Andershimmel - Blickle Peter - E-Book

Andershimmel E-Book

Blickle Peter

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Beschreibung

Andershimmel: ein anrührender, ein poetisch-sensibler Roman von starker erzählerischer Kraft, gleichsam ein schwäbisches Geschwister von Deborah Feldmans berühmt gewordenem Roman Unorthodox. Ein Roman über das Andere in uns – das andere Geschlecht, die anderen Heimaten, die anderen Religionen, die anderen Himmel. Welten prallen aufeinander – christliche und muslimische, amerikanische und deutsche, pietistische und weltliche, wissenschaftliche und spiritistische, und dabei geht es um Menschen in ihrem Ringen um Liebe und Verbundenheit, in ihrer Sehnsucht nach Erlösung.

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Seitenzahl: 444

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Bruder und Schwester, Schwester und Bruder, Zwillinge. Aufgewachsen in der Obhut des HErrn, verurteilt vom Dorf, von den Eltern – in Liebe. Der eine flüchtet in die weite Welt, die andere bleibt zurück. In der Enge. Allein. Flucht in die Freiheit oder Rückzug und Resignation? Ist es so einfach?

In poetisch dichten Bildern lotet Peter Blickle die Untiefen menschlicher Beziehungen aus: in der Enge, in der Weite, zwischen Geschlechtern, Religionen, Welten.

Peter Blickle, 1961 in Ravensburg geboren, aufgewachsen im oberschwäbischen Wilhelmsdorf, ist Professor emeritus für deutschsprachige Literatur und Gender and Women’s Studies an der Western Michigan University in Kalamazoo/ USA. Ausgezeichnet mit zahlreichen Preisen und als Mitglied im PEN International veröffentlichte Peter Blickle 2014 bei Klöpfer & Meyer den Roman Die Grammatik der Männer.

Peter Blickle

Andershimmel

Roman

1. Auflage

in der Edition Klöpfer

Stuttgart, Kröner 2021

ISBN DRUCK: 978-3-520-75101-0

ISBN EBOOK: 978-3-520-75191-1

Lektorat: Klaus Isele

Umschlaggestaltung: Denis Krnjaić

unter Verwendung eines Fotos von Nate Rayfield, unsplash.com

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwendung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© 2021 Alfred Kröner Verlag Stuttgart · Alle Rechte vorbehalten

E-Book-Konvertierung: Zeilenwert GmbH Rudolstadt

für

A. S., J. S., C. M., U. R., E. F.

und für

E. D., A. B., D. M., E. R. und J. W.

Ein durch Liebe verübter Mord.

Vom Liebenden nicht wahrgenommen.

Der Tod einer Welt.

Im Inneren eines Menschen.

Eines Geliebten.

Einer Geliebten.

Später noch als Gefühl in der Magengegend wahrnehmbar.

Manchmal.

1

Hätte er nicht in dem Augenblick, als das Telefon klingelte, den Rasierapparat ausgeschaltet, hätte er den Klingelton nicht gehört. Dann hätte Matthias ihn nicht mehr erreicht. Dann wäre Johannes zur Universität gefahren und die nächsten acht Stunden außer Reichweite gewesen. Acht Stunden später wäre es in Deutschland Nacht, fast schon der nächste Tag gewesen. Matthias hätte geschlafen und nicht noch einmal angerufen. Und am nächsten Tag wäre Johannes als Möglichkeit vielleicht nicht mehr in den Gedanken seines Schwagers gewesen. Dann wäre Miriam ihren Weg weitergegangen, und er, Johannes, wäre seinen Weg weitergegangen. So wie sie es dreißig Jahre lang getan hatten – er auf seinem Kontinent, sie auf ihrem, er in seiner Sprache, sie in ihrer, er in seinem Dorf, das eine Universität war, sie in ihrem, das eine Sekte war. Kontinente, Sprachen, Welten, Dörfer. Sie waren auseinandergewachsen, seit jenem Morgen, als Johannes den Koffer gepackt und das Haus verlassen, seit er den Bus, dann den Zug, dann das Flugzeug genommen hatte, seit er geflüchtet war – weg von den Eltern, weg von den Gemeindeältesten, weg von den Gemeindegesetzen.

Er legte den Rasierapparat auf den Waschbeckenrand und lief zum Telefon. »Hello?«

Es rauschte. Da war eine Stille, dann ein Klicken, und er hörte: »Hallo, Johannes.« Der offene Vokal im Hallo und das ohne die Explosion am Anfang seines Namens gesprochene J – er hörte es gern. In den drei Jahrzehnten, die er in der englischen Sprache gelebt hatte, hatte er sich nie an den Klang seines Namens gewöhnt. Tschohännis. Oder gleich: Tschohn. Dass er inzwischen länger in dieser raubeinigen Sprache gelebt hatte als in der, in der er aufgewachsen war, spielte keine Rolle. Johannes. Die erste Aussprache gehörte zu ihm, die zweite blieb ihm fremd; die erste, das war er; die zweite hing an ihm wie ein maßgeschneidertes Jackett, das für einen anderen, einen deutlich korpulenteren Mann bestimmt war.

»Es ist wegen Miriam«, sagte Matthias von der anderen Seite des Atlantiks herüber. Seine Worte brauchten eine Weile, bis sie angekommen waren. Das verwirrte das Gespräch. Matthias zögerte. Johannes zögerte. Das Rauschen wurde stärker, dann schwächer. Matthias sagte: »Sie hat sich …« Dann war Stille. Er sagte: »Wir brauchen dich.« Er sagte: »Jetzt.« Dann war es wieder still.

Johannes hörte auf seiner Seite des Atlantiks, viertausend Meilen weit weg, wie Matthias ein- und ausatmete. Es war fast schon ein Blasen, wie Matthias ausatmete. Dieser Anruf fiel ihm, das spürte Johannes, nicht leicht. Er hatte Matthias nie persönlich kennengelernt, nur ein paarmal in Skype-Gesprächen erlebt. Verschwommen. Der Mann, den Miriam geheiratet und mit dem sie zwei Kinder bekommen hatte, arbeitete in einer Maschinenfabrik. Er war ruhig, zuvorkommend, kompetent, aber alles andere als gesprächig. Dieser Anruf kostete ihn Überwindung. Eine ganze Weile sagte er nichts. Johannes schwieg ebenfalls. In ihm war etwas explodiert. Er blutete. Was hätte er sagen sollen? Er spürte die Wunde. Er wusste, welche Worte als nächste kommen würden. »Sie hat sich …« Es gab nicht viele Möglichkeiten, wie der Satz enden konnte. Johannes hatte diesen Anruf erwartet, schon Jahre. Jetzt war er da.

»Ja?« Matthias sollte die Worte aussprechen, erst dann würden sie gelten. Johannes sagte: »Sie hat sich … Was?«

Blätter, die der Wind über Nacht von den Bäumen geweht hatte, lagen in der Einfahrt – es gab endlos viele Variationen von Gelb und Rot und Braun und Orange. White Oak, Red Maple, Hickory, Dogwood.

»Sie hat sich selbst eingewiesen«, sagte Matthias.

»Selbst eingewiesen?« Das war doch etwas Anderes, als er erwartet hatte. Johannes wiederholte: »Selbst eingewiesen?« Er sagte es in einem Ton, der erleichtert klang. Das war ihm nicht recht. Aber die Worte waren draußen. Sie waren viertausend Meilen weit gereist. Eine unpassende Reaktion. Trotzdem. Er musste es zulassen. Vielleicht hatte Matthias den Tonfall wegen der schlechten Verbindung nicht wahrgenommen. Selbst eingewiesen. Diese Worte gab es nur in einem Zusammenhang. Johannes sagte: »Wo?«

Ein Windstoß bewegte die Blätter. Der Wind kam aus dem Westen heute. Das war angenehm. Westwinde brachten trockene Luft aus der Prärie.

»Irrenanstalt«, hatten sie die Klinik am See genannt, als die Vollzugsanstalt noch »Zuchthaus«, das Kinderheim »Waisenhaus« und das Fachkrankenhaus für Suchtkranke »Trinkerheilstätte« hießen. Er kannte die Klinik. Sie war in einem ehemaligen Klostergebäude untergebracht. Er kannte den langen, vierstöckigen Backsteinbau. Rot leuchtete er über den See. Klinik Sankt Georg am See. »Du bist doch plemm plemm. Du gehörst ins Sankt Georg.« Das war auch so ein Spruch aus der Kindheit.

»In die Klinik am See«, sagte Matthias.

Schwester und Bruder. Bruder und Schwester. Johannes war sieben Minuten älter als sie. Mädchen und Junge. Brüderchen und Schwesterchen. Sie schwammen. Ihre Gesichter schwebten über dem Wasser. Spiegelten sich. Es war ein Spiel, bei dem beide lachten.

Johannes und Miriam. Kuss und Kussi nannten sie einander. Johannes sagte: »Komm, wir wollen miteinander in die weite Welt gehen.« Sie sagte: »GOtt und unsere Herzen weinen zusammen. Ich gehe nicht mit.« Johannes sagte: »Wer aus mir trinkt, wird ein Tiger.« Sie sagte: »Zum Glück konntest du dich so lange beherrschen, bis du nur ein Reh geworden bist.«

Vor dem Spiegel verglichen sie ihre Augen. »Genau gleich.« Sie verglichen, wer zuerst einen Zahn verlor. Sie verglichen, ohne Spiegel, welche Buchstaben sie gleich und welche sie anders schrieben, wer an Weihnachten das bessere Geschenk bekam, wer zuerst bruchrechnen und Fahrrad fahren konnte. Sie richteten sich ein in ihrem Vergleichen. Sie und er. Er und sie. Mit und ohne Spiegel. Er war ihr Zuhause. Sie war seins. Es gab nur sie.

Die Blätter bewegten sich in der Einfahrt. Matthias sagte: »Sie braucht dich.« Matthias sagte, das habe er ihm nur mitteilen wollen. Was er jetzt tue, ob er bleibe oder komme, das sei, ganz klar, ihm, Johannes, selbst überlassen.

Die Blätter. Gelb und Rot und Braun und Orange. Er hatte seinen Kalender in der kommenden Woche voll mit wichtigen Terminen. Er korrigierte sich. Er hatte den Kalender voll mit Unwichtigem, das er für wichtig halten musste, damit er sich für wichtig halten konnte. Und Brunhilde und Silky, Hündin und Kätzin, konnte Naomi versorgen. Sie hatte für die nächste Woche keine Reise in ihrem Kalender.

2

Er sah diesen Raum heute zum ersten Mal auf dem Flughafenplan. Room Number 99. Religious Reflection Room. Im dritten Stock des Flughafengebäudes war dieser Raum. Und weil er zwei Stunden bis zu seinem Anschlussflug hatte, fuhr Johannes mit dem Aufzug hinauf. Aus Neugier, sagte er sich. Aus Langeweile, sagte er sich. Religious Reflection Room.

Als er die Tür öffnete, mussten sich seine Augen zuerst an das Dämmerlicht im Inneren gewöhnen. Überall sonst auf dem Flughafen gab es dieses schattenlose Neonlicht. In diesem Raum gab es ein paar gedimmte Leuchten, abgeschirmt und nur zur Decke hin offen. Vor ihm kniete eine Frau. Das sah er. Sonst war niemand da. Nur diese Frau in ihrem schwarzen Umhang mit schwarzer Kopfbedeckung, die ihm dem Rücken zuwandte und sich immer wieder auf den Knien nach vorn beugte. Er hatte die Tür geöffnet, ohne anzuklopfen. Jetzt stand er da und hielt die Türklinke in der Hand. Sie kniete, aufrecht. Dann beugte sie den Oberkörper nach vorn, die Gewänder gaben ein seufzendes Geräusch von sich. Die Frau ging auf die Hände, tief, so tief, bis die Stirn den Teppich berührte, auf dem sie kniete. Goldgelb und schwarz war der Teppich, mit runden Mustern. Das sah er. Er nahm immer mehr Farben wahr – das Karminrot der Stuhlpolster entlang der Wände. Das hellere Rot der Bücher, die auf manchen Stühlen lagen. Die Frau richtete sich auf. Sie atmete ein. Er hörte es. Sie atmete tief ein. Dann beugte sie sich wieder nach vorn und ließ die Stirn den Teppich berühren, genau an der Stelle, wo der Teppich einen goldenen Kreis hatte. Es war, als müsse ihre Stirn diesen Kreis berühren, damit alles seine Richtigkeit habe. Sie atmete. Blieb kniend ruhig aufrecht. Das Aufrichten und Sichvorbeugen, bis die Stirn den Kreis berührte, geschah in einem Rhythmus. Es war eine eigene Art des Atmens. Es war ein Körperatmen. Unter schwarzen Gewändern. Bei ihr. Und er atmete mit.

Weil er hinter ihr stand, mussten sie nicht entscheiden, wie sie sich zueinander verhalten sollten. Sie brauchten einander nicht auszuweichen, denn sie sahen einander nicht in die Augen. Sie brauchten einander nicht zu grüßen. Trotzdem spürte Johannes, dass sie vor ihm dagewesen war. Sie hatte das Recht, den Raum für sich zu beanspruchen. Sollte er wieder hinausgehen? Er konnte sich nicht entscheiden. Er wollte nicht stören. Religiös war er nicht mehr. Aber der Raum zog ihn an. Die Ruhe. Die dezent beschirmten Lampen an den Wänden. Er. Sie. Wir. Es gab kein Wir. Auch wenn sie und er im selben Raum waren. Und doch nahm er ein Wir wahr.

Er atmete, tief, und schaute ihr zu. Die Umrisse ihres Körpers unter dem Gewand. Die Frau war gedrungen, kräftig und jung. Die einfache Leichtigkeit, mit der sie Rücken, Hüften und Nacken bewegte. Er sah die Haut an den Händen, die nicht vom Gewand bedeckt war. Sie war jung. Aber sie war alt genug, um die Mutter von drei Kindern sein zu können. Alles war möglich. Nichts musste sein. Dass alles möglich war, nichts aber so sein musste, wie er es sich vorstellte, hatte etwas Befreiendes. Er schaute diesem Rhythmus, diesem Wechsel von Stille und Bewegung zu. Dieser Hingabe. Da war etwas Aufrichtiges in ihr. Sie hatte etwas gefunden. Und sie vertraute. Sie besaß das Vertrauen, dass ihr beim Beten in diesem Raum nichts geschehen würde. Sie hatte sich nicht umgewandt, als er die Tür öffnete. Sie beugte sich nach vorn, ließ die Arme vornüber gleiten und berührte mit der Stirn den Teppich. Das war ein Sich-klein-Machen, ein Akzeptieren, ein Atmen, ein Duft, eine Demut.

Vielleicht störte er sie, indem er hinter ihr stand und atmete und zuschaute – und nichts tat. Doch er hatte, sagte er sich, dasselbe Recht, hier zu sein, wie sie. »Religious Reflection Room.« Ein Religious Reflection Room stand allen zur Verfügung. Allen Konfessionen. Da gab es kein Vorrecht. Es gab kein Besitzen. Alle hatten ein Recht, hier zu sein. Also auch er. Er trat einen Schritt nach vorn und schloss die Tür hinter sich.

3

Als Miriam und er noch im selben Zimmer schliefen, mussten sie, denn der Herr JEsus sah alles, ihre Sachen ordentlich auf den Stuhl legen. Außerdem sollten die Leute, falls der Herr JEsus sie in der Nacht zu sich in den Himmel heimholte, nicht sagen, sie wären unordentlich gewesen. Wenn es dunkel war, lauschte er hinüber. Atmete sie noch? Hatte der Herr JEsus sie schon zu sich geholt? War sie, wie die Eltern das sagten, heimgegangen?

Holte ER einen im Schlaf, dann hieß es, man sei entschlafen. Eingegangen in den Himmel, wo ER zur Rechten GOttes, des ALlmächtigen, des SChöpfers des Himmels und der Erde saß. Dort hinauf nahm ER einen. Eigentlich nahm ER nur das Atmen mit. Alles andere blieb zurück. Die körperliche Hülle blieb im Bett liegen. Deshalb konnte Miriam da liegen und schon entschlafen sein. Sie atmete so leise. Und das Heben und Senken ihres Brustkorbes konnte er unter der Bettdecke unter der dunklen Dachschräge nicht erkennen.

»Müde bin ich, Gehzuruh, mach die müden Äuglein zu.« Er stockte manchmal, denn zum Gehzuruh wollte er eigentlich nicht beten. Das war eine Sünde. Aber die Eltern beteten es vor. Also war es keine Sünde. Johannes und Miriam stellten sich Gehzuruh als einen Verwandten von Rübezahl vor: ein Riese mit Bart, der ihm lockig und verworren wie Moos bis auf die Erde hinunterreichte. »Müde bin ich, Gehzuruh.«

Miriam sagte: »Gehen Alche.«

»Was soll das heißen?«

»Ich weiß nicht. Aber mir gefällt es.«

Er sprach die Worte nach. »Gehen Alche.« Das klang weich. Das klang angenehm. Er sagte: »Arlorn.«

Das sagten sie, wenn sie abends noch wach im Bett lagen und das Licht aus war: »Gehen Alche.« »Arlorn.« »Ja, Arlorn.« »Ja, Alche.«

Arlorn war der Edelsteinschmuck, den Gehzuruh im Bart trug. Gehen Alche war das silberne Moos, das im Paradies von den Bäumen hing.

Sie hob den Unterarm an die Nase und sagte: »Der Fleck in meiner Haut riecht komisch.« »Wie?« »Wie ein Regenwurm.« »Gut oder schlecht?« »Das kommt drauf an. Willst du mal riechen?« »Pfui Teufel. Wer weiß, wo der schon überall rumgekommen ist.«

Johannes und Miriam.

»Müde bin ich, Gehzuruh, mach die müden Äuglein zu. VAter, lass die Augen dein über meinem Bette sein. Hab ich Unrecht heut getan, sieh es, lieber GOtt, nicht an. Mache DU durch CHristi Blut allen meinen Schaden gut.«

Das war auch eine Möglichkeit, dass mit Blut alles wieder gut gemacht wurde.

»Und wenn der Engel Gabriel kommt und uns mitnimmt?« Der Engel Gabriel hatte lange Haare und ein langes Schwert. Johannes sagte: »Er ist eine Frau.« Miriam sagte: »Er ist ein Mann. Sonst würde er Gabriele heißen, und ein Schwert hätte er auch nicht.« »Quatsch mit Soße und dreimal draufgeschissen.«

»Und wie stellst du dir das Entschlafen vor?« »Ich weiß nicht. Wie das Einschlafen.« »Oder wie auf einem Schlitten. Man schläft bis ans Ende. Dann kommt eine Mauer und das Gottesfeld.« Endschlafen. So hieß das für ihn in der Nacht, wenn das Licht aus war. Miriam schlug die Decke zurück und stand noch einmal auf. Sie stellte die Hausschuhe noch ordentlicher vors Bett. Das konnte sie in der Dunkelheit. Sie hatte Übung.

4

Am Tag, als in der sechsten Klasse im Biologieunterricht die Rollläden heruntergingen, langsam und surrend, begann die Trennung. Er blickte auf die Dias, die vor ihm, die vor ihnen aufleuchteten, und er hörte die Stimme aus dem Lautsprecher. Von einer Schallplatte kam diese Stimme. Es war die Männerstimme der Wissenschaft, die aus dem Dunkeln tönte und erklärte, was er sah, was sie sahen. Ihm war heiß, weil er auch alles war, was er auf den Bildern vor sich sah. Dass er auch alles war, was er sah, war in Ordnung. So kannte er sich. So ungefähr wenigstens. Und dass die anderen es sehen konnten, damit konnte er sich abfinden. Das ging. Von ihm aus. Das durfte so sein. Aber sie war auch alles, was ihnen gezeigt wurde. Jedes Bild. Nackt. Mehr als nackt. Die Bilder gingen in sie. Sie zeigten, wie sie innen aussah. Er blickte. Er starrte. Er hörte die Worte, die aus dem Plattenspieler kamen. Ihm wurde noch heißer.

Den Aufgaben entsprechend, welche die Natur der Frau zugewiesen hat, ist der weibliche Körper sowohl in seinem Aufbau als auch in seiner Funktion geschaffen. Im Körper der Frau wird der neue Mensch gebildet und reift dort zur Lebensfähigkeit heran. Damit dieser Vorgang ungestört vor sich gehen kann, liegen die weiblichen Geschlechtsorgane gegen äußere schädliche Einflüsse gedeckt in der Beckenhöhle, die von festen Knochen umgeben ist. Die inneren Geschlechtsorgane der Frau bestehen aus den Eierstöcken, den Eileitern, der Gebärmutter und der Scheide. Die Eierstöcke sind die Behälter der weiblichen Keimzellen. Sie bestehen aus zwei bohnenförmigen Körpern, welche links und rechts von der Gebärmutter an der rückwärtigen Wand des breiten Mutterbandes befestigt liegen. Sie bestehen aus einem inneren Mark, das Blutgefäße und Nerven enthält, und einer äußeren Rinde, welche zahllose kleine Kügelchen, die sogenannten Primärfollikel, beherbergt, und in diesen Primärfollikeln liegt das menschliche Ei. Dieses ist ungefähr 0,2 Millimeter groß und besteht aus der Eihaut und dem Eidotter. Im Eidotter befindet sich das Keimbläschen mit dem Keimfleck. Sämtliche Eier sind bei der Geburt bereits vorhanden und werden im Leben nicht mehr gebildet. Ihre Zahl wird ungefähr auf 60.000 geschätzt. Das weibliche Becken wird von einem breiten Band, dem sogenannten Mutterband, durchzogen.

Als die Neonröhren wieder anflickerten, die Stunde vorbei war und sie wieder hinausrennen durften, blieb er sitzen. Er wollte mit niemandem reden. Er wollte niemanden sehen. Er wollte keine Witze hören. Er wollte nur sitzen bleiben und niemanden und nichts sehen. Auch sie wollte er nicht sehen. Gerade ihr wollte er nicht begegnen. Immer wieder hatte er Worte gehört, die er nicht verstand. Worte, die zu ihr gehörten. Zu ihrem Körper. Es gab nichts Genaues. Aber es gab auch nichts Gemeinsames. Was sie zwischen den Beinen hatte, war völlig anders als das, was er zwischen den Beinen hatte. Sie waren so verschieden, dass es unvorstellbar war, dass sie einander je hatten nahe sein können.

Durch den äußeren Muttermund ragt die Gebärmutter mit der sogenannten Portio in die Scheide herein. Diese ist ein Schlauch, dessen vordere und rückwärtige Wand sich unter normalen Verhältnissen berühren, welcher gegen die Körperoberfläche hin zwischen den zwei großen, beziehungsweise kleinen Schamlippen mündet. Bei Jungfrauen ist die Scheide durch ein Häutchen, das Hymen, geschlossen.

Unterschiede. Er erinnerte sich, dass es in ihrem Zimmer, seit sie ein eigenes Zimmer hatte, anders roch. Das war ein Unterschied, den er bemerkt hatte. In ihrem Zimmer war ein Geruch, der eine Mischung war aus Puder, dem Weichspüler, den sie für ihre Wollsachen benutzte, dem Apfeltee, den sie trank, und der Dispersionsfarbe, mit der sie alle paar Monate ihr Zimmer neu strich. Ockergelb. Vergissmeinnichtblau. Zinnoberrot. Bei ihm roch es normal. Sein Zimmer hatte keinen Geruch.

Er sah, wie er allein in ihrem Zimmer stand. Es musste der Anfang des Schuljahres sein. Er wollte nachschauen, ob Miriam morgen für die erste Stunde etwas in ihrem Stundenplan stehen hatte.

Sie schrieb im Unterricht aufmerksamer mit als er. Sie bekam bessere Noten. Er war schneller im Sport und besser im Witzemachen. Er brachte die Klasse zum Lachen. Oft. Nur den Pfarrer brachte er nicht zum Lachen. Johannes hatte nicht schnell genug mitgeschrieben, als der Klassenlehrer den Stundenplan diktiert hatte. War morgen in der ersten Stunde Religionsunterricht für die Katholiken? Und für sie, die so genannten Freikirchler, die mit den Evangelischen ihren Religionsunterricht hatten, am Montag in der sechsten Stunde? Johannes stand da in ihrem Zimmer und suchte nach dem Stundenplan und roch ihre Gerüche. Dass sie anders roch als er, war ihm klar. Aber wie? Miriam war nicht Dispersionsfarbe, nicht Apfeltee, nicht Weichspüler. Sie war auch nicht nichts. Sie hatte einen Geruch. Doch welchen? Gehen Alche.

Das erste Auftreten der Menstruation beim heranwachsenden Mädchen zeigt an, dass die Eierstöcke ihre Tätigkeit bereits aufgenommen haben und befruchtungsfähige Eier erzeugen. Das junge Mädchen tritt in den monatlichen Zyklus ein, und alle vier Wochen wird ein Ei reif und wandert in die Gebärmutter. Der Vorgang spielt sich folgendermaßen ab: Wie wir schon gehört haben, liegt das Ei in einem Bläschen, dem Primärfollikel. Wenn das Ei zu reifen beginnt, wird der Follikel immer mehr an die Oberfläche des Eierstockes gedrängt, wölbt sich dort vor und platzt nach Beendigung der Reifung, ungefähr am zwölften Tage. Das Ei wird frei und wandert in die Gebärmutter.

Was bist du mir?

Du, meine Seele.

Wann bist du mir?

Immer schon.

Wie lang bist du mir?

In Atem und Augen, in Ein und Aus, in Heute und Morgen.

Immer schon.

5

Die rot-weißen Turnschuhe hatte die Frau neben der Eingangstür ausgezogen. Sie standen auf einem schwarzen Schuhabstreifer. New Balance – rot und weiß und sportlich. Sie waren kleiner, als er es bei ihrem Körper erwartet hatte. Er blickte wieder zu ihr und verglich ihre Turnschuhe mit ihren Füßen. Alles war schwarz an ihr – bis auf die Hände. Auch die Socken waren schwarz. Die Füße waren tatsächlich klein. Sie beugte sich vor, richtete sich auf, beugte sich vor. Neben ihr lagen auf zwei Stühlen eine Lederhandtasche und ein Plastikkoffer. Beide schwarz. Sollte er seine Schuhe auch ausziehen? Gehörte sich das hier so? War es ein Zeichen des Respekts, wenn er seine Schuhe auszog? Schaden konnte es nicht. Schmerzen tat es auch nicht. Also beugte er sich vor, löste die Schnürsenkel, zog die braunen Halbschuhe von den Füßen und stellte sie auf die andere Seite des Schuhabstreifers. Vielleicht gab es bei Schuhen eine Männer- und eine Frauenseite. Er wollte Respekt zeigen. Er wollte nicht stören. Während er sie anblickte, bemerkte er, dass er nichts an ihr erkennen konnte, was ihm mehr über sie verraten hätte. Er war ein Analphabet in den Zeichen ihrer Kultur. Woher kam sie? Irak und Iran waren Möglichkeiten. Saudi-Arabien und Syrien konnte er sich vorstellen. Aber ebenso gut konnte sie aus Ankara oder Berlin oder Paris oder Zürich kommen. Oder aus Malaysia. Nicht einmal, ob sie Schiitin oder Sunnitin war, konnte er erkennen. Er wusste, entweder Schiiten oder Sunniten beteten so, dass ihre Stirn auf einen Stein aus Mekka traf, den sie sich auf den Gebetsteppich gelegt hatten. Aber waren es Schiiten? Waren es Sunniten? Er wusste nicht, auf welche Details er achten musste, um eine Schiitin von einer Sunnitin zu unterscheiden.

Religious Reflection Room. Wie hieß so ein Raum auf Deutsch? Andachtsraum? Religiöser Reflexionsraum? Gab es auf deutschen Flughäfen solche Religious Reflection Rooms? Oder gab es solch einen Raum nur im Flughafen dieser amerikanischen Stadt, wo Irak und Iran schon seit den Flüchtlingswellen vor vierzig Jahren zusammenkamen?

Ein leichter Schweißgeruch lag im Raum. Kam der von ihm? Kam der von ihr? Kam der von jenen, die vor ihnen hier gebetet hatten? Seinen Arm heben und riechen, ob dieser Geruch von ihm ausging, wollte er nicht. Die Bewegung hätte ein Geräusch verursacht, das sie gehört hätte. Es hätte sie gestört. Er blieb reglos stehen. Entfernt roch er Rosengeruch. In Istanbul hatte er diese Mischung aus Schweiß- und Rosengeruch zum ersten Mal wahrgenommen, überall, im Teppichboden des Hotels, in den Leintüchern des Bettes, im Nachtischgebäck, in der Kleidung des Hotelpersonals, in den Bussen nach Asien und auf den Fähren über den Bosporus. Kam sie aus Istanbul?

Er betrachtete die Stühle, die entlang der Wände standen. Die Bücher, die auf manchen lagen, karminrot, gebunden und dünn, waren Gebetsanleitungen. Es waren keine Bibeln. Prayer Book, stand auf den Buchrücken. Gehörten diese Prayer Books zu einer bestimmten Religion? Gab es in allen Religionen Gebete? Bei Christen und bei Muslimen gab es Gebete. Aber wie war es bei Hindus und Buddhisten? Nannten sie es beten, wenn sie in Meditation saßen? Nannten sie es Andacht? Es war ihm peinlich, wie wenig er wusste. Wenigstens etwas hätte er wissen müssen. Wie war es möglich, dass er bei all seinen Studien der medizinischen Anthropologie nicht mehr von den verschiedenen Religionen wahrgenommen hatte?

Aber jetzt war er hier: im Religious Reflection Room des Flughafengebäudes. Room Number 99. Islamisch, katholisch, jüdisch, protestantisch, baptistisch, buddhistisch, hinduistisch, methodistisch, amisch, hutterisch, Zeugen Jehovas, Mennoniten, Mormonen – alles war möglich in diesem Religious Reflection Room. Alles war erlaubt. Auch dass er mit dieser Unbekannten in diesem Raum war, dass er hinter ihr stehen und sie einatmen und dass sie ihm den Rücken zuwenden, dass sie vor ihm knien und so tun konnte, als sei er nicht da. All das war erlaubt.

Sie reinigte sich. Im Gebet. Im Knien. In der Andacht. In der Demut. Das wusste er. Die Säuberung des Denkens und das Hinwenden auf Ihn, auf Allah, waren Teil des Gebets. Das Gebet war ein Waschen – ein innerliches Waschen.

Frauen beteten in Moscheen hinter Männern. Das wusste er von Istanbul und von Bursa, jenem Ort am Ende der Seidenstraße, der ehemaligen Hauptstadt des osmanischen Reiches, wo er drei Tage zugebracht und Vorträge über die Medizin im osmanischen Reich gehört hatte. Eine Frau von hinten zu betrachten, während sie kniete und ihren Oberkörper immer wieder nach vorn beugte, wäre für Männer, die sich innerlich reinigen wollten, eine zu große Herausforderung gewesen. Also mussten die Frauen nach hinten. Frauen konnten offensichtlich, während sie den Männern von hinten bei deren Verbeugungen zusahen, ihre innerliche Reinigung durchführen.

6

An den fensterlosen Wänden standen in Großbuchstaben die Himmelsrichtungen: E, N, W, S. East, North, West, South. Die Frau betete nach Osten hin. Er stand im Westen. Er atmete im Westen und war ruhig. Auf den Stühlen an der Wand gen Osten hin lagen drei weitere Gebetsteppiche. Einer war blau und gelb, einer war braun und gelb, einer war grün und gelb. War gelb eine besondere Farbe? In grüne und gelbe Tücher waren in Bursa die Särge der osmanischen Herrscher eingewickelt. Immer wieder das Gelb. Hatte es eine besondere Bedeutung? Oder war es eine Farbe, die einfach herzustellen war?

Religious Reflection. Was waren religiöse Reflexionen? Bedeuteten sie, dass man hier beten musste? Durfte man auch die Bibel lesen? Durfte man Psalter laut vor sich hinsagen? »Lobe den HErrn, meine Seele, und was in mir ist, SEinen heiligen Namen.« Galt Nachdenken auch als Reflexion? Und tiefes Atmen? Galten Yogaübungen als religiöse Reflexionen?

Der Raum bot viel freie Fläche. Das würde gehen. Sie könnten hier beide ihre Reflexionen machen. Sie gen Osten auf den Knien. Er gen Westen auf den Füßen. Er zog das Jackett aus und knüpfte die Krawatte auf. Er musste die Krawatte ausziehen, wenn er Yogaübungen machen wollte.

Steif wie er war, hatte er in den letzten Jahren zunächst zögerlich, dann mit schwindendem Widerstand angefangen, in Yogastunden zu gehen. Mehr schlecht als recht bewegte er sich. Er hielt die Positionen ungenau. Es knirschte und zwickte in jedem Gelenk, und die Knochen wollten sich nicht bewegen. Er unterdrückte das Stöhnen, so gut es ging. Er atmete. Die Damen in der Yogastunde erreichten mühelos ihre Zehenspitzen, sogar mit den Handflächen. Er schaffte dieses Kunststück selbst nach drei Jahren nicht. Doch mit der Zeit begann er, sich im Atmen und Dehnen, im Zerren und Zurren mehr zuhause zu fühlen. Er wurde ruhiger.

Bevor er sich in die Hundeposition bückte, schaute er sich noch einmal um. Die Frau kniete immer noch an ihrer Stelle. Sie blickte weg von ihm. Das war ihm recht. Sie würde ihm nicht zusehen. Das beruhigte ihn. Es wäre ihm unangenehm gewesen, wenn sie ihm zugesehen hätte.

Vor der Hundeposition musste er sich strecken und dehnen. Er bückte sich mit Schwung und erreichte tatsächlich kurz mit den Fingerspitzen die Fußspitzen. Dann schnellte er wieder nach oben. Er war steif. Er würde für den Rest seines Lebens steif bleiben. Aber es war schon besser geworden mit ihm. Das spürte er, auch wenn er noch weit davon entfernt war, beweglich zu sein. Es war sinnlos, sagte er sich, sich in den Yogastunden immer wieder mit denen zu vergleichen, die sich wie Gummi bewegen konnten. Aber er konnte nicht anders. Er bewunderte diese flexiblen Körper. Er beneidete sie. Bei ihm tat alles weh. Er bückte sich. Er richtete sich auf. Er fluchte leise. Er atmete. Er atmete tief ein, atmete tief aus. Darin war er Meister. Atmen konnte er. Und leise fluchen konnte er während der Yogaübungen. »Shoot.« Das ließ er zu. Das durfte sein. Das entspannte. »Damn.«

Er setzte sich auf den industriellen Teppichboden. Es gab keinen Ort in diesem Flughafen, der ruhiger gewesen wäre. Zwei Stockwerke unter ihnen waren Hugo Boss, Starbucks, Ralph Loren, Salvatore Ferragamo, Estée Lauder, Cartier, Louis Vuitton. Da lebten die Musik und die Gerüche und die Beleuchtungen, die Kunden anlockten. Dort lebten Leder, Parfum und Kreditkartenterminals. Er spürte, wie sehr er dieses Atmen mit geschlossenen Augen brauchte. Alles war so schnell gegangen. So schnell war er noch nie transatlantisch abgereist. Innerhalb von zwölf Stunden.

Er saß mit verschränkten Beinen auf dem Boden. Schneidersitz, hatte das früher bei Miriam und ihm geheißen. Nun hieß es Lotussitz. Es war dasselbe. Doch jetzt war dieses Sitzen für ihn, wie wenn sich zwei Krummsäbel miteinander verschnüren sollten. Er zog am einen Knie, dann am anderen. Unterdrückte ein Stöhnen. »Fuck.« Schließlich saß er da, steif und aufrecht. Im Rücken und in den Hüften zerrte es. Er hielt die Augen geschlossen. Er legte die Hände ineinander. Das dritte Auge an der Stirn. Er atmete. Jetzt, wo er die Augen geschlossen hielt, sah er die Lampen an den Wänden genauer. Hinter braunen Blenden gaben sie ihr Licht zur Decke hin frei. Indirekt. Die Blenden hatten eine Marmormaserung. Aber sie waren aus Plastik. Er sah, während er mit geschlossen Augen dasaß, dass es in diesem Raum kein Kreuz gab. Es gab keine Bibel. Es gab keinen Halbmond. Und er hörte den Körper der Frau, der sich bewegte. Er spürte die Frau. Noch ein paarmal atmete er ein und aus und ließ sich durchfluten von dem, was er einatmete. Rosenduft, Himmelsrichtungen, Lampenblenden, gedämpftes Licht, Schweiß. Er betete nicht. Er atmete. Mit geschlossenen Augen. East, North, West, South. Er spürte den Atem in sich. Er legte sich auf den Rücken und streckte die Beine lang aus. Geben und Nehmen. Langsam. Ein und aus. Er gab ein Stück von sich an die Welt ab und nahm ein Stück Welt in sich auf. Was dachte die Frau? Was ging in ihr vor, wenn sie betete? Sah sie Bilder vor sich? Sah sie Wasser? Sah sie Licht? Sah sie einen goldenen Kreis? Sah sie ein bärtiges Gesicht? Sah sie Männer? Sah sie Kinder?

Er atmete. Tief. Ein. Und aus. Was bedeutete Andacht im Islam? Gab es das Wort? Wie praktizierte man Andacht in einer Synagoge? Was sagten Native Americans? Er war ruhig. Er atmete. Tief. Ein und aus. Er schlief ein. Er spürte es. Und er ließ es geschehen. Nur schnarchen, dachte er, durfte er nicht. Das hätte gestört. Schnarchen gehörte zu keiner Andacht.

7

Wie war es möglich, dass er sie nie gefragt hatte, wie alles für sie war? Weshalb hatte er sie nie gefragt, wie es für sie war, wenn ein Junge sie ansprach? Wie es für sie war, wenn sie sich in einen Jungen verliebte? Was ging in ihr vor? Was dachte sie? Was, meinte sie, war möglich und was nicht? Konnte sie den Jungen anblicken? Ihn ansprechen? Atmete sie schneller? Schaute sie nach innen und nicht mehr nach außen? Hatte sie Angst? Senkte sie den Blick? Stellte sie sich an einen Platz, wo sie hoffte, von ihm wahrgenommen, von ihm angesprochen zu werden? Oder genau das Gegenteil? Versteckte sie sich?

Und welche Worte benutzte sie? Welche Worte dachte sie? Ausgehen? Einander sehen? Miteinander etwas unternehmen? Einander nahekommen? Glück haben? Oder gab es andere Worte bei ihr, in ihrer Welt? Umeinander werben? Um sie anhalten? Sie wollen? Sie nehmen wollen? Er konnte es sich nicht vorstellen. Eines Tages war bei ihm ein Brief eingetroffen: »Matthias und ich werden heiraten. Ich weiß, wie schwer es Dir fallen würde. Du brauchst nicht zu kommen, wenn Du nicht willst. Aber wir würden uns freuen.«

Er hatte ihnen ein Teeservice von der Töpferin im Dorf geschenkt – und war nicht gekommen. »Ich wünsche Euch alles nur erdenkliche Gute. Möget Ihr glücklich miteinander werden.«

Platituden. Je platter er in der Sprache bleiben konnte, desto weniger musste er von sich preisgeben. Desto weniger musste er über sich und sie, über seine Welt und ihre Welt, über seinen Körper und ihren Körper nachdenken. Also blieb er bei den Poesiealbumsätzen: Viel Glück und viel Segen auf all Deinen Wegen! Poesiealbumsätze konnte man von sich geben, ohne dass sie einen berührten. Man wurde nicht anders durch sie. Man musste sich keine Gedanken machen. Und so hatte er es gemacht: die Sätze hingeschrieben, in den Umschlag gesteckt und abgeschickt. Zwei Minuten später hatte er alles wieder vergessen.

Er hatte gemeint, er hätte es vergessen. Jetzt bemerkte er, wie wenig er es vergessen hatte: die Worte, hinter denen er sich vor ihr und ihrer Welt versteckt hatte. Jahrzehntelang.

Worte. Bei ihm war es sein Spitz, sein Rolle, sein Gießkännchen, sein Dingsda. Was war es bei ihr? Da hatte es kein Wort gegeben. Es war, als sei es ein langes, schmales Nichts gewesen. Unaussprechlich. Scheide hieß es in der sechsten Klasse. Das war ein schlimmes Wort. Scheide. Scheidung. Und wie noch? Er konnte sich kein anderes Wort denken. Es hatte kein anderes Wort gegeben. Es war ein Bereich, den Worte mieden. In der Familie hatte es keine entspannten, witzigen Worte dafür gegeben. »Jetzt lass dein Gießkännchen auch mal wieder in Ruhe.« Das hatte ihm gegolten. Darüber hatte man lachen können. Wann hatte sie ihren Kitzler entdeckt? Wer hatte ihn zuerst berührt? Sie? Oder jemand anders? Hatte sie gedacht, ein erwachsener Penis sei zwanzig Zentimeter lang und werde, wenn er sich versteifte, noch länger? Hatte sie Angst vor dem, was auf sie zukam? Welche Beziehung hatte sie zu ihrem Körper »da unten«? War alles für sie »ganz normal« oder wollte sie besonders sauber sein? Was war natürlich? Dachte sie: »Ich mag meine Furche.«? Oder dachte sie: »Mich ekelt’s immer ein bisschen vor mir. Ich weiß, es sollte nicht so sein. Aber so ist’s halt nun ’mal.«?

Was hatte sie sich vom ersten Mal erwartet? Er war sicher, dass es mit Matthias gewesen war. Miriam war einundzwanzig. Er war der Richtige. Sie hatte auf ihn gewartet. Wahrscheinlich hatten sie nicht bis zur Hochzeit gewartet. Die Liebe war die Bestätigung, dass er der Richtige war. Das Gefühl hatte sie geführt. Und dann? Was hatte sie gespürt? War sie glücklich geworden? Wie hatte sie die Liebe getroffen? Hatte sie sich nur um Matthias gekümmert? Hatte sie auch süße Aufmerksamkeit erhalten? Matthias war sensibel. Zuvorkommend. Aufmerksam. Taktvoll. Respektvoll. Geduldig. Feinfühlig. Aufgeschlossen. Zu Worten hatte Matthias ein distanziertes Verhältnis. Aber Miriam hatte sich in einen guten Mann verliebt. Miriam hatte einen guten Mann geheiratet.

Was erwartete eine Frau, die in diesem Dorf aufgewachsen war, vom ersten Mal? Eine Zusammenkunft in JEsus? Eine Vereinigung in IHm? Einen Segen und ein Gesegnetsein in SEiner Güte und Barmherzigkeit? Eine Andacht und einen Segensdienst in IHm? Und wenn es zur großen Vereinigung kam, so war es ein Gesegnetwerden der Seelen durch IHn? Die Lösung der Spannung – die Erlösung in IHm? Im Schoße der heiligen Ehe? War die Jungfernschaft ein Geschenk, das sie IHm zum Opfer brachte und das zu einem Segen wurde? Ein Geschenk, das Miriam IHm und ihm machte? Hatte sie Erwartungen? Dachte sie, sie würde in diesem Moment zu einer Frau? War es ein Hineinerleben in das Geschenk eines möglichen Kindes? »Ich will ein Kind von dir.« In IHm. Mit IHm. Das Wunder der Schöpfung. In SEinem Heiligen Namen.

Da war eine ganze Welt, in der alles, was ihr passieren konnte, passierte. In IHm. Weil alles in IHm und durch IHn geschah – wenn man es zuließ und wenn man in einem Zustand der Gnade war. War etwas nicht erfüllend, dann lag das nicht an IHm oder an ihm, sondern am eigenen Zustand, in dem man IHn nicht richtig empfing und aufnahm. Es galt dann, sich im Gebet zu läutern, sich zu öffnen, damit man bereit war für ihn, in IHm. In SEinem Segen. Bereit für den Segen. War es so gewesen für sie?

8

Der Vater kitzelte die Schwester durch. So nannten der Vater und Johannes das: »Jetzt wird sie durchgekitzelt.« Manchmal half Johannes dem Vater. Dann kitzelten sie ihr den Bauch, bis Miriam vor Lachen Tränen weinte. Das war lustig. Miriam gefiel es, durchgekitzelt zu werden. Sie sagte: »Ich kann gar nicht mehr vor lauter Lachen.« Sie keuchte, sie schluckte, sie wischte sich Tränen aus den Augen und holte immer wieder Luft. Laut. Keuchend. Atmen musste sie. Sich wiederfinden nach all dem Lachen musste sie. Ihre Augen leuchteten, und sie schaute den Vater und sie schaute Johannes an. Das war Nähe. Was sich liebte, das neckte sich. Nicht, dass er, Johannes, so hätte geneckt werden wollen. Er wollte von nichts und von niemand gekitzelt werden. Er hätte sich gewehrt, wenn das jemand bei ihm versucht hätte. Er hätte sich stark gemacht. Er hätte um sich geschlagen, wenn es nötig gewesen wäre. Aber er war er, und Miriam war Miriam.

Das Necken zerriss Grenzen. Schuf ein neues Wir. Im Kitzeln. Im Lachen. Und dass da auch ein bisschen Muskelkraft mit im Spiel sein durfte, machte alles noch schöner. Es gab eine andere Macht, die auch zur Macht der Liebe gehörte. Gewalt. Lachen. Nachdem sie durchgekitzelt worden war, waren alle zufrieden. Das Lachen war ein Glück der Kindheit.

Alle Mädchen im Dorf wurden durchgekitzelt. Die Kindergesichter lachten gern. Es war eine Freude, die ER, DEr alles geschaffen hatte, seinen Kindern schenkte. Auch dieses Lachen lag in SEinem unergründlichen Ratschluss.

Wenn sie Miriam durchkitzelten, verzog sich ihr Gesicht, verzog sich ihr Mund. Da ging ihr ihr Gesicht verloren. Und der Körper zitterte. Sie wurde immer wieder neu. Es war ein Geschenk, vom Vater und vom Bruder, an sie. Sie hatten sie gern. Das zeigten sie ihr. Indem sie sie lachen ließen. »Jetzt bist du dran, du kleine Kröte.« Und dann war sie dran. Sie tat, als wolle sie weglaufen. Aber das half ihr nicht. Sie wurde gefangen. Sie wurde festgehalten. Die Fingerspitzen von Vater und Bruder wurden lebendig auf ihrem Bauch, auf ihrem Rücken, an ihren Nieren. Und sie wand sich. Sie wollte sich befreien. Aber sie durfte sich nicht befreien. Sie durfte lachen. Immer weiter durfte sie lachen. Nichts als lachen. Und weiter.

Sie nannten einander »Bubbu« und »Bibbi«, »Uhu« und »Uhi«, »Auflauf« und »Nudel«. Bruder und Schwester, Mann und Frau. Eine seltsame Helle war in Miriam. Das spürte er. Sie war stärker als die Welt. Sie lebte in einer eigenen Welt. Nur durchs Kitzeln konnten sie ihr in ihrer Welt näherkommen.

Miriam blieb in einer anderen Welt, in einer anderen Liebe. Sie blieb in der Welt der Seelenliebe, der Wortliebe, der Rätselliebe, der körperlosen Liebe. Sie und er. Das Wir von morgen. Gekitzelt. Gespiegelt. Gespielt. Ineinander und durcheinander. Die Welten. Ihre und seine.

9

Ein Mädchen durfte, wenn es in der Zeit war, keinen Rosenstrauch berühren, sonst ging der Rosenstrauch ein. Ein Mädchen durfte, wenn es in der Zeit war, keine Früchte einmachen, sonst verdarben die Früchte. Ein Mädchen durfte, wenn es in der Zeit war, keinen Myrtenstrauch pflanzen. »Wer Myrten baut, wird keine Braut.« Ein Mädchen durfte, wenn es das erste Mal in der Zeit war, das Hemd nur mit kaltem Wasser waschen und dieses Wasser nur an einen Rosenstrauch gießen, damit es sein Leben lang ein rotes Gesicht behielt.

All das wusste er. Er wusste auch, dass sie fror, wenn sie in der Zeit war. Sie war dann noch mehr allein.

»Woher wollt ihr wissen, wer ich bin?«, brüllte sie.

»Wenn du so etwas sagst, liegt kein Segen darauf«, sagte der Vater, der von allem nichts wusste.

Miriam rannte hinaus. »So ein Arschloch.«

Sie rannte in ihr Zimmer und zog sich um. »Lass mich in Ruh«, rief sie, als Johannes an die Tür klopfte. Sie wollte allein sein. Aber er wusste, dass sie nicht allein gelassen werden wollte. Er klopfte wieder. So, wie er klopfte, wusste sie, dass er es war. Zweimal weich klopfen, dann eine kurze Pause, wieder zweimal weich klopfen, wieder eine Pause, und ein drittes Mal. Mit jedem Doppelklopfen ließ er den Ton weicher und fragender werden. Als sie nicht antwortete, öffnete er langsam die Tür. Als sie nicht aufblickte, ging er hinein. Er setzte sich aufs Bett; er setzte sich neben sie.

Einmal hatten sie gemeint, der Herr JEsus blicke durch das Dachfenster in ihr Zimmer herunter und schaue, ob sie die Schnörkel im Schönschreibheft richtig gemalt, ob sie die Schuhe ordentlich vors Bett gestellt, ob sie der Mutter geholfen und nicht gelogen hatten.

Johannes sagte: »Weißt du noch, als ich die zwei Zehnpfennigstücke aus dem Muttergeldbeutel genommen und in der Bäckerei zwei Gummicolaflaschen gekauft habe?«

Miriam sagte nichts.

Haribo. Cola. Es war der Geschmack der Welt. Sie und er. In der Welt war die Versuchung. Die versuchten sie. Je schwärzer sie war, desto besser schmeckte sie. Sie saugten das Schwarz aus den Colaflaschen. Er war schneller als sie. Er war stärker als sie.

Sie sagte: »Es ist einfach nicht fair.«

Er musste ihr recht geben.

Sie blickten durchs Dachfenster in den Nachthimmel. »Irgendwo gibt es auch noch den Heiligen Geist«, sagte sie. »Aber alle, die da oben wohnen, haben nie ihre Tage.«

Er sagte: »Der Heilige Geist kommt als Taube.«

»Aber nur auf die Häupter der Auserwählten. Ein Mädchen ist noch nie auserwählt worden.«

Sie hatte recht. Er würde einst zu den Auserwählten zählen, sie, Miriam, nicht. Der Heilige Geist war noch nie aufs Haupt einer Frau gekommen.

Er sagte: »Doch, aufs Haupt der Maria und der Elisabeth.«

»Aber nur, weil sie Jungen in sich trugen.«

Er sagte: »Du und ich, wir gehören zusammen.«

Sie sagte: »Ja, jeder für sich. Das ist nun einmal so.«

Sie waren ein großes Atmen, ein großer Rhythmus, der eigene und der des anderen. In ihr und in ihm.

Johannes sagte: »Lass ihn doch. Der Vater kann nichts dafür. So ist er eben.«

Er spürte die Wirkung seiner Worte. Er spürte ihre Augen. Gehen Alche. Er sagte »Arlorn.«

Sie sagte: »Immerhin scheint die Sonne.«

Er sagte: »Du bist die schönste unter den Menschenkindern, voller Huld sind deine Lippen, wahrlich, GOtt hat dich gesegnet.«

Sie sagte: »Ich spüre die Sonne. Warm und kalt zugleich.«

10

Gemeinsam sagten sie: »Ich glaube, dass mich GOtt geschaffen hat; dazu Kleider und Schuh, Essen und Trinken, Haus und Hof, Weib und Kind, Acker, Vieh und alle Güter. Das ist gewisslich wahr.«

Sie wuchsen in einer Zeit auf, die glaubte, wenn man alle Nebenflüsse des Neckars auswendig aufsagen konnte, bekäme man eine Eins, die glaubte, wer eine Eins bekam, war sehr gut, die glaubte, darauf könne man sich verlassen und auch darauf, dass wer eine Eins bekam, sich nicht mit dem Messer in die Unterarme schnitt.

Miriam versteckte die roten Linien unter langen Ärmeln. »Wenn es weh tut, tut es gut«, sagte sie.

Im Beten gaben sie sich hin. Wenn sie beteten, waren sie eins. Sie hörten sich. Sie erfuhren den VAter, den SOhn und den HEiligen Geist. ER fühlte sich seltsam an. Wie etwas, das sie gegessen hatten. ER war in ihnen. Drei war drei und drei war eins. Diese Rechenaufgabe löste jedes Kind im Dorf. Mühelos.

Alles war möglich in dieser Logik. Alles stand in SEinem unergründlichen Ratschluss. Man musste es nur annehmen.

Der HErr wollte nicht, dass sie so viel Schokolade und Gummibären aßen. Das sagte die Mutter. Wenn Johannes und Miriam etwas wollten, was dem HErrn nicht gefiel, war der Feind in ihnen. Der musste bekämpft werden. Wer vom Teufel frei ist, dem widerstreben die Gebote des HErrn nicht. So sprach die Mutter, die wusste, was dem HErrn gefiel und was dem HErrn missfiel. Immer.

Der HErr führte. Der HErr liebte. Deshalb fügte der HErr Schmerzen zu. Schmerzen waren Prüfungen. GOtt schuf den Schmerz. Und ER sah, dass es gut war. Der Schmerz war Führung. Wenn es nicht wehtat, war es eine Führung des Teufels. »Wenn du das noch einmal machst, musst du eine Tafel Schokolade essen!« Das war die Strafe des Teufels. Man musste etwas verlieren, damit die Lektion vom HErrn kam. Man musste seine Schmerzensfreiheit verlieren, damit man GOtt spürte. Wer IHn erfuhr, war gesegnet.

Er sagte: »Rems, Murr, Steinbach, Lein, Enz, Kocher, Jagst.«

Sie sagte: »Ich will gar nicht wissen, wieviele du vergessen hast.«

Er sagte: »Wenn du den Zipfelbach meinst, den hab’ ich mit Absicht weggelassen.«

Sie lachte. Und er spürte ihr Lachen. Es war hell. Es war gut. Es war ein Geschenk. Solange sie lachte, schnitt sie sich nicht. Solange sie sich nicht schnitt, spürte er es nicht, wie sie sich schnitt. Er wollte weg von ihren Schmerzen. Von ihren Schmerzen, die sie sich selbst zufügte.

11

Es gab Moorseen im Dorf, und eine Kirche gab es, genannt Betsaal. Es gab sieben aus Nächstenliebe gegründete Einrichtungen: das Waisenhaus, die Trinkerheilstätte, die Gehörlosenschule, die Heilerziehungsanstalt, das Knabeninstitut, das Mädcheninternat und das Heim für Mehrfachbehinderte.

Alles und alle lebten im Sinn der Nächstenliebe. Im Dienst an Anderen wurde man IHm gerecht.

Der Richtspruch des Dorfes lautete: Wer unter dem Schirm des HÖchsten sitzt und unter dem Schatten des ALlmächtigen bleibt, der spricht zu dem HErrn: Meine Zuversicht und meine Burg, mein GOtt, auf den ich hoffe.

Jedes Kind konnte diesen Spruch auswendig aufsagen.

Alles, was in diesem Dorf geschah, lag in GOttes unergründlichem Ratschluss. Wenn etwas geschah, stand es den Menschen nicht an, SEine Weisheit zu hinterfragen. Lebensversicherungen waren verpönt. Wer vom HErrn heimgeholt wurde, durfte von dieser Gnade nicht auch noch profitieren wollen.

Denn ER errettet dich vom Strick des Jägers und von der tödlichen Pest. ER deckt dich mit SEinen Fittichen, und deine Zuversicht ist unter SEinen Flügeln.

Unter SEiner Hut lebte das Dorf. In SEinen Händen lebte das Dorf. Vier Straßen führten auf den Betsaal zu. Von Ost, Nord, Süd und West. Egal, woher man kam, der Weg führte direkt zum Haus des HErrn.

Es war eine gesegnete Gemeinde. Die Gemeinde war voll von GOtt. Die Gemeinde stand unter dem Schirm des HÖchsten, des ALlmächtigen, des SChöpfers des Himmels und der Erde. Bruder Nagel. Bruder Maiwald. Bruder Lerner. Bruder Dreher. Brüder gründeten das Dorf. Brüder bestimmten das Dorf. Brüder waren das Dorf. Unter der Hut des HÖchsten.

Das Dorf war eine männliche Zeugung. Das Dorf war eine Brüdergemeinde. GOtt, VAter, SOhn und der HEilige Geist.

Frauen waren keine Männer. Frauen waren keine Brüder. Frauen waren Mütter. Alle Mütter lebten streng im Dorf. Also redeten die Mütter, die Weiber waren, in der Gemeinde nicht. Sie gehorchten der Heiligen Schrift, die GOttes Wort war. Der Mann ist des Weibes Haupt. Der Mann ist nicht vom Weibe, sondern das Weib ist vom Manne. Der Mann ist nicht geschaffen um des Weibes willen, sondern das Weib um das Mannes willen. Lasset eure Weiber schweigen in der Gemeinde. Es steht den Weibern übel an, in der Gemeinde zu reden. Die Mutter glaubte. Die Mutter lebte streng.

Der Vater war ein Ältester. Er gehörte zum Ältestenrat. Sprach der Vater mit dem HErrn, wurde sein Mund spitz. »ALl-mächtiger« und »EWiger« und »ZEbaoth« und »VAter«, sagte der Vater, wenn er mit dem VAter sprach. Sprach der Vater mit dem VAter, machte der spitze Mund seine Stimme hoch. Der Vater wurde zum Kind im VAter. Er liebte den VAter. »GOttes Sohn«, »HEiland«, »lieber HErr, der DU für unsere Sünden gestorben bist, der DU sitzest zur Rechten GOttes«.

Johannes wollte weg von dem Spitzmaul.

»Führe mich, o HErr, und leite meinen Gang nach DEinem Wort.«

12

Miriam sagte: »Wir haben nur probiert, die Handbremse anzuziehen.«

Der VW Käfer hatte der Schwerkraft gehorcht und Bekanntschaft mit einem Grenzstein am Parkplatzrand gemacht. Krachend. Scherbend. Überraschend.

Obwohl auch das in GOttes unergründlichem Ratschluss lag, war der Vater nicht dankbar für diese Prüfung.

Wer nicht hören wollte, musste fühlen.

Johannes musste fühlen. Aus Liebe.

Nachher, als der Vater gegangen war, kam Miriam in sein Zimmer: »Tut’s noch weh?«

»Nein, ich hab gar nichts gemerkt. Wirklich. Mich trifft er nicht, höchstens meinen Körper.«

Diese Trennung zwischen Körper und Seele hatte Johannes bei der Tante gelernt, die einen Krebs im Körper hatte. »Mir geht es gut. Wie es meinem Leib geht, ist eine andere Sache.«

»Du hättest ganz andere verdient«, brüllte der Vater. »Du hättest es hinter die Löffel verdient, nicht nur auf den Hintern.«

Verdienen. Etwas verdienen. Auch das gehörte zu diesem Dorf. Wenn der Vater ihm etwas gab, das er verdient hatte, staunte Johannes, weil dann die Zähne im Vatergesicht groß wurden. Es sah aus, als hätte er die Zähne eines anderen Wesens im Gesicht.

Miriam sagte: »Was spüren Tiere, wenn sie geschlagen werden? Hast du dich das schon mal gefragt?«

Schläge waren gängige Währung im Dorf. Bei Kindern und Vieh. Alles, was von GOtt, dem VAter, den Menschen anbefohlen worden war. In GOttes unergründlichem Ratschluss lag es. So wollte es GOtt. So wollte es GOttes Wort. So wollten es die Gemeindeältesten. So wollten es die Eltern. Schläge bedeuteten Ordnung. Schläge zählten. Schläge halfen der Seele. Wer geschlagen wurde, erfuhr SEine Güte und Barmherzigkeit. In Liebe.

Denn also hatte GOtt die Welt geliebt, dass er SEinen eingeborenen SOhn gab, dass ER Mensch werde und als Mensch leide. Auch GOtt ließ sich als SEin eingeborener Sohn, der ER auch war, schlagen. Er ließ sich Nägel durch Hände und Füße schlagen. ER ließ sich anspucken. ER ließ sich erlösen.

Und der HErr sah, dass es gut war.

Mit Mann und Ross und Wagen, hat sie der HErr geschlagen.

Johannes holte Luft, bevor es anfing. Er hielt die Luft an. Er machte sich klein. Er atmete aus, wenn es vorbei war. Im Ausatmen ließ er alles aus sich heraus. Auch das, was sich in seinem Körper angestaut hatte. Im Ausatmen trennte er sich von dem, was geschehen war. Es war gar nicht ihm geschehen. Es war jemand anderem geschehen. Es war vorbei. Gelobt sei, was hart macht. Ein Indianer kannte keinen Schmerz. Johannes war stärker als das, was da mit ihm geschah.

»Wer den Stock schont, schadet dem Kind«, hieß es im Dorf.

Manche Eltern mussten vom Pfarrer und von den Ältesten getröstet werden, wenn der HErr ihnen die Prüfung auferlegte, dass sie ihre Kinder lieben sollten. »Es ist nicht immer einfach, IHm gehorsam zu sein.«

SEine Güte und Barmherzigkeit währten ewiglich. Das durfte man nicht vergessen. Es ging um das ewige Leben.

Johannes und Miriam blickten durchs Dachfenster. Draußen war der Himmel. Draußen war es Nacht. Draußen hörten sie den Wind, der sich mit den Pappeln auf dem Nachbargrundstück beschäftigte.

Miriam sagte: »Dass der Grenzstein auch gerade an der Stelle stehen musste.«

Johannes sagte: »Genau. Der hätte auch ein paar hinter die Löffel verdient.«

Miriam lachte.

Johannes lachte. Er wusste, er würde eines Tages aus dem Dorf gehen. Weggehen. Verschwinden. Nach Amerika würde er gehen. Amerika war das Land, das schlug und nicht geschlagen wurde. Wer in Amerika war, wurde nicht geschlagen. Nicht vom Vater. Nicht von GOtt. Nicht von den Ältesten.

13

Sie sagte: »Soll er doch toben, der Alte.«

Nur das Atmen war noch da – und die Wärme der Bettdecke. »Willst du dich noch ein bisschen zu mir legen?«, fragte sie Johannes. Er legte sich neben sie. Er betrachtete die Tränen in ihren Augenwinkeln. Sie zog die Decke weit über sich und über ihn. Da waren sie allein.

»Pubertär.« Das war ein Vaterwort. Wenn der Vater »pubertär« sagte, war es ihm wohl, denn er meinte, wenn er ein Wort gefunden hatte, dann hätte er ein Verstehen gefunden, und das Verstehen war ihm ein Werkzeug des Trostes. Des Selbsttrostes. Im Verstehen fand der Vater seinen Atem. Im Verstehen fand der Vater die Ordnung der Welt. Der Vater meinte es gut, wenn er etwas verstanden hatte. Alles gehörte in SEine Ordnung, gelobet sei der HErr. So verstand der Vater die Welt. Alles war größer als man selbst. Alles lag in SEiner Hand. So hoch der Himmel über der Erde, so hoch sind MEine Gedanken über euren Gedanken. Alles lag in SEiner Hand, in der man sich geborgen fühlen durfte. Geboren und geborgen. Ich steh in meines HErren Hand und will drin stehen bleiben.

Miriam legte Brahms in den Kassettenrekorder. Phantasien. Die Haare fielen ihr über die Schultern. Johannes schaute den Bewegungen ihres Halses zu. Der atmete. Es waren Mächte in ihm. Die Macht des Schluckens. Die Macht des Atmens. Die Macht des Sprechens. Die Macht des Singens. Miriams Atmen kam Mächtigem nahe. Er liebte sie. Er liebte ihren Hals. Er liebte ihr Atmen. Er liebte ihren Kampf gegen den Schmerz ihres Körpers. Er war bei ihr. Weit weg von allem.

Sie war stark, wenn es ihr kalt war.

Sie sagte: »Unser Alter hat doch keine Ahnung. Der lebt in einer Welt von vor zweihundert Jahren.«

Die Haare schwebten wie ein dünner Vorhang um ihren Hals. Der heilige Mund und die Töne, die ihr gehörten. Im Bett waren sie weit weg von allem und allen.

Sie waren Fremde – im Dorf und in der Welt. Sie waren Fremde voreinander und miteinander. Sie hießen Schneewittchen. Sie hießen Reh. Sie hießen Kuss. Sie hießen Kussi. Sie hießen Sternenhimmel. Sie richteten sich ein in ihrem Fremdsein. Gemeinsam. Miteinander.

Miriam roch nach Baby-Crème. Es war ein Geruch der Unschuld. Sie will zu mir, dachte er. Sein Herz zitterte. Das Dorf lag hinter ihnen. Es lag vor ihnen. Es lag neben ihnen.

»Alles in Ordnung?«, fragte Johannes.

»Klar. Bei mir ist immer alles in Ordnung«, sagte Miriam und lachte.

Das Leben lag vor ihnen. Sie waren ruhig. Alles Atmen ging auf in ihnen. Sie lachten miteinander. Sie drehten den Kopf zur Seite und blickten einander in die Augen.

14