Analog daten - L.P. Platte - E-Book

Analog daten E-Book

L.P. Platte

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Beschreibung

Warum erinnern wir uns so gern an die Zeit, als die Bananarama-Girls noch auf Robert De Niro warteten und Vic in LA BOUM von Mathieu träumte? Ganz einfach: Weil wir uns einbilden, dass die Ära kurz vor und nach der Wiedervereinigung noch nicht so kompliziert war wie der verrückte Abschnitt, den wir aktuell erleben. Was hat uns damals in den 80ern und 90ern bewegt? 99 LUFTBALLONS und die AOL-Nachricht SIE HABEN POST zum Beispiel. Oder der coole New-Wave-Look von Boy George und seine Schminktipps in der BRAVO. Aber war früher wirklich mehr Lametta - und können wir den nostalgisch verklärten Bildern, die wir von unserer Vergangenheit kreieren, überhaupt trauen? L.P. Platte wirft in diesem 80s-Kompendium einen humoristischen Blick auf die sogenannte Generation X, die Altersgruppe der 1965 bis 1975 Geborenen, peinliche Schattenseiten inklusive: eine radikal ehrliche Coming-of-Age-Geschichte über das Jungsein und Pop in den 80er- und 90er-Jahren.

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Seitenzahl: 293

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Buch

Warum erinnern wir uns so gern an die Zeit, als die Bananarama-Girls noch auf Robert De Niro warteten und Vic in „La Boum – Die Fete“ von Mathieu träumte?

Ganz einfach: Weil wir uns einbilden, dass die Ära kurz vor und nach der Wiedervereinigung noch nicht so kompliziert war wie der verrückte Abschnitt, den wir aktuell erleben.

Was hat uns damals in den 80ern und 90ern bewegt? „99 Luftballons“ und die AOL-Nachricht „Sie haben Post“ zum Beispiel. Oder der babacoole New-Wave-Look von Boy George und seine Schminktipps in der „Bravo“. Aber war früher wirklich mehr Lametta – und können wir den nostalgisch verklärten Bildern, die wir von unserer Vergangenheit kreieren, überhaupt trauen?

L.P. Platte wirft in dieser humoristischen Fibel einen Blick auf die sogenannte Generation X, die Altersgruppe der 1965 bis 1975 Geborenen, peinliche Schattenseiten inklusive: eine radikal ehrliche Coming-of-Age-Geschichte über das Jungsein und Pop in den 80er-und 90er-Jahren.

Autorin

L.P. Platte ist ein typischer Dorf-Mod. Geboren 1970, wuchs sie auf dem Land auf – zusammen mit gut genährten Kühen, titanblauen Vespas und schönen Prilblumen am Wegesrand. Gefangen zwischen Nato-Doppelbeschluss, Neuer Deutscher Welle, „No Future“ und „Big Fun“ entwickelte sie schon früh eine Sehnsucht nach den Lichtern der großen Stadt. Da sie sich als Teenager nicht auf einen bestimmten Modestil festlegen wollte, machte sie die Bekanntschaft mit fast jeder popkulturellen Szene. So konnte sie in diversen Clubs und Dissen den Habitus der New Waver, Gothics und Punks ebenso studieren wie den der Popper, Yuppies und Dandys. Als Angehörige der „Generation Birne“ hat sie das analoge Daten, Anwanzen und Abfeiern von der Pike auf gelernt und verrät in diesem Buch ihre besten Tricks.

Inhalt

VORWORT: Back to the 80s & 90s – Zurück in deine Jugend

Kleine Diaschau der 80er – Über das Lebensgefühl und die Leute

Beim Dorffriseur um die Ecke – Deine erste Topfkuchen-Frisur

Reiten auf der Neuen Deutschen Welle – oder: Endlich Ferien

Deine „Bravo“-Jahre mit E.T., Nena und Dr. Sommer

Du – gefangen zwischen „Lindenstraße“ und „Schwarzwaldklinik“

Kino, Popcorn und VHS-Kassetten – oder: „Das Leben des Brian“ und dein eigenes

Als der Kajalstift und Boy George in dein Leben kommen

Geile Männer in den 80ern

„Flashdance“ im Kinderzimmer – Deine 80s-Hits von „obercool“ bis „kann weg“

High Fashion – von Mode, Sünden, Menschen und Bodys

Wunderbare Warenwelt: Kaufrausch im Shoppingcenter deines Herzens

Der Punker mit der Ratte in der Disco – oder: Drei Versuche von P.A.R.T.Y. und ein Feeling namens „80s“

OUTRO: Die 80er, das heimliche Jahrzehnt der unvergesslichen Duos, ein Rückblick zum Abschluss

Kleine Diaschau der 90er – Über das Lebensgefühl und die Leute

Keine Party in den 90ern ohne DJ

20er-Jahre sind kein Ponyhof

NACHWORT: Kein geschmeidiger Abgang

VORWORT: BACK TO THE 80S & 90S – ZURÜCK IN DEINE JUGEND

Wir schreiben das Jahr 2024. Du bist ausgebrannt und stehst kurz davor, aus dem Fenster zu springen. Es weihnachtet sehr, jedenfalls draußen vor der Tür, und dein Freund Martin hat dich verlassen. Nach all den vielen gemeinsamen und unglücklichen Jahren – verdammte Beziehungskiste! Du fragst dich, wozu es gut war, dass du so lange mit ihm durchgehalten hast. Martin hat den Absprung gerade noch rechtzeitig vor seiner Vergreisung geschafft, bildet er sich jedenfalls ein, der alte Pflaumen-August. Als unansehnlicher Silberrücken mit ansehnlichem Gehalt und gut dotierter Stelle lebt er seine spätadoleszenten Wechseljahre in vollen Zügen aus und lernt im Sommer Stand-up-Paddling am Comer See mit seiner neuen Flamme, die 15 Jahre jünger ist als er – und mit der er nun auch offiziell liiert ist.

Inoffiziell lief natürlich schon länger was zwischen den beiden. Nun ist es raus, und du begießt dein neues Single-Glück in deiner Freizeit mit deinen Freundinnen, sofern die mal Zeit für dich haben.

Jahrzehntelang hast du auf dem Sonnendeck geparkt, im Speckgürtel der 70er-, 80er-, 90er- und 00er-Jahre, warst in „New York – Rio – Tokyo“ unterwegs oder hast wenigstens mitgegrölt, wenn der Song 1986 im Radio lief, hast wie Vic in „La Boum I“ von Mathieu geträumt, mit den Bananarama-Girls auf Robert De Niro gewartet, gefühlt unendlich viele Mix-Tapes beschriftet und Madonna vergöttert, als die noch wie ein lebendiger und nicht wie ein toter Vamp aussah.

Du warst live vor der Glotze dabei, als Jürgen und Zlatko sich im Big-Brother-Container verbrüderten.

Und du hast dich erfolgreich mit dem aufregenden Liebesleben von Brandon und Brenda aus „Beverly Hills, 90210“ von der Tatsache abgelenkt, dass dein eigenes brachlag. Du hast in den 90ern jedes Wochenende Wiedervereinigung gefeiert und deine knallrot gefärbte „Enie van de Meiklokjes“-Gedächtnisfrisur auf Raves zwischen Berlin-Ost und dem Brandenburger Tor geschüttelt. Die 90er, das Jahrzehnt der „Love Parade“, damals konntest du es noch tragen, dein bauchfreies Top und deinen sichtbaren Tanga. Heute siehst du darin aus wie Elliot, das Schmunzelmonster, auf Speed.

Oder wie eine Bockwurst mit halber Pelle.

Und nun das – Bandsalat auf ganzer Linie. Der „Wind Of Change“ hat sich gedreht, du verstehst die Welt nicht mehr – und hast ein Pfeifen im Ohr, allerdings nicht das von Klaus Meine. Eventuell ist es ein Tinnitus.

Eigentlich, das dachtest du bis vorgestern, bist du immer ein steiler Zahn gewesen, im Herzen jung und modern für dein Alter – auch noch als etwas angejahrte Braut. Sprachtechnisch hast du aufgesattelt und dir das Vokabular der Generationen Y bis Z und Alpha draufgeschaufelt. Du bist psychologisch geschult, hast alle Bücher von Stefanie Stahl gelesen und diskutierst mit deiner Freundin Petra nicht nur über dein inneres Schattenkind, sondern auch über eure kaputten Bindungsmuster, Selfcare und Female Empowerment.

Und du kannst sogar die Sprache der woken Szene einwandfrei übersetzen und weißt, was gemeint ist, wenn Sätze fallen wie dieser:

„Grammatik ist ein kolonialrassistisches Tool von White Supremacy, um BIPoCs zu unterdrücken.“

Diese im ersten Moment komplex wirkende und leicht verklausulierte Wörter-Aneinanderreihung bedeutet nämlich nicht viel mehr als:

„Ihr seid alle Kindermörder und könnt unseren Code nicht knacken, ihr alten weißen OK Boomer! Fi … euch!

Ihr seid schuld an allem, und wir ziehen jetzt andere Seiten auf! Ihr Klimaschänder! Ihr Hedonistenschweine, ihr!

Fi … euch hart, ihr habt auf unsere Kosten gelebt und die Umwelt versaut, ihr … *$*öskhz§x-sd%#!#&☹((:)))!“

Was sollst du machen? Du bist ein Kind der Generation X, vollkommen verwöhnt, gepudert und gepampert, und zwar bloß deshalb, weil du zufällig in den besten Jahrzehnten der Menschheitsgeschichte aufgewachsen bist. Mit allem, was man als Jugendliche so brauchte: viel Freiheit, eine Perspektive und genügend Knete, um dir die Must-haves der 80er und 90er leisten zu können. Zum Beispiel Leggins, rosa-weiße Ringelstulpen und einen Body in Reizhusten fördernden Farben für dein Original-Aerobic-Workout à la Jane Fonda mit 15 anderen weiblichen Teenies in deinem Alter in der Schulturnhalle mit eurer Sportlehrerin, Frau Suhrbier, die zwar nicht wirkte wie ein Superstar aus Los Angeles, dafür aber mit ihrem roten Stirnband und ihrer 80s-Lockenmähne aussah wie der junge John McEnroe im schweißtreibenden Einsatz auf dem Tennisplatz.

Dein Taschengeld hast du außerdem für freshe Jogginganzüge in allen erdenklichen Neonfarben ausgegeben. Die trugst du aber nicht beim Jazzdance, sondern in der Disco – so wie die oberhammerstarken Rapper aus der South Bronx! Und wenn du richtig cool sein wolltest, hast du dich mit deinem Lieblingsparfüm – „Poison“ von Dior, ein Geschenk von Oma Hedwig – eingedieselt, deinen Taillengürtel über den Leggins enger geschnallt und dazu deinen XXXL-Oversize-Blazar mit Schulterpolstern angezogen.

Halt – etwas fehlt noch … Ach ja, drei Kilo schwere Ketten im Stil von Madonna in ihrer „Into The Groove“-Phase hast du dir auch noch übergeworfen – perfekt für eine heiße Schwarzlicht-Nacht in deiner Lieblingsdisse „Manhattan“ mit einem „Blue Martini“ in der einen und einer Fluppe in der anderen Hand.

Ja, du bist eine Durchblickerin, immer am Puls der Zeit, und hast die Vollpeilung in Sachen Mode, Style und Geschmack. Und nun wirst du von den Kids abgestempelt und reduziert auf den Begriff „alter weißer Cis-Mensch“. Ja, ein „Cis-Mensch“ bist du, in diesem Fall wohl ein weiblich gelesener. Deinetwegen auch ein stinknormaler. Aber eine Kindermörderin und Klimaschänderin bist du nicht! Du warst einfach jung damals in den 80er- und 90er-Jahren und hast nicht so viel über alles nachgedacht. Jedenfalls nicht so viel wie die Jugend von heute. Du glaubtest immer, du seist ein guter Mensch, kritisch, linksalternativ und gegen Atomkraft. Aber sich gut zu fühlen, das hat wohl nicht ganz gereicht.

Obwohl du in den 80ern mal an einer Friedensdemo teilgenommen hast, in Berlin-Kreuzberg, einige Jahre vor dem Mauerfall. Daran erinnerst du dich gern zurück. Vor allem an diesen einen Punk mit schwarzer Lou-Reed-Sonnenbrille und lilafarbenem Haupthaar – der war süß! Auch an die Transparente erinnerst du dich. „Stoppt Strauß!“ und „Fahrt zur Hölle, ihr Schweine!“ stand darauf. Du wusstest zwar nicht, welche Schweine gemeint waren, konntest dich aber voll mit den Parolen identifizieren. Vielleicht hättest du aber insgesamt mehr tun müssen für die Umwelt – dich auf die Straße kleben lassen oder so was. Doch dir fehlte seinerzeit noch das echte Problembewusstsein, das Problembewusstsein, das die jungen Menschen heutzutage umtreibt und nicht schlafen lässt – mögen sie nun cis, lesbisch, schwul, bisexuell, queer, transgender oder etwas noch nicht näher Definiertes sein.

Seit die LGBTQIA+-Bewegung auf dem Vormarsch ist, fühlst du dich an manchen Tagen überdurchschnittlich alt, dabei bist du mit Mitte 50 in Deutschland immer noch ein total junger Hüpfer, Stichwort Überalterung.

Und seit der Kulturkampf zwischen links und rechts um das Thema Identitätspolitik so richtig entbrannt ist, bist du etwas vorsichtiger geworden. Du machst in der Öffentlichkeit keine politisch unkorrekten Witze mehr, lachst nicht über die Altherren-Kalauer deines blöden Chefs und posaunst deine Meinung nicht mehr an jeder Ecke heraus. Die Zeiten, als in deutschen Talkshows noch kontrovers diskutiert wurde und Tische mit dem Beil zerhackt wurden, sind schließlich vorbei. Und wohin es führt, wenn alte weiße Cis-Menschen sich zu weit aus dem Fenster lehnen, lässt sich ja an Männern wie Richard David Precht und Markus Lanz beobachten.

Precht wurde noch vor ein paar Jahren als kritischer Kopf, eloquenter Philosoph und Traum aller Frauen hoch gehandelt – und ist aktuell, glaubt man der Jugend von heute, ein verkappter Nazi und Antisemit. Same same mit Lanz: Der galt in den 90ern als ein aufstrebendes Synthiepop-Talent, als er seinem Vorbild Giorgio Moroder nacheiferte und aus Protest gegen die französischen Kernwaffentests auf Mururoa unter dem Namen Le Camembert Radioactif die Single „F…! Chirac“ aufnahm. Lanz hatte den Song zu Hause produziert.

Anschließend mischte er die Republik ab 1992 mit der Sendung „Explosiv – Das Magazin“ auf, die dem Privatsender RTL satte Quoten bescherte. Leider war der gebürtige Südtiroler bis 2006 mit seiner Kollegin Birgit Schrowange liiert. Die beiden galten als Traumpaar der deutschen Moderatorenszene. Insgeheim träumten viele Mütter aber weiter von diesem entzückenden Charmebolzen und Kavalier der alten Schule. Und auch Jüngere schmachteten ihn an, sah er doch noch besser aus als Roger Moore, Timothy Dalton und Pierce Brosnan zusammen, also besser als James Bond!

Ach, ja, die gute alte Zeit!

Früher war einfach alles besser und klar aufgeteilt: Rechts die Nazis, in der Mitte die Spießer – und links davon du und deine Freunde, immer ausgestattet mit ein paar Joints.

Und diese dicken Dübel habt ihr dann durchgezogen, bevor die Party richtig losging.

Heute ist die Tüte, nicht nur die aus Plastik, ein Relikt von vorvorgestern, und du musst dich dafür schämen, dass dein Leben einmal wild und aufregend war und du deinen Körper mit Qualm und ein paar harmlosen Drogen vergiftet hast – so, wie du ja auch die Natur mit deinem Müll permanent verpestet hast, du alte Umweltsau.

Heute ist alles so verdammt kompliziert geworden, nicht nur die Sprache der woken Szene. Gottschalk ist raus aus dem Entertainment-Game, und „Wetten, dass..?“ gibt’s nicht mehr. Es hat sich ausgewettet.

Du hängst nicht mehr im Frottee-Anzug mit Papa und Mama vor der Glotze ab. Es gibt keine sexistischen „Tutti Frutti“-Shows mehr, in denen barbusige Gazellen um Hugo Egon Balder herumturnen. Und du hast neulich in einer extrem melancholischen Stunde deinen geliebten Sony-Walkman in den Keller getragen. 1986 war dieses hotte Teil der letzte Schrei! Heute lachen die jungen Leute dich aus, wenn du in der Muckibude mit diesem schweren Gerät anrückst, das noch aus dem Zweiten Weltkrieg stammen könnte.

Ach ja, und in Talkshows wird nicht mehr gequarzt, bis der Arzt kommt. Auch du hast das Paffen mittlerweile aufgegeben, nachdem deine junge Redaktionskollegin Lea – Ressort „Krise und Zweifel“ – dich angeschaut hat wie einen Junkie, als sie draußen an dir und den anderen Creeps in der Raucherecke vorbeilief.

All die Dinge, die dir früher Freude bereitet haben, sind heute verboten oder werden im Zeitalter der Selbstoptimierung zumindest scharf geächtet – Wurst essen, Auto fahren, angeben –, mit anderen Worten: Spaß haben, bis zum Umfallen, das gibt es nicht mehr.

Stattdessen wird großspurig über „Awareness“ palavert, über „Opfer-Narrative“, „CO2-Bilanzen“, „Fakeprofile“, „Kryptobörsen“, „Superfood“, „Vloggerinnnen“ und „Ambiguitätstoleranz“ … Ambiguitätstoleranz? What? Was soll das denn sein?

Du fragst ChatGPT, und die KI antwortet:

„Die Fähigkeit einer Person, mit Mehrdeutigkeit oder Unklarheit umzugehen. Es bedeutet, dass jemand in der Lage ist, verschiedene Perspektiven zu akzeptieren, auch wenn sie widersprüchlich sind. Eine hohe Ambiguitätstoleranz ermöglicht es einer Person, flexibel zu denken und offen für neue Ideen zu sein.“

Zack – da hast du es doch schon wieder! Flexibel und offen – an dieser sogenannten Ambiguitätstoleranz sollte die Jugend von heute sich endlich mal ein Beispiel nehmen, findest du. Die Kids sollten nicht immer so engstirnig und humorlos auf die Alten starren und sich selbst mal an die eigene Nase fassen!

„Awareness“ … Wenn du das Wort hörst, stellst du den Fernsehapparat aus – ja, du hast noch einen – und wünschst dir spontan den sauren Regen und sämtliche Atomkraftwerke zurück. Was waren das doch für herrliche, ausgelassene und glückliche Tage, damals in den 70er-, 80er- und 90er-Jahren des vergangenen Jahrtausends. Damals, als du qua deines Amtes als Teenager hauptberuflich damit beschäftigt warst, dich an deiner verspannten Coolheit zu erlaben. Du im New-Wave-Look der 80er mit zu viel Kajal und Abdeckstift im Gesicht.

Und dann diese vergnügten 90er! Dieter Thomas Kuhn trug stolz sein Brusthaartoupet zur Schau, und dein Haupthaar sah noch nicht aschgrau aus. Klar, deine persönliche CO2-Bilanz war mies, und du hast dich von Fünf-Minuten-Terrinen ernährt: „Kartoffelbrei mit Klößchen“, fast täglich. Aber ansonsten warst du fast ein Hippie, ein Blumenkind, zumindest ein Prilblumenkind, denn du bist in den 70ern aufgewachsen – und hast fast ausschließlich von Luft und Liebe gelebt.

Klar, auch ein paar ungesunde Substanzen haben sich daruntergemischt, in den 90ern war das ganz normal, aber das erzählst du dem Nachwuchs lieber nicht.

Zu beneiden sind sie nicht, die Kids. Dir wird flau im Magen, wenn du an ihre Zukunft denkst und dir wieder einmal das Geschwafel im Fernsehen anhörst: Von „multiplen Krisen“ ist da die Rede, von „hybrider Kriegsführung“ und „Milliardenlöchern“ ...

Andererseits war es in den 90er-Jahren auch nicht viel besser. Da wurde über „Kollateralschäden“, „Wohlstandsmüll“ und ein „sozialverträgliches Frühableben“ diskutiert. Oder über „Besserwessis“, „Politikverdrossenheit“, „Überfremdung“, den „Reformstau“ und das unheimliche „Millennium“ … Und auch in den 80ern gab es schon ein paar Probleme – „AIDS“, „Glykol“, „Tschernobyl“ und die fiese „Ellenbogengesellschaft“ zum Beispiel. Oder „Geisterfahrer“ und „Grüne“.

Kurzer Einschub für die Kids: Die Grünen gründeten sich am 13. Januar 1980 und entstanden als ein Zusammenschluss eines breiten Spektrums an seltsamen Spezies.

Dazu zählten etwa körnerkauende Müslis, Strickpulli tragende Grüffelos, langhaarige Bombenleger, Turnschuh tragende Ökos, Taxi fahrende Fischers, friedensbewegte Petra Kellys und ihr Anhang: die in der Fußgängerzone ansässige Kelly Family.

Und, ja, natürlich gehörte zu den Gründungsvätern auch der Alt-Kommunarde und Apo-Opa Rainer Langhans, den die Kids von heute noch live aus der RTL-Kommune Dschungelcamp kennen: Der Rainer – das war dieser possierliche Lustmolch, der sich mit seinen ergrauten Engelslocken geschickt an die jungen Küken im Camp, zum Beispiel an Sarah „Dingens“ Knappik, heranwanzte – und zwar mit tiefenesoterisch fundiertem Deep-Talk der Marke „Orakel von Delphi“. Davor lebte der Rainer übrigens ebenfalls in einer Wohngemeinschaft: In der sogenannten „Kommune 1“ schulten er und Uschi Obermaier sich in den 60er-Jahren gemeinsam in den deutschen Königsdisziplinen „Freie Liebe für alle“ und „Labern, bis der Letzte umfällt“. Diese WG, die sogenannte K1, gilt als Wiege aller Revoluzzer und ist ein Vorbild für spirituell Erleuchtete und alternative Hippies, wie es die Grünen bis heute sind – auch wenn sie nicht mehr aussehen wie Rainer oder Catweazle, sondern wie Robert Habeck, also wie der Liebling aller Schwiegermütter in spe.

Aber zurück zum Thema, also zurück zu dir und dem Scherbenhaufen, vor dem du stehst. Tatsächlich bereiten die Nachrichten dir täglich mehr Unbehagen. Auf weltpolitischer Bühne geht es ums Ganze, nämlich schon wieder um die Wurst.

Wenn du an das miese Klima auf diesem Planeten – auch an das unter den Leuten – denkst oder an den Mann mit den gelben Haaren und seinen Kumpel, Karate Kid aus Moskau, und wenn du deine privaten Probleme obendrauf packst, kriegst du spontan Windpocken.

Mit Beginn des Ukraine-Krieges bist du „in einer neuen Welt aufgewacht“, in einer Welt, die scheinbar verrückt geworden ist. Olaf Scholz nannte es die „Zeitenwende“ – du nennst es Zombie-Apokalypse. Walking Dead – jetzt auch in echt und nicht nur auf dem Bildschirm.

Fuck, haben wir Menschen nicht mehr alle Latten am Zaun – oder nur einige von uns?

Das fragst du dich. Und: Kann man da helfen – oder lässt man es besser bleiben?

„Zeitenwende“ ... Kleiner hat er es nicht, der Olaf. Aber irgendwie hat er ja recht. Auf einmal geht es um alles, Aufschieberitis ist nicht mehr. Und doch tun immer noch die meisten so, als gäbe es kein Morgen, vor allem die bösen alten Cis-Männer, denen in der aktuellen Situation nichts Besseres einfällt, als die Erdenbewohner mit Bombenterror in Atem zu halten. Aufrüstung! Auch so ein gefürchtetes Wort aus den 80ern – und nun ist es wieder da! Gäbe es all die doofen Frisurensöhne wie Donald „I don’t give a damn“ Trump und seine Brüder im Geiste nicht, dann hätten sich die Nationen doch längst zusammengerauft und aufgeräumt mit all dem Murks der vergangenen Jahrzehnte. Oder etwa nicht?

Jetzt ist es kurz vor zwölf, und du musst dich nicht nur ums Klima sorgen, sondern auch um deine Freiheit, die Freiheit der Rede und die Freiheit, das zu tun, worauf du gerade Bock hast, zum Beispiel auf dem Klo zu sitzen und in der Nase zu popeln. Oder Blue Curacao zu schlürfen, bis dir schlecht wird.

Das hast du nämlich neulich mit deiner besten Freundin Petra getan.

Ihr habt ein New-Wave- und Punk-Festival besucht, auf dem du einige deiner alten Weggefährten wiedergetroffen hast. Ja, mit Betonung auf „alt“. Einige waren mit dem Hörgerät angereist. Ein paar schleppten sich mit Hüftbeschwerden in den Moshpit, in dem keiner es wagte, den anderen auch nur anzurühren, geschweige denn neckisch anzurempeln. Denn so was macht man einfach nicht mehr als Ü50er – zu groß ist das Risiko, bei unüberlegten Aktionen einen Bandscheibenvorfall zu erleiden.

Auch ein Zeichen von Überalterung: Die meisten Männer, die während des Konzerts vor dir standen, hatten graue Haare oder gar nichts mehr am Kopf.

Sogar die heißen Feger von früher sahen irgendwie beige aus, haben Petra und du festgestellt.

Draußen vor der Tür wurde in den Pausen nicht mehr so viel geraucht wie früher und weitaus weniger Hochprozentiges herumgereicht. Aber ihr habt trotzdem mit diesem pampigen Likör aus eurer Jugendzeit angestoßen: Blue Curacao forever! Forever young! Yeah!

Blue Curacao funktioniert auch ohne Schwarzlicht-Disco, und das Rezept ist denkbar einfach: Hopp-hopp, rin innen Kopp! Anschließend sehr gute Gefühle und nur noch beglückende Jugenderinnerungen, Glatze hin, Schorfkopf her. Und am nächsten Morgen dann Migräne, bis der Arzt kommt. Ein Kopf wie eine Beule.

Schädel-Hirn-Trauma auch ohne wilde Moshpit-Action. Ein Leben am Tag danach, am Tag nach dieser Nacht, war für dich nur aus dem horizontalen Blickwinkel möglich. Du lagst angeranzt auf dem Sofa und hast dir in der Glotze eine 24-stündige Doku über den Untergang des Römischen Reiches angeschaut. Ein anderes Programm war nicht drin. Du warst zu schwach, um die Fernbedienung in die Hand zu nehmen. Stattdessen hast du dir ein paar Fragen gestellt: Sollte eine Frau weit jenseits der 40 selbstbewusst zu ihrem anerkannten Status als Ü49-Riot-Grrrl stehen? Oder sollte sie den pampigen Blue Curacao endlich von ihrer Lebensmittel- Liste streichen und nie wieder ausgehen?

Am Ende eines langen TV-Tages hattest du keine Antwort auf diese kniffeligen Fragen. Cäsars Reich lag in Trümmern, und dein Magen war übersäuert. Das gab es früher noch nicht – in den 80ern oder 90ern.

Migräne hin, Murks her – die Party mit Petra und den Veteranen der coolen 80s-Szene hast du jedenfalls genossen. Sogar Doc Pferdeschwanz war dabei, ein alter Haudegen der allerersten Stunde. Dieser Typ schaut immer noch so aus wie vor mehr als 30 Jahren – nur „in Alt“. Für seinen großen Punk-Festival-Gala-Auftritt hatte er sich wie anno dazumal in Schale geworfen und sah aus wie eine Mischung aus Robert Smith von The Cure und einem Mitglied der Band KISS: ganz in schwarze Stoffe gehüllt, mit Plateauschuhen bis zum Himmel, dazu weiße Schminke, fett Kajal um die Augen und oben am Kopf eine schwarzgefärbte und maximal hochtoupierte Matte bis zum Neptun. Voll krass, dieser Mann!

Früher, als du noch jung warst, hast du heimlich für Doc Pferdeschwanz geschwärmt. Heute – er ist ungefähr zehn Jahre älter als du – passt er leider nicht mehr in dein Beuteschema.

Was Doc jobtechnisch macht, konntest du bereits in den 80ern nicht in Erfahrung bringen. Du vermutest, dass er hauptberuflich als Gesamtkunstwerk agiert – eine Art lebendes Monument, das seine Kumpels daran erinnert, dass alle mal jung waren – damals in den 80ern.

Womöglich hat diese Koryphäe, dieses Fossil der schwarzen Wave-Szene, sein Outfit seit mehr als 40 Jahren nicht gewechselt. Vielleicht ist Doc Pferdeschwanz sogar mit seinen Klamotten verwachsen, vermutest du, konntest gestern Nacht, als er vor dir an der Theke stand, aber keine olfaktorischen Beweise für deine These sammeln.

Nein, gemüffelt hat er nicht – ein Indiz dafür, dass er seine Gewandung nach jedem öffentlichen Auftritt wieder auszieht, was keine Kleinigkeit ist. Du selbst würdest lange brauchen, um so ein aufwendiges Mode-Statement à la Doc Pferdeschwanz präsentieren zu können: Haare hochtoupieren und gegen die Gesetze der Schwerkraft ankämpfen (= 3 Stunden Arbeit), schminken (= 2 weitere Stunden), den geilen Fummel so lange drapieren, bis alles sitzt (= noch mal 2 Stunden).

Dann die Plateauschuhe anschnallen, was ohne fremde Hilfe fast unmöglich ist. Und schwuppdiwupp ist ein Arbeitstag vorbei und bald schon wieder Ostern.

Was die Vorbereitung für so einen Abend angeht, kommt also einiges zusammen, rechnest du hoch. Doch das kennst du ja selbst noch von früher – die Gothic-, Punk- und Wave-Szene war schon immer hauptamtlich damit beschäftigt, sich so lange modisch herzurichten, bis der abgerockte Straßenlook im angesagten Gossen-Style endlich wirkte wie echt, also so, als sei man gerade erst aufgestanden oder aus dem Bett gefallen. So, als sei es einem völlig egal, was die anderen über einen denken. Wohl wissend, dass man aussieht wie der allerletzte Henker. Oder wie eine Leiche aus einem alten Hammer-Retro-Movie, eine Gestalt wie aus „Die Nacht der lebenden Toten“ oder „Der Satan mit den langen Wimpern“, wie ein Zombie, der gerade erst – und nicht schon vor mehr als acht Stunden – aus seiner Gruft gekrochen ist.

Du bist froh, dass Petra und du euch endlich mal wieder in die Zeitmaschine gesetzt und den „Time Warp“ gemacht habt: Ihr wart gemeinsam auf dem Trip „Back to the 80s“ und habt später auf der Tanzfläche zu Gassenhauern von Depeche Mode, den B-52’s, Kraftwerk, Talking Heads und New Order abgespackt. Auf lahme Ausdruckstänze habt ihr dabei dankend verzichtet, ihr seid ja schließlich keine Popper, auch keine sterbenden Schwäne, sondern zwei hotte Feger in den besten Jahren. Und darum habt ihr ein paar phatte Sex-Pistols-Moves aufs Parkett gelegt, Motto: „Anarchy, nicht nur in the U.K.“

Aber jetzt zurück zum Thema, zum Clash der Generationen: Die Kids sind sauer auf deine Generation, die „Generation Celebration“, die Generation mit dem X hintendran, die Generation, die einst mit saucoolen Spontisprüchen um die Ecke kam:

„Ich geh kaputt, wer kommt mit?“

„Ob Eltern oder keine, entscheiden wir alleine!“

„Keine Macht für Niemand!“

„Gott ist tot – und du lebst auch nicht mehr lange.“

„Alle wollen zurück zur Natur, nur nicht zu Fuß.“

„Wozu Atomkraft? Bei uns kommt der Strom aus der Steckdose!“

„Lieber krank feiern als gesund arbeiten.“

„Außer Tresen nichts gewesen.“

Und: „Ouzo statt Juso!“

BÄHM! Alles kein Vergleich zu den weichgespülten Phrasen, die heute durch die Umlaufbahn kreisen und mit denen junge Leute demonstrieren wollen, dass sie den Durchblick haben:

„Mama, du bist mein Habibi!“

„Boa, Mutsch, mein Lehrer triggert mich so hart.“

„Ich fühl den Song!“

Oder: „Dein Vibe war gestern nicht der beste, no front.“ Boah, nee, dieser Sprech ist dir zu wischiwaschi, trifft nicht des Pudels Kern und reicht deiner Meinung nach nicht an die alten Retro-Sprüche ran, die du in den 80er-Jahren am laufenden Band rausgehauen hast.

Du vermisst den rauen Humor und die offenen Diskussionen von früher und findest die Debatte um kulturelle Aneignung albern und scheinheilig.

Welche Karnevalskostüme darf man denn noch tragen, wenn es ab sofort untersagt ist, sich als Vertreter einer gesellschaftlichen Minderheit zu verkleiden?

Auch Darth Vader gehört schließlich einer Minorität an und wird von den meisten hart gedisst, OBWOHL er ein Beatmungsgerät trägt. Auch Superschurken und-bösewichte bilden eine Randgruppe und sind doch irgendwie Opfer.

Diese neue Denkweise verstehst du einfach nicht, denn du bist ein Kind der Freiheit und Toleranz, du bist ein Punk im Geiste. Und du warst mal ein Dorf-Mod, zwischendurch sogar ein Gothic-Girl – und all das konntest du unter einem einzigen Dach oben in deinem Oberstübchen miteinander vereinen, ohne schizophren oder verrückt zu werden.

Und nun das – dieses ständige Rumgekasper um sensible Befindlichkeiten. Soziologen nennen es „Paradigmenwechsel“. Du nennst es „das Ende der Menschheit (as we know it)“. Und du denkst an früher. An den durchtrainierten Alabasterkörper von Martin, als der noch 25 war. An seine „Magnum“-Phase, als er nur noch Hawaii-Hemden und enge Jeans trug, sich fühlte wie Tom Selleck und sich einen Schnubbi stehen ließ, der beim Küssen immer so angenehm pikste.

Ach, die 80er. Rise and Fall … Die Bilder fliegen in Zeitlupe an dir vorbei: Du, das coole Mädchen mit Vokuhila-Frise. Und was gab es für dich als Jugendliche nicht alles zu bestaunen? Die Stones im Niedersachsenstadion. Friedensbewegte Aktivistinnen. Hausbesetzer in Schlaghosen. Punks in unabhängigen Jugendzentren. Männergruppen. Ökos. Popper, Waver, Gruftis, Mods, Teds und Dandys. Nena, als sie noch nicht zum Schwurbel-Lager gehörte. Und dann der Hamburger Jahreszeiten Verlag, der 1986 das Zeitgeist-Magazin „Tempo“ herausbrachte. Irgendwann kiffte man nicht mehr so oft und entdeckte andere interessante Drogen: Die 90er gingen los.

„The Times they Are A Changin’“, kommt es dir frei nach Bob Dylan in den Sinn. Und auch aktuell steht wieder eine Veränderung für dich auf der Agenda. Du musst – wie man so schön sagt – noch mal von vorne anfangen, ohne den doofen Martin. Die Karten haben sich neu gemischt. Mit Mitte 50. Gibt es ein Leben als alleinstehende alte Frau – und wenn ja, wie viele?

Zum Glück geht es den anderen um dich herum auch nicht besser. Einige deiner Freunde halten krampfhaft am Alten fest und leben konsequent rückwärtsgewandt, andere bleiben permanent in ihren Gedankenschleifen hängen. Ein paar hat die kalte Wut gepackt – und nur wenige haben ihr „inneres Gleichgewicht“ gefunden.

Der einzige gemeinsame Nenner ist, dass jeder anders mit seinen Miseren umgeht.

Wenn du das Schicksal der meisten anderen mit deinem eigenen vergleichst, hast du aber immer noch einen Sechser im Lotto gezogen. Und weil du neulich in der Apotheken-Umschau gelesen hast, dass die mittleren Jahre ein „Game Changer“ sind, fängst du heute noch damit an, dein Leben aufzuräumen.

Als Erstes wirfst du darum die ollen Sachen von Martin weg – und findest ganz unten im Schrank ein altes Fotoalbum ... Ja, so was gab es früher noch, ganz analog und zum Anfassen!

Du schaust rein – und bleibst spontan hängen.

Du machst Musik an – was aus den 80ern und 90ern –, deine Lieblingsplaylist mit dem Titel „Jugendsünden“: Boy George (damals ein woker Typ, heute etwas durchgescheppert), Human League („Don’t You Want Me“ war deine Einstiegsdroge in den Synthiepop), Red Hot Chili Peppers (einfach legendär – Anthony Kiedis im „Under The Bridge“-Video), Underworld („Born Slippy“ – der Soundtrack zu „Trainspotting“), Oasis („Don’t Look Back in Anger“ passt zu deiner aktuellen Situation), Echt („Du trägst keine Liebe in dir“ passt ebenfalls dazu) und Jennifer Rush („Ring Of Ice“ passt wie Arsch auf Eimer zu deiner Stimmung).

Du denkst an früher, an diese glorreiche Ära, als in den Clubs noch geraucht wurde und „etwas trinken gehen“ nicht gleich Komasaufen hieß.

Los ging der wilde Ritt in den 70ern. Die Impressionen rauschen an dir vorbei: mit Oma Hedwig beim Dorffriseur, deine erste Topfkuchenfrisur! Deine erste Barbie – sie hieß Petra wie deine beste Freundin, und sie sah auch so aus. Und dann ihre Nachfolgerin, die einzig Wahre, deine Utopie in Pink, „Pretty in Pink“, sie brauchte keinen Namen, kam ganz ohne einen klar: Barbie. Einfach nur Barbie. Barbie und Ken – fertig!

Und dann deine ersten Sea Monkeys – die Urzeitkrebse wurden lebendig, sobald man etwas Pulver ins Wasser kippte, Wahnsinn! Ferien an der Nordsee mit deinen Cousinen! Deine ersten Chucks! Die bombastische Traumhochzeit von Prinz Charles und Prinzessin Di – am Ende war sie bloß ein Fake, aber das Wort kannte man in den 80ern zum Glück noch nicht.

Der hammerharte Aufschlag von Bumm-Bumm-Becker! Dein erster Sony-Walkman! Blümchen! Dein erstes Handy! Lava-Lampen und 3D-Brillen! Sonnenfinsternis, die Angst vorm großen Computercrash, die Euro-Einführung und die Jahrtausendwende!

Rumms – einmal reingerutscht in die Nullerjahre, die neue Zeit, die Zukunft!

Und immer noch ging es dir verdammt gut!

Schön, dass es so was wie Nostalgie gibt, denkst du, und freust dich über die kostenlose Möglichkeit, dir eine möglichst gute Zeit in der Gegenwart zu machen: mit warmen Gedanken an längst Vergangenes.

Du kommst ins Sinnieren. Einen großen Vorteil hatte es, in den 80ern – ganz ohne Handy und völlig analog – aufzuwachsen. Es gab noch keine Klagen über die „verlorene Zeit“, also die Spanne, die du heute täglich am Display verdaddelst. Das Smartphone gab es 1980 noch nicht. Heute hindert dich deine „Alles-jetzt-sofort-Maschine“ allzu oft daran, ein erfülltes Dasein zu führen, ein Leben, wie du es dir zurückwünschst: entschleunigt, weniger zeitfressend und verdichtet, einfach gemächlicher – und ja, deinetwegen auch etwas langweiliger, als du es gewöhnt bist. Denn wer dauernd am Handy hängt, erlebt weniger „Come together“-Momente und ist am Ende ein armer Tropf.

Trotzdem – das nennt man in der Psychologie „kognitive Dissonanz“ – hast du dein Gerät ständig dabei und schaust zwischendurch, wenn dir langweilig ist, was Heidi Klum und Ryan Gosling beim Internationalen Filmfestival in Cannes so treiben, in welchen geilen Fummeln sie gewandet sind und welche krassen Moves sie auf dem roten Teppich vollziehen.

Ja, du lässt dich nur allzu gern ablenken von der Gegenwart. Und darum legst du dein Handy jetzt zur Seite und kramst ganz analog in deinen alten Sachen rum.

Hilfe, deine alten Tagebücher, da liegen sie in der Kiste!

Du fängst an, darin zu blättern. Was für eine krakelige Schrift du doch hattest. Als Pubertierende hast du die Schönschrift deiner Freundin Marlene kopiert. Du hast nicht nur sie und ihren Style, sondern auch ihre Schrift plagiiert. Du hast so vieles in dieser Phase kopiert – und dabei kanntest du „Windows“ noch gar nicht. Und hinterhergekommen bist du trotzdem nicht! Denn Marlene war einfach viel cooler als du. Und sie hatte sogar schon einen festen Freund, auch so eine Sache, nach der du lange suchen musstest … Bis du Martin entdeckt hast. Oder er dich. Und ihr dieses On-Off-Ding gestartet habt. Dieses toxische Ding, das dich an ihn gebunden hat – so wie Frodo an den Ring der Macht gebunden war.

Irgendwann warst du offensichtlich fast erwachsen, Anfang der 90er-Jahre, als Grunge plötzlich als heißer Scheiß gehandelt wurde. Du denkst an deinen großen Schwarm von damals, Stefano Strohfeuer, ein verträumt wirkender Typ mit Eddie-Vedder-Gedächtnisfrisur.

Einer, der mit federndem Gang über die Straße lief, während seine Locken dazu lässig im Takt wippten.

Heute bringen langhaarige Bombenleger deine Hormone nicht mehr in Wallung und dich nicht mehr aus der Façon. Du bist froh, dass du nicht mehr 20 bist.

Oder 22. Denn dein jugendliches Ich war immer sofort „on fire“ und nicht mehr zurechnungsfähig, wenn es etwas Schönes zu entdecken gab.

Glücklicherweise gab es auch abseits von jungen Männern noch ein paar tolle Sensationen.

Geile Gerüche etwa wie der Lagerfeld-Duft, mit dem in den 80er-Jahren jede Disse von Wanne-Eickel bis Unterstinkenbrunn durchseucht war.

An erster Stelle war es aber die Musik, die du in den 80er-Jahren geliebt hast. Und deshalb drückst du jetzt noch einmal die Repeat-Taste auf deinem angejahrten CD-Player und holst zur Feier des Tages deine alten Kassetten aus dem Schrank. Sie sind etwas angestaubt, aber dein Gettoblaster ist noch da … Ja, Ghettoblaster wird jetzt auch manchmal ohne H geschrieben, Stichwort: Rechtschreibreform 1996.

Zurück auf Anfang – klappt das auch im echten Leben? Oder ist die Repeat-Taste nicht kompatibel mit deiner Realität? Du hast sie leider noch nicht gefunden, diese Taste, und du weißt auch nicht, ob du sie überhaupt drücken würdest, hättest du die Möglichkeit dazu.

Noch einmal alle Jugendsünden von vorne durchleben und -leiden? Wäre das paradiesisch oder die Hölle auf Erden?

Wahrscheinlich würdest du dich wie Carrie Bradshaw im „Sex and the City“-Vorspann fühlen. Wie sie würdest du stolpern, deinen großen Auftritt wieder vermasseln und dann auch so verdattert wie sie dreinschauen und dich fragen: Was macht Mr. Big eigentlich … Was macht der Martin wohl gerade? Und was wäre, hättet ihr beide in bestimmten Situationen anders gehandelt, als ihr es getan habt?

Du schaust dir die Bilder im leicht vergilbten Fotoalbum an, und dir deucht: Es gibt verschiedene Möglichkeiten, mit verfahrenen Situationen umzugehen. Man kann sie anprangern wie in den 60ern. Man kann sie wegkiffen wie in den 70ern. Man kann sie ignorieren wie in den 80ern. Oder man tanzt sich so lange um den Verstand, bis man endlich glücklich ist, wie in den 90ern.

Gute Lösungen sind das nicht, findest du. Trotzdem bist du der Meinung, dass die Zeit vor der Wiedervereinigung irgendwie noch nicht so kompliziert war wie der verrückte Abschnitt, den du heute erlebst.

Stimmt es, dass früher mehr Lametta war? Du suchst nach Antworten und blätterst in deinem alten Poesiealbum ... Einmal zurück in die Vergangenheit, los geht die flotte Zeitreise.

KLEINE DIASCHAU DER 80ER – ÜBER DAS LEBENSGEFÜHL UND DIE LEUTE

Die 70er waren schon toll – geht es überhaupt noch besser? Versonnen denkst du an deine Kindertage zurück, an die bunten Kittel und Kopftücher, die die Frauen damals trugen, an braun-gelb-grüne Tapeten, gelb-braun-pink gemusterte Rollkragenpullis, fetzige Schlaghosen und an die grün-gelb-weißen Prilblumen, die du in eurer Küche an die Fliesen geklebt hast.

Du erinnerst dich gern an eine Zeit, als es im Fernsehen nur drei Programme gab, denn deiner Meinung nach reichten die ZDF-Hitparade, „Dick & Doof“ und „Die Waltons“ vollkommen aus. Gelangweilt hast du dich nie, denn als Dorfkind gab es für dich vor der Haustür genug zu entdecken, obwohl es im Ort nur einen Bäcker, einen Friseur und einen Dorfkrug gab.