Anastasia McCrumpet und das Geheimnis der launischen Lagune - - Holly Grant - E-Book

Anastasia McCrumpet und das Geheimnis der launischen Lagune - E-Book

Holly Grant

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Beschreibung

Lies weiter – wenn du dich traust!

Nach ihrer abenteuerlichen Flucht vor Prim und Prude und dem hinterhältigen Club der Kinderfänger freut sich Anastasia McCrumpet auf Ferien von Gefahr und Gegrusel. Leider bekommt sie die nicht. Denn ruckzuck entführen ihr Onkel und ihre Tante sie in eine Welt unter der Erde – eine Grotten- und Lagunenwelt, die noch viel mehr Überraschungen bereithält. Zum Beispiel die, dass hier ihre Familie lebt. Dass ihre Familie eine Königsfamilie ist. Und dass sie in einen jahrhundertealten Skandal verwickelt ist, der mit dem Verschwinden von Anastasias Großvater begann. Gemeinsam mit ihren Freunden Ollie und Quentin und einer tollpatschigen Fledermaus stellt sich Anastasia tapfer den Geheimnissen der launischen Lagune.

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Seitenzahl: 317

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Holly Grant

Illustrationen von Josie Portillo

Aus dem Englischen von Ursula Höfker

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1. Auflage 2016

© 2016 by Holly Grant / Josie Portillo

Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem

Titel »The League Of Beastly Dradfuls – The Dastardly Deed«

bei Random House Childrens Books, New York

© 2016 für die deutschsprachige Ausgabe

by cbt Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Aus dem Englischen von Ursula Höfker

Umschlagillustration: Josie Portillo

Umschlaggestaltung: init / Kommunikationsdesign, Bad Oeynhausen

SK · Herstellung: AnG

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-18274-8V001www.cbt-buecher.de

Dieses Buch ist für ALEX,Stern für Stern,sowie fürGRAYSON und GRANT,Marshmallow-Keks um Marshmallow-Keks.

Inhalt

Marshmallow-Kekse

Den Sternen folgen

Das Geheimnis des Käsehändlers

Die Sternenstaubhöhle

Die Kristallkrone

Die königliche Toilette

Nirgendwo Bestimmtes

Sir Wundermopp

Die große Bananenkatastrophe

Die Pettifog-Akademie für leicht beeinflussbare junge Gehirne

Die Niederträchtige Tat

Der Immerwährende Krieg

Verstehe deinen Feind

Sechzigtausend Meilen reine Freude

Das Windbeutel-Debakel

Ein Königinnengeheimnis

Die neue Mission der garstigen Ungeheuer

Das Mädchen im Spiegel

Wie man Kuchen isst

Trockenbrot & Trockenbrot Spieldosenhandlung

Die Arie der Gorgo

Der Donut-Mond

Das große Mäuseorchester

Das Geburtstagsleuchten

Bettwanzen

Flaschenpost

Der Traumdoodle

Das Geburtstagstortenwunschgesetz

Suchet, so werdet ihr finden

Du und deine Perücke

1

Marshmallow-Kekse

Jede astreine Flucht verlangt Schneid, Köpfchen und Tapferkeit. Mit etwas Glück kann man dann auch noch die Annehmlichkeiten eines verlässlichen Fluchtfahrzeugs genießen.

In dieser Hinsicht hatte Anastasia McCrumpet großes Glück. Man könnte sogar sagen, sie hat den Jackpot der Mitfahrgelegenheiten für eine Flucht gewonnen: eine kostenlose Fahrt in einem Heißluftballon. Und nicht in irgendeinem x-beliebigen Heißluftballon, oh nein! Der königliche Ballon Fliegender Fuchs war ein Chamäleon-Ballon! Das bedeutet, lieber Leser, dass dieser Ballon sich – wie ein cleveres Chamäleon – so veränderte, dass er mit seiner jeweiligen Umgebung verschmolz. In dem Moment, in dem wir uns Anastasia anschließen, war der Fliegende Fuchs von einem fast schwarzen Blau und somit hervorragend getarnt. Hunderte Glitzerpünktchen funkelten auf seiner Hülle und machten ihn vor dem Nachthimmel praktisch unsichtbar.

Mit Anastasia kauerten zwei weitere Passagiere im Weidenkorb des Ballons, und zwar:

MISS PENELOPE APPLE, Ausnahme-Bibliothekarin und (das hatte sie erst vor knapp fünf Minuten preisgegeben) überraschenderweise Anastasias Tante.

Außerdem der schneidige, schnauzbärtige BALDWIN, ein Verbündeter bei Anastasias Flucht vor einem unsagbar schrecklichen Schicksal. Dieser herrlich bärtige Gentleman war, wie Anastasia gerade herausgefunden hatte, Miss Apples Bruder. Was ihn überraschenderweise zu Anastasias Onkel machte.

Die Nacht war wie geschaffen, um Geheimnisse zu erfahren.

Anastasia war schon ganz kribbelig, so dringend wollte sie das größte aller Geheimnisse erfahren: Weshalb hatten Primrose und Prudence Snodgras, zwei berühmte Kidnapperinnen von potenziell gefährlichen Kindern, sich mit einer absolut durchschnittlichen fast Elfjährigen aus dem bescheidenen Städtchen Mooselick abgegeben? Weshalb hatten zwei ruchlose Agenten vom KAWU (Komitee zur Ausrottung widernatürlicher Ungeheuer) Anastasia aus ihrem eintönigen Leben gerissen, um sie in einer feuchten ehemaligen Klapsmühle einzusperren? »Weshalb«, fragte sie, »haben sich Prim und Prude mit mir abgegeben?«

Miss Apple und Baldwin wechselten einen ernsten Blick.

»Das ist eine lange Geschichte«, antwortete Baldwin schließlich. »Und sie steckt voller Skandale und Enthüllungen. Hammerharte Sachen. Bist du sicher, dass du es wissen möchtest?«

»Ja«, verlangte Anastasia. »Ich möchte alles wissen.«

»Tapferes Mädchen.« Baldwin nickte anerkennend. »Zuallererst brauchen wir Marshmallow-Kekse.«

Miss Apple wühlte in dem Picknickkorb, den sie für ihre Ballonfahrt gepackt hatte.

»Geheimnisse von diesem Kaliber«, erklärte Baldwin, »werden am besten unter dem Sternenhimmel enthüllt, während man um ein Feuer herumsitzt und Marshmallow-Kekse isst.«

Anastasia hob die Augenbrauen. »Echt?«

»Das ist mein voller Ernst«, erwiderte ihr Onkel, und das war es auch. »Warum erzählen sich wohl so viele Kinder um ein Lagerfeuer herum Geschichten? Jedes Ding hat seine ureigene Art, wie es richtig gemacht wird, und beim Enthüllen so wahnsinnig geheimer Geheimnisse sollte man besonders methodisch vorgehen.«

»Baldwin hat recht, Liebes.« Miss Apple riss einen Beutel Jumbo-Marshmallows auf und gab Anastasia eines.

»Schade, dass Ollie und Quentin nicht da sind«, bedauerte Anastasia. »Ollie liebt Süßigkeiten.«

Außerdem hüteten die Trockenbrot-Brüder selbst jede Menge marshmallowkekswürdige Geheimnisse. Zuallererst einmal waren sie Schattenjungs, das heißt, sie besaßen ein besonderes Talent, sich in Schatten zu verwandeln. Und zweitens gehörten sie einer streng vertraulichen, total geheimen, so absolut-pssst-pssst-und-nicht-weitersagen-weil-nur-drei-per-Fingerschwur-zu-Geheimhaltung-verpflichtete-Leute-auf-der-ganzen-Welt-davon-wissen-Liga an. Doch dazu kommen wir später.

Anastasia tröstete sich mit der Hoffnung, dass sie alle miteinander um zukünftige Lagerfeuer herum noch jede Menge zukünftiger Marshmallow-Kekse futtern würden. Nach ihrer tollkühnen Flucht aus der Irrenanstalt St. Marter hatte Quentin versprochen, dass sie sich bald wiedersehen würden, irgendwann gegen Ende der Ballonfahrt.

»Du hast in den vergangenen vier Wochen eine ungeheure Menge fremdartiger Dinge gesehen, Kind«, begann Miss Apple, während sie Stöckchen herumreichte. »Jungs, die sich in Schatten verwandeln! Eine Tante, die zu einer ganzen Horde Unfug treibender Mäuse wird!«

»Einen Onkel, der zu einem majestätischen Wolf transmogrifiziert«, fügte Baldwin hinzu und spießte sein Marshmallow auf.

»Oh, Baldy«, sagte Miss Apple, »du bist so eitel.«

»Ich bin überhaupt nicht eitel.« Baldwin hielt sein Marshmallow in die Flamme des Ballon-Brenners. »Ich stelle nur eine Tatsache fest. Im Übrigen glaube ich, dass du auch eine majestätische Horde Unfug treibender Mäuse abgibst, Penny.«

»Der Meinung bin ich auch.« Anastasia erinnerte sich an den Trupp akrobatischer Piepser (alle waren sie Miss Apple, wie es sich herausgestellt hatte), der vor noch nicht einmal vierundzwanzig Stunden durch die Irrenanstalt St. Marter getanzt, gehüpft und gepurzelbaumt war.

»Dann weißt du also schon, dass es Leute gibt, die sich in andere Wesen verwandeln können«, fuhr Miss Apple fort.

»Die eine Metamorphose durchmachen«, warf Baldwin ein. Er zog sein Marshmallow aus der Flamme und begutachtete es.

»Leute, die morfen«, meldete sich Miss Apple wieder. »Man nennt solche Leute … Morfer.«

»Ich bin ein Morfer«, erklärte Baldwin. »Penny ist ein Morfer.«

»Und dein Vater genauso«, ergänzte Miss Apple.

Anastasias Unterkiefer klappte herunter. Der farblose kleine Mr McCrumpet – ein Staubsaugervertreter mit Gesundheitsschuhen – war ein Morfer? Quatsch mit Soße! Allerdings, überlegte sie, war ihr Vater am selben Tag, an dem sie gekidnappt wurde, verschwunden. Niemand wusste etwas über seinen Verbleib, doch Baldwin und Miss Apple schienen zu vermuten, dass KAWU – der schurkische Ring, mit dem Prim und Prude zusammenarbeiteten – etwas mit seinem Verschwinden zu tun hatte. Ganz offensichtlich steckte mehr hinter Fred McCrumpet, als auf den ersten Blick zu erkennen war.

»Fred morft in ein Meerschweinchen«, erklärte Miss Apple.

»In ein Meerschweinchen?«, keuchte Anastasia.

»In ein grandioses Meerschweinchen«, versicherte Baldwin ihr.

Anastasia ließ sich das Gehörte durch den Kopf gehen. Es erklärte die besondere Beziehung ihres Vaters zu Muffy, dem Meerschweinchen der McCrumpets. Ihr fiel wieder ein, wie Muffy Fred McCrumpet angequiekt hatte und er so tat, als verstünde er jeden Pieps. Da wir gerade von Muffy reden –

»Wo ist Muffy?«, fragte Anastasia.

»Sie ist bei Miss Jenkins, Liebes«, antwortete Miss Apple. Miss Jenkins war die Lehrerin, die Anastasia in der fünften Klasse gehabt hatte. »Die Frau liebt Nagetiere abgöttisch. Sie wird sich hervorragend um sie kümmern.«

»Aber Muffy gehört zu meinen besten Freunden«, protestierte Anastasia. »Auch wenn sie launisch ist. Auch wenn sie aus Rache in meine Schuhe kackt.«

»Ich weiß«, entgegnete Miss Apple leise. »Aber wir mussten Muffy in Mooselick zurücklassen. Wir konnten sie auf deine tollkühne Flucht aus St. Marter nicht mitnehmen.«

»Und jetzt können wir nicht mehr zurück und sie holen«, nuschelte Baldwin durch einen Klumpen Marshmallow und Schokolade. »Die Mitarbeiter vom KAWU suchen überall nach dir. Das bedeutet, dass sie alle deine ihnen bekannten Vertrauten in Mooselick beobachten, einschließlich Muffy.«

Anastasia blinzelte, um nicht weinen zu müssen. Sie konnte nicht mehr nach Mooselick zurück, um nach dem vermissten Mr McCrumpet zu suchen. Sie konnte nicht zurück, um Muffy zu holen. Sie hatte, lieber Leser, dort oben, dreitausend Fuß über der Erde, einen schwindelerregenden Punkt erreicht, von dem es kein Zurück mehr gab. Anastasia fragte sich, ob sie ihr Zuhause oder Muffy oder Mr McCrumpet jemals wiedersehen würde.

»Es tut mir leid, Kind.« Miss Apple drückte Anastasias Schulter. »Das ist Teil des Leids, das wir Morfer erdulden müssen. Baldwin, dein Vater, ich – und auch du.«

»Ich?«, flüsterte Anastasia.

»In deinen Adern fließt Morfer-Blut, Kleine«, bestätigte Baldwin. »Auch du bist ein Morfer.«

Anastasia starrte ihn an.

»Deshalb haben Prim und Prude dich gekidnappt. Sie hielten dich für einen hochgefährlichen, hochgarstigen Morfer.«

»Hinter dem KAWU steht eine Gruppe von Leuten, die die Welt von Morfern befreien wollen«, erklärte Miss Apple. »Sie greifen sich Erwachsene, Kinder –«

»Es gibt eine spezielle Gruppe weiblicher Kidnapper, die sich auf Morflinge spezialisiert hat«, ergänzte Baldwin. »Morflinge wie dich.«

»Aber ich kann mich weder in einen Wolf noch in eine Horde Mäuse verwandeln. Nicht einmal in ein Meerschweinchen!«, stellte Anastasia klar. »Ich kann ja nicht einmal radschlagen, um Wimmels willen!«

»Die meisten Morfer-Kinder beginnen im Alter von ungefähr elf Jahren mit dem Verwandeln«, erklärte Miss Apple. »Es ist also nicht ungewöhnlich, dass du noch nicht damit begonnen hast.«

»Ich war selbst ein Spätzünder«, bekannte Baldwin. »Ich habe mit dem Morfen erst angefangen, als ich schon fast fünfzehn war, und dann habe ich mich immer in den peinlichsten Momenten in einen Wolf verwandelt! So bin ich zum Beispiel beim Mittagessen aus meinen Kleidern gefahren, beim Schulball und mitten in einer Matheprüfung! Und wenn man dann zurückmorft …, trägt man seinen Geburtstagsanzug!«

Miss Apple nickte. »Wenn man gerade erst damit angefangen hat, lässt sich das Morfen kaum kontrollieren. Ich habe mich einmal während eines Klavierkonzerts verwandelt.«

»Aber du hast die Kurve gekriegt«, erinnerte sich Baldwin. »Du hast sie sogar ganz wunderbar gekriegt!« An Anastasia gewandt fuhr er fort: »Nach einem Augenblick fassungslosen Schweigens ist deine Tante hier auf den Tasten auf und ab gehüpft wie eine Wilde und hat den Hummelflug unter stehenden Ovationen zu Ende gebracht.«

Miss Apple zuckte bescheiden mit den Schultern, errötete aber vor Freude. »Die Triller waren schwierig, aber ich hab’s geschafft.«

»Zum Glück ist es bei dir nicht vor Prim und Prude zum Morfen gekommen«, sagte Baldwin zu Anastasia. »Sie hätten dich auf der Stelle abgemurkst.«

»Aber warum haben sie gewartet?«, fragte Anastasia. »Ich musste über einen Monat in der Irrenanstalt ausharren. Sie hatten jede Menge Gelegenheiten, mich zu – mich zu –«

»So einfach ist das nicht«, erklärte Miss Apple. »Die Kidnapper vom KAWU können nur jemanden töten, der sich eindeutig als Ungeheuer geoutet hat.«

»Haufenweise Papierkram«, warf Baldwin ein. »Sie müssen alles Mögliche dokumentieren.«

»Vor allem bei Kindern«, ergänzte Miss Apple. »Sie müssen ganz sicher sein. Und wie wir bereits sagten, zeigt sich bei den meisten Morflingen die Morferose erst mit ungefähr elf Jahren.«

»Die Kidnapper schnappen sie sich also und dann warten und beobachten sie«, fügte Baldwin düster hinzu.

»Morferose?«, fragte Anastasia.

»Damit bezeichnet man zum einen die Fähigkeit des Sichverwandelns«, antwortete Miss Apple, »und zum anderen die Ausbildung einer Silberallergie. Hat man diese Allergie entwickelt, braucht man Silber nur zu berühren, und schon bekommt man überall Quaddeln. Und wenn Silber in dein Blut gelangt, kannst du eine schreckliche Entzündung bekommen, an der du sogar sterben kannst.«

Baldwin schauderte. »Silber ist hochtoxisch. Es ist lebensbedrohlich. Reines Gift. So kriegen sie dich irgendwann: Mit Silbermessern –«

»Oder mit silbernen Schrotkugeln.« Miss Apple blickte stirnrunzelnd auf Baldwins Ohr, das während ihres tollkühnen Ausbruchs von Schrotkugeln gestreift wurde und geblutet hatte.

»Oder mit silbernen Zähnen.« Anastasia dachte an die gruseligen Gebisse der Snodgras-Schwestern.

»Die oberste Regel für Morfer lautet: Meide Silber wie die Pest«, schärfte Baldwin Anastasia ein. »Silber ist schlimmer als die Pest! Hast du das verstanden?«

»Klar«, antwortete Anastasia. »Aber ich bin kein Morfer.«

»Spiele einfach ein bisschen mit dem Gedanken«, riet Miss Apple leise. »Ich weiß, dass es eine Weile dauern wird, bis du es glaubst. Und wenn du es nicht sofort glauben kannst, ist das auch in Ordnung. Aber halte dich unbedingt von Silber fern.«

»Dann sollte ich die silberne Kette wohl besser loswerden.« Anastasia steckte den gekrümmten Daumen in ihren Ausschnitt und zerrte die Kette heraus. »Sie gefällt mir sowieso nicht. Prim und Prude haben sie mir geschenkt.«

»Zweifellos um zu sehen, ob du eine Silberallergie entwickelst«, knurrte Baldwin. »Wirf den giftigen Plunder über Bord!«

Anastasia öffnete den Verschluss, stand auf, beugte sich über den Rand des Ballonkorbs und ließ die Kette in die Sternennacht hinausschwingen. Der Herzanhänger baumelte an ihrem Ende und der kleine Rubin leuchtete. Anastasia öffnete die Hand und die Kette schoss wie eine winzige Sternschnuppe in den Wolkenteppich unter ihnen.

»Das wäre erledigt«, stellte Baldwin zufrieden fest.

Anastasia gähnte zum Kieferausrenken. »Landen wir bald? Wohin fahren wir überhaupt?«

»In die Schweiz«, verkündete Baldwin. »In die wunderschöne, fantastische Schweiz! Wie ich die Schweiz liebe! Ich liebe die sanften grünen Hügel. Ich liebe die Schokolade. Ich liebe die Kuckucksuhren. Ich sammele sie, musst du wissen. Ich besitze über zweihundert Kuckucksuhren.«

»Du bist selbst so ein verrückter Kuckuck«, schalt Miss Apple liebevoll. »Kuckucksuhren sind noch nicht einmal typisch Schweizerisch. Sie kommen aus dem Schwarzwald. Aber wir gehen in die Schweiz, Anastasia, damit du den Rest unserer Familie kennenlernen kannst.«

»Unsere Familie lebt in der Schweiz?«

»In der Nähe eines Ortes namens Dinkeldorf«, antwortete Miss Apple.

»Dinkeldorf ist das idyllischste Dörfchen unter der Sonne oder unter den Sternen«, schwärmte Baldwin. »Es hat so unendlich viel Charme! Es gibt dort eine Glasbläsermeisterin, die die hübschesten Schneekugeln macht, die du dir vorstellen kannst …«

Doch Anastasias erschöpfter Gehirnkasten war nicht mehr in der Lage, sich hübsche Schneekugeln vorzustellen. Sie war bereits in mondfarbene Träume hinübergeglitten. Und die träumte sie, während der königliche Ballon Fliegender Fuchs immer weiter in die Nacht hinausschwebte, immer näher zu ihrer unbekannten Familie, die auf der anderen Seite des Atlantiks auf sie wartete.

2

Den Sternen folgen

Anastasia hatte sich einen Schal mehrmals um den Kopf gewickelt und blickte durch einen Spalt zwischen den Stoffbahnen auf den Atlantischen Ozean, der tief unten schimmerte.

»Wal in Sicht!«, trompetete Baldwin. Er riss ein Teleskop ans Auge und lehnte sich gefährlich weit über den Rand des Ballonkorbs. »Wal auf drei Uhr!«

Anastasia stellte ihr eigenes Fernglas scharf und erhaschte gerade noch einen Blick auf eine Flossenspitze und weiße Schaumfontänen. »Gesichtet!«

»Keks auf zwölf Uhr!«, schrie Baldwin. »Mmm. Zimtplätzchen. Meine Lieblingskekse beim Walebeobachten!«

Anastasia ließ ihr Teleskop sinken. Miss Apple hatte eine Dose mit Keksen aus ihrem Picknickkorb geholt. Der Korb spuckte genau wie Mary Poppins’ magische Reisetasche eine nicht enden wollende Folge von Schätzen aus. »Nimm dir einen, Liebes.«

Anastasia futterte ihr Zimtplätzchen. Sie hatte ihre anfängliche Ballonkrankheit überstanden und genoss es jetzt, über dem Wasser zu schweben und nach Walen und Inseln Ausschau zu halten. Sie hatten sogar ein Kreuzfahrtschiff ausgemacht, auf dessen Oberdeck Hunderte von Ameisen eine Polonaise zu tanzen schienen. Bei den Ameisen handelte es sich natürlich um Menschen, die ihren Urlaub auf See verbrachten und sich gerade vor der Küste von Neuschottland befanden.

Anastasia nippte an einem Becher Kakao und grübelte über die seltsame Unterhaltung der vergangenen Nacht nach. »In was verwandle ich mich wohl?«, fragte sie. »Werde ich zu einem Meerschweinchen wie Dad?«

»Aha!« Baldwin grinste. »Das klingt ja so, als könntest du langsam glauben, du seist tatsächlich eine von uns!«

»Na ja«, erwiderte Anastasia ausweichend, »ich habe lediglich nicht gesagt, dass ich keine von euch bin.«

»Wir wissen nicht, in was du dich verwandelst, Liebes«, sagte Miss Apple. »Das wissen wir erst, wenn es passiert. Die meisten Morfer werden zu Fledermäusen. Aber es gibt auch Wölfe und Mäuse, Schatten und andere Dinge.«

»Zum Beispiel Meerschweinchen«, sagte Anastasia.

»Dein Vater ist etwas ganz Besonderes, Liebes. Er ist der einzige Morfer, den ich kenne, der zu Cavia porcellus transmogrifiziert.« Miss Apple schnippte Plätzchenkrümel von Anastasias Kragen.

Anastasia schwieg. Sie dachte an Mr McCrumpet. Wo war er? Hatte er sich aus dem Staub gemacht oder hatte das KAWU ihn geschnappt? Die Chance, dass ihr Dad noch irgendwo am Leben war, bestand immerhin. Aber sie wusste, dass diese Chance klein war. Anastasia konnte sich nicht vorstellen, wie ihr schüchterner Dad den tödlichen silbernen Waffen der KAWU-Leute entkommen sollte. Ganz besonders dann nicht, sinnierte sie, wenn seine einzige Verteidigungsmöglichkeit darin lag, sich in ein Meerschweinchen zu verwandeln.

»Außerdem bist du nur halb morf«, bemerkte Baldwin. »Das macht dich noch unberechenbarer.«

»Es könnte ein wenig länger dauern, bis die Verwandlung bei dir einsetzt«, sagte Miss Apple. »Und es besteht sogar die Möglichkeit, dass du dich überhaupt nicht verwandelst.«

»Nur halb morf?«, fragte Anastasia nach. »Dann war meine Mom also kein Morfer?«

»Nein, Liebes. Und das ist leider auch schon alles, was wir über sie wissen«, antwortete Miss Apple. »Wir hatten nie die Gelegenheit, sie kennenzulernen. Zwischen Fred und uns herrschte damals Funkstille, musst du wissen.«

»Aber warum denn?«

»Es gab da diesen großen Familienstreit«, erklärte Miss Apple verlegen. »Fred ist nach Mooselick gezogen, was von der Schweiz ziemlich weit entfernt ist. Es hat ewig gedauert, bis Baldy und ich ihn aufgespürt haben, und als es so weit war …, war deine Mutter schon tot.«

Anastasia starrte in ihren Kakao.

Ein Geheimnis kann vieles sein, wie du, lieber Leser, inzwischen vielleicht schon festgestellt hast: erfreulich, aufregend, erschreckend oder entsetzlich. Eines der Geheimnisse, die Anastasia im Heißluftballon erfahren hatte, war schockierend und entsetzlich. Trixie McCrumpet, die Frau, die Anastasia fast elf Jahre lang Mom genannt hatte, war gar nicht ihre Mom. Trixie war Anastasias Stiefmutter und sie war vor ein paar Wochen mit einem Podologen (das heißt mit einem Fußdoktor) abgehauen. Anastasias richtige Mutter war gestorben, als Anastasia noch ein Baby war.

»Fred war wie benommen«, erklärte Baldwin. »Er hat sich von seiner gesamten Familie losgesagt.«

»Ich glaube, er wollte kein Morfer mehr sein«, sagte Miss Apple. »Er wollte nicht mehr an unsere – äh – spezielle Art von Problem erinnert werden.«

»Doch Fred war ein Morfer, ob er das nun wollte oder nicht«, sagte Baldwin. »Da konnte er sich noch so sehr einreden, dass er lediglich ein langweiliger Staubsaugervertreter sei. Und Morfer können nicht ohne Schutz einfach so herumspazieren, das verstehst du sicher. Nicht, wenn das KAWU hinter uns her ist.«

»Das war die Zeit, als Baldwin und ich zu verdeckten Ermittlern wurden«, fuhr Miss Apple fort. »Ich habe die Stelle als Bibliothekarin in der Grundschule von Mooselick angenommen, damit ich dort ein Auge auf dich haben konnte.«

»Und ich habe im Einkaufszentrum von Mooselick einen Job als Brezelbäcker angenommen«, berichtete Baldwin. »Sieben Mal war ich Angestellter des Monats. Sieben Mal!«

»Erzählt mir etwas über die Familie, zu der wir fahren«, bat Anastasia.

»Deine Großmutter Wiggy freut sich schon riesig darauf, dich kennenzulernen«, sagte Miss Apple.

»Wiggy?«

»Die Abkürzung von Wigfreda. Ein altmodischer Name. Und wenn wir schon bei Namen sind …« Miss Apple zögerte. »Dein Nachname ist nicht McCrumpet. Du heißt Merrymoon.«

»Merrymoon?«

»Genau. Fred hat einen neuen Namen angenommen, als er nach Mooselick zog. Aber in Wahrheit bist du eine Merrymoon, Liebes.«

Anastasia Merrymoon? Anastasie rutschte unruhig hin und her, als sie den Namen anprobierte. Er passte nicht richtig, nicht so ganz. Es war, als ginge sie in den Schuhen einer anderen.

»Und ich bin auch nicht wirklich eine Apple. Das war mein Deckname, als ich undercover als Bibliothekarin gearbeitet habe«, fuhr Miss Apple fort. »Ich bin auch eine Merrymoon.«

Anastasia schaute sie blinzelnd an. »Hm. Soll ich dich dann Tante Penny nennen?«

»Du kannst mich nennen, wie du willst.«

»Tante Penny.« Anastasia probierte die neue Bezeichnung aus. Sie lächelte. »Das klingt hübsch.«

Penny nahm sie in den Arm. »Es klingt wunderhübsch!«

»Und du hast noch eine Tante.« Baldwin seufzte. »Aber sobald du sie kennenlernst, wünschst du, du wärst ihr nie begegnet.«

»Baldwin!«, schalt Penny.

»Gib’s zu, Penny, Ludowiga ist ein Stinkstiefel.« Baldwin verdrückte noch ein Zimtplätzchen. »Schwer zu glauben, dass sie Freds Zwillingsschwester ist.«

»Zwillingsschwester?«, rief Anastasia. »Mein Dad hat eine Zwillingsschwester?«

»Ja. Aber wenn du sie siehst, würdest du das nicht glauben. Sie hat die Figur einer Stabheuschrecke und die entsprechende Persönlichkeit dazu.«

»Baldwin, das ist nicht fair«, protestierte Penny. »Stabheuschrecken sind ausgesprochen freundliche Tiere.«

Baldwin johlte.

»Ludowigas Tochter ist gerade mal ein halbes Jahr älter als du«, erzählte Penny. »Sie heißt Saskia.«

Anastasia wurde wieder munter. »Dann ist sie also meine Cousine? Wie ist sie so?«

Penny zuckte mit den Schultern. »Als wir sie das letzte Mal gesehen haben, war sie noch sehr klein. Vergiss nicht, wir waren nicht mehr in der Schweiz, seit du ein Baby warst.«

»Ah, die Schweiz!«, rief Baldwin. »Ich kann’s gar nicht erwarten, endlich nach Hause zu kommen!«

Penny schätzte, dass sie für die Ballonfahrt über den Atlantik ungefähr eine Woche brauchen würden. Zum Glück war der Korb so groß, dass sie einigermaßen Platz darin hatten. Er war sogar so groß, dass zwei Leute sich hinlegen konnten, eingekuschelt in die karierten Schlafsäcke, die Penny zu eben diesem Zweck eingepackt hatte. Es funktionierte wunderbar, weil Penny und Baldwin sich mit dem Schlafen und Ballonfahren abwechselten. Sie benutzten einen Kompass und alle möglichen goldenen Instrumente, um auf Kurs zu bleiben, auch wenn Baldwin sich am allerliebsten nach den Sternen richtete, wie Anastasia während der nächsten Nächte feststellen sollte.

»Die Sterne sind besser als irgendeine Gerätschaft«, flüsterte er ihr zu. »Sie glitzern schon ewig da oben, länger als wir alle leben. Finde deinen Stern und folge ihm, Anastasia. Vertraue deinem Stern mehr als irgendjemandem, der zu wissen glaubt, wohin du gehen solltest.«

Der einzige unangenehme Aspekt der Ballonfahrt war das Dilemma mit der Toilette. Es gab keine Toilette. So unbequem es auch war, die Passagiere an Bord des königlichen Ballons Fliegender Fuchs mussten sich auf den Korbrand hocken und ihr Geschäft nach draußen verrichten. Das Hinterteil war derweil stürmischen Winden und den neugierigen Blicken unhöflicher Möwen ausgesetzt. Obwohl Penny einen mit japanischen Motiven bedruckten Wandschirm aufgestellt hatte, um die in einem Heißluftballon größtmögliche Privatsphäre zu ermöglichen, wünschte Anastasia, sie hätte den Nachttopf aus der Irrenanstalt St. Marter mitgenommen.

Alles in allem war es so ähnlich wie Campen, nur in der Luft. Anastasia kuschelte sich mit Mr Bunny, dem Plüschhasen, den sie aus der Anstalt gerettet hatte, in ihren Schlafsack. Baldwin sang lustige alte Seemannslieder. Penny studierte ihre Karten und Kompasse. Sie toasteten Marshmallow-Kekse und tranken Kakao und folgten in der Nacht ihren Sternen.

»Land in Sicht!« Baldwin umfasste sein Teleskop fester. »Da ist es, Ladys! Europa!«

Er klang erleichtert. Den ganzen Nachmittag hatte er unter der Ballonkrankheit gelitten, hatte mehrere Stunden auf der privaten Seite des Wandschirms zugebracht und peinliche Geräusche von sich gegeben, die Penny und Anastasia nicht zu hören vorgaben.

»Wir befinden uns über Newquay an der Nordküste von Cornwall«, verkündete Penny, nachdem sie ihre Karten konsultiert hatte. »In knapp zwei Tagen sollten wir in der Schweiz sein.«

»Komm, wir lassen ihn ein bisschen sinken, Penny«, schlug Baldwin vor. »Dann können wir Anastasia England von oben zeigen.«

»Nein-nein-nein.« Penny zögerte. »Zu riskant.«

»Ach, komm schon«, schmeichelte Baldwin. »So schnell fliegen wir nicht mehr über England. Wir wollen doch auch ein bisschen Spaß haben.«

»Spaß!«, wiederholte Penny. »Wenn wir abgeschossen werden, findest du es bestimmt nicht mehr spaßig!«

»Nur zehn Minuten«, bettelte Baldwin. »In zehn Minuten entdeckt das KAWU uns nicht. Genieße das Leben ein bisschen, Penny! Bitte? Bitte-bitte?«

»Bitte-bitte-bitte, Tante Penny!«, meldete sich jetzt auch Anastasia.

»Du übst einen schlechten Einfluss auf das Kind aus, Baldwin.« Penny zog an einer Schnur an der seidenen Ballonhülle und der königliche Ballon Fliegender Fuchs senkte sich in Richtung Erde.

Anastasia hob ihr Teleskop. Durch seine Superlinse sah sie Autos wie Glühwürmchenschlangen über den dunklen Boden kriechen. Fenster leuchteten wie weit entfernte Geburtstagskerzen. Als sie noch weiter sanken, sah sie in Bäumen und an Dachvorsprüngen sogar bunte Lichterketten blinken. Sie glaubte – obwohl sie sich das wahrscheinlich nur einbildete – sehr schwach und weit entfernt helle, hohe Kinderstimmen singen zu hören.

»Es ist Weihnachten«, sagte sie nachdenklich. »Ich hatte ganz vergessen, dass Weihnachten ist.«

Baldwin zog eine Taschenuhr aus seiner Jacke und schaute darauf. »Verflixt, es ist Heiligabend ! Die Zeit vergeht wirklich wie im Flug, wenn man mörderischen Mieslingen aus dem Weg geht.«

»Schaut nur, wie schön Newquay ist«, rief Penny. »Ist es nicht wunderschön, Anastasia?«

Anastasia nickte. Sie musste an das schäbige kleine Haus der McCrumpets denken. An seinem Dachvorsprung würde keine Weihnachtsbeleuchtung blinken, da Fred McCrumpet derjenige gewesen war, der die Lichterketten jedes Jahr aufgehängt hatte. Er hatte es nie besonders gut hinbekommen – gewöhnlich hatte die Hälfte der Birnen geflackert und die andere Hälfte hatte überhaupt nicht gebrannt. Aber Anastasia hatte beim ersten Mal immer den Stecker einstecken dürfen und er hatte dann jedes Mal feierlich und stolz »Zauberei!« gesagt.

Sie wischte sich die Nase am Ärmel ab.

Baldwin legte Anastasia den Arm um die Schultern. »Lass uns einen Toast ausbringen«, sagte er und reichte ihr eine Thermoskanne mit heißer Schokolade. »Auf dein erstes Weihnachten in einem Heißluftballon!«

Penny prostete mit ihrer Tasse dem Mond zu. »Und auf dein erstes Weihnachten mit Baldy und mir!«

Baldwin hob seinen Flachmann. »Und auf viele, viele weitere!«

»Landeanflug in zwanzig Minuten!« Penny raschelte mit einer Karte. »Bereitmachen zur Landung!«

Anastasia verfolgte durchs Fernglas den Schatten des Ballons, als er über die weißen Bergspitzen und bleichen Hügel flog, die sich unter ihnen aufbauschten. Im Moment schlummerte die grüne, blühende Schweiz, wie Baldwin sie beschrieben hatte, unter einer Schneedecke.

»Du liebe Güte«, rief Penny, »meine Brillengläser vereisen!« Sie nahm ihre Brille ab und blies auf die Gläser.

Anastasia ließ ihr Teleskop sinken. Sie musste plötzlich wieder an ein merkwürdiges Phänomen aus der Irrenanstalt denken. »Tante Penny, können Morfer – hm – Frost atmen?«

Penny hielt mit Pusten inne. »Nein, Liebes. Wie kommst du denn darauf?«

»Na ja, weil … Ich kann’s. Ich kann Frost atmen.«

Baldwin lächelte. »Heute ist es so frostig, dass wir alle unseren Atem sehen können.« Er demonstrierte es, indem er eine sichtbare kleine Wolke ausstieß.

Anastasia schüttelte den Kopf. »Immer wenn ich in St. Marter auf Glas geatmet habe – auf eine Fensterscheibe oder ein Bild oder auf Prims Brille –, entstanden Eisblumen darauf.«

Penny und Baldwin wechselten einen Erwachsenenblick.

»In dem verflixten Kasten war es ziemlich kalt, Anastasia«, meinte Baldwin dann. »Kein Wunder, dass du Eisblumen gesehen hast! Mich wundert es ohnehin, dass da drinnen nicht alles komplett vereist war wie in einer verharschten alten Tiefkühltruhe.«

»Aber ich konnte mit meinem Atem Bilder malen.« Anastasia ließ nicht locker. »Und Wörter schreiben.«

»Du hast eine bewundernswerte Fantasie, Anastasia«, sagte Penny. »Und es ist durchaus verständlich, dass deine Fantasie möglicherweise – äh – spaßige und originelle Dinge hervorgebracht hat, um dir dein Martyrium in der Irrenanstalt erträglicher zu machen.«

»Daran ist nichts Schlimmes«, beruhigte Baldwin sie. »Ich habe mir einen Freund erfunden, um besser durch die siebte Klasse zu kommen! Gutbert Haberdasch habe ich ihn genannt. Er war ein prima Kerl, auch wenn er Stinkefüße hatte.«

»Aber ich habe es mir nicht eingebildet! Pass auf!« Anastasia drehte ihr Teleskop um und blies auf die Linse. Mit dem sich auflösenden Atemnebel schwand auch ihre Überzeugung. Vielleicht hatte ihr strapaziertes Gehirn sich die Wochen in St. Marter doch schönfantasiert. Verlegen biss sie sich auf die Lippe.

»Mach dir nichts draus, Liebes. Fantasie ist die Krone des Intellekts.« Penny küsste Anastasia auf die Stirn. »Sei dankbar, dass deine so groß und glänzend ist. Und jetzt ziehen wir besser unsere Alpenausrüstung an.« Sie zerrte ein Durcheinander aus wattierten Skianoraks aus einem ihrer Überseekoffer.

Der Ballon sank Zentimeter um Zentimeter hinunter zu den schneebedeckten Baumwipfeln. Kühe stapften über die hügeligen Weiden und muhten leise auf Kuh-Art. Alles war so friedlich und still, dass Anastasia die Glocken an ihren Halsbändern bimmeln hörte. »Da ist Dinkeldorf!« Baldwin wies auf ein paar Häuser, die sich in einer Senke zusammenkauerten. Vom Ballon aus sah der Ort nicht größer aus als ein Spielzeugdörfchen.

»Wir landen auf dem Feld hinter dem Kiefernwäldchen und gleiten dann auf Schneeschuhen ins Dorf«, sagte Penny.

»Glaubst du, wir schaffen es vor Feierabend noch in den Kuckucksuhrenladen?« Baldwin schaute Penny bittend an. »Es juckt mich schon in den Fingern! Ich möchte unbedingt eine von Franz’ neuen Kuckucksuhren kaufen.«

»Dein Interesse an Zeitmessern in Ehren, aber du scheinst zu vergessen, dass unsere Zeit knapp bemessen ist.« Penny nestelte an dem Brenner herum. »Wiggy erwartet uns.«

»Franz hat herrliche Kuckucksuhren«, erzählte Baldwin Anastasia. »Er ist ein Nachkomme des ersten deutschen Kuckucksuhrenmachers aus dem Schwarzwald, musst du wissen.«

»Ja, ich weiß«, erwiderte Anastasia. Baldwin hatte Franz und seine Herkunft an diesem Nachmittag schon mehrfach erwähnt.

»Fast alle Kuckucksuhren in meiner Sammlung stammen von ihm«, fuhr Baldwin fort. »Seine jüngste Kreation ist einfach grandios. Ich habe sie auf seiner Webseite gesehen, cuckooforyou.com. Anstelle eines Vogels schnellt zu jeder vollen Stunde eine winzige Opernsängerin aus dem Türchen und schmettert die Arie aus Die Zaubertuba.«

»Hast du jemals eine Oper gehört, Anastasia?«, fragte Penny.

Anastasia hatte früher mal ein paar Sekunden lang verzerrten Gesang im Radio gehört, bis ihre Mutter gerufen hatte: »Schalte den Radau aus! Wenn du Katzenmusik hören willst, geh raus auf die Gasse!« Das erwähnte sie Penny gegenüber allerdings nicht. Sie schüttelte nur den Kopf.

»Dann gehen wir im Februar mit dir in eine Oper«, verkündete Baldwin. »Da gibt es eine Aufführung von Die flirtende Fledermaus. Bellagorgon Wata, die weltbeste Sopranistin, singt die Hauptrolle in der Geschichte von einer unglücklichen Liebe und vorzeitigem Tod. Einfach göttlich! Du wirst begeistert sein.« Er warf seinen Schal über die Schulter.

Anastasia beugte sich vor und stellte sich auf Zehenspitzen, damit sie sich den Kragen seines Jacketts aus der Nähe anschauen konnte. »Baldy, ich glaube, du hast Schuppen.«

»Schuppen!« Baldwin drückte das Kinn auf die Brust, um die weißen Flocken auf dem Revers sehen zu können. »Was zum Teufel …«

»Das sind keine Schuppen«, sagte Penny. »Das ist Schnee!«

Und hast-du-nicht-gesehen wurde aus der Vorhut anmutiger Kristalle ein Geschwader riesiger Kamikaze-Schneeflocken.

»Bei Zeus Zamboni!«, rief Baldwin. »Der fällt ja ganz schön schnell!«

Die aufgeblähten Schneebomben donnerten jetzt auf die Ballonseide herab und rutschten als Matsch in den Korb. Baldwin wischte eine Reihe winziger Eiszapfen von seinem Schnurrbart. »Sollen wir den Ballon wieder bis über die Wolken aufsteigen lassen?«

Penny nahm ihre vereiste Brille ab und blinzelte zum Himmel hinauf. »Nein. Wenn wir nicht völlig vom Kurs abkommen wollen, müssen wir bald landen.«

»Wir kommen schon jetzt vom Kurs ab«, gab Baldwin zu bedenken.

»Kackmist!« Anastasias Galoschen rutschten unter ihr weg, als der Ballon zur Seite kippte. Sie landete auf dem Hintern. »Was war das denn?«

»Der Korb hat einen Baum gestreift!«, rief Penny über das schrille Kreischen des Windes. »Wir sinken zu schnell! Der viele Schnee drückt uns nach unten!«

»Ich würde sagen, wir steigen wieder auf bis über die Wolken und warten ab, bis das Unwetter vorbei ist«, brüllte Baldwin. »So ein Sturm kann ein oder zwei Tage dauern –«

»Wir haben nicht genügend Gas! Es ist jetzt schon fast alle!«

In diesem Augenblick geschahen zwei alarmierende Dinge gleichzeitig. Erstens: Die gelbe Flamme des Ballons erlosch vollends. Zweitens: Der Weidenkorb krachte mit einem hässlichen Knirschen in etwas hinein.

»Haltet eure Hintern fest!«, schrie Baldwin. »Wir sinken!«

3

Das Geheimnis des Käsehändlers

Aufmerksamer Leser, hast du je durch das Bullauge einer Waschmaschine geschaut und den Aufruhr beim Schleudergang gesehen? In diesem Moment unserer Geschichte machte Anastasia eine ähnliche Erfahrung und fühlte sich wie ein Pulli, der im Bauch einer besonders eifrigen Waschmaschine herumgewirbelt wird. Die Welt um sie herum glich einem Kaleidoskop aus Schals und Stiefeln und Schnee, während Penny, Baldwin und Anastasia radschlagend und holterdipolter aus dem Korb auf die Erde purzelten.

»Wir sind gelandet«, stöhnte Penny. »Alles in Ordnung bei euch?«

»Ich habe den Japanischen Wandschirm geschrottet.« Anastasia zog den Kopf aus der zerfledderten Paneele, auf der noch vor Kurzem ein hübsches Bild von einem Storch zu bewundern war, der durch einen Lilienteich watet. »Aber ich bin okay. Mir ist nur schwindelig.« Ihr Magen hob sich, als sie schwankend auf die Füße kam, und sie fragte sich, wo die offiziellen Spucktüten des königlichen Ballons Fliegender Fuchs verstaut waren. Verschwommen konnte sie mehrere Meter entfernt den Korb erkennen, der zerschmettert im Schnee lag.

»Weiß jemand, wo der Kompass ist?«, fragte Penny.

»Der Ballon liegt da drüben«, meldete sich Baldwin aus einer Schneewehe ganz in der Nähe.

Penny stapfte zu dem Wrack aus Weidensplittern und begann mit dem Eifer eines Eichhörnchens, das nach seinen Lieblingsnüssen sucht, im Schnee zu buddeln.

»Wuff! Wuff!«

»Baldy, bist du das?«, fragte Anastasia.

»Nein«, antwortete er, »aber ich höre es auch.«

Anastasia bekam es mit der Angst zu tun. Als angehende Detektiv-Tierarzt-Künstlerin liebte sie normalerweise alle Geschöpfe. Doch wie lautet das alte Sprichwort? Wer einmal beißt, dem traut man nicht. Und auch wenn Prims und Prudes grässliche Pudel es nicht geschafft hatten, Anastasia tatsächlich zu beißen, hatten sie es doch versucht. Zitternd schlang sie die Arme um sich. »Glaubt ihr, es ist ein Wachhund?«

Das Bellen wurde lauter.

»Und wenn es ein Pudel ist?«, fragte Baldwin mit bebender Stimme, während er durch den Schnee zu Anastasia robbte. »Du weißt doch, dass ich eine Pudelphobie habe.«

»Das ist kein Pudel!« Penny sprang auf. »Würfel! Würfel!«

Anastasia schaute sich um. »Würfel? Wo sind Würfel?«

»Würfel ist –«

Bevor Penny ihre Antwort zu Ende bringen konnte, schickte ein zotteliger, nach Hund riechender Torpedo Anastasia zurück auf den Boden. Etwas Nasses und Warmes schabte über ihre Wange. Sie öffnete die Augen und sah gerade noch, wie aus dem grinsenden Gesicht eines riesigen Bernhardiners ein dicker Sabbertropfen auf ihr Kinn fiel. An seinem Halsband hing ein kleines Fass.

»Würfel!« Penny vollführte einen Freudentanz.

»Du kennst den Hund?«, krächzte Anastasia, als Würfel ihr noch einen Hundeschmatz auf die Wange drückte.

»Und ob wir ihn kennen!«, erwiderte Baldwin. »Ah, Würfel, du trägst dein Fässchen. Braver Junge!« Er tätschelte Würfels zottigen Kopf. »Der beste Freund eines Mannes, Penny«, rief er. »Bist du so lieb und bringst die Kognakschwenker, ja?«

Würfel sprang davon, verschwand in den wirbelnden Schneeflocken und kündigte die Ankunft der notgelandeten Ballonfahrer mit lautem Gebell an.

Anastasia fuhr sich mit dem behandschuhten Handrücken übers Gesicht. »Sind noch Sommersprossen zu sehen?«

Baldwin beugte sich zu ihr herunter und betrachtete ernst ihre Wangen. »Ja. Sogar ziemlich viele.«

»Schaut mal! Dort!« Anastasia wies auf einen goldenen Lichtschein, der in ihre Richtung hüpfte.

»Das muss Rolf sein«, sagte Penny.

»Wer ist Rolf?«

»Ein Morfer und Bauer«, antwortete Baldwin. »Er und Penny sind schon ewig befreundet. Wir sollten auf seinem Feld landen, und wie es aussieht, ist uns das geglückt. Ausgezeichnete Navigation!«

Das Licht wurde heller und sie erkannten die Silhouette eines Mannes, der durch das Schneegestöber auf sie zukam. Würfel trottete neben ihm her. »Penelope? Baldwin?«

»Rolf! Grüezi!«, brüllte Penny und wankte ihm entgegen.

»Grütze?«, echote Anastasia.

»Sie spricht Schwizerdütsch.« Baldwin lachte leise. »Wir sind im deutsch sprechenden Teil der Schweiz gelandet, Mädchen. Das muss mit einem Schluck Brandy gefeiert werden!« Er klaubte Anastasias Kakaobecher aus einem Schneekissen neben sich. »Juhu! Würfel! Hierher, Junge!«

Penny erklärte Rolf noch etwas auf Deutsch, dann drehte sie sich mit einem strahlenden Lächeln zu Anastasia um. »Und das ist unsere Nichte!«

»Anastasia!« Ein Lächeln ließ Rolfs blonden Bart zucken. »Grüezi, Kleine. Es ist mir eine Ehre, dich kennenzulernen!«

»Danke«, erwiderte Anastasia. »Es ist – äh – auch mir eine Ehre.«

»Möchtest du einen Schluck?«, fragte Baldwin. Er hielt den Becher unter Würfels Fässchen und drehte den daran befindlichen Hahn auf. »Ein wunderbares Zeug, dieser Brandy. Wärmt die Eingeweide.«

Penny rümpfte die Nase. »Meine Eingeweide sind warm genug, vielen Dank.«

»Ohne Würfel hätte ich euch nicht gefunden«, sagte Rolf. »Man sieht kaum etwas.«

»Glaubst du, wir kommen mit unseren Schneeschuhen noch ins Dorf?«, fragte Penny.

»Ausgeschlossen«, antwortete Rolf. »Die Schneeverwehungen sind bereits zu hoch. Und es soll noch die nächsten Tage so weiter stürmen. Das Beste wäre wahrscheinlich, ihr würdet in meinem Haus bleiben, bis es wieder aufklart. Außerdem«, fügte er hinzu und lächelte Penny an, »habe ich zum Abendessen ein köstliches Fondue geplant – mit genügend Käse für eine ganze Armee von Mäusen!«

»Fondue?« Penny kaute auf ihrer Unterlippe herum. »Hm, das klingt wirklich verlockend … Aber Wiggy erwartet uns und macht sich bestimmt Sorgen, wenn wir nicht erscheinen. Gibt es keine andere Möglichkeit, ins Dorf zu kommen? Wenn ich mich recht erinnere, hattest du mal einen Hundeschlitten in der Scheune.«

»Den könntest du auch gerne haben, nur sind alle meine Huskies erkältet«, entschuldigte sich Rolf. »Ich habe sie gerade ins Bett gesteckt, die armen Kerle. Und Würfel zieht den Schlitten nie. Er hat Arthrose.«

»Ein Hundeschlitten, hast du gesagt?« Baldwin kippte den Rest seines Brandys hinunter, torkelte durch die Schneeverwehungen und kauerte sich hinter den kaputten Japanischen Wandschirm. Sein Hut kam über den Rand geflogen. Dann segelte sein Schal herüber, als Nächstes sein Jackett, sein Schneeanzug, danach sein Pulli, die Hose und – Anastasia zog scharf die Luft ein – sogar ein Paar rote lange Unterhosen.

»Baldwin, was tust du da?«, protestierte Penny. »Du holst dir den Tod!«

»Goaaanz und goaaar nicht!«, heulte Baldwin und galoppierte hinter dem Wandschirm hervor. Nur dass er kein ein Meter und achtzig großes Exemplar männlicher Männlichkeit mehr war; er erschien, wie du vielleicht schon erraten hast, in Gestalt eines großen, rötlich braunen Wolfs. Würfel knurrte und preschte los, und er und Baldwin schlugen Purzelbäume im Schnee, jodelten und jaulten und fingen mit ihren langen, rosafarbenen Zungen Schneeflocken. Es sah aus, als hätten sie jede Menge Spaß. Anastasias Herz klopfte ganz seltsam vor neu aufkeimender Hoffnung, dass auch sie sich eines Tages in einen Wolf verwandeln würde.

»Genial!«, lobte Penny. Sie sammelte Baldwins Kleider ein (alle bis auf die lange Unterhose) und stopfte sie in einen Koffer. »Dann wollen wir mal anspannen, Baldy. Anastasia, hast du alles?«

Anastasia kniff die Augen zusammen. Als sie einen Riemen ihrer Schultasche entdeckte, zerrte sie diese aus einer Schneeverwehung und hängte sie sich über die Schulter. »Ja.«

»Zu meiner Scheune geht es hier entlang.« Rolf hob seine Laterne, drehte sich um und kämpfte sich denselben Weg, den er gekommen war, wieder zurück.