Andersens Märchen - Hans Christian Andersen - E-Book

Andersens Märchen E-Book

Hans Christian Andersen

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Beschreibung

50 Märchen von Hans Christian Andersen, illustriert mit 124 Zeichnungen Hans Christian Andersen ist der wohl berühmteste Dichter und Schriftsteller Dänemarks. Er hat uns eine mannigfaltige Schar der zauberhaftesten Märchenfiguren hinterlassen. Vergleichbar ist sein Werk nur mit den Geschichten der Brüder Grimm oder den Märchen aus Tausendundeiner Nacht. Lesen Sie die bekanntesten 50 Märchen: "Die kleine Seejungfrau", "Däumelinchen", "Die Schneekönigin", "Das häßliche junge Entlein", "Des Kaisers neue Kleider", "Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern", "Die Prinzessin auf der Erbse" und viele mehr. Null Papier Verlag

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Seitenzahl: 653

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Hans Christian Andersen

Andersens Märchen

Mit 124 Illustrationen

Hans Christian Andersen

Andersens Märchen

Mit 124 Illustrationen

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019Übersetzung: Julius ReuscherIllustrationen: John William Waterhouse, Vilhelm Pedersen 3. Auflage, ISBN 978-3-943466-65-2

www.null-papier.de/andersen

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Hans Chris­ti­an An­der­sen – Le­ben und Werk

Däu­me­lin­chen

Der stand­haf­te Zinn­sol­dat

Das alte Haus

Das Feu­er­zeug

Das häss­li­che jun­ge Ent­lein

Der Gar­ten des Pa­ra­die­ses

Der klei­ne Klaus und der große Klaus

Der Rei­se­ka­me­rad

Der Sand­mann

Ein­lei­tung

Mon­tag

Diens­tag

Mitt­woch

Don­ners­tag

Frei­tag

Sonn­abend

Sonn­tag

Der Schwei­ne­hirt

Der Tan­nen­baum

Des Kai­sers neue Klei­der

Die alte Stra­ßen­la­ter­ne

Die Ge­schich­te von ei­ner Mut­ter

Die klei­ne See­jung­frau

Die ro­ten Schu­he

Die Schnee­kö­ni­gin

Ers­te Ge­schich­te wel­che von dem Spie­gel und den Scher­ben han­delt

Zwei­te Ge­schich­te – Ein klei­ner Kna­be und ein klei­nes Mäd­chen

Drit­te Ge­schich­te – Der Blu­men­gar­ten bei der Frau, wel­che zau­bern konn­te

Vier­te Ge­schich­te – Prinz und Prin­zes­sin

Fünf­te Ge­schich­te – Das klei­ne Räu­ber­mäd­chen

Sechs­te Ge­schich­te – Die Lap­pin und die Fin­nin

Sie­ben­te Ge­schich­te – Von dem Schlos­se der Schnee­kö­ni­gin und was sich spä­ter dar­in zu­trug

Die glück­li­che Fa­mi­lie

Die Hir­tin und der Schorn­stein­fe­ger

Die Stör­che

Die Nach­ti­gall

Der En­gel

Der flie­gen­de Kof­fer

Der klei­ne Tuk

Die Blu­men der klei­nen Ida

Der Flachs

Die Nach­bars­fa­mi­li­en

Die wil­den Schwä­ne

El­fen­hü­gel

Die Flie­der­müt­ter­chen

Der Was­ser­trop­fen

Der Hals­kra­gen

Der böse Fürst

Das klei­ne Mäd­chen mit den Schwe­fel­höl­zern

Die Prin­zes­sin auf der Erb­se

Das Lie­bes­paar

Der un­ar­ti­ge Kna­be

Die Stopf­na­del

Das Gän­se­blüm­chen

Die Glo­cke

Der Buch­wei­zen

Der Ro­se­nelf

Hol­ger Dans­ke

Die Sprin­ger

Der Schat­ten

Töl­pel­hans

Fünf in ei­ner Scho­te

Der Schnee­mann

Die Tee­kan­ne

Die Ga­lo­schen des Glückes

I. Ein An­fang

II. Wie es dem Ge­richts­rat er­ging

III. Des Wäch­ters Aben­teu­er

IV. Ein Haupt­mo­ment

V. Die Ver­wand­lung des Schrei­bers

VI. Das Bes­te, was die Ga­lo­schen brach­ten

Dan­ke

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Hans Christian Andersen – Leben und Werk

Hans Chris­ti­an An­der­sen ist fast je­dem noch heu­te be­kannt als ei­ner der größ­ten Mär­chen­er­zäh­ler des 19. Jahr­hun­derts.

Sein be­weg­tes Le­ben be­gann am 2. April 1805 im dä­ni­schen Oden­se auf der In­sel Fü­nen. Er war der Sohn ei­nes ver­arm­ten Schuh­ma­chers und ei­ner Trin­ke­rin und hat­te da­durch al­les an­de­re als gute Voraus­set­zun­gen für sein künf­ti­ges Le­ben. Wäh­rend sei­ner Kind­heit konn­te Hans Chris­ti­an An­der­sen nur un­re­gel­mä­ßig zum Schul­un­ter­richt er­schei­nen, da das Geld stets knapp war und der Jun­ge dem Va­ter bei der Ar­beit hel­fen muss­te. 1816 starb der Va­ter und der 14-jäh­ri­ge An­der­sen ent­schloss sich dar­auf­hin, in die dä­ni­sche Haupt­stadt Ko­pen­ha­gen zu ge­hen, um dort sein Glück zu ver­su­chen. Die mu­ti­ge Ent­schei­dung – war er doch dort ganz auf sich al­lein ge­stellt – soll­te sich als Glücks­fall her­aus­stel­len. Denn nach­dem sich der Jun­ge zu­nächst ei­ni­ge Zeit als Schau­spie­ler und Sän­ger ver­sucht hat­te durch­zu­schla­gen, nahm ihn der Kon­fe­renz­rat Jo­nas Col­lin un­ter sei­ne Fit­ti­che. Er war da­mals Di­rek­tor des Kö­nig­li­chen Thea­ters in Ko­pen­ha­gen. Von da an ver­brach­te An­der­sen den Rest sei­ner Ju­gend im Haus des rei­chen Man­nes, der meh­re­re Kin­der hat­te. Zum Sohn des Hau­ses fühl­te sich der jun­ge Mann mehr als nur freund­schaft­lich hin­ge­zo­gen, doch auch zur jüngs­ten Toch­ter ver­band ihn eine in­ni­ge freund­schaft­li­che Be­zie­hung. Über Col­lin wur­de er Kö­nig Fried­rich VI. be­kannt, der ihm zu­nächst die Been­di­gung der schu­li­schen Lauf­bahn und spä­ter das Stu­di­um an der Uni­ver­si­tät in Ko­pen­ha­gen er­mög­lich­te. Wäh­rend die­ser Zeit war Hans Chris­ti­an An­der­sen be­reits durch klei­ne Ge­dich­te und Er­zäh­lun­gen auf­ge­fal­len. Der jun­ge Mann ver­lieb­te sich bald in eine Frau, die je­doch ei­nem an­de­ren ver­spro­chen war. Aus Lie­bes­kum­mer un­ter­nahm er zahl­rei­che Rei­sen durch ganz Eu­ro­pa, lan­de­te da­bei in Deutsch­land, Frank­reich, Eng­land, Spa­ni­en und Ita­li­en. Er ge­lang­te so­gar bis ins Os­ma­ni­sche Reich. In Dres­den war er mehr als drei­ßig Mal.

Sei­ne Rei­sen in­spi­rier­ten zahl­rei­che sei­ner Mär­chen, die oft­mals eben­falls exo­ti­sche Mo­ti­ve ha­ben. Auch der Ein­fluss Ita­li­ens spie­gelt sich dar­in wi­der.

Die Bil­dungs­schicht rea­gier­te be­geis­tert auf An­der­sens ers­te Ro­ma­ne und wei­te­re li­te­ra­ri­sche Wer­ke, so­dass er schnell auch in­ter­na­tio­nal Aner­ken­nung fand. Mit sei­nen Ro­ma­nen gilt er als Be­grün­der der Li­te­ra­tur des Rea­lis­mus in Dä­ne­mark. Im pri­va­ten Be­reich blieb Hans Chris­ti­an An­der­sen zeit sei­nes Le­bens al­lein. Al­ler­dings pfleg­te er in­ten­si­ve Freund­schaf­ten zu meh­re­ren Da­men. Zu die­sen, mit de­nen er lan­ge Brief­wech­sel führ­te, ge­hör­te auch die Sän­ge­rin Jen­ny Lind, die als »die schwe­di­sche Nach­ti­gall« be­kannt wur­de. Auch mit der Toch­ter des Ent­deckers des Elek­tro­ma­gne­tis­mus, Hans Chris­ti­an Oers­ted, ver­band ihn eine in­ni­ge Freund­schaft. Je­doch fühl­te er sich eben­falls zu Ed­vard Col­lin hin­ge­zo­gen, den er schon in sei­ner Ju­gend sehr gern ge­habt hat­te. Selbst als die­ser hei­ra­te­te, be­hiel­ten sie einen dau­er­haf­ten, re­gel­mä­ßi­gen Brief­kon­takt bei. Die Spe­ku­la­ti­on über An­der­sens Ho­mo­se­xua­li­tät be­gann des­halb be­reits zu sei­nen Leb­zei­ten, hat­te je­doch kei­nen Ein­fluss auf den ho­hen Sta­tus des Li­te­ra­ten.

Im Al­ter von 70 Jah­ren starb Hans Chris­ti­an An­der­sen hoch­ver­ehrt in Ko­pen­ha­gen am 4. Au­gust 1875. Er hat­te in sei­nem Le­ben zahl­lo­se Mär­chen, Ro­ma­ne und an­de­re li­te­ra­ri­sche Wer­ke ver­fasst und mit die­sen stets Er­folg ge­habt. Vie­le in­ter­na­tio­na­le Prei­se wur­den ihn zu­teil. So wur­de er nach sei­nem Tod mit ei­nem Staats­be­gräb­nis ge­ehrt und auf dem Ko­pen­ha­ge­ner As­sis­tenz­fried­hof bei­ge­setzt.

Den meis­ten sind heu­te die Mär­chen des Hans Chris­ti­an An­der­sen be­kannt. Er schrieb da­von mehr als 300 Stück, wel­che in acht Bän­den ver­öf­fent­licht wur­den. An­der­sen be­dien­te sich hier­bei haupt­säch­lich der Form des Kunst­mär­chens.

Der Be­griff Kunst­mär­chen be­deu­tet, dass die Mär­chen aus der Hand des Dich­ters selbst stam­men und die­se nicht, wie im Fal­le der Brü­der Grimm, aus Er­zäh­lun­gen an­de­rer zu­sam­men­ge­stellt wur­den. Al­ler­dings hat­ten auch An­der­sens Mär­chen teils alte Mo­ti­ve aus al­ler Her­ren Län­der, die er auf sei­nen zahl­rei­chen Rei­sen be­sucht hat­te. Als Quel­len dienten bei­spiels­wei­se alte grie­chi­sche und os­ma­ni­sche Le­gen­den, aber auch dä­ni­sche und deut­sche Volks­mär­chen. Die­se je­doch setz­te er völ­lig neu zu­sam­men und ver­leg­te sie teil­wei­se in an­de­re Zei­ten und Hand­lungs­räu­me. Ei­ni­ge der Mär­chen er­fand An­der­sen selbst ohne jeg­li­chen ge­schicht­li­chen Hin­ter­grund. Zu die­sen ge­hö­ren »Das klei­ne Mäd­chen mit den Schwe­fel­höl­zern«, »Das häss­li­che Ent­lein« so­wie sein wohl be­kann­tes­tes Mär­chen »Die Schnee­kö­ni­gin«, wel­ches bis heu­te auch un­zäh­li­ge fil­mi­sche und mu­si­ka­li­sche In­ter­pre­ta­tio­nen er­fuhr.

Be­kannt wur­den auch jene Mär­chen Hans Chris­ti­an An­der­sens, in de­nen er Ge­gen­stän­de zum Le­ben er­weck­te. Das wohl be­kann­tes­te die­ser Mär­chen ist »Der stand­haf­te Zinn­sol­dat«. Wei­te­re Mär­chen die­ser Mach­art sind »Die Stopf­na­del« oder »Der Tan­nen­baum«, in dem er einen Weih­nachts­baum ver­mensch­licht und zum Le­ben er­weckt.

Am Ende sei­nes Le­bens rück­ten im­mer wie­der auch neue tech­ni­sche Er­fin­dun­gen in den Fo­kus sei­ner Mär­chen, wie etwa in »Die große See­schlan­ge«.

Die Mär­chen er­schie­nen in den Jah­ren 1835-1848 so­wie 1858-1866 und wur­den bis heu­te in mehr als 80 Spra­chen über­setzt.

Auch wenn Hans Chris­ti­an An­der­sen die Mär­chen zu­nächst für Kin­der schrieb, sind sie heu­te vor al­lem bei er­wach­se­nen Le­sern be­liebt. Der hin­ter­grün­di­ge Hu­mor und die oft erns­te Hand­lung mit sub­ti­len Un­ter­tö­nen fin­den mehr bei Äl­te­ren An­klang.

Ne­ben den Mär­chen schrieb Hans Chris­ti­an An­der­sen mit »Ju­gend­le­ben und Träu­me ei­nes ita­lie­ni­schen Dich­ters« (Ori­gi­nal: »Im­pro­vi­sa­to­ren«) 1835 auch sei­nen ers­ten Ro­man. Die­ser er­zählt die Le­bens­ge­schich­te des Dich­ters An­to­nio, der durch die ver­schie­dens­ten Re­gio­nen Ita­li­ens reist. In die­sem Ro­man konn­te An­der­sen eine Viel­zahl sei­ner ei­ge­nen Ita­li­e­ner­leb­nis­se wie­der­ge­ben – und hat­te da­mit großen Er­folg: Er er­hielt für das Werk ein sehr statt­li­ches Dich­ter­ge­halt.

Der Ro­man »Nur ein Gei­ger« von 1837 er­zählt da­ge­gen von ei­nem Men­schen, dem es nicht ver­gönnt ist, mit sei­ner Ge­nia­li­tät als Gei­ger zu Er­folg zu ge­lan­gen. Er schei­tert letzt­end­lich an der ge­sell­schaft­li­chen Wirk­lich­keit.

Im Jah­re 1848 schrieb er den Ro­man »Die zwei Baro­nes­sen«, in dem es um die Über­win­dung der ge­sell­schaft­li­chen Schran­ken geht. Auch die­ses The­ma hat­te An­der­sen zeit­le­bens be­wegt. Mit dem Ro­man woll­te er zei­gen, dass der Geis­te­sa­del dem Adel von Ge­burt an über­le­gen und des­halb eine ge­sell­schaft­li­che Ab­gren­zung nicht mög­lich ist.

»Das Mär­chen mei­nes Le­bens« lau­tet der Ti­tel von Hans Chris­ti­an An­der­sens 1845/46 er­schie­ne­ner Au­to­bio­gra­fie, die in Dä­ne­mark erst zehn Jah­re spä­ter er­schi­en. Im Buch be­schreibt An­der­sen sich selbst als Men­schen mit all sei­nen Ei­gen­hei­ten und vor al­lem der Sehn­sucht, das Wun­der­ba­re im All­tag se­hen zu kön­nen.

Ne­ben den Mär­chen und Ro­ma­nen brach­te Hans Chris­ti­an An­der­sen auch zahl­rei­che Ge­dich­te so­wie Kurz­pro­sa her­vor, wel­che bis heu­te be­liebt sind.

Däumelinchen

Es war ein­mal eine Frau, die sich sehr nach ei­nem klei­nen Kin­de sehn­te, aber sie wuss­te nicht, wo­her sie es neh­men soll­te. Da ging sie zu ei­ner al­ten Hexe und sag­te zu ihr: »Ich möch­te herz­lich gern ein klei­nes Kind ha­ben, willst Du mir nicht sa­gen, wo­her ich das be­kom­men kann?«

»Ja, da­mit wol­len wir schon fer­tig wer­den!« sag­te die Hexe. »Da hast Du ein Gers­ten­korn; das ist gar nicht von der Art, wie sie auf dem Fel­de des Land­manns wach­sen, oder wie sie die Hüh­ner zu fres­sen be­kom­men; lege das in einen Blu­men­topf, so wirst Du et­was zu se­hen be­kom­men!«

»Ich dan­ke Dir!« sag­te die Frau und gab der Hexe fünf Gro­schen, ging dann nach Hau­se, pflanz­te das Gers­ten­korn, und so­gleich wuchs da eine herr­li­che, große Blu­me; sie sah aus wie eine Tul­pe, aber die Blät­ter schlos­sen sich fest zu­sam­men, ge­ra­de als ob sie noch in der Knos­pe wä­ren.

»Das ist eine nied­li­che Blu­me!« sag­te die Frau und küss­te sie auf die ro­ten und gel­ben Blät­ter, aber ge­ra­de wie sie dar­auf küss­te, öff­ne­te sich die Blu­me mit ei­nem Knall. Es war eine wirk­li­che Tul­pe, wie man nun se­hen konn­te, aber mit­ten in der Blu­me saß auf dem grü­nen Sa­men­grif­fel ein ganz klei­nes Mäd­chen, fein und nied­lich, sie war nicht über einen Dau­men breit und lang, des­we­gen wur­de sie Däu­me­lin­chen ge­nannt.

Eine nied­li­che, la­ckier­te Wal­nuss­scha­le be­kam sie zur Wie­ge, blaue Veil­chen­blät­ter wa­ren ihre Ma­trat­ze und ein Ro­sen­blatt ihr Deck­bett. Da schlief sie bei Nacht, aber am Tage spiel­te sie auf dem Tisch, wo die Frau einen Tel­ler hin­ge­stellt, um den sie einen gan­zen Kranz von Blu­men ge­legt hat­te, de­ren Sten­gel im Was­ser stan­den; hier schwamm ein großes Tul­pen­blatt, und auf die­sem konn­te Däu­me­lin­chen sit­zen, und von der einen Sei­te des Tel­lers nach der an­de­ren fah­ren; sie hat­te zwei wei­ße Pfer­de­haa­re zum Ru­dern. Das sah ganz al­ler­liebst aus. Sie konn­te auch sin­gen, und so fein und nied­lich, wie man es nie ge­hört hat­te.

Ein­mal nachts, als sie in ih­rem schö­nen Bet­te lag, kam eine Krö­te durch das Fens­ter her­ein­gehüpft, wo eine Schei­be ent­zwei war. Die Krö­te war häss­lich, groß und nass, sie hüpf­te ge­ra­de auf den Tisch her­un­ter, wo Däu­me­lin­chen lag und un­ter dem ro­ten Ro­sen­blatt schlief.

»Das wäre eine schö­ne Frau für mei­nen Sohn!« sag­te die Krö­te, und da nahm sie die Wal­nuss­scha­le, worin Däu­me­lin­chen schlief, und hüpf­te mit ihr durch die zer­bro­che­ne Schei­be fort, in den Gar­ten hin­un­ter.

Da floss ein großer, brei­ter Fluss; aber ge­ra­de am Ufer war es sump­fig und mo­ras­tig; hier wohn­te die Krö­te mit ih­rem Soh­ne. Hu, der war häss­lich und gars­tig und glich ganz sei­ner Mut­ter. »Koax, koax, brek­ke­re­ke­kex!« Das war al­les, was er sa­gen konn­te, als er das nied­li­che klei­ne Mäd­chen in der Wal­nuss­scha­le er­blick­te.

»Sprich nicht so laut, denn sonst er­wacht sie!« sag­te die alte Krö­te. »Sie könn­te uns noch ent­lau­fen, denn sie ist so leicht wie ein Schwa­nen­flaum! Wir wol­len sie auf eins der brei­ten See­ro­sen­blät­ter in den Fluss hin­aus­set­zen, das ist für sie, die so leicht und klein ist, ge­ra­de wie eine In­sel; da kann sie nicht da­von­lau­fen, wäh­rend wir die Staats­stu­be un­ten un­ter dem Mo­rast, wo Ihr woh­nen und hau­sen sollt, in Stand set­zen.«

Drau­ßen in dem Flus­se wuch­sen vie­le See­ro­sen mit den brei­ten, grü­nen Blät­tern, wel­che aus­sa­hen, als schwäm­men sie oben auf dem Was­ser; das Blatt, wel­ches am wei­tes­ten hin­aus­lag, war auch das aller­größ­te; da schwamm die alte Krö­te hin­aus und setz­te die Wal­nuss­scha­le mit Däu­me­lin­chen dar­auf.

Das klei­ne We­sen er­wach­te früh mor­gens, und da sie sah, wo sie war, fing sie recht bit­ter­lich an zu wei­nen; denn es war Was­ser zu al­len Sei­ten des großen, grü­nen Blat­tes, und sie konn­te gar nicht an das Land kom­men.

Die alte Krö­te saß un­ten im Mo­rast und putz­te ihre Stu­be mit Schilf und gel­ben Fisch­blatt­blu­men aus – es soll­te da recht hübsch für die neue Schwie­ger­toch­ter wer­den – und schwamm dann mit dem häss­li­chen Soh­ne zu dem Blat­te hin­aus, wo Däu­me­lin­chen stand. Sie woll­ten ihr hüb­sches Bett ho­len, das soll­te in das Braut­ge­mach ge­stellt wer­den, be­vor sie es selbst be­trat. Die alte Krö­te ver­neig­te sich tief im Was­ser vor ihr und sag­te: »Hier siehst Du mei­nen Sohn; er wird Dein Mann sein, und Ihr wer­det recht präch­tig un­ten im Mo­rast woh­nen!«

»Koax, koax, brek­ke­re­ke­kex!« war al­les, was der Sohn sa­gen konn­te.

Dann nah­men sie das nied­li­che, klei­ne Bett und schwam­men da­mit fort; aber Däu­me­lin­chen saß ganz al­lein und wein­te auf dem grü­nen Blat­te, denn sie moch­te nicht bei der gars­ti­gen Krö­te woh­nen oder ih­ren häss­li­chen Sohn zum Man­ne ha­ben. Die klei­nen Fi­sche, wel­che un­ten im Was­ser schwam­men, hat­ten die Krö­te wohl ge­se­hen und ge­hört, was sie ge­sagt hat­te; des­halb streck­ten sie die Köp­fe her­vor, sie woll­ten doch das klei­ne Mäd­chen se­hen. So­bald sie es er­blick­ten, fan­den sie das­sel­be so nied­lich, dass es ih­nen leid tat, dass es zur häss­li­chen Krö­te hin­un­ter soll­te. Nein, das durf­te nie ge­sche­hen! Sie ver­sam­mel­ten sich un­ten im Was­ser rings um den grü­nen Sten­gel, wel­cher das Blatt hielt, nag­ten mit den Zäh­nen den Stiel ab, und da schwamm das Blatt den Fluss hin­ab mit Däu­me­lin­chen da­von, weit weg, wo die Krö­te sie nicht er­rei­chen konn­te.

Däu­me­lin­chen se­gel­te vor vie­len Städ­ten vor­bei, und die klei­nen Vö­gel sa­ßen in den Bü­schen, sa­hen sie und san­gen: »Welch lieb­li­ches, klei­nes Mäd­chen!« Das Blatt schwamm mit ihr im­mer wei­ter und wei­ter fort; so reis­te Däu­me­lin­chen au­ßer Lan­des.

Ein nied­li­cher, wei­ßer Schmet­ter­ling um­flat­ter­te sie stets und ließ sich zu­letzt auf das Blatt nie­der, denn Däu­me­lin­chen ge­fiel ihm. Die­se war sehr er­freut; denn nun konn­te die Krö­te sie nicht er­rei­chen, und es war so schön, wo sie fuhr; die Son­ne schi­en auf das Was­ser, die­ses glänz­te wie das herr­lichs­te Gold. Sie nahm ih­ren Gür­tel, band das eine Ende um den Schmet­ter­ling, das an­de­re Ende des Ban­des be­fes­tig­te sie am Blat­te; das glitt nun viel schnel­ler da­von und sie mit, denn sie stand ja auf dem­sel­ben.

Da kam ein großer Mai­kä­fer an­ge­flo­gen, der er­blick­te sie und schlug au­gen­blick­lich sei­ne Klau­en um ih­ren schlan­ken Leib und flog mit ihr auf einen Baum; das grü­ne Blatt schwamm den Fluss hin­ab und der Schmet­ter­ling mit, denn er war an das Blatt ge­bun­den und konn­te nicht von dem­sel­ben los­kom­men.

Wie war das arme Däu­me­lin­chen er­schro­cken, als der Mai­kä­fer mit ihr auf den Baum flog! Aber haupt­säch­lich war sie des schö­nen, wei­ßen Schmet­ter­lings we­gen be­trübt, den sie an das Blatt fest­ge­bun­den hat­te; im Fall er sich nicht be­frei­en konn­te, muss­te er ja ver­hun­gern. Aber dar­um küm­mer­te sich der Mai­kä­fer gar nicht. Er setz­te sich mit ihr auf das größ­te, grü­ne Blatt des Bau­mes, gab ihr das Süße der Blu­men zu es­sen und sag­te, dass sie nied­lich sei, ob­gleich sie ei­nem Mai­kä­fer durch­aus nicht glei­che. Spä­ter ka­men alle die an­de­ren Mai­kä­fer, die im Bau­me wohn­ten, und be­such­ten sie; sie be­trach­te­ten Däu­me­lin­chen, und die Mai­kä­fer­fräu­lein rümpf­ten die Fühl­hör­ner und sag­ten: »Sie hat doch nicht mehr als zwei Bei­ne; das sieht er­bärm­lich aus.« – »Sie hat kei­ne Fühl­hör­ner!« sag­te eine an­de­re. »Sie ist so schlank in der Mit­te; pfui, sie sieht wie ein Mensch aus! Wie häss­lich sie ist!« sag­ten alle Mai­kä­fe­rin­nen, und doch war Däu­me­lin­chen so nied­lich. Das er­kann­te auch der Mai­kä­fer, der sie ge­raubt hat­te, aber als alle an­de­ren sag­ten, sie sei häss­lich, so glaub­te er es zu­letzt auch und woll­te sie gar nicht ha­ben; sie konn­te ge­hen, wo­hin sie woll­te. Sie flo­gen mit ihr den Baum hin­ab und setz­ten sie auf ein Gän­se­blüm­chen; da wein­te sie, weil sie so häss­lich sei, dass die Mai­kä­fer sie nicht ha­ben woll­ten, und doch war sie das Lieb­lichs­te, das man sich den­ken konn­te, so fein und klar wie das schöns­te Ro­sen­blatt.

Den gan­zen Som­mer über leb­te das arme Däu­me­lin­chen ganz al­lein in dem großen Wal­de. Sie flocht sich ein Bett aus Gras­hal­men und hing es un­ter ei­nem Klet­ten­blat­te auf, so war sie vor dem Re­gen ge­schützt; sie pflück­te das Süße der Blu­men zur Spei­se und trank vom Tau, der je­den Mor­gen auf den Blät­tern lag. So ver­ging Som­mer und Herbst. Aber nun kam der Win­ter, der kal­te, lan­ge Win­ter. Alle Vö­gel, die so schön vor ihr ge­sun­gen hat­ten, flo­gen da­von, Bäu­me und Blu­men ver­dorr­ten; das große Klet­ten­blatt, un­ter dem sie ge­wohnt hat­te, schrumpf­te zu­sam­men und es blieb nichts, als ein gel­ber, ver­welk­ter Sten­gel zu­rück; Däu­me­lin­chen fror er­schreck­lich, denn ihre Klei­der wa­ren ent­zwei und sie war selbst so fein und klein, sie muss­te er­frie­ren. Es fing an zu schnei­en, und jede Schnee­flo­cke, die auf sie fiel, war, als wenn man auf uns eine gan­ze Schau­fel voll wirft, denn wir sind groß, und sie war nur einen Zoll lang. Da hüll­te sie sich in ein ver­dorr­tes Blatt ein, aber das woll­te nicht wär­men; sie zit­ter­te vor Käl­te.

Dicht vor dem Wal­de, wo­hin sie nun ge­kom­men war, lag ein großes Korn­feld, aber das Korn war schon lan­ge ab­ge­schnit­ten, nur die nack­ten, tro­ckenen Stop­peln stan­den aus der ge­fro­re­nen Erde her­vor. Sie wa­ren ge­ra­de wie ein gan­zer Wald für sie zu durch­wan­dern und sie zit­ter­te vor Käl­te! Da ge­lang­te sie vor die Türe der Feld­maus, die ein klei­nes Loch un­ter den Korn­stop­peln hat­te. Da wohn­te die Feld­maus warm und gut, hat­te die gan­ze Stu­be voll Korn, eine herr­li­che Kü­che und Spei­se­kam­mer. Das arme Däu­me­lin­chen stell­te sich in die Türe, ge­ra­de wie je­des an­de­re arme Bet­tel­mäd­chen, und bat um ein klei­nes Stück von ei­nem Gers­ten­korn, denn sie hat­te in zwei Ta­gen nicht das Min­des­te zu es­sen ge­habt.

»Du klei­nes We­sen!« sag­te die Feld­maus, denn im Grun­de war es eine gute alte Feld­maus, »komm her­ein in mei­ne war­me Stu­be und iss mit mir!«

Da ihr nun Däu­me­lin­chen ge­fiel, sag­te sie: »Du kannst den Win­ter über bei mir blei­ben, aber Du musst mei­ne Stu­be sau­ber und rein hal­ten und mir Ge­schich­ten er­zäh­len, denn die lie­be ich sehr.« Däu­me­lin­chen tat, was die gute alte Feld­maus ver­lang­te, und hat­te es au­ßer­or­dent­lich gut.

»Nun wer­den wir bald Be­such er­hal­ten!« sag­te die Feld­maus. »Mein Nach­bar pflegt mich wö­chent­lich ein­mal zu be­su­chen. Er steht sich noch bes­ser als ich, hat große Säle und trägt einen schö­nen, schwar­zen Samt­pelz! Wenn Du den zum Man­ne be­kom­men könn­test, so wä­rest Du gut ver­sorgt; aber er kann nicht se­hen. Du musst ihm die nied­lichs­ten Ge­schich­ten er­zäh­len, die Du weißt!«

Aber dar­um küm­mer­te sich Däu­me­lin­chen nicht, sie moch­te den Nach­bar gar nicht ha­ben, denn er war ein Maul­wurf.

Er kam und stat­te­te den Be­such in sei­nem schwar­zen Samt­pelz ab. Er sei reich und ge­lehrt, sag­te die Feld­maus; sei­ne Woh­nung war auch zwan­zig­mal grö­ßer, als die der Feld­maus. Ge­lehr­sam­keit be­saß er, aber die Son­ne und die schö­nen Blu­men moch­te er gar nicht lei­den, von die­sen sprach er schlecht, denn er hat­te sie noch nie ge­se­hen.

Däu­me­lin­chen muss­te sin­gen, und sie sang: »Mai­kä­fer flie­ge!« und: »Geht der Pfaf­fe auf das Feld.« Da wur­de der Maul­wurf in sie, der schö­nen Stim­me we­gen, ver­liebt, aber er sag­te nichts, er war ein be­son­ne­ner Mann.

Er hat­te sich vor kur­z­em einen lan­gen Gang durch die Erde von sei­nem bis zu ih­rem Hau­se ge­gra­ben; in die­sem er­hiel­ten die Feld­maus und Däu­me­lin­chen die Er­laub­nis, zu spa­zie­ren, so­viel sie woll­ten. Aber er bat sie, sich nicht vor dem to­ten Vo­gel zu fürch­ten, der in dem Gan­ge lie­ge; es war ein gan­zer Vo­gel mit Fe­dern und Schna­bel, der si­cher erst kürz­lich ge­stor­ben und nun be­gra­ben war, ge­ra­de da wo er sei­nen Gang ge­macht hat­te.

Der Maul­wurf nahm nun ein Stück fau­les Holz ins Maul, denn das schim­mert ja wie Feu­er im Dun­keln, ging dann vor­an und leuch­te­te ih­nen in dem lan­gen, dun­keln Gan­ge. Als sie da­hin ka­men, wo der tote Vo­gel lag, stemm­te der Maul­wurf sei­ne brei­te Nase ge­gen die De­cke und stieß die Erde auf, so­dass ein großes Loch wur­de, durch wel­ches das Licht hin­un­ter schei­nen konn­te. Mit­ten auf dem Fuß­bo­den lag eine tote Schwal­be, die schö­nen Flü­gel fest an die Sei­te ge­drückt, die Füße und den Kopf un­ter die Fe­dern ge­zo­gen; der arme Vo­gel war si­cher vor Käl­te ge­stor­ben. Das tat Däu­me­lin­chen leid, sie hielt viel von al­len klei­nen Vö­geln, sie hat­ten ja den gan­zen Som­mer so schön vor ihr ge­sun­gen und ge­zwit­schert; aber der Maul­wurf stieß ihn mit sei­nen kur­z­en Bei­nen und sag­te: »Nun pfeift er nicht mehr! Es muss doch er­bärm­lich sein, als klei­ner Vo­gel ge­bo­ren zu wer­den! Gott sei Dank, dass keins von mei­nen Kin­dern das wird; ein sol­cher Vo­gel hat ja au­ßer sei­nem Qui­vit nichts, und muss im Win­ter ver­hun­gern!«

»Ja, das mögt Ihr als ver­nünf­ti­ger Mann wohl sa­gen«, er­wi­der­te die Feld­maus. »Was hat der Vo­gel für all’ sein Qui­vit, wenn der Win­ter kommt? Er muss hun­gern und frie­ren; doch das soll wohl vor­nehm sein!«

Däu­me­lin­chen sag­te gar nichts; aber als die bei­den an­de­ren dem Vo­gel den Rücken wand­ten, neig­te sie sich her­ab, schob die Fe­dern bei­sei­te, wel­che den Kopf be­deck­ten, und küss­te ihn auf die ge­schlos­se­nen Au­gen.

»Vi­el­leicht war er es, der so hübsch vor mir im Som­mer sang«, dach­te sie. »Wie viel Freu­de hat er mir nicht ge­macht, der lie­be, schö­ne Vo­gel!«

Der Maul­wurf stopf­te nun das Loch zu, durch wel­ches der Tag her­ein­schi­en, und be­glei­te­te dann die Da­men nach Hau­se. Aber nachts konn­te Däu­me­lin­chen gar nicht schla­fen; da stand sie von ih­rem Bet­te auf und flocht von Heu einen großen, schö­nen Tep­pich, den trug sie zu dem Vo­gel, brei­te­te ihn über den­sel­ben und leg­te wei­che Baum­wol­le, wel­che sie in der Stu­be der Feld­maus ge­fun­den hat­te, an die Sei­ten des Vo­gels, da­mit er in der kal­ten Erde warm lie­gen möge.

»Lebe wohl, Du schö­ner, klei­ner Vo­gel!« sag­te sie. »Lebe wohl und habe Dank für Dei­nen herr­li­chen Ge­sang im Som­mer, als alle Bäu­me grün wa­ren und die Son­ne warm auf uns her­ab­schi­en!« Dann leg­te sie ihr Haupt an des Vo­gels Brust, er­schreck­te aber zu­gleich, denn es war ge­ra­de, als ob drin­nen et­was klopf­te. Das war des Vo­gels Herz. Der Vo­gel war nicht tot, er lag nur be­täubt da und war nun er­wärmt wor­den und be­kam wie­der Le­ben.

Im Herbst flie­gen alle Schwal­ben nach den war­men Län­dern fort; aber ist da eine, die sich ver­spä­tet, so friert sie so, dass sie wie tot nie­der­fällt, lie­gen bleibt, wo sie hin­fällt, und der kal­te Schnee sie be­deckt.

Däu­me­lin­chen zit­ter­te hef­tig, so war sie er­schro­cken, denn der Vo­gel war ja groß, sehr groß ge­gen sie, die nur einen Zoll lang war; aber sie fass­te doch Mut, leg­te die Baum­wol­le dich­ter um die arme Schwal­be, und hol­te ein Krau­se­münz­blatt, wel­ches sie selbst zum Deck­blatt ge­habt hat­te, und leg­te es über den Kopf des Vo­gels.

In der nächs­ten Nacht schlich sie sich wie­der zu ihm, und da war er nun le­ben­dig, aber ganz matt, er konn­te nur einen Au­gen­blick sei­ne Au­gen öff­nen und Däu­me­lin­chen an­se­hen, die mit ei­nem Stück fau­len Hol­zes in der Hand, denn eine an­de­re La­ter­ne hat­te sie nicht, vor ihm stand.

»Ich dan­ke Dir, Du nied­li­ches, klei­nes Kind!« sag­te die kran­ke Schwal­be zu ihr. »Ich bin herr­lich er­wärmt wor­den; bald er­hal­te ich mei­ne Kräf­te zu­rück und kann dann wie­der drau­ßen in dem war­men Son­nen­schein her­um­flie­gen!«

»O«, sag­te Däu­me­lin­chen, »es ist kalt drau­ßen, es schneit und friert! Bleib in Dei­nem war­men Bet­te, ich wer­de Dich schon pfle­gen!«

Dann brach­te sie der Schwal­be Was­ser in ei­nem Blu­men­blatt, und die­se trank und er­zähl­te ihr, wie sie ih­ren einen Flü­gel an ei­nem Dorn­busch ge­ris­sen und des­halb nicht so schnell habe flie­gen kön­nen, als die an­de­ren Schwal­ben, wel­che fort­ge­flo­gen sei­en, weit fort nach den war­men Län­dern. So sei sie zu­letzt zur Erde ge­fal­len. Mehr wuss­te sie nicht, und auch nicht, wie sie hier­her ge­kom­men war.

Den gan­zen Win­ter blieb sie nun da un­ten, Däu­me­lin­chen pfleg­te sie und hat­te sie lieb, we­der der Maul­wurf noch die Feld­maus er­fuhr et­was da­von, denn sie moch­ten die arme Schwal­be nicht lei­den.

So­bald das Früh­jahr kam und die Son­ne die Erde er­wärm­te, sag­te die Schwal­be Däu­me­lin­chen Le­be­wohl, die das Loch öff­ne­te, wel­ches der Maul­wurf oben ge­macht hat­te. Die Son­ne schi­en herr­lich zu ih­nen her­ein und die Schwal­be frag­te, ob sie mit­kom­men wol­le, sie könn­te auf ih­rem Rücken sit­zen, sie woll­ten weit in den grü­nen Wald hin­ein­flie­gen. Aber Däu­me­lin­chen wuss­te, dass es die alte Feld­maus be­trü­ben wür­de, wenn sie sie ver­lie­ße.

»Nein, ich kann nicht!« sag­te Däu­me­lin­chen.

»Lebe wohl, lebe wohl, Du gu­tes, nied­li­ches Mäd­chen!« sag­te die Schwal­be und flog hin­aus in den Son­nen­schein. Däu­me­lin­chen sah ihr nach und das Was­ser trat ihr in die Au­gen, denn sie war der ar­men Schwal­be von Her­zen gut.

»Qui­vit, qui­vit!« sang der Vo­gel und flog in den grü­nen Wald. Däu­me­lin­chen war recht be­trübt. Sie er­hielt gar kei­ne Er­laub­nis, in den war­men Son­nen­schein hin­aus­zu­ge­hen. Das Korn, wel­ches auf dem Fel­de, über dem Hau­se der Feld­maus ge­sät war, wuchs auch hoch in die Luft em­por; das war ein ganz dich­ter Wald für das arme, klei­ne Mäd­chen, das nur einen Zoll lang war.

»Nun sollst Du im Som­mer Dei­ne Aus­s­teu­er nä­hen!« sag­te die Feld­maus zu ihr; denn der Nach­bar, der lang­wei­li­ge Maul­wurf in dem schwar­zen Samt­pel­ze, hat­te um sie ge­freit. »Du musst so­wohl Wol­len-wie Lei­nen­zeug ha­ben, denn es darf Dir an nichts feh­len, wenn Du des Maul­wurfs Frau wirst!«

Däu­me­lin­chen muss­te auf der Spin­del spin­nen, und die Feld­maus mie­te­te vier Spin­nen, wel­che Tag und Nacht für sie span­nen und web­ten. Je­den Abend be­such­te sie der Maul­wurf und sprach dann im­mer da­von, dass, wenn der Som­mer zu Ende gehe, die Son­ne lan­ge nicht so warm schei­nen wer­de, sie bren­ne ja jetzt die Erde fest wie einen Stein; ja, wenn der Som­mer vor­bei sei, dann wol­le er mit Däu­me­lin­chen Hoch­zeit hal­ten. Aber sie war gar nicht er­freut dar­über, denn sie moch­te den lang­wei­li­gen Maul­wurf nicht lei­den. Je­den Mor­gen, wenn die Son­ne auf­ging, und je­den Abend, wenn sie un­ter­ging, stahl sie sich zur Tür hin­aus, und wenn dann der Wind die Kornäh­ren trenn­te, so­dass sie den blau­en Him­mel er­bli­cken konn­te, dach­te sie dar­an, wie hell und schön es hier drau­ßen sei, und wünsch­te sehn­lichst, die lie­be Schwal­be wie­der­zu­se­hen; aber die kam nicht wie­der; sie war ge­wiss weit weg in den schö­nen grü­nen Wald ge­zo­gen.

Als es nun Herbst wur­de, hat­te Däu­me­lin­chen ihre gan­ze Aus­s­teu­er fer­tig.

»In vier Wo­chen sollst Du Hoch­zeit hal­ten!« sag­te die Feld­maus. Aber Däu­me­lin­chen wein­te und sag­te, sie wol­le den lang­wei­li­gen Maul­wurf nicht ha­ben.

»Sch­nick­schnack!« sag­te die Feld­maus. »Wer­de nicht wi­der­spens­tig, denn sonst wer­de ich Dich mit mei­nen wei­ßen Zäh­nen bei­ßen! Es ist ja ein schö­ner Mann, den Du be­kommst! Die Kö­ni­gin selbst hat kei­nen sol­chen schwar­zen Samt­pelz! Er hat Kü­che und Kel­ler voll. Dan­ke Du Gott für ihn!«

Nun soll­ten sie Hoch­zeit ha­ben. Der Maul­wurf war schon ge­kom­men, Däu­me­lin­chen zu ho­len; sie soll­te bei ihm woh­nen, tief un­ter der Erde, nie an die war­me Son­ne her­aus­kom­men, denn die moch­te er nicht lei­den. Das arme Kind war sehr be­trübt; sie soll­te nun der schö­nen Son­ne Le­be­wohl sa­gen, die sie doch bei der Feld­maus hat­te von der Tür aus se­hen dür­fen.

»Lebe wohl, Du hel­le Son­ne!« sag­te sie, streck­te die Arme hoch em­por und ging auch eine klei­ne Stre­cke wei­ter vor dem Hau­se der Feld­maus; denn nun war das Korn ge­ern­tet, und hier stan­den nur die tro­ckenen Stop­peln. »Lebe wohl, lebe wohl!« sag­te sie und schlang ihre Arme um eine klei­ne rote Blu­me, die da stand. »Grü­ße die klei­ne Schwal­be von mir, wenn Du sie zu se­hen be­kommst!«

»Qui­vit, qui­vit!« er­tön­te es plötz­lich über ih­rem Kop­fe, sie sah em­por, es war die klei­ne Schwal­be, die ge­ra­de vor­bei kam. So­bald sie Däu­me­lin­chen er­blick­te, wur­de sie sehr er­freut; die­se er­zähl­te ihr, wie un­gern sie den häss­li­chen Maul­wurf zum Man­ne ha­ben wol­le, und dass sie dann tief un­ter der Erde woh­nen sol­le, wo nie die Son­ne schei­ne. Sie konn­te sich nicht ent­hal­ten, da­bei zu wei­nen.

»Nun kommt der kal­te Win­ter«, sag­te die klei­ne Schwal­be; »ich flie­ge weit fort nach den war­men Län­dern, willst Du mit mir kom­men? Du kannst auf mei­nem Rücken sit­zen! Bin­de Dich nur mit Dei­nem Gür­tel fest, dann flie­gen wir von dem häss­li­chen Maul­wurf und sei­ner dun­keln Stu­be fort, weit über die Ber­ge, nach den war­men Län­dern, wo die Son­ne schö­ner scheint als hier, wo es im­mer Som­mer ist und herr­li­che Blu­men gibt. Flie­ge nur mit mir, Du lie­bes, klei­nes Däu­me­lin­chen, die mein Le­ben ge­ret­tet hat, als ich wie tot in dem dun­keln Erd­kel­ler lag!«

»Ja, ich wer­de mit Dir kom­men!« sag­te Däu­me­lin­chen und setz­te sich auf des Vo­gels Rücken, mit den Fü­ßen auf sei­ne ent­fal­te­ten Schwin­gen, band ih­ren Gür­tel an ei­ner der stärks­ten Fe­dern fest, und da flog die Schwal­be hoch in die Luft hin­auf, über Wald und über See, hoch hin­auf über die großen Ber­ge, wo im­mer Schnee liegt; Däu­me­lin­chen fror in der kal­ten Luft, aber dann ver­kroch sie sich un­ter des Vo­gels war­men Fe­dern und streck­te nur den klei­nen Kopf her­vor, um all’ die Schön­hei­ten un­ter sich zu be­wun­dern.

Da ka­men sie denn nach den war­men Län­dern. Dort schi­en die Son­ne weit kla­rer als hier, der Him­mel war zwei­mal so hoch, und an Grä­ben und He­cken wuch­sen die schöns­ten, grü­nen und blau­en Wein­trau­ben. In den Wäl­dern hin­gen Zitro­nen und Ap­fel­si­nen, hier duf­te­te es von Myr­ten und Krau­se­mün­ze, auf den Land­stra­ßen lie­fen die nied­lichs­ten Kin­der und spiel­ten mit großen, bun­ten Schmet­ter­lin­gen. Aber die Schwal­be flog noch wei­ter fort, und es wur­de schö­ner und schö­ner. Un­ter den herr­lichs­ten grü­nen Bäu­men an dem blau­en See stand ein blen­dend wei­ßes Mar­mor­schloss aus noch al­ten Zei­ten. Weinre­ben rank­ten sich um die ho­hen Säu­len em­por; ganz oben wa­ren vie­le Schwal­ben­nes­ter, und in ei­nem der­sel­ben wohn­te die Schwal­be, wel­che Däu­me­lin­chen trug.

»Hier ist mein Haus!« sag­te die Schwal­be. »Aber willst Du Dir nun selbst eine der präch­tigs­ten Blu­men, die da un­ten wach­sen, aus­su­chen, dann will ich Dich hin­ein­set­zen und Du sollst es so gut ha­ben, wie Du es nur wün­schest!«

»Das ist herr­lich!« sag­te Däu­me­lin­chen und klatsch­te in die klei­nen Hän­de.

Da lag eine große, wei­ße Mar­mor­säu­le, wel­che zu Bo­den ge­fal­len und in drei Stücke ge­sprun­gen war, aber zwi­schen die­sen wuch­sen die schöns­ten, großen, wei­ßen Blu­men. Die Schwal­be flog mit Däu­me­lin­chen hin­un­ter und setz­te sie auf eins der brei­ten Blät­ter. Aber wie er­staun­te die­se! Da saß ein klei­ner Mann mit­ten in der Blu­me, so weiß und durch­sich­tig, als wäre er von Glas; die nied­lichs­te Gold­kro­ne trug er auf dem Kop­fe und die herr­lichs­ten, kla­ren Flü­gel an den Schul­tern, er selbst war nicht grö­ßer als Däu­me­lin­chen. Es war der Blu­me En­gel. In je­der Blu­me wohn­te so ein klei­ner Mann oder eine Frau, aber die­ser war der Kö­nig über alle.

»Gott, wie ist er schön!« flüs­ter­te Däu­me­lin­chen der Schwal­be zu. Der klei­ne Prinz er­schrak sehr über die Schwal­be, denn sie war ge­gen ihn, der so klein und fein war, ein Rie­sen­vo­gel; aber als er Däu­me­lin­chen er­blick­te, wur­de er hoch­er­freut; sie war das schöns­te Mäd­chen, das er je ge­se­hen hat­te. Des­we­gen nahm er sei­ne Gold­kro­ne vom Haup­te und setz­te sie ihr auf, frag­te, wie sie hei­ße und ob sie sei­ne Frau wer­den wol­le, dann sol­le sie Kö­ni­gin über alle Blu­men wer­den! Ja, das war wahr­lich ein an­de­rer Mann als der Sohn der Krö­te und der Maul­wurf mit dem schwar­zen Samt­pel­ze. Sie sag­te des­halb ja zu dem herr­li­chen Prin­zen, und von je­der Blu­me kam eine Dame oder ein Herr, so nied­lich, dass es eine Lust war; je­der brach­te Däu­me­lin­chen ein Ge­schenk, aber das bes­te von al­len wa­ren ein Paar schö­ne Flü­gel von ei­ner großen, wei­ßen Flie­ge; sie wur­den Däu­me­lin­chen am Rücken be­fes­tigt, und nun konn­te sie auch von Blu­me zu Blu­me flie­gen. Da gab es vie­le Freu­de, und die Schwal­be saß oben in ih­rem Nes­te und sang ih­nen vor, so gut sie konn­te; aber im Her­zen war sie doch be­trübt, denn sie war Däu­me­lin­chen gut und hät­te sich nie von ihr tren­nen mö­gen.

»Du sollst nicht Däu­me­lin­chen hei­ßen!« sag­te der Blu­me­nen­gel zu ihr. »Das ist ein häss­li­cher Name und Du bist schön. Wir wol­len Dich Maja nen­nen.«

»Lebe wohl, lebe wohl!« sag­te die klei­ne Schwal­be und flog wie­der fort von den war­men Län­dern, weit weg nach Deutsch­land zu­rück; dort hat­te sie ein klei­nes Nest über dem Fens­ter, wo der Mann wohnt, der Mär­chen er­zäh­len kann, vor ihm sang sie »Qui­vit, qui­vit!«

Da­her wis­sen wir die gan­ze Ge­schich­te.

Der standhafte Zinnsoldat

Es wa­ren ein­mal fünf­und­zwan­zig Zinn­sol­da­ten, die wa­ren alle Brü­der, denn sie wa­ren aus ei­nem al­ten zin­ner­nen Löf­fel ge­macht wor­den. Das Ge­wehr hiel­ten sie im Arm und das Ge­sicht ge­ra­de aus; rot und blau, über­aus herr­lich war die Uni­form; das Al­ler­ers­te, was sie in die­ser Welt hör­ten, als der De­ckel von der Schach­tel ge­nom­men wur­de, in der sie la­gen, war das Wort »Zinn­sol­da­ten!« Das rief ein klei­ner Kna­be und klatsch­te in die Hän­de; er hat­te sie er­hal­ten, denn es war sein Ge­burts­tag, und er stell­te sie nun auf dem Ti­sche auf. Der eine Sol­dat glich dem an­de­ren leib­haft, nur ein ein­zi­ger war et­was ver­schie­den; er hat­te nur ein Bein, denn er war zu­letzt ge­gos­sen wor­den, und da war nicht mehr Zinn ge­nug da: doch stand er eben so fest auf sei­nem einen Bein als die an­de­ren auf ih­ren zwei­en, und ge­ra­de er ist es, der sich be­merk­bar mach­te.

Auf dem Tisch, auf wel­chem sie auf­ge­stellt wur­den, stand vie­les an­de­re Spiel­zeug, aber das, was am meis­ten in die Au­gen fiel, war ein nied­li­ches Schloss von Pa­pier. Durch die klei­nen Fens­ter konn­te man ge­ra­de in die Säle hin­ein­se­hen. Drau­ßen vor dem­sel­ben stan­den klei­ne Bäu­me rings um einen klei­nen Spie­gel, der wie ein klei­ner See aus­se­hen soll­te. Schwä­ne von Wachs schwam­men dar­auf und spie­gel­ten sich. Das war al­les nied­lich, aber das Nied­lichs­te war doch ein klei­nes Mäd­chen, das mit­ten in der of­fe­nen Schloss­tür stand; sie war auch aus Pa­pier aus­ge­schnit­ten, aber sie hat­te ein schö­nes Kleid und ein klei­nes, schma­les, blau­es Band über den Schul­tern, ge­ra­de wie eine Schär­pe; mit­ten in die­ser saß ein glän­zen­der Stern, ge­ra­de so groß wie ihr gan­zes Ge­sicht. Das klei­ne Mäd­chen streck­te ihre bei­den Arme aus, denn sie war eine Tän­ze­rin, und dann hob sie das eine Bein so hoch em­por, dass der Zinn­sol­dat es durch­aus nicht fin­den konn­te und glaub­te, dass sie ge­ra­de wie er nur ein Bein habe.

»Das wäre eine Frau für mich«, dach­te er; »aber sie ist et­was vor­nehm, sie wohnt in ei­nem Schlos­se, ich habe nur eine Schach­tel und da sind wir fünf­und­zwan­zig dar­in, das ist kein Ort für sie; doch ich muss su­chen, Be­kannt­schaft mit ihr an­zu­knüp­fen!« Und dann leg­te er sich, so lang er war, hin­ter eine Schnupf­ta­baks­do­se, wel­che auf dem Ti­sche stand; da konn­te er recht die klei­ne, fei­ne Dame be­trach­ten, die fort­fuhr auf ei­nem Bein zu ste­hen, ohne um­zu­fal­len.

Als es Abend wur­de, ka­men alle die an­de­ren Zinn­sol­da­ten in ihre Schach­tel und die Leu­te im Hau­se gin­gen zu Bet­te. Nun fing das Spiel­zeug an zu spie­len, so­wohl »Es kom­men Frem­de!« als auch »Krieg füh­ren« und »Ball ge­ben«; die Zinn­sol­da­ten ras­sel­ten in der Schach­tel, denn sie woll­ten mit da­bei sein, aber sie konn­ten den De­ckel nicht auf­he­ben. Der Nuss­knacker schoss Pur­zel­bäu­me, und der Grif­fel be­lus­tig­te sich auf der Ta­fel; es war ein Lärm, dass der Ka­na­ri­en­vo­gel da­von er­wach­te und an­fing mit­zu­spre­chen, und zwar in Ver­sen. Die bei­den ein­zi­gen, die sich nicht von der Stel­le be­weg­ten, wa­ren der Zinn­sol­dat und die Tän­ze­rin; sie hielt sich ge­ra­de auf der Ze­hen­spit­ze und bei­de Arme aus­ge­streckt; er war eben so stand­haft auf sei­nem einen Bei­ne; sei­ne Au­gen wand­te er kei­nen Au­gen­blick von ihr weg.

Nun schlug die Uhr zwölf, und klatsch!, da sprang der De­ckel von der Schnupf­ta­baks­do­se, aber da war kein Ta­bak dar­in, nein, son­dern ein klei­ner schwar­zer Ko­bold. Das war ein Kunst­stück.

»Zinn­sol­dat«, sag­te der Ko­bold, »hal­te Dei­ne Au­gen im Zaum!«

Aber der Zinn­sol­dat tat, als ob er es nicht hör­te.

»Ja, war­te nur bis mor­gen!« sag­te der Ko­bold.

Als es nun Mor­gen wur­de und die Kin­der auf­stan­den, wur­de der Zinn­sol­dat in das Fens­ter ge­stellt, und war es nun der Ko­bold oder der Zug­wind, auf ein­mal flog das Fens­ter zu und der Sol­dat stürz­te drei Stock­wer­ke hoch hin­un­ter. Das war eine er­schreck­li­che Fahrt. Er streck­te das Bein ge­ra­de in die Höhe und blieb auf der Helm­spit­ze mit dem Ba­jon­net ab­wärts zwi­schen den Pflas­ter­stei­nen ste­cken.

Das Dienst­mäd­chen und der klei­ne Kna­be ka­men so­gleich hin­un­ter, um zu su­chen; aber, ob­gleich sie nahe dar­an wa­ren, auf ihn zu tre­ten, so konn­ten sie ihn doch nicht er­bli­cken. Hät­te der Zinn­sol­dat ge­ru­fen: »Hier bin ich!« so hät­ten sie ihn wohl ge­fun­den, aber er fand es nicht pas­send, laut zu schrei­en, weil er in Uni­form war.

Nun fing es an zu reg­nen; die Trop­fen fie­len im­mer dich­ter, es ward ein or­dent­li­cher Platz­re­gen; als der­sel­be zu Ende war, ka­men zwei Stra­ßen­jun­gen vor­bei.

»Sieh Du!« sag­te der eine, »da liegt ein Zinn­sol­dat! Der soll hin­aus und se­geln!«

Sie mach­ten ein Boot von ei­ner Zei­tung, setz­ten den Sol­dat mit­ten in das­sel­be, und nun se­gel­te er den Rinn­stein hin­un­ter; bei­de Kna­ben lie­fen ne­ben­her und klatsch­ten in die Hän­de. Was schlu­gen da für Wel­len in dem Rinn­stein und wel­cher Strom war da! Ja, der Re­gen hat­te aber auch ge­strömt. Das Pa­pier­boot schau­kel­te auf und nie­der, mit­un­ter dreh­te es sich so ge­schwind, dass der Zinn­sol­dat beb­te; aber er blieb stand­haft, ver­zog kei­ne Mie­ne, sah ge­ra­de aus und hielt das Ge­wehr im Arm.

Mit ei­nem Male trieb das Boot un­ter eine lan­ge Rinn­stein­brücke; da wur­de es ge­ra­de so dun­kel, als wäre er in sei­ner Schach­tel.

»Wo­hin mag ich nun kom­men?« dach­te er. »Ja, ja, das ist des Ko­bolds Schuld! Ach säße doch das klei­ne Mäd­chen hier im Boo­te, da möch­te es mei­net­we­gen noch ein­mal so dun­kel sein!«

Da kam plötz­lich eine große Was­ser­rat­te, wel­che un­ter der Rinn­stein­brücke wohn­te.

»Hast Du einen Pass?« frag­te die Rat­te. »Her mit dem Pas­se!«

Aber der Zinn­sol­dat schwieg still und hielt das Ge­wehr noch fes­ter.

Das Boot fuhr da­von und die Rat­te hin­ter­her. Hu! Wie fletsch­te sie die Zäh­ne und rief den Holz­spä­nen und dem Stroh zu:

»Halt auf! Halt auf! Er hat kei­nen Zoll be­zahlt; er hat den Pass nicht ge­zeigt!«

Aber die Strö­mung wur­de stär­ker und stär­ker! Der Zinn­sol­dat konn­te schon da, wo das Brett auf­hör­te, den hel­len Tag er­bli­cken, aber er hör­te auch einen brau­sen­den Ton, der wohl einen tap­fe­ren Mann er­schre­cken konn­te; denkt nur, der Rinn­stein stürz­te, wo die Brücke en­de­te, ge­ra­de hin­aus in einen großen Kanal; das wür­de für ihn eben so ge­fähr­lich ge­we­sen sein, als für uns, einen großen Was­ser­fall hin­un­ter­zu­fah­ren.

Nun war er schon so nahe da­bei, dass er nicht mehr an­hal­ten konn­te. Das Boot fuhr hin­aus, der arme Zinn­sol­dat hielt sich so steif er konn­te, nie­mand soll­te ihm nach­sa­gen, dass er mit den Au­gen blin­ke. Das Boot schnurr­te drei-, vier­mal her­um und war bis zum Ran­de mit Was­ser ge­füllt, es muss­te sin­ken. Der Zinn­sol­dat stand bis zum Hal­se im Was­ser, und tiefer und tiefer sank das Boot, mehr und mehr lös­te das Pa­pier sich auf; nun ging das Was­ser über des Sol­da­ten Kopf. Da dach­te er an die klei­ne, nied­li­che Tän­ze­rin, die er nie mehr zu Ge­sicht be­kom­men soll­te, und es klang vor des Zinn­sol­da­ten Ohren:

»Fah­re, fah­re Kriegs­mann! Den Tod musst Du er­lei­den!«

Nun ging das Pa­pier ent­zwei und der Zinn­sol­dat stürz­te hin­durch, wur­de aber au­gen­blick­lich von ei­nem großen Fisch ver­schlun­gen.

Wie war es dun­kel da drin­nen! Da war es noch schlim­mer als un­ter der Rinn­stein­brücke, und dann war es so sehr eng; aber der Zinn­sol­dat war stand­haft und lag so lang er war, mit dem Ge­weh­re im Arm.

Der Fisch fuhr um­her, er mach­te die al­ler­schreck­lichs­ten Be­we­gun­gen; end­lich wur­de er ganz still, es fuhr wie ein Blitz­strahl durch ihn hin. Das Licht schi­en ganz klar und je­mand rief laut: »Der Zinn­sol­dat!« Der Fisch war ge­fan­gen wor­den, auf den Markt ge­bracht, ver­kauft und war in die Kü­che hin­auf­ge­kom­men, wo die Kö­chin ihn mit ei­nem großen Mes­ser auf­schnitt. Sie nahm mit zwei Fin­gern den Sol­dat mit­ten um den Leib und trug ihn in die Stu­be hin­ein, wo alle den merk­wür­di­gen Mann se­hen woll­ten, der im Ma­gen ei­nes Fi­sches her­um­ge­reist war; aber der Zinn­sol­dat war gar nicht stolz. Sie stell­ten ihn auf den Tisch und da – wie son­der­bar kann es doch in der Welt zu­ge­hen! Der Zinn­sol­dat war in der­sel­ben Stu­be, in der er frü­her ge­we­sen war, er sah die­sel­ben Kin­der und das­sel­be Spiel­zeug stand auf dem Ti­sche, das herr­li­che Schloss mit der nied­li­chen, klei­nen Tän­ze­rin; sie hielt sich noch auf dem einen Bein und hat­te das an­de­re hoch in der Luft, sie war auch stand­haft; das rühr­te den Zinn­sol­dat, er war nahe dar­an, Zinn zu wei­nen, aber es schick­te sich nicht. Er sah sie an, aber sie sag­ten gar nichts.

Da nahm der eine der klei­nen Kna­ben den Sol­da­ten und warf ihn ge­ra­de in den Ofen, ob­wohl er gar kei­nen Grund da­für hat­te; es war si­cher der Ko­bold in der Dose, der schuld dar­an war.

Der Zinn­sol­dat stand ganz be­leuch­tet da und fühl­te eine Hit­ze, die er­schreck­lich war; aber ob sie von dem wirk­li­chen Feu­er oder von der Lie­be her­rühr­te, das wuss­te er nicht. Die Far­ben wa­ren ganz von ihm ab­ge­gan­gen; ob das auf der Rei­se ge­sche­hen oder ob der Kum­mer dar­an schuld war, konn­te nie­mand sa­gen. Er sah das klei­ne Mäd­chen an, sie blick­te ihn an, und er fühl­te, dass er schmel­ze, aber noch stand er stand­haft mit dem Ge­weh­re im Arm. Da ging eine Tür auf, der Wind er­griff die Tän­ze­rin und sie flog, ei­ner Syl­phi­de gleich, ge­ra­de in den Ofen zum Zinn­sol­da­ten, lo­der­te in Flam­men auf und war ver­schwun­den, da schmolz der Zinn­sol­dat zu ei­nem Klum­pen, und als das Mäd­chen am fol­gen­den Tage die Asche her­aus­nahm, fand sie ihn als ein klei­nes Zinn­herz; von der Tän­ze­rin hin­ge­gen war nur der Stern noch da, und der war kohl­schwarz ge­brannt.

Das alte Haus

Da stand in ei­ner Ne­ben­stra­ße ein al­tes, al­tes Haus, wel­ches fast drei­hun­dert Jah­re alt war; denn das konn­te man an dem Bal­ken le­sen, wo die Jah­res­zahl zu­gleich mit Tul­pen und Hop­fen­ran­ken aus­ge­schnit­ten war. Da stan­den gan­ze Ver­se in der Schreibart der al­ten Zeit, und über je­dem Fens­ter war im Bal­kon ein bis zur Frat­ze ver­zo­ge­nes Ge­sicht aus­ge­schnitzt. Das eine Stock­werk reich­te weit über das an­de­re her­vor, und un­ter dem Da­che war eine blei­er­ne Rin­ne mit ei­nem Dra­chen­kopf an­ge­bracht; das Re­gen­was­ser soll­te aus dem Ra­chen her­aus­lau­fen, aber es lief aus dem Bauch, denn es war ein Loch in der Rin­ne.

Alle die an­de­ren Häu­ser in der Stra­ße wa­ren neu und hübsch, mit großen Fens­ter­schei­ben und glat­ten Wän­den; man konn­te wohl se­hen, dass sie mit dem al­ten Hau­se nichts zu tun ha­ben woll­ten, sie dach­ten wohl: »Wie lan­ge soll die­ses alte Ge­rüm­pel hier noch zum all­ge­mei­nen Är­ger­nis in der Stra­ße ste­hen! Auch springt der Er­ker so weit her­vor, dass nie­mand aus un­sern Fens­tern se­hen kann, was auf je­ner Sei­te vor­geht! Die Trep­pe ist so breit, wie zu ei­nem Schlos­se und so hoch, wie zu ei­nem Kirch­turm. Das ei­ser­ne Ge­län­der sieht aus wie die Tür zu ei­nem Erb­be­gräb­nis­se, und dann hat es mes­sin­ge­ne Knöp­fe. Es ist recht ab­ge­schmackt!«

Gera­de ge­gen­über in der Stra­ße stan­den auch neue Häu­ser, sie dach­ten wie die an­de­ren, aber am Fens­ter saß hier ein klei­ner Kna­be mit fri­schen, ro­ten Wan­gen, mit hel­len, strah­len­den Au­gen; ihm ge­fiel das alte Haus noch am meis­ten, und das so­wohl im Son­nen­schein wie im Mon­den­schein. Und sah er hin­über nach der Mau­er, wo der Kalk ab­ge­fal­len war, dann konn­te er sit­zen und die son­der­bars­ten Bil­der her­aus­fin­den, ge­ra­de wie die Stra­ße frü­her aus­ge­se­hen ha­ben moch­te, mit Trep­pen, Er­kern und spit­zen Gie­beln, er konn­te Sol­da­ten mit Hel­le­bar­den se­hen, und Dach­rin­nen, die wie Dra­chen und Lind­wür­me her­um­lie­fen. Das war so recht ein Haus zum An­schau­en; und da drü­ben wohn­te ein al­ter Mann, der trug Knie­ho­sen, hat­te einen Rock mit großen, mes­sin­ge­nen Knöp­fen und eine Perücke, der man es an­se­hen konn­te, dass es eine wirk­li­che Perücke war. Je­den Mor­gen kam ein al­ter Auf­wär­ter zu ihm, wel­cher rein mach­te und Gän­ge be­sorg­te, sonst war der alte Mann in den Knie­ho­sen ganz al­lein in dem al­ten Hau­se. Manch­mal kam er an das Fens­ter und sah hin­aus, und der klei­ne Kna­be nick­te ihm zu, und der alte Mann nick­te wie­der, so wur­den sie mit­ein­an­der be­kannt und wa­ren Freun­de, ob­gleich sie nie mit­ein­an­der ge­spro­chen hat­ten, aber das war auch gar nicht nö­tig.

Der klei­ne Kna­be hör­te sei­ne El­tern sa­gen: »Der alte Mann da drü­ben hat es recht gut, aber er lebt er­schreck­lich ein­sam!«

Am nächs­ten Sonn­tag nahm der klei­ne Kna­be et­was und wi­ckel­te es in ein Stück Pa­pier, ging vor die Haus­tür und als der, wel­cher die Gän­ge be­sorg­te, vor­bei­kam, sag­te er zu ihm: »Höre, willst Du dem al­ten Man­ne da drü­ben die­ses von mir brin­gen? Ich habe zwei Zinn­sol­da­ten, dies ist der eine, er soll ihn ha­ben; denn ich weiß, er ist schreck­lich ein­sam.«

Der alte Auf­wär­ter sah ganz ver­gnügt aus, nick­te und trug den Zinn­sol­da­ten hin­über in das alte Haus. Da­rauf wur­de an­ge­fragt, ob der klei­ne Kna­be nicht Lust habe, selbst hin­über zu kom­men, und einen Be­such ab­zu­stat­ten, und dazu er­hielt er von sei­nen El­tern die Er­laub­nis, und so kam er in das alte Haus.

Die Mes­sing­knöp­fe auf dem Trep­pen­ge­län­der glänz­ten weit stär­ker als sonst; man hät­te glau­ben kön­nen, dass sie des Be­su­ches we­gen po­liert wor­den sei­en, und es war, als ob die aus­ge­schnitz­ten Trom­pe­ter – denn in der Tür wa­ren Trom­pe­ter aus­ge­schnitzt, die in Tul­pen stan­den – aus al­len Kräf­ten blie­sen, die Ba­cken sa­hen weit di­cker aus als zu­vor. Ja, sie blie­sen: »Trat­te­ra­tra! Der klei­ne Kna­be kommt! Trat­te­ra­tra!« – und dann ging die Tür auf. Die gan­ze Flur war mit al­ten Bil­dern, Rit­tern in Har­ni­schen und Frau­en in sei­de­nen Klei­dern ver­ziert; und die Har­ni­sche ras­sel­ten und die sei­de­nen Klei­der rausch­ten! – Dann kam da eine Trep­pe, die ging ein großes Stück hin­auf und ein klei­nes Stück hin­un­ter, und dann ge­lang­te man auf einen Al­tan, der frei­lich sehr ge­brech­lich, mit großen Lö­chern und lan­gen Spal­ten ver­se­hen war, aber aus al­len wuch­sen Gras und Blät­ter, der gan­ze Al­tan, der Hof und die Mau­ern wa­ren mit so vie­lem Grün be­wach­sen, dass es wie ein Gar­ten aus­sah, aber es war nur ein Al­tan. Hier stan­den alte Blu­men­töp­fe, die Ge­sich­ter und Eselsoh­ren hat­ten; die Blu­men wuch­sen aber ge­ra­de so wie wil­de Pflan­zen. In dem einen Top­fe wuch­sen nach al­len Sei­ten Nel­ken über, das heißt das Grü­ne da­von, Schöß­ling auf Schöß­ling, die spra­chen ganz deut­lich: »Die Luft hat mich ge­strei­chelt, die Son­ne hat mich ge­küsst und mir zum Sonn­tag eine klei­ne Blu­me ver­spro­chen, eine klei­ne Blu­me zum Sonn­tag!«

Dann ge­lang­te er in ein Zim­mer, wo die Wän­de einen Über­zug von Schweins­le­der hat­ten, und dar­auf wa­ren gol­de­ne Blu­men ge­druckt.

»Ver­gol­dung ver­geht, Aber Schweins­le­der be­steht -«

sag­ten die Wän­de.

Da stan­den Lehn­stüh­le mit ho­hen Rücken, ganz bunt aus­ge­schnitzt und mit Ar­men an bei­den Sei­ten. »Set­zen Sie sich! Neh­men Sie Platz!« sag­ten die­se. »Au, wie es in mir knackt! Nun be­kom­me ich wohl auch die Gicht, wie der alte Schrank! Gicht im Rücken, au!«

Und dann kam der klei­ne Kna­be in das Zim­mer, wo der Er­ker war und wo der alte Mann saß.

»Vie­len Dank für den Zinn­sol­da­ten, mein klei­ner Freund!« sag­te der alte Mann. »Und herz­li­chen Dank da­für, dass Du zu mir her­über­kommst.«

»Dank! Dank!« oder »Knack! Knack!« sag­te es in al­len Mö­beln; es wa­ren ih­rer so vie­le, dass sie ein­an­der fast im Wege stan­den, um den klei­nen Kna­ben zu se­hen.

Mit­ten an der Wand hing das Ge­mäl­de ei­ner schö­nen Dame, die jung und fröh­lich aus­sah, aber ganz so ge­klei­det, wie vor al­ten Zei­ten, mit Pu­der im Haar und steif ste­hen­den Klei­dern; sie sag­te we­der »Dank«, noch »Knack«, sah aber mit ih­ren mil­den Au­gen den klei­nen Kna­ben an, wel­cher so­gleich den al­ten Mann frag­te: »Wo­her hast Du sie be­kom­men?«

»Vom Tröd­ler drü­ben!« sag­te der alte Mann. »Dort hän­gen vie­le Bil­der! Nie­mand kennt sie oder be­küm­mert sich dar­um, denn sie sind alle be­gra­ben, aber vor Zei­ten habe ich die­se ge­kannt, und nun ist sie seit ei­nem hal­b­en Jahr­hun­dert tot!«

Un­ter dem Ge­mäl­de hing un­ter Glas und Rah­men ein Strauß ver­welk­ter Blu­men, die wa­ren ge­wiss auch vor ei­nem hal­b­en Jahr­hun­dert ge­pflückt, so alt sa­hen sie aus. Der Per­pen­di­kel an der großen Uhr ging hin und her und die Zei­ger dreh­ten sich, und al­les im Zim­mer wur­de noch äl­ter, aber das merk­ten sie nicht.

»Sie sa­gen zu Hau­se«, sag­te der klei­ne Kna­be, »dass Du er­schreck­lich ein­sam bist!«

»O«, sag­te er, »die al­ten Ge­dan­ken, mit dem, was sie mit sich füh­ren kön­nen, kom­men und be­su­chen mich, und jetzt kommst Du ja auch! Ich bin ganz zu­frie­den!«

Dann nahm er von dem Schrank ein Buch mit Bil­dern, dar­in wa­ren lan­ge Auf­zü­ge, die son­der­bars­ten Kut­schen, wie man sie heut­zu­ta­ge nicht sieht, Sol­da­ten und Bür­ger mit we­hen­den Fah­nen, die Schnei­der hat­ten eine mit ei­ner Sche­re, wel­che von zwei Lö­wen ge­hal­ten wur­de, und die der Schuh­ma­cher war ohne Stie­fel, aber mit ei­nem Ad­ler, der zwei Köp­fe hat­te, denn die Schuh­ma­cher müs­sen al­les so ha­ben, dass sie sa­gen kön­nen: das ist ein Paar. Ja, das war ein Bil­der­buch!

Der alte Mann ging in das an­de­re Zim­mer, um Ein­ge­mach­tes, Äp­fel und Nüs­se zu ho­len; es war wirk­lich ganz herr­lich in dem al­ten Hau­se.

»Ich kann es nicht aus­hal­ten!« sag­te der Zinn­sol­dat, der auf dem Ti­sche stand; »hier ist es ein­sam und trau­rig; nein, wenn man das Fa­mi­li­en­le­ben ken­nen ge­lernt hat, so kann man sich an die­se Ein­sam­keit hier nicht ge­wöh­nen! Ich kann es nicht aus­hal­ten! Der gan­ze Tag ist schreck­lich lang und der Abend noch län­ger! Hier ist es gar nicht wie drü­ben bei Dir, wo Dein Va­ter und Dei­ne Mut­ter fröh­lich spre­chen, und wo Du und ihr lie­ben Kin­der alle einen herr­li­chen Lärm macht. Nein, wie lebt der alte Mann doch so ein­sam! Glaubst Du wohl, dass er freund­li­che Bli­cke oder einen Weih­nachts­baum er­hält? Au­ßer ei­nem Be­gräb­nis­se be­kommt er gar nichts. Ich kann es nicht aus­hal­ten!«

»Du musst es nicht so trau­rig auf­fas­sen!« sag­te der klei­ne Kna­be. »Mir kommt es hier ganz herr­lich vor, und alle die al­ten Ge­dan­ken, mit dem, was sie mit sich füh­ren kön­nen, kom­men und stat­ten Be­such ab!«

»Ja, die sehe ich aber nicht, und ken­ne ich auch nicht!« sag­te der Zinn­sol­dat. »Ich kann es nicht aus­hal­ten!«

»Das musst Du aber!« sag­te der klei­ne Kna­be.

Der alte Mann kam mit dem fröh­lichs­ten Ant­litz, dem schöns­ten Ein­ge­mach­ten, Äp­feln und Nüs­sen, und da dach­te der klei­ne Kna­be nicht an den Zinn­sol­da­ten.

Glück­lich und ver­gnügt kam der klei­ne Kna­be nach Hau­se, Tage und Wo­chen wur­de nach dem al­ten Hau­se hin- und von dem al­ten Hau­se her­ge­nickt, und dann kam der klei­ne Kna­be wie­der hin­über.

Die aus­ge­schnitz­ten Trom­pe­ter blie­sen: »Trat­te­ra­tra! Da ist der klei­ne Kna­be! Trat­te­ra­tra!« Schwert und Rüs­tung auf den al­ten Rit­ter­bil­dern ras­sel­ten, und die sei­de­nen Klei­der rausch­ten, das Schweins­le­der er­zähl­te, und die al­ten Stüh­le hat­ten die Gicht im Rücken: »Au!« Es war ge­ra­de so wie das ers­te Mal, denn da drü­ben war der eine Tag und die eine Stun­de so wie die an­de­re.

»Ich kann es nicht aus­hal­ten!« sag­te der Zinn­sol­dat; »ich habe Zinn ge­weint! Hier ist es gar zu trau­rig! Lass mich lie­ber in den Krieg ge­hen und Arme und Bei­ne ver­lie­ren! Das ist doch eine Ver­än­de­rung! Jetzt weiß ich, was das heißt, Be­such von sei­nen al­ten Ge­dan­ken, mit dem, was sie mit sich füh­ren kön­nen, zu ha­ben! Ich habe den Be­such der mei­ni­gen ge­habt, und glau­be mir, das ist auf die Län­ge der Zeit kein Ver­gnü­gen; ich war am Ende nahe dar­an, von dem Ti­sche her­ab­zu­sprin­gen. Ich sah Euch alle da drü­ben im Hau­se so deut­lich, als ob Ihr hier wä­ret; es war wie­der der Sonn­tags­mor­gen, des­sen Du Dich wohl ent­sinnst! Ihr Kin­der stan­det alle vor dem Tisch und sangt Euer Lied, das Ihr je­den Mor­gen singt; Ihr stan­det an­däch­tig mit ge­fal­te­ten Hän­den, Va­ter und Mut­ter wa­ren eben­so fei­er­lich, und da ging die Tür auf, und die klei­ne Schwes­ter Ma­ria, die noch nicht zwei Jah­re alt ist und im­mer tanzt, wenn sie Mu­sik oder Ge­sang hört, wel­cher Art es auch sein mag, wur­de her­ein­ge­bracht. Sie soll­te nun zwar nicht, aber sie fing an zu tan­zen, doch konn­te sie nicht in den Takt kom­men, denn die Töne wa­ren so lang, da stand sie erst auf dem einen Bein und neig­te den Kopf ganz vorn­über, und dann auf dem an­de­ren Bein und bog den Kopf wie­der ganz vorn­über, aber das woll­te nicht pas­sen. Ihr stan­det alle sehr ernst­haft da, was Euch frei­lich schwer fiel, aber ich lach­te in­wen­dig, und des­halb fiel ich vom Tisch her­ab und be­kam eine Beu­le, die ich noch tra­ge, denn es war nicht recht von mir, dass ich lach­te. Aber das Gan­ze er­füllt mich jetzt wie­der, so­wie al­les, was ich jetzt er­lebt habe, und das sind wohl die al­ten Ge­dan­ken, mit dem, was sie mit sich füh­ren kön­nen! – Sage mir, ob Ihr noch des Sonn­tags singt? Er­zäh­le mir et­was von der klei­nen Ma­ria; und wie er­geht es mei­nem Ka­me­ra­den, dem an­de­ren Zinn­sol­da­ten? Ja, der ist wahr­lich glück­lich! – Ich kann es nicht aus­hal­ten!«

»Du bist weg­ge­schenkt!« sag­te der klei­ne Kna­be. »Du musst blei­ben. Kannst Du das nicht ein­se­hen?«

Der alte Mann kam mit ei­nem Kas­ten, worin vie­les zu be­wun­dern war, Kost­bar­kei­ten und Bal­sam­büch­sen und alte Kar­ten, so groß und so ver­gol­det, wie man sie jetzt nie mehr sieht. Es wur­den meh­re­re Kas­ten, so­wie auch das Kla­vier ge­öff­net; die­ses hat­te eine Land­schaft in­wen­dig auf dem De­ckel, und es war hei­ser, als der alte Mann dar­auf spiel­te; dann sang er lei­se ein Lied.

»Ja, das konn­te sie sin­gen!« sag­te er, und dann nick­te er dem Bil­de zu, wel­ches er bei dem Tröd­ler ge­kauft hat­te, und die Au­gen des al­ten Man­nes glänz­ten da­bei.

»Ich will in den Krieg! Ich will in den Krieg!« rief der Zinn­sol­dat so laut, wie er nur konn­te, und stürz­te sich ge­ra­de auf den Fuß­bo­den her­ab.

Ja, wo war er ge­blie­ben? Der alte Mann such­te, der klei­ne Kna­be such­te, fort war er und fort blieb er. »Ich wer­de ihn wohl fin­den!« sag­te der Alte, aber er fand ihn nie wie­der, der Fuß­bo­den war all­zu durch­lö­chert – der Zinn­sol­dat war durch eine Spal­te ge­fal­len, und lag im of­fe­nen Gra­be.

Der Tag ver­strich und der klei­ne Kna­be kam nach Hau­se. Die Wo­che ver­ging, und es ver­gin­gen meh­re­re Wo­chen. Die Fens­ter wa­ren fest zu­ge­fro­ren; der klei­ne Kna­be muss­te dar­auf hau­chen, um ein Guck­loch nach dem an­de­ren Hau­se hin­über zu er­hal­ten, da war der Schnee in alle Schnör­kel und In­schrif­ten hin­ein­ge­trie­ben, und lag hoch über der Trep­pe, ge­ra­de als ob da nie­mand zu Hau­se wäre, es war auch nie­mand zu Hau­se, der alte Mann war ge­stor­ben.

Am Abend hielt ein Wa­gen an der Tür und auf dem­sel­ben trug man ihn in sei­nem Sar­ge, er soll­te auf dem Lan­de in sei­nem Be­gräb­nis­platz ru­hen. Da fuhr er nun, aber nie­mand folg­te, alle sei­ne Freun­de wa­ren ja tot. Der klei­ne Kna­be warf dem Sar­ge, als er weg­fuhr, Kuss­fin­ger nach.

Ei­ni­ge Tage dar­auf wur­den das Haus und die Gerät­schaf­ten ver­kauft, der klei­ne Kna­be sah von sei­nem Fens­ter aus, wie man al­les fort­trug: die al­ten Rit­ter und die al­ten Da­men, die Blu­men­töp­fe mit lan­gen Ohren, die al­ten Stüh­le und die al­ten Schrän­ke; ei­ni­ges kam da­hin und an­de­res dort­hin; das Bild, das beim Tröd­ler ge­fun­den war, kam wie­der zum Tröd­ler zu­rück, und da hing es lan­ge, denn nie­mand kann­te die Frau mehr, nie­mand küm­mer­te sich um das alte Bild.

Im Früh­jahr riss man das alte Haus selbst nie­der, denn es war ein Ge­rüm­pel, sag­ten die Leu­te. Von der Stra­ße aus konn­te man ge­ra­de in das Zim­mer mit dem Schweins­le­der­über­zug hin­ein­se­hen, wel­cher zer­fetzt und zer­ris­sen wur­de; und das Grü­ne am Al­tan hing ganz ver­wil­dert um die fal­len­den Bal­ken. Dann wur­de auf­ge­räumt.

»Das half!« sag­ten die Nach­bar­häu­ser.

An die Stel­le des al­ten Hau­ses wur­de ein schö­nes Haus mit großen Fens­tern und wei­ßen, glat­ten Mau­ern ge­baut, aber vorn, wo ei­gent­lich das alte Haus ge­stan­den hat­te, wur­de ein klei­ner Gar­ten an­ge­legt und ge­gen des Nach­bars Mau­ern wuch­sen wil­de Wein­ran­ken em­por; vor den Gar­ten kam ein großes, ei­ser­nes Git­ter mit ei­ser­ner Tür, es sah ganz statt­lich aus, die Leu­te stan­den still und guck­ten da hin­ein. Die Sper­lin­ge setz­ten sich dut­zend­wei­se auf die Wein­ran­ken, und plau­der­ten mit­ein­an­der, so laut wie sie konn­ten, aber nicht von dem al­ten Hau­se, denn des­sen konn­ten sie sich nicht er­in­nern. Vie­le Jah­re ver­stri­chen, der klei­ne Kna­be war zu ei­nem großen Man­ne her­an­ge­wach­sen, und zwar zu ei­nem tüch­ti­gen Man­ne, des­sen sich die El­tern er­freu­ten. Er hat­te sich eben ver­hei­ra­tet und war mit sei­ner jun­gen Frau in das neue Haus, wel­ches den Gar­ten hat­te, ein­ge­zo­gen, da stand er ne­ben ihr, in­dem sie eine Feld­blu­me pflanz­te, die sie nied­lich fand. Sie pflanz­te die­sel­be mit ih­rer klei­nen Hand und drück­te die Erde mit den Fin­gern fest. »Au!« Was war das? Sie hat­te sich ge­sto­chen. Da rag­te et­was Spit­zi­ges aus der wei­chen Erde her­vor.

Das war – ja, den­ke! – es war der Zinn­sol­dat, der­sel­be, wel­cher oben bei dem al­ten Man­ne ver­lo­ren ge­gan­gen war, und der zwi­schen Zim­mer­holz und Schutt sich her­um­ge­trie­ben und dann vie­le Jah­re in der Erde ge­le­gen hat­te.

Die jun­ge Frau wisch­te den Zinn­sol­da­ten zu­erst mit ei­nem grü­nen Blatt und dann mit ih­rem fei­nen Ta­schen­tuch ab, wel­ches einen herr­li­chen Duft hat­te, und es war dem Zinn­sol­da­ten ge­ra­de, als ob er aus ei­ner Ohn­macht er­wa­che.

»Lass mich ihn se­hen!« sag­te der jun­ge Mann, lach­te und schüt­tel­te dann den Kopf. »Ja, der­sel­be kann es nun wohl nicht sein, aber er er­in­nert mich an eine Ge­schich­te, die ich mit ei­nem Zinn­sol­da­ten hat­te, als ich noch ein klei­ner Kna­be war!« Dann er­zähl­te er sei­ner Frau von dem al­ten Haus und von dem al­ten Man­ne und von dem Zinn­sol­da­ten, den er ihm hin­über ge­schickt, weil er so er­schreck­lich ein­sam leb­te, und er er­zähl­te al­les so na­tür­lich, wie es wirk­lich ge­we­sen, so­dass der jun­gen Frau über das alte Haus und den al­ten Mann die Trä­nen in die Au­gen tra­ten.

»Es ist doch mög­lich, dass es der­sel­be Zinn­sol­dat ist!« sag­te sie; »ich will ihn auf­be­wah­ren und al­les des­sen ge­den­ken, was Du mir er­zählt hast; aber des al­ten Man­nes Grab musst Du mir zei­gen!«

»Ja, das ken­ne ich nicht«, sag­te er, »und nie­mand kennt es! Alle sei­ne Freun­de wa­ren tot, nie­mand be­küm­mer­te sich wei­ter dar­um, und ich war ja ein klei­ner Kna­be!«

»Wie muss er doch er­schreck­lich ein­sam ge­we­sen sein!« sag­te sie.

»Er­schreck­lich ein­sam!« sag­te der Zinn­sol­dat; »aber schön ist es, nicht ver­ges­sen zu wer­den!«

»Herr­lich!« rief et­was dicht da­ne­ben, aber au­ßer dem Zinn­sol­da­ten sah nie­mand, dass es ein Fet­zen der schweins­le­der­nen Ta­pe­te war. Er war ohne alle Ver­gol­dung und sah aus wie feuch­te Erde, aber eine An­sicht hat­te er und sprach die­sel­be aus:

Ver­gol­dung ver­geht, Aber Schweins­le­der be­steht.

Doch das glaub­te der Zinn­sol­dat nicht.

Das Feuerzeug

Es kam ein Sol­dat auf der Land­stra­ße da­her­mar­schiert: Eins, zwei! Eins, zwei! Er hat­te sei­nen Tor­nis­ter auf dem Rücken und einen Sä­bel an der Sei­te, denn er war im Krieg ge­we­sen und woll­te nun nach Hau­se.

Da be­geg­ne­te er ei­ner al­ten Hexe auf der Land­stra­ße; sie war wi­der­lich, ihre Un­ter­lip­pe hing ihr ge­ra­de bis auf die Brust hin­un­ter. Sie sag­te: »Gu­ten Abend, Sol­dat! Was hast Du doch für einen schö­nen Sä­bel und großen Tor­nis­ter! Du bist ein wah­rer Sol­dat! Nun sollst Du so viel Geld ha­ben, als Du be­sit­zen magst!«

»Ich dan­ke Dir, Du alte Hexe!« sag­te der Sol­dat.

»Siehst Du den großen Baum da?« sag­te die Hexe und zeig­te auf einen Baum, der ih­nen zur Sei­te stand. »Er ist in­wen­dig ganz hohl; da musst Du den Gip­fel er­klet­tern, dann er­blickst Du ein Loch, durch wel­ches Du Dich hin­ab­glei­ten las­sen und tief in den Baum ge­lan­gen kannst. Ich wer­de Dir einen Strick um den Leib bin­den, da­mit ich Dich wie­der her­auf­zie­hen kann, wenn Du mich rufst!«

»Was soll ich denn da un­ten im Bau­me?« frag­te der Sol­dat.