richter. Ana hatte über die Medien von ihm erfahren. Verschiedentlich wurde er als Künstler unter den Paragraphenreitern gelobt. Er sei nicht nur einflussreich, sondern besitze auch die seltene Begabung, Enthüllungsjournalisten, die von einer besonderen Art Jagdtrieb befallen seien, mit gezielten und exklusiven Informationen auf eine bestimmte Fährte zu setzen. Dies führe dazu, dass die Berichte über seine Mandanten meistens tendenziösen Charakter aufwiesen. Wer von ihm betreut wurde, ging vor den Schranken des Gerichts in den meisten Fällen als Gewinner hervor. Wer ihn als Gegner kennenlernte, verlor den Prozess. Zu diesem Schluss war eine linke Wochenzeitung aufgrund sorgfältiger Recherchen und Interviews mit verschiedenen Rechtsexperten gekommen.

»Recht haben, heißt nicht Recht bekommen.« Ana hatte diese Grundregel begriffen. Ihre Karten waren in Rechtsfragen nie gut. Auch heute nicht. Deshalb war Vorsicht angesagt. Sie selber war einfallsreich. Im Laufe ihres eigenwillig geführten Lebens hatte sie gelernt, die ihr angeborenen Begabungen zu nutzen. Sie hatte daraus bestimmte Fähigkeiten entwickelt, die sie zu einer Kämpferin machten. Auch jetzt, wo ihre Kräfte praktisch auf null gesunken waren und das Ende ihres Lebens in spürbare Nähe gerückt war. Ihre erlernten Künste blieben verfügbar. Auch jetzt.

Ana Kämpfer stellte die Rückenlehne ihres Bettes leicht höher, atmete durch. An der Wand ihres Zimmers sprang der Uhrzeiger auf 9 Uhr 46. Augenblicke waren vergangen. In spätestens 14 Minuten erschienen die beiden Pflegerinnen. Ihr Beistand wartete in der Leitung auf eine Entschuldigung. Sie begann ihren Gegenangriff mit weinender Stimme.

»Sehr geehrter Herr Dr von Siebenthal …«

Kämpfer machte eine kurze Pause, so als wirke sie nachdenklich, dann fuhr sie schluchzend fort. »Sie wissen, ich schätze Sie sehr. Ich will niemandem und schon gar nicht Ihnen zur Last fallen. Es ist, wie Sie sagen: Ich habe diese Kosmetikfirma kontaktiert. Und daran gibt es nichts auszusetzen. Das Unternehmen hatte ein großes Inserat in der Zeitung platziert und forderte darin auf, kostenlos Muster zu bestellen. Nichts anderes habe ich gemacht; ich habe telefoniert und bestellt!

Mit Erfolg! Tatsächlich habe ich nach einen Tagen ein Paket erhalten. Die Schwestern können das bestätigen. Aber da kam kein Koffer, wie Sie meinen! Ich bekam ein Sammelsurium an Mustern! Als ich sie ausprobiert habe, reagierte ich allergisch. Mein Gesicht war voller Hautausschläge. Die Packung wurde daraufhin entsorgt. Die junge Praktikantin kann Ihnen das bestätigen.«

Die Patientin hielt kurz inne. Fuhr resigniert fort. »Mit anderen Worten: Dieses Unternehmen testet seine neuen Produkte auf Kosten gutgläubiger Frauen wie mich! Und deshalb, Herr Doktor, gibt es überhaupt keinen Grund, dass Sie sich über mich aufregen. Vielleicht war ja alles bloß ein Missverständnis. Aber es war so. Ärger sollten Sie deswegen bestimmt nicht bekommen. Ich bedaure das sehr.«

Rauschen und leises Knacken in der Leitung. Der Beistand überlegt. »Gut, Frau Kämpfer, wenn das so ist, dann schicke ich denen die Rechnung zurück und lege einen kurzen Brief dazu.« Von Siebenthal entschuldigt sich für seine »energische Reaktion. Sie haben es ja so schon schwer genug!« Abschließend wünscht er der Patientin einen schönen Tag.

Die Schlacht war vorbei! Ana spielte schmunzelnd an ihrer Fernbedienung herum.

***

Von Siebenthal blätterte im Ordner. Im Fall Reg. 10235-A+1 – A. Kämpfer, 19690812 gab es für niemanden etwas zu holen. Lauter Betreibungen, Pfändungsandrohungen und gerichtliche Verfügungen. Außer Schulden und ihrer Krankheit hatte die Frau nichts, was man ihr hätte wegnehmen können.

Der 81-Jährige saß vor seinem Laptop, legte den Ordner zur Seite, sah sich die Rechnung des Kosmetik-Unternehmens nochmals an. Dann tippte Dr iur. Alexander von Siebenthal, A.o. Oberstaatsanwalt (Wirtschaftsdelikte) a.D. die Absenderadresse des Kosmetikkonzerns ab und schrieb diesem komischen Unternehmen aus Frankreich einen kurzen Brief. Dem hilfsbereiten – und für den Versand verantwortlichen – Marketingspezialisten vergingen Sehen und Hören, als er ihn zu lesen bekam!

Tage später. Die Patientin stocherte achtlos mit der Plastikgabel in ihrem Abendmenü. Sie ärgerte sich nicht mehr über den Geschmack ihrer persönlichen Ernährungsberaterin. Was sie als Mahlzeiten für sie zusammenstellte, war fad und geschmacklos. Wie lebte die bloß? Im Fernsehen lief eine Unterhaltungssendung. Gezeigt wurden strahlende Gesichter erwachsener Wunderkinder! Es ging um Leute mit besonderen Verdiensten! Ana Kämpfer kannte einen Teil dieser Art Menschen von früher. Verwöhnte Herrensöhne, Töchter, die im Taumel des Überflusses mit einer Straße Koks in der Nase bei ihr den besonderen Kick genossen.

Damals, als sie ein eigenes Geschäft betrieb, wo sich Einzelpersonen, Paare und ganze Gruppen ihre Träume und Sehnsüchte erfüllen konnten. In Spitzenzeiten hatte sie in ihrer dazu angemieteten Villa bis zu 20 Leute beschäftigt. Meist waren es unterbezahlte junge Angestellte wie Frisösen, Kassierer, Verkäuferinnen, AuPair-Mädchen, aber auch Studentinnen und Studenten, vereinzelt junge Hausfrauen. Letztere, weil sie mit 35 das Gefühl hatten, die wertvollste Zeit ihres Lebens an einen Mann und die Kids vergeudet zu haben. Aber das ging sie nichts an.

Ana hatte sie alle selber rekrutiert. Dabei setzte sie ganz auf ihr Gespür, das sie über die Jahre für andere entwickelt hatte. Wer ihr für mögliche Dienste in ihrem Etablissement besonders auffiel, sprach sie persönlich an. In Bars, auf der Busfahrt, beim Einkauf oder im Wellness.

Je nach Grad ihrer Bereitwilligkeit konnten sie nebenbei eine hübsche Stange Geld verdienen. Am besten bezahlt wurden jene, die die Rollen von Sklavinnen und Sklaven spielten. Sie hatten viel zu ertragen. Wobei die psychischen Erniedrigungen für einige schwieriger waren, als wenn sie grundlos geschlagen, gepeitscht, gefesselt, vergewaltigt oder manchmal auf allen Vieren an Hundeleinen zum Verrichten ihrer Notdurft nach draußen geführt wurden.

Zugegeben, bei besonders hohen Tieren war es manchmal auch umgekehrt. Es gab Leute, die hatten Lust darauf, sich hilflos auszuliefern. Die meisten wurden erst geil, wenn man sie an Balken fesselte, sie beschimpfte, ihnen Ohrfeigen und Fußtritte gab. Doch das waren in der Regel oberflächliche Leute, denen es gelungen war, aufgrund ihrer geordneten Lebensweise die obersten Sprossen der Karriereleiter zu erklimmen.

Machtmenschen mit einem gewissen Tiefgang waren weit schwieriger zu befriedigen. Diese Asse der Gesellschaft! Sie kannten ihre Stärken und Werte und wussten, dass ihnen kraft ihres Daseins alle Türen und erfüllbare Wünsche offen standen. Im Hintergrund zogen sie die Fäden, dass die Puppen tanzten. So, wie sie es bestimmten. Sobald sich eine von ihnen verselbstständigte oder auch bloß auf den Gedanken kam, die Fäden selber zu führen, wurden sie entsorgt und durch neue ersetzt. Lang waren die Warteschlangen und grenzenlos die Bereitschaft, mit zu swingen.

Egomanen, die andere mit Zuneigung entschlüsselten und sie Kraft ihrer Autorität gefügig machten. Diese Meister des Wortes, die auf einem schmalen Grat zwischen Genialität und Wahnsinn balancierten. Ana wusste, dass sie solche Akteure nicht mit gewöhnlichen Diensten abfertigen konnte. Da war weit mehr gefragt als das bloße Reiben an Fleisch! Ana lächelte.

Sie hatte sich wegen solcher „VIPs“ in der Universität extra als Gasthörerin eintragen lassen und verschiedene psychologische Vorlesungen besucht, um zu erfahren, wie mit solchen elitären Menschen umzugehen war. Eine Vorlesungsreihe war besonders hilfreich. Es ging um Empathie. Am Schluss durfte sie sogar bei einem Rollenspiel mitmachen. Sie spielte eine Frau, die ihre Empathie dazu einsetzte, durch andere hindurchzusehen und sie – frei von Gefühl und Zuneigung – spielerisch für ihre Zwecke und Ziele zu nutzen. Plötzlich war sie selber Puppenspielerin und verließ den Hörsaal mit einem Leadership-Zertifikat. Ihre besonderen Führungstechniken wurden darin ausdrücklich erwähnt.

Nachdem sie die Auszeichnung aufmerksam gelesen hatte, warf sie die Urkunde beim Verlassen des Busses achtlos in den Abfallkorb. Dass sie ihre Empathie künftig wie eine Waffe gegen sich oder andere einsetzen konnte, genügte vollkommen. Einen Wisch wie diesen benötigte sie nicht dazu.

Von nun an stellte sie sich auf hochrangige Persönlichkeiten ein: Sie zeigte ihnen gegenüber großen Respekt und behandelte sie, sobald sie sich in ihrem Wirkungs- und Kundenkreis befanden, so, dass sie mit ihren monotonen sozialen und gesellschaftlichen Positionen und Verpflichtungen eine »erfrischende Abwechslung« verspürten. Ana Kämpfer verstand sich gut darin. Sie wurde raffinierter. Bald war sie eine von wenigen, die ihr Metier begriffen. Sehr wenigen. Ana Kämpfer wurde zur Ikone. Nicht von heute auf morgen, aber mit den Jahren und Jahrzehnten.

Amadé hatte Ana nach wenigen Monaten ihrer Bekanntschaft als seine Lebenspartnerin in die Gesellschaft solcher Alphatiere eingeführt. An seiner Seite lernte sie einflussreiche und mächtige Größen persönlich kennen. Kam mit ihnen ins Gespräch. So richtig interessant wurde die Unterhaltung mit ihnen, wenn sich bei Empfängen, Ehrungen, Ausstellungen und Jubiläen die meisten Offiziellen – und allen voran die Medienschaffenden – bereits verabschiedet hatten. In solchen Momenten wurde die Stimmung steifer Veranstaltungen gelöster.

Während sich die besonders pflichtbewusst in Erscheinung tretenden Teilnehmer konform verabschiedeten, blieb Ana genüsslich sitzen. Kurze Zeit später war sie Teil des verbleibenden harten Kerns. Je später der Abend und je mehr in gemütlicher Runde getrunken wurde, umso süffiger wurden die erzählten Geschichten. Oft wurde getuschelt. Sie trank mit, prostete zu, nahm verführerische Posen ein, verbrüderte sich und hörte mit. Manchmal bis in frühe Morgenstunden. Da wurde gewitzelt. Sie erfuhr Geschichten über Leute in höchsten Stellungen und Ämtern aus erster Hand. Dinge, die nicht für die Ohren einer breiten Öffentlichkeit bestimmt waren. Das galt auch für das Verhalten der verbliebenen Trinkkumpane. Das Benehmen trug manchmal ziemlich vulgäre Züge.

Da kam ihr der Gedanke, einen Ort einzurichten, wo man sich ungezwungen treffen und austoben konnte.

Das war nicht so einfach wie gedacht und brauchte Zeit. Beziehungen mussten ins Spiel gebracht werden. Allein das hätte genügend Stoff für ein Buch hergegeben. Jedenfalls hatte sie Erfolg. Als sie zur Einweihungsfeier lud, kamen um die 100 Personen. Négris, ein Stadtrat, hielt eine kurze Rede.

Ana Kämpfer genoss es, in ihren eigenen Gefilden ranghohe Persönlichkeiten beiderlei Geschlechts persönlich empfangen zu dürfen. Am Anfang war es ein gewöhnlicher Treff. In den frühen Morgenstunden ging es immer etwas ausgelassener zu. Ihre Mädchen wussten das. Auch wenn sie selber nicht da war. Aber dass sich daraus eine Art Edelbordell entwickelte, gehörte nicht zum Plan.

Erst als sie merkte, dass auch ranghohe Machtbeflissene ausgefallene Wünsche hatten, und freimütig darüber sprachen, wenn man das nötige Gespür entgegenbrachte, sich auf sie einließ, nahm sie die bestehende Marktlücke wahr. Im Hörsaal der Universität reimte sie sich zusammen, wie sie die heimlichen Begierden erfolgsverwöhnter Player stillen könnte. Von Ausnahmen abgesehen, verzichtete sie auf Hotelbesuche und Begleitungen. Stattdessen kümmerte sie sich vermehrt um VIPs im eigenen Haus. Hörte einfühlsam zu, fragte in vertrauensvollem Ton nach. Dabei lernte sie Schwächen, Empfindungen und geheimste Wünsche ihrer Klienten kennen. Sie sah sich als eine Art Vertrauensärztin, trank mit ihnen und formulierte mögliche Bedürfnisse, die ihre Gesprächspartner glücklich machen könnten. Behutsam, stets wohldosiert erfüllte sie formulierte Sehnsüchte in kleinen Schritten. Um keinen Verdacht über ihr berechnendes Spiel zu erwecken,