Anatomie eines fast vollendeten Brudermords - Seyit Resul Özer - E-Book

Anatomie eines fast vollendeten Brudermords E-Book

Seyit Resul Özer

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Beschreibung

"Der dritte Raki war zu viel. Als sein Bruder ins Wasser stürzte, griff Emre nicht nach seiner Hand – sondern nach dem Besenstiel. Nicht um zu retten. Um zu vollenden." Mannheim, November 2028: Nach Jahrzehnten der Entfremdung kehrt der 59-jährige Emre mit einem präzisen Plan in die Türkei zurück – die Beerdigung seiner Mutter besuchen und seinen manipulativen Bruder Yilmaz in einem "Unfall" ertrinken lassen. Ein sorgfältig choreografierter Mord als Rache für jahrzehntelange Demütigungen. Als sein betrunkener Bruder tatsächlich in den nächtlichen Pool des Familienhotels stürzt, hält Emre den Besenstiel in Händen, den er in seiner dunklen Fantasie bereits als Mordwerkzeug auserkoren hatte. Die Sekunden dehnen sich zu einer Ewigkeit. Bachs g-Moll-Fantasie erreicht in seinem Kopf einen dissonanten Höhepunkt. Wird er den Stiel verwenden, um Yilmaz unter Wasser zu drücken? Oder reichen, um ihn zu retten? In dieser Nacht wird mehr entschieden als ein Leben oder Tod – es geht um die Möglichkeit eines Ausbruchs aus dem transgenerationalen Trauma einer Migrantenfamilie. Ein literarisches Ereignis, das in die dunkelsten Winkel der menschlichen Seele vordringt und dennoch einen Weg zur Erlösung aufzeigt. Dieser Roman ist: Eine psychologisch präzise Kartographie des Bruderhasses und seiner Wurzeln in der Migrationsgeschichte Eine musikalische Reise durch die kontrapunktische Struktur von Schuld, wobei Bachs Musik den inhaltlichen Rhythmus der Erzählung diktiert Eine erschütternde Meditation über den Moment der Entscheidung zwischen Rache und Gnade – und wie ein simpler Besenstiel zum Symbol moralischer Transformation wird "Mit hypnotischer Intensität führt uns der Autor durch die Gedankenwelt eines potenziellen Mörders – um uns in einem Moment schockierender Klarheit die Möglichkeit der Vergebung erkennen zu lassen."

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhaltsverzeichnis

Epilog: Die Heimkehr

Impressum

Kapitel I: Das Requiem der fallenden Blätter

Im kalten Nebel des Mannheimer Novembers 2028 ging Emre Eren durch die Straßen, ein Mann, dessen Körper unter der Last seiner neunundfünfzig Jahre gebeugt war, doch dessen Seele eine weitaus schwerere Bürde trug. Der Wind pfiff durch die kahlen Äste der Platanen am Neckarufer, ein chromatisches Lamento, das sich mit dem fernen Glockengeläut des Spätmittags vermischte. Über der Stadt hing ein bleierner Himmel, der das Licht nur widerwillig durchließ, als wäre selbst das Firmament müde geworden, Zeuge der menschlichen Trauer zu sein.

Emre zog seinen abgetragenen Mantel enger um die schmalen Schultern. Ein Kleidungsstück, das wie er selbst zu viele Winter gesehen hatte, dessen Fasern den steten Kampf gegen den Verfall verloren, genau wie sein eigenes Fleisch gegen die Jahre. Die Kälte kroch durch die dünne Wolle, tastete nach seinem Körper wie die Finger der Erinnerung nach seiner Seele.

"Wohin gehe ich?" murmelte er, und sein Atem bildete flüchtige Nebelwolken, die im grauen Nichts verschwanden. Die Frage hallte in ihm nach, bedeutungsvoller als sie klang. Wohin ging er wirklich, in diesem Leben, das sich anfühlte wie ein langer Korridor mit verschlossenen Türen?

Vor ihm erstreckte sich der Neckar in träger Gleichgültigkeit, ein dunkler, glänzender Strom, der die Schatten der Stadt auf seinem Rücken trug. Emre blieb stehen, ließ seinen Blick über das Wasser gleiten. Wie oft hatte er an diesem Ufer gestanden, in verschiedenen Jahren, verschiedenen Leben? Als junger Mann, erfüllt von vagen Hoffnungen. Als Ehemann und Vater, mit dem Gewicht der Verantwortung. Und nun, als ein Mann ohne Bestimmung, ohne Heimat, ohne Wurzeln.

Die ersten Töne erklangen in seinem Kopf, leise, fast zögernd – die g-Moll-Fantasie von Bach, dieses Stück, das er in seiner Jugend so oft gehört hatte, wenn er allein in seinem Zimmer saß, eingehüllt in die Dunkelheit, die einzige Zeugin seiner Einsamkeit. Wie die Musik begannen nun auch seine Gedanken zu fließen, unwillkürlich, unaufhaltsam.

Bach, dieses kristallklare Bewusstsein der Struktur und des Chaos zugleich. Wie konnte ein Mensch solche Ordnung schaffen und gleichzeitig solch tiefe Abgründe offenbaren?

Emre schritt weiter, nun zielstrebiger, als hätte die Musik in seinem Kopf ihm Richtung gegeben. Er passierte die alten Industrieanlagen, deren rostige Skelette gegen den Himmel ragten wie die Überreste einer vergessenen Zivilisation. Ein Symbol der Vergänglichkeit, dachte er. Alles, was der Mensch erschafft, ist dem Verfall geweiht. Selbst die Familie, diese vermeintlich unzerstörbare Einheit.

Die Erinnerung kam plötzlich, scharf und schneidend wie ein Splitter Glas: Kate, die ihn ansah, Tränen in den Augen, während ihre Söhne, Ali und Güven, sich hinter ihr versteckten, als wäre er ein Fremder, ein Eindringling in ihrem Leben. "Du hast deine eigenen Kinder verraten!" Ihre Worte, einst im Zorn ausgesprochen, verfolgten ihn bis in seine Träume. Er hatte sie verlassen, für Ayse, für eine Illusion von Freiheit, von Liebe, von einem neuen Anfang. Er hatte den Kreislauf wiederholt, den seine Eltern begonnen hatten, als sie ihn als Kind in der Türkei zurückließen.

Die Musik in seinem Kopf schwoll an, wurde komplexer, vielstimmiger, ein kontrapunktisches Gewebe aus Schuld und Reue. Bach wusste, dass wahre Tiefe nicht in der simplen Melodie lag, sondern in der Verflechtung verschiedener Stimmen, die gleichzeitig eigenständig waren und doch ein harmonisches Ganzes bildeten. So war auch Emres Schuld nicht einfach, nicht eindimensional, sondern ein komplexes Geflecht aus Ursachen und Wirkungen, aus bewussten Entscheidungen und unbewussten Zwängen.

Als er die Parkanlage erreichte, fielen Regentropfen durch das sterbende Laub, trommelten auf seinen Schultern einen unregelmäßigen Rhythmus. Hier, unter diesen Bäumen, hatte er einst mit Kate gesessen, als sie noch jung waren, voller Hoffnung. Hier hatte er seinen Söhnen das Fahrradfahren beigebracht, ihre kleinen Hände fest in den seinen, ihre ängstlichen Blicke in sein vertrauensvolles Lächeln getaucht. Erinnerungen wie Gespenster, die zwischen den Bäumen tanzten.

Die Parkbank war nass, doch Emre setzte sich dennoch, gleichgültig gegenüber dem Unbehagen. Was bedeutete schon körperliches Unwohlsein für einen Mann, dessen Seele in ständiger Agonie lag? Er holte sein Telefon hervor, starrte auf den dunklen Bildschirm. Seit sieben Jahren keine Nachricht mehr von seinen Söhnen. Seit drei Jahren kein Wort von Ayse, die ihn schließlich auch verlassen hatte, müde seiner Melancholie, seiner endlosen Selbstanalyse, die nie zu Erkenntnissen führte, die etwas veränderten.

Und dann war da diese Nachricht von gestern Abend, diese drei Zeilen Text, die alles veränderten und doch nur bestätigten, was er immer gefürchtet hatte:

Mutter im Krankenhaus. Zustand kritisch. Sie fragt nach dir.

yunus' Worte, karg und anklagend zugleich, wie alles, was von seinem älteren Bruder kam. Ihre Mutter, Alev, achtundachtzig Jahre alt, lag im Sterben in Antalya. Die Frau, die er einst geliebt und gehasst hatte, die ihn verlassen und dann zurückgeholt hatte, deren Liebe stets an Bedingungen geknüpft war, deren Anerkennung er nie wirklich erlangt hatte. Die Frau, deren Leben er nun an seinem Ende begleiten sollte. Eine letzte Chance auf Versöhnung? Oder eine letzte Gelegenheit für sie, ihm seine Fehler vorzuhalten, ihn zu verurteilen, wie sie es immer getan hatte?

Die Musik in seinem Kopf erreichte einen dramatischen Höhepunkt, ein verzweifeltes Flehen in chromatischen Läufen, ein fast wahnhaftes Suchen nach Erlösung. Emre schloss die Augen, ließ den Regen auf sein Gesicht fallen, als könnte das Wasser die Brandmale seiner Schuld abwaschen.

"Was tun?" flüsterte er, eine Frage an den gleichgültigen Himmel, an den stummen Gott, an das taube Universum. "Was soll ich tun?"

Eine Antwort blieb aus, wie immer. Stattdessen nur das Rauschen des Regens, das ferne Brummen des Verkehrs, das unterschwellige Pulsieren der Stadt, die weiterlebte, gleichgültig gegenüber den kleinen Tragödien, die sich in ihrem Schoß abspielten.

Emre erhob sich, ein müdes Aufraffen gegen die Schwerkraft der Verzweiflung. Er musste eine Entscheidung treffen. Seine Mutter lag im Sterben. Sollte er zu ihr gehen, konfrontieren, was er so lange gemieden hatte? Oder sollte er bleiben, weiter treiben in diesem Zwischenreich der Unentschlossenheit, dieser Limbo zwischen Leben und Existieren?

Die Straßenlaterne über ihm flackerte in diesem Moment auf, ein kaltes, elektrisches Licht, das seinen Schatten lang und dünn über den nassen Asphalt warf. Wie ein Mahnmal seiner selbst, dachte Emre. Ein zweidimensionales Abbild eines Mannes, der selbst nicht mehr war als ein Schatten dessen, was er hätte sein können.

Der Wind frischte auf, trug den Geruch des Flusses heran, modrig und uralt. In der Ferne heulte eine Sirene, ein langgezogenes Klagen, das an die letzten Töne der Bach-Fantasie erinnerte, dieses abrupte Ende, das keine Erlösung bot, sondern nur eine kurze Atempause vor dem nächsten Sturm.

Emre setzte seinen Weg fort, nun in Richtung seiner Unterkunft, eines kleinen, spärlich möblierten Zimmers in einer heruntergekommenen Pension am Rande des Industriegebiets. Dort würde er die Nacht verbringen, eingeklemmt zwischen den knarrenden Wänden, die die Geräusche der anderen Bewohner durchließen – Fremde wie er, Gestrandete am Ufer des Lebens.

Und während er ging, schienen die vergilbten Blätter unter seinen Füßen ein Wort zu rascheln, ein Wort, das in seinem Bewusstsein Gestalt annahm: Antalya. Er musste nach Antalya. Zu seiner Mutter. Zu seiner Vergangenheit.

Die Entscheidung formte sich in ihm, nicht als klarer Gedanke, sondern als dunkel pulsierendes Empfinden, eine Notwendigkeit jenseits der Vernunft. Es war an der Zeit, den Kreis zu schließen, der mit seiner Kindheit begonnen hatte. Es war an der Zeit, sich seiner Mutter zu stellen, dieser Frau, die ihn geprägt hatte wie keine andere, im Guten wie im Schlechten.

Als er die Tür seiner Pension erreichte, begann der Regen stärker zu fallen, trommelte mit Nachdruck auf das Blechdach des Vorbaus. Ein Wasserfall aus silbernen Fäden, der die Welt hinter einem flüssigen Schleier verbarg.

Emre stand einen Moment lang still, fasziniert von diesem natürlichen Vorhang. Wie dünn war doch die Grenze zwischen den Welten, zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Schuld und Sühne. Ein Schritt, und alles konnte sich verändern. Oder nichts.

Die Entscheidung war gefallen. Er würde reisen. Nach Antalya. Zu seiner Mutter. Zu dem Teil seiner Seele, den er so lange verleugnet hatte.

Die letzten Noten der Bach-Fantasie verklangen in seinem Geist, machten Platz für die ersten Töne der Fuge, methodisch, unerbittlich, ein mathematisches Gewebe aus Wiederholung und Variation. Genau wie sein Leben, dachte Emre. Ein Thema mit Variationen, endlos wiederholt, stets ähnlich und doch immer anders.

Er trat ein in die Wärme der schäbigen Pension, während draußen der November-Regen die letzten Blätter von den Bäumen wusch und der Neckar träge dem Meer entgegenfloss, diesem großen Vergessen, in dem alle Ströme enden.

Vor ihm lag eine Reise. Eine Reise zurück zu den Wurzeln seiner Schuld. Zurück zu seiner Mutter. Zurück zu sich selbst.

Kapitel II: Die Kartographie der Abgründe

Am Morgen nach seiner Entscheidung erwachte Emre in seinem schmalen Bett in der Pension "Zum Anker", einem Namen, der seine Ironie nicht verbarg, denn niemand, der hier wohnte, war verankert im Leben. Er lag regungslos, beobachtete, wie das fahle Licht durch die dünnen Vorhänge sickerte und auf der gegenüberliegenden Wand ein abstraktes Muster zeichnete. Ein Lichtspiel, das die Risse im Putz hervorhob – Bruchlinien in der Fassade, wie die in seinem eigenen Leben.

Die ersten Töne der Fuge von Bach begleiteten sein Erwachen, präzise, mathematisch, ein Thema, das sich durch die Stimmen fortpflanzte, immer wieder aufgenommen, variiert, transformiert. Das Thema meines Lebens ist die Flucht, dachte er. Die ewige Flucht vor mir selbst.

Mit einer Bewegung, die mehr Anstrengung erforderte, als er zugeben wollte, schwang er die Beine über die Bettkante. Der kalte Boden unter seinen nackten Füßen war eine plötzliche Erinnerung an die physische Welt, an die Gegenwart, die keine Rücksicht auf seine inneren Schlachtfelder nahm. Die Heizung in der Pension funktionierte nur sporadisch, ein weiteres Symbol für die Unzuverlässigkeit aller menschlichen Konstruktionen.

Sein Blick wanderte zu dem abgenutzten Koffer, der unter dem Fenster stand – ein altes Stück, dessen verblichenes Braun an vergangene Reisen erinnerte, an Aufbrüche und Ankünfte, die stets von der gleichen Hoffnung und der gleichen Enttäuschung begleitet waren. Heute würde er ihn wieder öffnen müssen, für eine Reise, die er seit Jahrzehnten vermieden hatte.

"Antalya," flüsterte er, und das Wort schwebte im Raum wie eine ferne Melodie, fremd und doch vertraut. Seine Heimat, die nie wirklich seine Heimat gewesen war. Der Ort, an dem seine Mutter ihn zurückgelassen hatte, um nach Deutschland zu gehen. Der Ort, an dem er später in ihrem Hotel gelebt hatte, niemals ganz zugehörig, immer ein Fremdkörper, selbst in der eigenen Familie.

Mit schweren Bewegungen erhob er sich, schlich zum Waschbecken in der Ecke des Zimmers. Der Spiegel darüber zeigte ihm ein Gesicht, das er kaum wiedererkannte – die tiefen Falten um die Augen, die grauen Strähnen im einst schwarzen Haar, die schlaffe Haut unter dem Kinn. War das wirklich er? Dieser alte Mann mit den müden Augen, in denen die Resignation wie ein dunkler See lag?

Ich bin ein Gespenst, dachte er, während er Wasser in seine hohlen Hände schöpfte und es über sein Gesicht laufen ließ. Ein Gespenst, das durch die Korridore seiner eigenen Vergangenheit wandelt.

Die kalte Nässe auf seiner Haut ließ ihn erschaudern, brachte ihn zurück in den Moment. Es gab Dinge zu erledigen. Ein Flugticket zu kaufen. Die wenigen Habseligkeiten zu packen. Abschied zu nehmen von diesem Ort, der nur eine weitere Station auf seiner langen Reise ins Nirgendwo war.

Während er sich anzog – die gleichen abgetragenen Kleider wie am Vortag, ein weiteres Zeugnis seiner Armut – fiel sein Blick auf das zerfledderte Buch auf dem Nachttisch. Hesses "Siddharta", ein Roman, den er in seiner Jugend geliebt hatte, dessen Weisheit ihn aber stets außer Reichweite geblieben war. Er hatte es kürzlich in einem Antiquariat gefunden, hatte die zerschlissenen Seiten berührt wie die Relikte eines vergessenen Glaubens.

"Der Fluß ist überall zugleich," hatte Hesse geschrieben, "am Ursprung und an der Mündung, am Wasserfall, an der Fähre, an der Stromschnelle, im Meer, im Gebirge, überall, zugleich." Emre wünschte, er könnte diese Weisheit begreifen, könnte die Einheit aller Dinge sehen, anstatt nur die Bruchstücke seines zersplitterten Lebens.

Mit langsamen, beinahe rituellen Bewegungen begann er, seinen Koffer zu packen. Es war nicht viel, was er besaß – einige Kleidungsstücke, die Medikamente gegen seinen hohen Blutdruck, ein abgegriffenes Notizbuch voller unleserlicher Gedanken. Als seine Hände das verblasste Foto in der Innentasche seiner Jacke berührten, hielt er inne. Es zeigte Ayse, vor vier Jahren aufgenommen, an ihrem letzten gemeinsamen Tag. Sie saß in einem Café, das Licht der Nachmittagssonne verfing sich in ihrem dunklen Haar, ihr Lächeln war distant, als ahnte sie bereits, dass sie ihn verlassen würde.

Ayse. Die Frau, für die er alles aufgegeben hatte, nur um festzustellen, dass "alles" nicht genug war.

"Du bist nie wirklich da, Emre," hatte sie gesagt, in jener letzten Nacht. "Dein Körper ist hier, aber deine Seele wandert immer irgendwo anders. In der Vergangenheit, in der Schuld, in der Analyse. Du zerpflückst jeden Gedanken, jedes Gefühl, bis nichts mehr davon übrig ist. Ich kann nicht mit einem Gespenst leben."

Er hatte schweigend dagesessen, unfähig zu widersprechen, denn es war die Wahrheit. Er war ein Gespenst, ein Schatten seiner selbst, gefangen zwischen den Welten, niemals vollständig präsent, niemals vollständig abwesend.

Nun, während er das Foto betrachtete, spürte er den scharfen Stich des Verlusts. Nicht nur Ayse hatte er verloren, sondern auch Kate, seine Söhne, seine Würde, seine Zukunft. Alles hatte er dem Moloch der Selbstsuche geopfert, dieser endlosen Introspektion, die zu keiner Erlösung führte, nur zu weiteren Abgründen.

"Herr Emre?" Eine Stimme und ein Klopfen an der Tür rissen ihn aus seinen Grübeleien. Der Pensionswirt, Herr Wagner, ein kleiner Mann mit einem ewigen Schwarzweißfilm auf der hohen Stirn, stand im Türrahmen. "Telefon für Sie. Ein Herr yunus."

Emre erstarrte. Sein Bruder. Der Anruf konnte nur eines bedeuten.

Mit schweren Schritten folgte er Herrn Wagner den schmalen Korridor entlang zur Rezeption, wo das altmodische Telefon auf einem abgenutzten Schreibtisch stand. Er nahm den Hörer, presste ihn ans Ohr, als wäre es ein Instrument der Folter.

"Ja?"

"Sie ist letzte Nacht gestorben," kam die Stimme seines Bruders, kalt und anklagend. "Du kommst zu spät, wie immer."

Die Worte trafen ihn wie physische Schläge. Er spürte, wie seine Beine nachgaben, tastete blind nach einem Stuhl.

"Wann..." Seine Stimme brach. "Wann ist die Beerdigung?"

"In drei Tagen. Donnerstag." Eine Pause. "Sie hat nach dir gefragt, in ihren letzten Stunden. 'Wo ist Emre? Warum kommt er nicht zu mir?' Selbst am Ende hast du sie enttäuscht."

Die Anklage in yunus' Stimme war unverhohlen. Emre schloss die Augen, spürte, wie sich sein Magen zusammenzog.

"Ich werde kommen," sagte er leise.

"Wozu noch? Sie ist tot." yunus' Stimme war hart wie Stein. "Vielleicht geht es dir ja um das Erbe? Um das Hotel? Du kommst zu spät, Bruder. Alles ist längst geregelt."

Emre schwieg. Was hätte er sagen sollen? Dass es ihm nicht um Geld ging? Dass er Versöhnung suchte? Dass er den Kreislauf der Schuld durchbrechen wollte? yunus hätte ihm nicht geglaubt, und vielleicht zu Recht.

"Ich komme trotzdem," sagte er schließlich.

"Wie du willst." Die Verachtung in yunus' Stimme war greifbar. "Das Zimmer deiner Mutter ist noch so, wie sie es verlassen hat. Du kannst dort bleiben. Aber erwarte keine Gastfreundschaft von mir."

Die Leitung wurde tot. Emre starrte auf den Hörer in seiner Hand, ein stummes Stück Plastik, das soeben sein Leben verändert hatte. Seine Mutter war tot. Die Frau, die er so sehr geliebt und gehasst hatte, war gegangen, bevor er sich von ihr verabschieden konnte. Bevor er ihr sagen konnte... ja, was eigentlich? Dass er ihr vergab? Dass er verstand, warum sie so gewesen war, wie sie war? Dass er um Vergebung bat für seine eigenen Fehler?

Es war zu spät. Zu spät für Worte, zu spät für Versöhnung. Und doch – er musste gehen. Musste sehen, wo sie gestorben war, musste sich verabschieden, auch wenn sie ihn nicht mehr hören konnte.

Mit mechanischen Bewegungen kehrte er in sein Zimmer zurück, beendete das Packen. Die Fuge in seinem Kopf wurde eindringlicher, ein mathematisches Geflecht aus Thema und Antwort, ein Labyrinth aus Tönen, in dem er sich verlor. Er packte das Foto von Ayse ein, zögerte, dann legte er auch das zerfledderte Hesse-Buch hinzu. Vielleicht würde er auf dieser Reise endlich verstehen, was der Flussheilige zu sagen hatte.

Als er den Koffer schloss, fiel sein Blick auf das schmale Regal neben dem Bett, wo eine einzelne Flasche Raki stand – ein Geschenk von Herr Wagner zu seinem letzten Geburtstag, den er allein in diesem tristen Zimmer gefeiert hatte. Der milchig-weiße Schnaps im Glas hatte ihn an seine Kindheit erinnert, an die seltenen Momente des Friedens, wenn sein Vater in guter Stimmung gewesen war, wenn die Familie für einen kurzen Augenblick eine echte Familie sein konnte.

Er nahm die Flasche, betrachtete sie im schwachen Licht. Sollte er sie mitnehmen? Oder hier lassen, als Symbol dessen, was er zurücklassen wollte – die Flucht in den Alkohol, in die Betäubung, in die Vergangenheit?

Nach einem Moment des Zögerns legte er die Flasche in den Koffer, bedeckte sie mit einem Hemd. Es war kindisch zu glauben, dass ein symbolischer Akt seinen Charakter ändern könnte. Er war, wer er war, geformt durch seine Entscheidungen, durch die Umstände, durch die Geschichte seiner Familie, durch die Migrationserfahrung, die seine Identität so fundamental geprägt hatte.

Ich bin ein Kind des Zwischen, dachte er. Zwischen den Kulturen, zwischen den Sprachen, zwischen den Identitäten. Nirgends zu Hause, überall ein Fremder.

Mit einem letzten Blick auf das karge Zimmer, das drei Jahre lang sein Zuhause gewesen war, schloss er die Tür hinter sich. Es war bezeichnend, dass nichts Persönliches zurückblieb, keine Spur seiner Existenz, als hätte er nie hier gelebt. Er würde keine Lücke hinterlassen, kein Loch in der Welt.

Im Büro der Pension übergab er Herrn Wagner einen Teil der Miete, die er schuldig war.

"Ich weiß nicht, wann ich zurückkomme," sagte er.

---ENDE DER LESEPROBE---