Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Goebbels, Ritter und Erwin haben versagt. Der Magier, der auch Wolke genannt werden könnte, hätte nicht gedacht, dass sich die Gegner als so stark erweisen würden. Er hatte doch schon die Büchse der Pandora ausgeschüttet! Aber er hat ja noch ein Eisen im Feuer, wie die Zweibeiner es sagen würden. Grit-Otto-Köhm! Das Gefährlichste und Brutalste, was es jemals in allen Universen gegeben hat.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 619
Veröffentlichungsjahr: 2025
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Wer sich an das Absurde gewöhnt hat, findet sich in unserer Zeit gut zurecht.
(Eugene Ionesco)
Freitag, der 19. Oktober
(Vier Uhr morgens irdischer Zeit)
Montag, der 5. November
Freitag, der 13. August
(Vergangenheit oder etwa Zukunft?)
Gegenwart
(oder etwa Vergangenheit?)
Sonntag, der 4. November
(Vergangenheit)
Erneut Gegenwart
Dienstag, der 6. November
Mittwoch, der 7. November
Donnerstag, der 8. November
Freitag, der 9. November
Samstag, der 10. November
Das Vokabularium der Eingeborenen
Von diesem Autor bereits erschienen:
Koma
Anderland
Anderland (das letzte Gefecht)
Schatten
Schatten (Tillys Rache)
Verschollen
Verschollen im Interland
Heunes Garage
(Vier Uhr morgens irdischer Zeit)
Der Troll mit der roten Nase meckerte mit einer dunklen Laubrasselstimme wie eine kranke Ziege. »Wann können wir denn endlich loslegen?«
»Gleich, sei doch nicht so ungeduldig«, bestimmte der Magier oder die Qualle. Oder was auch immer dieses Gebilde darstellen sollte.
»Das werdet ihr nie und nimmer schaffen!«, krähte der Troll (dessen Nase weiß schimmerte) mit einer keifenden Pumuckl-Stimme. »Die anderen werden besser sein als ihr!«
»Nein ...«, erwiderte die Qualle, »ich bringe erstmal diesen Goebbels ins Rennen, wie die Menschen dieses Individuum nennen. Wenn er nichts taugt, dann habe ich noch immer Ritter und Erwin! Und wenn alle Stricke reißen, wie die Menschen ständig sagen ... aber erstmal werde ich das Virus verteilen, seht zu! Dieser Mensch ist ideal, er ist schlecht!«
Die Qualle oder Wolke schüttete die Büchse der Pandora (besser Büchse der Qualle oder Wolke) über einen Mann, der in nächster Zeit einer S-Bahn sitzen sollte (die Menschen nannten diese Einrichtungen so), aus.
»Warum tust du das?«, fragte der Troll, der die weiße Nase vor sich hertrug.
»Warum nicht?«, antwortete die Qualle, »diese Spezies ist schlecht, ich habe die Aufgabe, denen ihre Grenzen aufzuzeigen!«
Der weiße Troll lachte ein Pumuckl-Lachen. »Ich versuche, den Menschen zu helfen, obwohl sie schlecht sind. Vielleicht ändern sie sich ja.«
»Ich nicht, sie werden sich niemals ändern!«, erwiderte der rote Troll, der sich an einem roten, giftigen Blatt labte.
»Wenn alle Stricke reißen, wie die Zweibeiner sagen, werde ich GRIT-OTTO-KÖHM in das Geschehen eingreifen lassen!«, endete die Qualle.
»Scheiße ...«, flüsterte der Troll mit der weißen Nase, »GRIT-OTTO-KÖHM ist echt scheiße!!!«
»Tu dir mal die Ruhe an. Noch ist es nicht so weit, wie die Menschen sagen würden!«, beruhigte der Troll mit der roten Nase, »die anderen schaffen es auch ohne Grit-Otto-Köhm!«
»Das glaube ich nicht. Schließlich habe ich Arkansas, Harry, Carola, Anna, Yannick und Tanja dagegen. Gegen deine Erwins. Aber Grit-Otto-Köhm ist echt scheiße, wie die Wasserköpfe es sagen würden!«
Der Troll mit der roten Nase lächelte schelmisch wie ein Aal.
Der Magier (Qualle, Wolke?) und die beiden (einer) Trolle saßen in einem Redwoodbaum in Anderland vor einem Spielbrett, auf dem vielleicht daumengroße Figuren standen. Jede dieser Figuren stand im Haus, sie warteten auf den Start. Dort stand eine Arlinda Kandy Saskya Zacharias, auch genannt Arkansas. Eine junge, drahtige Frau Mitte zwanzig, die als Erste ins Rennen gehen sollte. Deren schwarze Rastalocken zappelten schon unruhig wie kleine Klapperschlangen im nicht vorhandenen Wind.
Dann stand ein schlaksiger Mann auf dem Spielfeld, ebenfalls etwa (nach irdischer Zeit) Mitte zwanzig. Harald Schindler, genannt Harry. Ein (noch) völlig ahnungsloser junger Mann, der seinen Job verlieren sollte.
Ein etwa zehnjähriges, rotblondes Mädchen namens Anna Botter (die ebenfalls völlig ahnungslos war) stand neben diesem Harry.
Neben Anna wartete eine ahnungslose Oberkommissarin namens Carola Constanze Rudolf – auch CCR genannt – auf ihren Einsatz. Eine Frau mit pechschwarzem Haar und grünen Augen. Sie mochte nach irdischer Zeit vielleicht Anfang oder Mitte vierzig sein.
Es folgte ein etwa dreizehnjähriger Junge. Yannick Oberst hatte dasselbe rotblonde Haar wie diese Anna. Und diese blassblauen Augen der Anna hatte er ebenfalls. Er sollte erst später ins Geschehen eingreifen.
Ebenso wie diese etwa Mitte dreißigjährige Tanja Yvonne. Eine etwas pummelige Frau mit grünen Wunderaugen. In diese Augen hätte sogar der Troll versinken (oder sich verlieben) können.
Und ein Tier stand in den Startlöchern, ein Sztaryuvbzbiell, der zeitlebens von Wuuups oder Wuups (das kam aufs Gleiche heraus) gejagt wurde.
Und natürlich dieses Ding, das in Goebbels Einlass gebieten sollte. Nicht zu vergessen: Ritter und Erwin, die nicht minder gefährlich waren. Und als letzter Trumpf:
Grit-Otto-Köhm
Sollten die ersten Spielfiguren elendig versagen, würde die Qualle ihn ins Rennen schicken müssen.
»Das Spiel ist eröffnet«, brummte die Wolke, nahm einen schwarzen Würfel in die Hand (Wolke) und ließ ihn auf das Spielfeld fallen. »Ich fange an!« Er würfelte (wie immer) eine Sechs.
Arkansas begann zu laufen, ihre schwarzen Rastalocken wehten im nicht vorhandenen Wind.
Fast zeitgleich liefen Anna und Harry los.
Und dieses hundeähnliche Wesen vom Stamme der Sztaryuvbzbiells.
Elfriede und Hans hasteten durch den Dauerregen, unter welchem sich Hagel und Graupel gemischt hatten. Der Köter musste aber auch ständig bei dem größten Scheißwetter scheißen. Elfi riss den schwarzen Dackel, der wie wild an der Leine zog, zurück. Er wollte schnell zu seinem Baum. Diesen Baum nahm er ständig zum Kacken und Pipimachen; die Götter wussten warum.
Elfi und ihr Hänschen waren nicht mehr die Jüngsten, jeder Anfang achtzig. Ihr Dackel Heinz (auch nicht mehr der Jüngste, etwa Anfang fünfzehn) zog wie nie in seinem Leben, er musste offenbar dringend. Elfi schlug mit ihrem Regenschirm nach dem Hund, worauf ein Regenschwall ihren Kopf überschwemmte. »Zieh doch nicht so, du wirst schon nicht in die Hose kacken!«
»Lass ihn doch«, meinte der stets gutmütige Hans, »er muss nun mal. Dieses Scheißwetter passt mir auch nicht. Aber was kann der Köter dafür?«
»Jeden Morgen dasselbe, er hätte sich doch mal zurückhalten können!«, keifte seine Elfi, mit der er schon seit über fünfzig Jahren verheiratet war. Eine Ehe mit Anlaufschwierigkeiten. Elfis Vater Heribert hatte seiner Tochter verboten, Hans zu ehelichen. Ihr Vater besaß eine große Firma (fast schon ein Imperium) welches Maschinen produzierte. Er war ein reicher und angesehener Mann, da konnte die Tochter doch keinen kleinen Beamten heiraten! Ihr Vater hatte seiner Tochter damals schon einen geeigneten Ehemann ausgesucht, einen reichen Industriellen aus der Schweiz. Wie gnädig! Aber Elfi wollte sich nicht an einen reichen Industriellen verkaufen lassen. Noch dazu an einen Mann, den sie nur von Fotos her kannte und noch nie im Leben begegnet war. Dies gab sie ihrem Vater zu verstehen.
Wir sind doch nicht mehr im Mittelalter!
Woraufhin ihr Vater wie ein Irrwisch durch das Schloss jagte. Wen du heiratest, das habe noch immer ich zu bestimmen. Was werden die Leute sagen?
Elfi konnte starrköpfig wie ihre Mutter Isolde-Guntram sein, sie blieb hart wie Granit. Was die Leute sagen würden, war ihr völlig schnuppe.
Das Gezeter ging über Monate, ach was, fast ein Jahr. Irgendwann willigte der Vater (auch auf Druck der Isolde-Guntram) ein.
Hans hatte von der ganzen Auseinandersetzung nichts mitbekommen. Elfi hatte es ihm später erzählt. Und er hatte sich gewundert, warum er von seinem Schwiegervater nicht oder kaum wahrgenommen wurde. Das Ganze war schon so lange her. Hans konnte sich kaum daran erinnern. Gab es die Bundesrepublik Deutschland damals schon?
Er schüttelte seine Gedanken wie ein nasser Dackel ab.
Sie befanden sich allein auf der Straße, bei diesem Wetter scheucht man (oder frau) noch nicht einmal einen Hund vor die Tür. Nur ein Rentnerehepaar, weil der Dackel wieder einmal musste. Aber musste nicht jedes Lebewesen mal? Was oben (in dieser Angelegenheit beim Dackel vorn) reinkam, das musste doch unten (hinten) wieder hinaus. Zumindest das, was der Körper nicht verarbeiten kann. Mal abgesehen von der Botanik. Aber wer weiß, vielleicht kacken die Blumen über die Wurzeln in die Erde?
Endlich erreichten sie den Baum, eine noch gesunde Eiche, die in der Kaiserstraße stand. Hans fragte sich, wie lange noch. Wie lange würde diese Eiche der Umweltverschmutzung noch standhalten? Er stellte sich mit seinem Regenschirm hinter die Westseite des Baumes, der Regen peitschte fast waagerecht von Osten heran, der stürmische Wind war eiskalt.
Elfi begab sich neben ihm. »Es hat die ganze Nacht geregnet. Ich konnte mal wieder nicht schlafen, meine Migräne. Du hast ja gepennt wie ein Murmeltier. Ich glaube, sogar die Brechts nebenan konnten dein Schnarchen hören.«
Heinz schaute das Ehepaar dankbar an und hob sein Bein, um endlich sein Revier zu markieren.
»Du und deine Migräne. Trink dir abends einen Schnaps, oder eine heiße Suppe. So wie ich das tu, dann hast du keine Probleme mit dem Einschlafen. Das sage ich dir schon seit zwanzig oder dreißig Jahren.« Hans schaute gelangweilt in den wolkenverhangenen Himmel, die schweren schwarzen Wolken schienen sie erdrücken zu wollen. »Ach was ... seit vierzig Jahren.«
»Du nimmst wohl eher den Schnaps als die Suppe. Du ständig mit deinen komisch seltsamen Ratschlägen!«
»Übertreib mal nicht ...«
Mit einem Mal war alles anders, der Wind brach abrupt ab, die Luft schmeckte anders. Sonderbar. Wie versalzene Fleischklöße mit Rotkrautgummi.
Der Dackel Heinz spitzte die Ohren, starrte in die Wolken und begann zu jaulen. Dann setzte er sich in seinen Haufen, eine halbe Wurst schaute noch aus seinem schmalen Arsch. Er machte sich ganz klein, er schien in die Erde kriechen zu wollen. Dass er sich dabei in seinem eigenen Kot wälzte, kümmerte ihn scheinbar nicht. Offenbar merkte er es noch nicht einmal. Er jaulte lauter.
»Was ist das?«, stöhnte Elfi. Sie starrte auf Heinz. »Was hat er? Er jault doch sonst nicht so schrill?«
»Riechst du die Luft? Sie schmeckt so seltsam? Und der Wind ist eingeschlafen. Irgendetwas stimmt hier nicht?«
Der Dackel wälzte sich auf den Rücken, jaulte und streckte alle vier Extremitäten von sich in den Himmel, als wenn er die Wolken wegschieben wollte.
»Was hat er?« Elfi bekam Angst, sie warf sich in die Arme ihres Mannes. »Hier stimmt etwas nicht, so tu doch etwas!«
Hans, pensionierter Polizeibeamter, starrte sie an. »Was soll ich denn zum Kuckuck machen?«
»Schießen!«
»Womit denn? Und auf wen? Ich bin schon lange nicht mehr im Dienst. Außerdem habe ich nie geschossen, außer auf dem Schießübungsstand?«
Plötzlich fing die Luft zu grollen, zu tosen und zu brüllen an. Sie wurde wie von zwei riesigen Händen auseinandergezogen!
»Schau mal dort?« Hans deutete mit einer (der linken, um genau zu sein) Hand auf ein graues Gebäude, welches vielleicht zweiundzwanzig Yards entfernt stand. Genauer gesagt, haben es die fleißigen Handwerker mit Löchern für die Fenster dort hingestellt.
Elfi sah auf und stieß einen spitzen Schrei aus. »Was ist das?«
Ihr Mann starrte auf die besagte Stelle und zuckte mit den Schultern. Was sollte er auch sonst tun?
Er sah einen See vor dem Haus, durch ein (Zeitloch?); mehrere Personen standen in dem See oder am Ufer. Nur kurz, sie wateten hinein. Auf dem See schwammen verrottete Seerosen und Äste, das Wasser warf sanfte Wellen. Er erkannte zwei Männer, zwei Frauen, ein Mädchen und einen Hund. Das Mädchen und einer der Männer trugen schwarze Hüte auf den Häuptern. Sie hielten sich aneinander fest. Oder sie hielten etwas fest. Dies konnte er nicht so genau erkennen. Die Szene war verschwommen, als wenn er durch einen Wasserfall schauen würde.
Elfi stieß erneut einen spitzen Schrei aus. »Lieber Gott! Was ist das?«
Vor den fremden Menschen bildete sich ein stahlblauer Kreis, sie wateten (die Fremden, nicht Hans und Elfi) darauf zu. Das Grollen, Tosen und Brüllen wurde grässlich laut. Dazu gesellte sich brutale Rockmusik. Fürchterliche Musik, in deren Ohren. Sie waren Heimatmusik aus dem Radio gewohnt.
Elfi kreischte zum dritten Mal auf. Hans hörte zwischen dem Grollen und Tosen kreischende Gitarrenklänge. Der Gitarrist schien sein Instrument mit einer Säge zu bearbeiten. Nicht wie früher bei den Beatles, nach denen er und seine Elfi stets getanzt hatten. Elfis Vater Heribert hatte die Musik der Beatles ständig Negermusik genannt. Negermusik, so ein Quatsch. Was sollte dann DAS Gekreische bedeuten?
We are Motörhead, grollte eine Stimme aus dem Nichts.
Mit einem Mal ließen das Tosen, Grollen und Brüllen nach, es brach mehr abrupt ab. Auch die Anti-Beatles-Musik. Dem Herrn sei es gedankt!
Der Meister war sauer.
Dann versanken die Unbekannten wie Steine in den Wellen.
»Sie ersaufen oder ertrinken!«, stieß Hans aufgebracht hervor.
Der See, welcher die Menschen wie ein großes Monster verschluckt hatte, wurde milchiger, verschwommener! Dann verschwand er wie der Luftstrom eines Haartrockners, der ausgeschaltet worden war. Der Wasservorhang verschloss sich wie von Geisterhand, er quietschte sogar in (welchen?) den Angeln. Welche Angeln? Hier war doch nichts außer der nassen Luft?
Der brutale Wind setzte erneut ein.
Heinz stellte sein Jaulen ein und erhob sich aus seiner Scheiße. Sein schwattes Fell war fürchterlich beschmiert.
»Was war das?«, stieß Hans seine Angetraute hervor.
»Keine Ahnung, vielleicht ein Wachtraum oder eine Fata Morgana.« Er nahm seiner Frau die Leine aus der Hand und zog den Dackel weiter. »Komm, wir verschwinden hurtig!«
»Diese Luftspiegelungen gibt’s nur in der Wüste.«
»Wer weiß?« Hans eilte weiter, er wollte so schnell wie möglich verschwinden, diese Sache war ihm nicht so ganz geheuer.
Sie kamen keine zwei Yards weit. Die Luft explodierte, ein ohrenbetäubender Knall riss ihnen beinahe das Trommelfell entzwei. Elfi ließ ihren Regenschirm fallen und schrie abermals laut auf.
Auch Hans schrie gell auf und ließ Regenschirm und Hundeleine fallen.
Der Dackel machte sich laut winselnd und mit Scheiße beschmiert aus dem Staub, den es bei dem Regen nicht geben konnte.
Hans und Elfi drehten sich auf den Hachsen um.
Die Luft spuckte mit einem donnernden Knall eine nackte Frau aus. Diese folgte aus etwa eineinhalb Metern Höhe der Erdanziehungskraft und landete in einer Pfütze auf der Straße. Das dreckige Regenwasser spritzte in alle vier Himmelsrichtungen davon. Wo sollte es auch hin?
Ein Kleinwagen, der mit zuckenden Scheinwerfern und Scheibenwischern heranfuhr, kam in letzter Sekunde vor der Frau zum Stehen.
Das betagte Ehepaar eilte zur Unfallstelle. Aus dem grünen (grauen, im Regen sind alle Autos, wie die Katzen, grau) Kleinwagen stieg eine junge Frau.
»Wo kommt die denn so plötzlich her?«, stammelte die Frau. »Ich wollte doch nur Brötchen holen und plötzlich ...« Sie zog einen Regenschirm aus ihrem Fahrzeug und spannte ihn hurtig auf.
Hans antwortete nicht, er ging zur Vorderfront des Autos. »Rufen Sie schnell einen Krankenwagen! Vielleicht isse verletzt!«
Die nackte Frau lag reglos auf dem Asphalt. Der linke Vorderreifen war keine neun Zentimeter vor deren Kopf zum Stehen gekommen. »Das war knapp«, dozierte Hans. Er starrte die dunkelhäutige Frau an. Deren schwarze Rastalocken lagen wie kleine Wasserschlangen in der Pfütze. Ihr Schädel wies Beulen auf. Und sie hatte Blutergüsse fast am ganzen Körper. So weit, wie er es beurteilen konnte. Neben der Frau lagen ein Flitzebogen und ein Köcher, aus dem vier Pfeile ragten. Er bemerkte mit einem erfahrenen Polizistenblick, dass in jedem Ende der Pfeile eine Feder steckte. Er bückte sich und legte ein Ohr auf die nackte Brust der Frau. Er hörte leisen, unregelmäßigen Herzschlag. »Sie lebt Gott sei Dank! Aber wo kommt sie her?«
Elfi kam herbeigeeilt und legte den Regenschirm (welchen sie aus einer Pfütze aufgehoben hatte) auf die nackte Scham der Frau. Dann zog sie ihren Mann in die Höhe und legte dessen Regenschirm auf die Brüste der Frau. »Schau da nicht so genau hin!«
»Ich wollte ihr doch nur helfen!« Hans schaute auf seine Armbanduhr, die er letzte Weihnachten von seiner Nichte Anna geschenkt bekommen hatte. Die zeigte ihm 09:04 Uhr.
Die blonde Frau, die den Krankenwagen gerufen hatte, breitete zusätzlich eine Wolldecke über den reglosen Körper. »Sie müssten gleich da sein, wo kam diese Frau mit einem Mal her?« Sie hielt den schwarzen Regenschirm (auf welchem rettet den Senf) stand, über das Haupt der Bewusstlosen.
»Aus der Luft«, erwiderte Hans, »sie ist einfach aus dem Nichts erschienen, dies verstehe, wer will! Ich nicht. Hoffentlich beeilen die sich, die Frau erfriert!« Er zog seinen Regenmantel aus und legte ihn behutsam über die Decke.
Mit jaulenden Sirenen bretterte der Krankenwagen heran.
♦
Paul Misch und seine Gattin Helga saßen auf einer Holzbank am Hauptbahnhof Dortmund. Auf ihrem Stammplatz. Gleis Acht, wie jeden Morgen. Es schüttete wie aus Eimern, aber das interessierte sie nicht. Sie hatten sich dementsprechend gekleidet und Regenschirme aufgespannt. Sie waren eine Stunde zu früh dran, normalerweise kamen sie stets um zehn Uhr, heute aber schon um neun. Helga hatte gedrängt, warum auch immer. Auf dem Bahnsteig war nichts los, die Menschen blieben bei diesem schlechten Wetter (bei dem man ja bekanntlich nicht einmal einen Köter vor die Tür schicken würde) lieber zuhause.
Helga-Giselmar schenkte aus einer Thermoskanne Tee in zwei Kunststoffbecher und verteilte zwei Salamistullen. Sie brachten sich jeden Morgen etwas zum Vespern mit, sozusagen Sitzproviant. Schon seit vier Jahren. Seitdem sie auf diesem Bahnhof Leute beobachteten, wie sie ihren Zeitvertreib nennen. Andere züchteten nach ihrem Arbeitsleben Rosen, Meerrettich oder Schlangengurken in irgendwelchen Schrebergärten; sie aber beobachten lieber Menschen, die in den Zügen ein- und ausstiegen.
Paul stieß seine Frau mit dem Krückstock an und gab einer Filterlosen Feuer. »Heute ist ja gar nichts los. Die Züge kommen und gehen und kein Arsch steigt aus oder ein. So ruhig war’s noch nie. Noch nicht einmal der Rauschgifthändler mit ’nem schwarzen Hut kommt?«
»Mhm, mit Sicherheit.«
Wieder der Krückstock. »Da kommt der Acht-dreiundfuffzig-Zug aus Bochum, mit fast zehn Minuten Verspätung. Vielleicht passiert jetzt mal was?« Paul biss in das Brötchen und trank hernach einen Schluck dampfenden Tee.
»Mhm, mit Sicherheit.«
Der Zug hielt mit kreischenden Bremsen. Ein Mädchen, etwa zehn Jahre jung, stieg aus. Allein, niemand stieg ein oder aus.
»Da isse wieder, die vor drei oder vier Wochen!«
»Jau!«
Das Mädchen schaute sich kurz um, dann verschwand sie im Nichts! So, als hätte ein Schwarzes Loch sie verschluckt.
»Wie vor drei Wochen!«, rief Paul und stand auf. »Hier ist nichts mehr normal. Komm, wir verschwinden! Das Mädchen hat sich doch schon mal inne Luft aufgelöst. Sie hatte ’nem Rucksack dabei, weißt du noch?«
Helga-Giselmar erhob sich ebenfalls hastig. »Jau!«
»Erst war se da, dann war se wech!« Paul setzte sich wieder auf seinen Platz. »Das hat bestimmt mit ’nem Hexer zu tun!«
»Mhm, mit Sicherheit!«
Mit einem Mal brodelte die verregnete Luft, zitterte und donnerte. Der steife Ostwind, der vorher geherrscht hatte, fror ein.
»Was ’nem das?« Paul-Lätitia hob spontan die Hand und verschüttete den Kamillentee auf seine Regenschutzkleidung.
»Jau!«
Die Luft öffnete sich einen winzigen Spalt, Paul sah für eine Zehntelsekunde einen See oder Weiher. Dann spuckte der Himmel das besagte Mädchen aus. Splitterfasernackt landete es auf dem Bahnsteig in einer Pfütze.
Paul starrte auf die große Bahnhofuhr, diese zeigte, ohne zu lügen, 09:04 Uhr.
Er erhob sich erneut und ging auf das Mädchen zu.
»Sei vorsichtig, vielleicht hat sie etwas Giftiges an sich!«
»Was soll sie ’nem haben? Vielleicht braucht sie ’nem Hilfe?« Er erreichte das Mädchen, welches rotblondes Haar trug. Ein schwarzer Cowboyhut lag neben ihr, sonst trug sie nichts. Nicht ein Fetzen Stoff hatte sie am Leib. Und dies bei dem Wetter! Sie hielt einen schnurgeraden, etwa fingerdicken Stab oder Stock in der Hand. Der war etwa einen Meter lang. Er stieß das Mädchen mit seinem Krückstock in den Bauch. »Was ’n los? Was ’n das für ’nem Stock?«
Das Mädchen rührte sich nicht. Der Regen, der Graupel und der Schneeregen prasselte auf sie nieder. Paul hielt den Regenschirm über ihr Gesicht.
Helga kam näher. »Vielleicht hat sie etwas Ansteckendes oder eine Seuche. Vielleicht hat sie sogar Raids! Sei bloß vorsichtig ...«
»Es heißt Aids, nicht Raids, wenn du das mit ’nem Arschficker meinst. Ruf mal ’nem Krankenwagen!«
Er bückte sich (seine Knochen protestierten laut) und legte ein Ohr auf die schmale Brust des Mädchens. »Sie lebt, ich höre ’nem Herzschlag. Schwach, aber ’nem hin. Verstehst du?«
»Womit soll ich denn ’nem Krankenwagen rufen? Wir haben doch nicht so ’nem Gerät, was Funken oder Wellen versprüht? Die, welche ’nem Jugendliche ständig bei sich tragen. Wie heißen ’nem Dinger noch?« Helga war an diesem Tag sehr gesprächig.
»Keine Ahnung. Geh runter inne Bahnhofshalle. Da ist sicher ’nem Schaffner oder so etwas. Dann saachste ihm, wat los ist!«
Seine Helga lief mehr oder weniger los, Paul sah sich die Kleine genauer an. Sie hatte fast am ganzen Körper Schürfwunden und Blutergüsse, Hämatome. Ihr Körper war zerschunden, als wenn sie einen langen, harten Kampf gehabt hätte. »Was ’nem los, Mädchen?«
Die Kleine rührte sich nicht.
Er nahm den Regenschirm zwischen die dritten Zähne und breitete den Regenmantel über die Kleine aus. Dann legte er den Cowboyhut auf ihr Gesicht. »Du wirst dich noch erkälten, bei so ’nem Scheißwetter.« Er hob den seltsamen Stab auf. »Was ’n das für ’nem Ding?«
Der Stab war trotz der Kälte warm. Das Holz kam ihm fremd vor, es hatte aber Ähnlichkeit mit Ebenholz. Aber nur so ähnlich. Ein wunderschöner Stock. Er vibrierte. Paul schüttelte erstaunt die Hand. Hernach steckte er den Stab in die Innentasche seiner Anzugjacke, die er von seiner Helga vor sieben Jahren geschenkt bekommen hatte. Der Stock würde gut in seine Stocksammlung passen. Neben dem Leutebeobachten hatte er noch ein zweites Hobby; er sammelte leidenschaftlich gern Stöcke in jeder Form und aus jedem Holz. So einen schönen Pin hatte er bestimmt noch nicht.
♦
Harald – Harry – Schindler saß im Rollstuhl, der Oberarzt sah ihn streng an. »Sie wissen nicht, wo Sie seit dem neunzehnten letzten Monat gewesen sind?«
»Das habe ich Ihnen doch schon hundert Mal erzählt. Ich bin mit dem Fahrrad in den Park gefahren, seitdem kann ich mich an nichts mehr erinnern.«
»Sie wurden splitternackt in diesem Park gefunden ...« Der Oberarzt starrte Harry mit stechend schwarzen Augen, welche tief in den Höhlen steckten, an. Sein weißes Haar war verwirrt wie damals Einsteins Helm.
»Sie trugen nur diesen Hut auf dem Kopf.« Er deutete mit spitzem rechten Zeigefinger auf Harrys Stetson.
»Das ist kein Hut, das ist ein Stetson. Wie oft soll ich Ihnen das noch sagen!« Harry stand auf. »Bin ich hier bei den Bullen oder was? Ist dies ein Verhör? Sind wir schon wieder so weit?«
Der Finger stach wieder zu, die andere Hand rückte eine Brille, die mit dicken Gläsern bestückt war, zurecht. »Wo haben Sie die ganzen Wunden her? Sie haben Hämatome und Schürfwunden, fast am ganzen Körper?« Der Finger stieß zu Harrys Stirn. »Dort haben Sie eine fast verheilte Wunde, am Gesäß auch. Das sieht mir fast wie ein Streifschuss aus. Knapp am Arsch vorbei, sozusagen?«
»Wenn ich das wüsste«, stöhnte Harry. Entweder war der Kerl zu blöd, oder er wollte es nicht begreifen. Harry hatte von den vergangenen Wochen keinen blassen Schimmer. Ein Jogger hatte ihn auf einem Trimm-dich-Pfad in Hamm aufgefunden. Splitternackt, nur mit dem Stetson bekleidet. Ziemlich genau an der Stelle, an der er sich ausruhte, wenn er in diesem Park verweilte. Er konnte sich noch an das Wetter (als er den Trimm-dich-Pfad vor fast drei Wochen betreten hatte) erinnern. Es war klasse, schönes Oktoberwetter gewesen. Nicht so ein Scheißwetter wie heute. Er stemmte seine ein Meter fünfundneunzig aus dem Kassenpatientenrollstuhl, trat an das Fenster heran und schaute hinaus. Der Regen und die Graupel donnerten ununterbrochen aus dem bedeckten Himmel gegen die Thermopanescheibe. Er drehte sich um. »Können Sie mir mal erklären, wie ich zurück in meine Wohnung komme? Schließlich habe ich nichts, außer dem Stetson zum Anziehen dabei?«
Der Arzt war unbemerkt hinter ihm getreten, eine Knoblauchfahne wehte Harry in den Nacken. »Nein, aber was ist das dort?« Der Finger stach erneut zu, diesmal auf seinen linken Unterarm.
Harry hatte die Ärmel des Bademantels, in welchen die Schwestern ihn gequetscht hatten, hochgekrempelt. Er starrte auf seinen Arm. Auf dem stand James, mit einem Messer eingeritzt oder tätowiert. »Keine Ahnung, vor drei Wochen hatte ich noch keine Tätowierung. Ich weiß nicht, woher ich das habe. Da ist ein riesiges ... großes Loch in meinem Hirn.«
Der Oberarzt hielt Röntgenbilder gegen das Neonlicht. »Ihr Skelett ist in Ordnung, Sie haben nicht einen Knochen gebrochen. Sie haben nur diese seltsamen Wunden. Aber darum muss sich die Polizei kümmern.«
»Warum die Bullen? Wenn ich einen Knochen gebrochen hätte, dann würde ich das bemerken, das können Sie mir glauben.«
»Weil wir bei solchen Phänomenen immer die Polizei rufen, das ist Vorschrift. Schließlich waren Sie fast drei Wochen verschollen. Dürr sind Sie auch geworden, haben Sie in der Zeit nichts gegessen? Sie wiegen höchstens achtzig Kilo, das ist für Ihre Größe viel zu wenig.«
»Geworden? Sie kannten mich vorher gar nicht. Neunundsiebzig, wenn sie’s genau wissen wollen. Ich wiege schon immer so viel oder so wenig.« Harry schaute sich um. »Warum bin ich eigentlich allein in diesem Zimmer? Sonst werden die Kassenpatienten doch immer zu viert in eine Bude gepfercht?«
»Das tun wir in solchen Fällen so. Die Pharmakonzerne bestechen uns dafür. Wir verdienen viel Geld damit. War ’n Scherz. Möchten Sie einen Psychiater konsultieren? Den zahlt die Krankenkasse aber nicht?«
»Die Krankenkasse bezahlt mittlerweile gar nichts mehr. Nur die Bosse machen sich die Taschen voll. Ich brauche keinen Psycho, die sind doch selbst alle bekloppt. Wenn Sie jeden Tag mit Bekloppten zu tun haben, dann färbt das ab, ist doch logisch. Irgendwann wird jeder Psychiater selbst krank, dann muss er einen Kollegen konsultieren!«
»Also gut.« Der Oberarzt verschwand so schnell, wie er gekommen war.
Kassenpatient.
Harry setzte sich auf das Bett und betrachtete seinen linken Unterarm. »Wie kommt der Name auf meinen Arm? Das muss jemand mit einem Messer eingeritzt haben, es ist keine Tätowierung. Verdammte Scheiße, warum kann ich mich an die letzten Wochen nicht erinnern? Da muss doch etwas gewesen sein, sonst hätte ich nicht die Wunden und Hämatome?«
Anderland
Stach ein Name durch seine Gehirnzellen.
»Was ist oder bedeutet Anderland?«
Die Tür wurde geöffnet, zwei Polizistinnen in Uniform traten ein. »Da haben wir ja unseren Vermissten!«, flötete die braunhaarige Frau mittleren Alters. Sie setzte sich neben ihm auf das Bett, ihre spitze Nase berührte beinahe sein Kinn. Er roch Pfefferminze und Hagebutte. »Wo waren wir denn die letzten drei Wochen?«, sprach sie wie zu einem Bescheuerten.
Die andere (blonde) Frau gleichen Alters setzte sich rechts neben ihm. »Und wo haben wir all diese kleinen Wündchen her?«, säuselte auch sie.
»Zeigen Sie mir erstmal Ihren Dienstausweis!« Harry wurde böse, die beiden Weiber behandelten ihn wie einen lütten Schuljungen der ersten Klasse.
Die Braunhaarige legte ihre Polizeimütze auf das Bett und zückte einen Ausweis. »Ich heiße Angela Münster, wie diese Stadt ...«, sie deutete auf ihre Kollegin, »... die junge Frau heißt Carola Bodensee, wie dieser See im Dreiländereck heißt.«
Harry starrte auf den Ausweis und nickte die beiden Frauen abwechselnd an. »Ich kenne den Bodensee. Was kann ich für Sie tun?«
»Wir möchten eigentlich nur wissen, wo Sie die letzten drei Wochen verbracht haben. Und vor allem, wer Ihnen diese Wunden beigebracht hat«, säuselte die Blonde auch mit (aber ohne Hagebutte) Pfefferminz. »Das mutet ja an, als hätte man Sie misshandelt?«
Harry hatte eine krude Idee. »Ich war in Anderland.«
Die Braune zückte wie ein Cowboy Notizblock und Stift. Sie schrieb beflissen Anderland auf das rosa Papier. Das war ein Geständnis. »In NRW gibt’s meines Wissens kein Anderland. In welchem Bundesland befindet sich dieses seltsame Anderland? Wir müssen uns dann sofort mit den Kollegen vor Ort in Verbindung setzen?«
»Kurz hinter Offenbach, die zweite Straße links. Wenn Sie dann an der nächsten Telefonzelle rechts abbiegen, dann müssen Sie nur noch etwa einen halben Kilometer geradeaus fahren, schon sind Sie dort vor Ort.«
»Also im Hessenland. Was haben Sie dort getan?«
»Urlaub, müssen Sie wissen. Ich hatte den Stress einfach satt. Urlaub am See. Ab und zu habe ich mal eine Ente gevögelt, oder einen Schwan. Je nachdem, was mir vor die Flinte kam. Schwan und kam, es reimt sich sogar.«
»Daher stammen also Ihre Wunden?«, fragte die Braune, die doch tatsächlich alles mitschrieb.
»Ja sicher. Haben Sie schon mal einen Schwan gevögelt? Das ist ganz schön anstrengend. Die schlagen mit den Flügeln um sich, das tut ganz schön weh!«
»Nein, das kann ich doch gar nicht, ich habe doch kein Gerät dafür«, kicherte die Braune und schrieb aber beflissen weiter.
Die Blonde schlug ihrer Kollegin auf die Finger. »Der Kerl spinnt doch. Der will uns doch nur verarschen. Telefonzelle rechts abbiegen, so ein Quatsch. Schwan und kam, das reimt sich sogar.«
Harry grinste, die Braunhaarige schrieb diesen Mist doch tatsächlich auf. Und da sagte der Volksmund ständig, dass die blonden Frauen dumm wären.
»Ich war im Park hier in Hamm und dann war nichts mehr. Wenn Sie es so genau wissen möchten. Wo die Wunden herstammen, weiß ich nicht. Das habe ich dem Arzt doch schon zehn Mal erklärt. Ich gehe jetzt nach Hause!«
»Ohne Kleidung?«, fragte die Braune, die schwarze Telleraugen hart wie Granit vor sich hertrug. Ihr Ton hatte sich rapide verändert.
»Der Arzt hat Sie anscheinend ganz gut informiert, da rede noch mal jemand von Schweigepflicht. Sie können mich ja nach Hause bringen, wenn Sie wollen, Sie haben doch ihren Streifenwagen dabei!«
Die Blonde zog einen Schmollmund, als wenn sie auf eine Limette gebissen hätte. »Wir sind doch kein Taxiunternehmen.«
Taxi?
Da war doch etwas mit einem Taxi. Harry hatte da so eine vage ... verschwommene Erinnerung. Sehr verschwommen und verblasst. »Dann gehe ich eben per pedes nach Hause!«
»Bei dem Regen, ohne irgendwelche Kleidung und ohne Schuhe? Dann müssten Sie Ihre Verwandten informieren. Am besten Ihre Mutter, die kann Ihnen dann etwas Kleidung vorbeibringen.«
Mutter?
Wieder stach eine verschwommene Szene durch Harrys Gehirn. Da war doch etwas mit einer ...
Harrys Hirn durchzogen schemenhafte verschwommene Bilder, die er nicht einordnen konnte. »Was war denn da noch ...«, murmelte er in seinen Bart. Tatsächlich, er hatte einen Bart, den hatte er ja noch nie getragen. Er kratzte sich gedankenverloren durch die schwatte Wolle.
»Möchten Sie Ihre Mutter informieren oder nicht? Ich leihe Ihnen auch etwas Geld«, flötete die Blondine. »Ich gebe Ihnen dann meine Adresse. Oder Sie kommen auf die Wache, um es mir wiederzugeben. Die Adresse lieber nicht, lieber doch die Wache.«
Anderland, Mutter? Welcher Zusammenhang bestand darin? Und wer oder was ist Anderland?
»Nein«, sagte er, »ich nehme ein Taxi.«
»Ohne Geld?«, schmollte die Braunhaarige, »die gondeln Sie doch nicht für taube Nüsse durch die Gegend?«
»Das lassen Sie mal meine Sorge sein.« Er stand auf und ließ die beiden Polizistinnen auf dem Bett sitzen. Er verließ das Zimmer und betrat einen typischen Krankenhausflur. Man hatte ihn in das hinterste Zimmer am Ende des langen Ganges verfrachtet. Verbracht, wie es im schönsten Amtsdeutsch heißt. Die Wände waren beige getüncht. Vom breiten Gang zweigten bestimmt zehn oder zwölf Türen ab. Es war ruhig auf dem Flur, offenbar hatten die Schwestern nicht viel zu tun. Oder es war Mittag. Sie hatten ihn um vier nach neun gefunden, da kam Mittag schon ganz gut hin, schätzte er. Er hatte keine Uhr. Der Linoleumboden war kalt. Seine Füße erzeugten platschende Geräusche, als er in Richtung Schwesternzimmer losging.
Platsch, platsch, platsch, platsch.
Er erreichte das Schwesternzimmer und stieß ohne anzuklopfen die Tür auf. Eine schwarzhaarige Schwester und der Oberarzt stoben auseinander. Sie hatte auf ihm (der auf dem Schreibtisch saß) gesessen und geritten.
»Ich will Ihre Liebelei nicht stören, aber ich mach mich jetzt vom Acker!«
Die Schwarze sortierte ihre Kleidung, ihr Höschen war bis zu den Knien heruntergezogen. Aus dem Kuhstall des Mannes ragte ein steifer, großer Schwanz. Wenn der man nicht eine oder zwei Pillen genommen hat.
Aber Harry hatte jetzt andere Sorgen.
»Ich habe doch noch einen wichtigen Termin ...« Das Einstein-Imitat packte seinen Dödel ein und verließ fluchtartig das Zimmer.
»Was bedeutet vom Acker?«, fragte die Schwatte, die eine feuerrote (augenscheinlich, weil sie erwischt worden ist) Birne hatte.
»Dass ich mich jetzt vom Acker mache. Sozusagen abhauen. Ich verlasse diese Klinik, um es genau zu sagen.«
Die dunkle Stimme der Frau prallte gegen die verregnete Thermopanescheibe, da sie jetzt aus dem Fenster schaute. »Aber das geht doch nicht, wir müssen Sie noch mindestens ein oder zwei Tage zur Beobachtung hierbehalten! Die Krankenkasse will es so, da haben wir kein Einfluss drauf?«
»Scheiß was auf die Krankenkasse. Beobachten kann ich mich auch allein. Ich muss nach Hause. Ich zahle doch nicht jeden Tag einen Zehner, um mich beobachten zu lassen. Ich bin hier doch nicht im Zoo?«
Sie drehte sich um. »Ja ... nein ... man hat Sie erst heute Morgen aufgefunden, Sie können nicht gehen. Außerdem haben Sie keine Kleidung.« Die Schwarzhaarige starrte auf Harrys Füße. »Sie haben ja noch nicht einmal Pantoffeln!«
»Noch bin ich ein freier Mensch, wenn man mal von der Diktatur des Kapitals absieht. Ich kann gehen oder kommen wie, wann und wohin ich will. Noch!«
»Diktatur des Kapitals?« Davon hatte die Frau offenbar noch nichts gehört.
Harry ließ sie dumm sterben. »So, ich gehe jetzt!«
»Dann müssen Sie aber unterschreiben!« Die Schwarzhaarige zauberte einen Zettel aus der untersten Schublade des Schreibtisches hervor. »Dass Sie diese Klinik auf Ihre eigene Verantwortung verlassen möchten!«
»Die habe ich schon immer. Wenn man sich auf andere verlässt, dann ist man verlassen.« Harry kritzelte seine Unterschrift (ohne sich den Zettel durchzulesen, dort stand sicher ständig dasselbe Blablablablabla für die Kassenpatienten) auf das weiße Papier.
Die Schwester gab ihm den Durchschlag. »Haben Sie sich das auch genau überlegt? Ich bekomme noch zehn Euro von Ihnen?«
»Ich habe doch kein Geld. Sie müssen wohl einen Deckel machen. Quatsch. Schicken Sie mir die Rechnung nach Hause. Ich hole jetzt meine Klamotten und mach mich vom Acker. Ihr geht mir alle hier auf den Sack, Krankenversicherung hin oder her.«
»Deckel machen? Aber Sie haben doch gar keine Klamotten ...«
Harry schloss die Tür und steckte den Durchschlag in die Tasche des weißen Morgenmantels. Er betrat sein Zimmer, die beiden Bullen waren schon verschwunden. Er schaute aus dem Fenster, der Regen prasselte noch immer gegen die Scheibe. »Wie in ...«
Wo?
»... Anderland«, murmelte er. Er setzte sich an den braunen Tisch, legte die Hände unter das Kinn und starrte auf den Kalender, welcher über dem Bett an der weiß getünchten Wand hing. »Anderland, Mutter, Taxi? Wo besteht da der Zusammenhang? Wo war ich die letzten zweieinhalb oder drei Wochen gewesen? Das kann doch nicht alles gelöscht sein, ich bin doch keine Festplatte?« Er stand wieder auf. »Dieser Sache muss ich auf den Grund gehen. Zwischen meiner Mutter, einem Taxi und Anderland, was immer dies ist, muss es einen Zusammenhang geben.« Er verließ das Zimmer und ging mit nackten Füßen auf den Gang. Die Tür des Schwesternzimmers war noch verschlossen. Offenbar war der Oberarzt zurückgekommen. Ihm war’s egal. »Ich habe noch nicht einmal mehr etwas zu rauchen«, murmelte er in seinen Bart, als er den Fahrstuhl betrat. »Weder dieses noch das andere. Wo war ich? Was wird hier gespielt?«
Unten angekommen, öffneten sich die Fahrstuhltüren zischend. Er sah sich um. Ein Piktogramm signalisierte den Ausgang. Er folgte den Schildern. Niemand beachtete ihn. Ärzte, Schwestern und Patienten hasteten ihm entgegen, sie sahen noch nicht einmal auf. »So ein Krankenhaus wäre das potenzielle Terroristenziel, ebenso wie ein Fußballstadion«, murmelte er und trat vor den Haupteingang, dort, wo die Raucher stets stehen.
Taxen standen wie Perlen in einer Kette und warteten auf Fahrgäste.
Taxi?
Harry ging durch den strömenden Schneeregen auf die Taxe, welche in der ersten Reihe stand, zu. Er öffnete die Beifahrertür und setzte sich. Sein Morgenmantel war, wie auch er, klitschnass. Schon nach den paar Metern.
Scheißwetter, wie in Anderland.
Anderland?
»Wohin?«, fragte der etwa sechzigjährige Driver, der wie er einen (nur keinen schwatten, sondern einen grauen) Vollbart trug.
»Nach Hause.«
»Nach Hause will jeder«, meinte der Driver mit einem schrägen Blick auf Harrys nassen Morgenmantel. »Hast du eigentlich Geld? Wo ist dein Zuhause?«
»Geld bekommst du, wenn wir angekommen sind. Ich muss es nur aus meinem Haus holen. Ich habe jetzt nichts bei mir, das siehst du doch. Ich musste aus diesem Irrenhaus flüchten.«
»Wie flüchten? Ohne Geld keine Fahrt.« Der Pilot machte keine Anstalten, sein Fahrzeug in Bewegung zu setzen.
»Ich zahle dir den doppelten Preis, ich war selbst mal Taxifahrer!«
Was? Taxifahrer?
»Ach so! Dann sind wir ja Kollegen!« Der Fahrer startete den Motor und gab Gas. »Wo ist denn jetzt dein Zuhause?«
Harry nannte ihm seine Adresse und schwieg fortan. Nichts war normal, das spürte er. Irgendetwas war anders, verschwommen! Vielleicht auch verwischt. »Die Zeiten haben sich verwischt.«
»Was hat sich verwischt?« Der Taxifahrer fuhr auf eine Hauptstraße.
»Ach nichts, ich habe nur laut gedacht!«
»Komischer Typ«, murmelte der Driver, bevor er die Videoüberwachung einschaltete. »Man kann ja nie wissen.«
Harry fror, er brauchte eine heiße Badewanne, ein kaltes Bier und einen heißen Joint. Mal abgesehen von der Aufgabe, die ihm noch bevorstand.
Aufgabe?
Welche Aufgabe?
Nach kurzer Zeit (vielleicht elfeinhalb Minuten) stoppte der Driver vor Harrys Bungalow, welchen er von seinen reichen Eltern geschenkt bekommen hatte.
»Macht vierzig Piepen, die doppelte Summe, wie du gesagt hast«, sagte der Taxifahrer und ließ den Motor absterben. Die Scheibenwischer blieben wie ein gebrochenes Pelikanbein mitten auf der Scheibe stehen.
»Das kommt mir eher wie die dreifache Summe vor. Komm mal mit, du musst mir helfen. Ich habe keinen Schlüssel dabei.« Harry öffnete die Tür und stieg in den strömenden Regen.
»Keinen Schlüssel, kein Geld. Wohnst du eigentlich hier?«
»Ja sicher. Hätte ich sonst diese Adresse gewusst?«
Unlogisch.
»Logisch.« Der Driver stieg aus und spannte einen Regenschirm auf. »Wobei muss ich dir denn helfen? Das kostet aber etwas mehr. Meine Unkosten laufen doch immer weiter.«
»Unkosten gibt’s nicht mehr. Das ist ja wie im Puff, jeder Scheiß kostet extra. Geh mal an die Haustür und schau auf die Klingel, dort steht Harry Schindler. Der bin ich leibhaftig.«
Ich glaube dir ja. Kein Mensch, kein vernünftiger Mensch käme auf die Idee, bei so einem Scheißwetter in einem Bademantel in ein fremdes Haus einzusteigen. Um womöglich noch Klamotten zu klauen.«
»Eben. Hast du einen Wagenheber im Auto?«
»Natürlich, den braucht man doch ab und an. Manchmal hat man einen platten Reifen. Einer mit ohne Luft sozusagen.«
»Dann hol ihn endlich, ich bin schon nass genug!« Harry starrte in den wolkenverhangenen Himmel, hernach schaute er auf seine Füße, die standen in einer knöcheltiefen Pfütze. »Und mir ist scheißenkalt.«
»Ich beeile mich ja schon!« Der Driver schloss seinen Kofferraum auf und kramte den Wagenheber hervor.
Harry sah einen Hammer, der in der hintersten Ecke lag. »Ich nehme lieber den, der ist für meine Zwecke besser geeignet.« Er nahm den etwa ein Kilo schweren Hammer heraus und wog ihn in der Hand. »Der ist gut, komm mit!« Er lief voran, der Chauffeur wie ein Dackel mit Regenschirm hinten anbei. Er lief hinters Haus, die einzige Scheibe, die nicht mit Sicherheitsglas verglast war, vor Augen. Er wollte sie schon lange durch einbruchssicheres Glas ersetzen lassen. Er hatte das Vorhaben aber immer wieder vertrödelt. Und einmal hatte ihn Glasermeister Schmalz aus Hamm-Werries im Stich gelassen.
Oder er hatte den Termin vermasselt?
Egal, er war klatschnass und fror wie ein Schneider. Er musste unbedingt in sein Haus, bevor er sich noch den Tod holen würde oder sollte. Er blieb nach etwa dreiundvierzig Schritten unter dem Fenster stehen. »Dort muss ich rein!«
»Wie denn? Es ist doch bestimmt dreifünfzig hoch!«
»Deshalb bist du ja hier. Ich stelle mich auf deine Schultern, dann komme ich ran. Es dauert nicht lange. Ich wiege auch nicht viel, vielleicht neunundsiebzig Kilo. Ach weniger, ich habe in den letzten drei Wochen bestimmt abgenommen. Jetzt mach schon, stell dich an die Wand!«
Der Taxifahrer, der bestimmt zweiundzwanzig Zentimeter – etwa ein Meter fünfundsiebzig – kleiner als Harry war, stellte sich mit dem Rücken (nachdem er seinen Regenschirm auf den nassen Rasen geworfen hatte) an die Wand. »Wohnst du tatsächlich hier? Nicht, dass ich dir bei einem Einbruch helfe. Ich habe noch ein halbes Jahr Bewährung!«
»Da mach dir mal keine Sorgen. Wenn ich einen Ausweis dabei hätte, dann würde ich es dir beweisen. Aber ich habe keinen, ich habe nur einen klatschnassen Krankenhausmorgenmantel am Arsch. Ich besitze noch nicht einmal mehr eine Unterhose! Du kannst dich vorn an der Haustür ja versichern, wenn es dir lieber ist.«
Der Taxifahrer (nennen wir ihn Isidor) verschränkte die Hände vor seinem Schoß. »Schon gut, nun mach schon, ich habe noch andere Fahrgäste!«
Harry stieg mit seinem nackten Fuß (den rechten, wer es wissen will) in die Hände. Dann stellte er sich auf die breiten Schultern des Mannes. Das Fenster befand sich etwa in Brusthöhe. Der Regen wurde noch stärker, er schoss förmlich wie ein Wasserfall vom Himmel.
Wasserfall?
Er schüttelte den Gedanken wie ein nasser Dackel ab und schlug mit dem Hammer zu. Er verfehlte sie Scheibe, der Hammer prallte gegen das Holz, da der Fahrer wackelte. »Halt doch mal still, ich kann sonst nicht zuhauen!«
Der Driver hielt schnaufend die Stellung, Harry schlug wieder zu. Nicht fest genug, aber die einfache Scheibe zeigte erste Risse. »Es geht!« Er schlug noch einmal zu. Die Scheibe klirrte, die Scherben flogen in das Schlafzimmer. Hatte dort nicht alles angefangen?
Was hat wo angefangen?
Harry schlug die scharfen Spitzen aus dem Rahmen, dann warf er den Hammer auf den Rasen. Er nahm den Rahmen in beide Hände und zog sich ächzend hoch. Er plumpste auf sein Bett in die Scherben. Dass er sich dabei nicht scharfe Wunden antat, war ein reines Wunder. Er sprang auf die Knie und schaute durch das defekte Fenster in die Tiefe. »Komm zur Haustür, ich öffne.« Er ließ die Jalousie runter, dann eilte er die Stufen hinab und öffnete die Haustür.
Der Driver kam herein und legte den Regenschirm auf den grauen (der mit Holzpaneelen und Werkzeugen vollgestopft war) Teppich. »Jetzt musst du mir aber noch beweisen, dass du auch wirklich hier wohnst!«
»In der Küche stehen eine Kaffeemaschine, ein Herd und ein Kühlschrank. Das Kühlaggregat ist für mein Bier wichtig«, verkündete Harry voller Stolz.
»Eine Kaffeemaschine und ein Herd stehen doch in jeder Küche, willst du mich verarschen? Welche Farbe?«
»War ’n Scherz, Mann. In der Küche liegt noch eine Tageszeitung, die müsste vom Zwanzigsten letzten Monats sein.« Er ging vor, Isidor folgte ihm.
Der Mann hob die Zeitung vom Küchentisch und sah auf die erste Seite. »Stimmt. Du hast mich überzeugt.«
»Sag ich doch!« Harry verließ die Küche und ging nach draußen zum Briefkasten. Dieser musste mittlerweile übergequollen sein. Nichts. Nicht ein Brief, noch einmal seine Zeitungen steckte in dem Kasten. Als wenn irgendjemand gewusst hätte, dass er seit fast drei Wochen verschollen war. Dass er nie zurückkommen würde. Irgendjemand hat mit seinem Tod gerechnet. Aber wer und weshalb? Kopfschüttelnd ging er zurück in den Bungalow.
»Ich hab’s mir überlegt. Dies ist aber noch kein Beweis, es war bestimmt Glück.« Der Fahrer saß inzwischen am Küchentisch.
Harry war’s leid, er ging ins Wohnzimmer, schaltete die Anlage ein und schob eine Live-CD von Motörhead in die Öffnung. Annas neuer Lieblingsband. Dies hatte er ihr in Anderland beigebracht. Oder angeordnet. Oder wie auch immer.
Anna, Anderland?
Er drehte die Lautstärke auf und ging zurück in die Küche. Lemmy begann zu dröhnen. Bombenhagel! »Ist der Beweis genug?«, rief er dem Driver zu.
»Bist du VERRÜCKT?« Der Taxifahrer sprang auf und presste die Hände gegen seine abstehenden Ohren. »Ich glaube dir ja! Aber mach das AUS!«
»Warum?«, fragte Harry, »das ist doch wunderschöne Volksmusik. Vielleicht ein bisschen schneller und etwas lauter?«
»Scheißkerl! Mach das weg!«
Harry hatte ein Einsehen, er ging zurück und schaltete die Anlage ab. »Mehr Beweise habe ich nicht«, sagte er, nachdem er sich auf seinen Küchenstuhl gesetzt hatte.
»Das reicht mir. Gib mir das Geld, ich verschwinde dann schnell. Ich muss noch knechten.«
Harry langte rüber zum Küchentisch und zog die Schublade, in welcher das Besteck war, auf. Unter dem Besteck lagen Euroscheine, seine eiserne Reserve. Er überreichte dem Fahrer einen Fünfziger. »Danke für deine Hilfe, der Rest ist Trinkgeld, du warst echt nett!«
Der Mann verabschiedete sich wie ein Hase, der vor einem Fuchs türmt.
Harry warf den nassen Bademantel auf den Küchentisch, griff zum Telefon und rief Ditz an. Seine Stammdealerin. Schon nach dem ersten Läuten wurde abgehoben. »Hast du Zeit?«, fragte er.
»Wo warst du denn die ganze Zeit? Die ganze Stadt sucht nach dir?«
»Übertreib mal nicht. Komm vorbei, dann erkläre ich dir alles. Und bring mir Rauchkraut und Blättchen mit!«
»Okay! In einer Stunde bin ich bei dir!«
Harry legte auf und wählte die Nummer seiner Eltern, die in Dortmund wohnen.
Seine Mutter Klara ging sofort ran. »Haaarrraaald, wo warst du die ganzen Wochen?« Sie zog seinen Namen ständig wie ein ICE in die Länge.
»Tach Muddern. Ich wollte mal nachhören, ob ihr noch lebt?«
Noch lebt?
»Warum denn nicht? Warum warst du nicht auf meinem Geburtstag? Ich hatte mich so herzlich auf dich gefreut?«
»Das ist eine lange Geschichte, die erzähle ich dir ein anderes Mal.« Harry legte, bevor er sich noch auf eine lange Diskussion einlassen musste, auf. Er rief seinen Arbeitgeber, die Stadtwerke Hamm, bei denen er als Müllfahrer beschäftigt war, an. Bei diesem Anruf erfuhr er, dass er entlassen (weil er fast drei Wochen unentschuldigt gefehlt hatte) worden ist.
Shit.
Er rief einen Glasermeister an.
Nachdem er einen Termin (den er nicht einhalten sollte) für ein neues Fenster gemacht hatte, ging er ins Bad. Er brauchte mal wieder ein Vollbad nach all diesen Strapazen. Aber zuallererst rasierte er seinen Vollbart ab.
♦
»Ich brauche dein Auto. Ich muss dringend nach Dortmund«, sagte Punk zu ihrem Kumpel Fuzzi.
»Du hast doch gar keinen Führerschein. Dich hat man erst vor zwei Stunden gefunden. Du warst lange verschollen. Und schau dich mal an! Dein ganzer Körper ist verwundet!« Fuzzi trank ein Schluck Dosenbier. »Wo hast du das Tattoo her? Und wo ist dein linkes Ohr?«
Punk trocknete sich weiter ab, sie hatte geduscht. Sie schaute auf ihren linken Unterarm, auf dem irgendjemand den Namen Strubbel eingeritzt oder tätowiert hatte. Eher eingeritzt, ein Tattoo sah echter aus, professioneller. »Das ist doch egal, ich muss nach Dortmund. Egal wie. Außerdem hast du auch keinen Führerschein, obwohl du ständig mit deiner Karre durch die Gegend gurkst!«
Fuzzi (heute mit grünen, hochstehenden Haaren) grinste sie an. »Ich brauche keinen, ich habe doch die Bullen bestochen. Aber du nicht!«
Punk saß auf Fuzzis zerschlissenem Sofa, im Hintergrund jammerte eine Punkband. »Ich muss nach Dortmund, egal wie. Wenn du mir nicht deinen Wagen gibst, dann fahre ich eben mit dem Zug. Ich muss spätestens morgen vor Ort sein, ich muss den anderen helfen!«
»Wobei helfen? Welche anderen? Was ist mit dir? Wo warst du die letzten drei Wochen?«
Fragen über Fragen. »Bei ... ich weiß es nicht.« Punk zuckte mit den schmalen Schultern. »Ich weiß nur, dass ich schnell nach Dortmund muss! Frag mich nicht warum, ich weiß es selbst nicht!«
Fuzzi gab ihr den Autoschlüssel. »Du leidest bestimmt unter einer Amnesie. Wahrscheinlich hattest du einen Schlaganfall oder etwas Ähnliches! Aber ... dich kann man eh nicht aufhalten, wenn du dir mal etwas in den Kopf gesetzt hast. Tu, was du nicht lassen kannst!«
»Danke. Hast du ein paar Klamotten? Ich war doch völlig nackig.« Sie schlug sich mit einer Hand gegen die Stirn, sodass es laut klatschte. »Ich habe gar nichts mehr anzuziehen, würde ein Spießerweib jetzt sagen!«
Fuzzi lachte auf und deutete auf einen Haufen Klamotten, welcher auf dem verschlissenen grauen Teppich lag. »Such dir etwas aus.«
Punk wühlte in dem Haufen.
Der stank nach Schweiß.
Nichts Neues.
Sie kramte ein Sweatshirt, welches mindestens drei Größen (Punk maß gerade mal einen Meter fünfundfünfzig und war schmal wie ein Handtuch) zu groß war, aus dem Haufen und zog es über. Auf Unterwäsche verzichtete sie, die besaß Fuzzi eh nicht. Sie krempelte die viel zu langen Ärmel hoch und klaubte eine viel zu große Hose aus dem Haufen. Auch die Aufschläge der Hose musste sie hochkrempeln. Sie zog ein Paar Stiefel, welches neben dem Haufen lag, über ihre schmalen Füße. Da sie Schuhgröße dreiunddreißig hatte, passten diese natürlich auch nicht. Fuzzi hatte Schuhgröße fünfundvierzig. Sie warf die Schuhe in die Ecke. Es musste auch ohne Schuhe gehen. »Hast du etwas Geld? Ich muss mir unterwegs Socken und Schuhe kaufen?«
Fuzzi reichte ihr einen Fünfzigeuroschein, den er schon parat hielt. Er kannte seine Punk, sie hatte nie Geld. »Dort liegt auch noch ein Parker.«
Parker?
Da war doch etwas gewesen?
Punk nahm die Autoschlüssel vom Teppich (der eine undefinierbare Farbe hatte) und erhob sich. »Danke, ich mache es wieder gut, versprochen.« Sie stürmte, ohne eine Antwort abzuwarten, aus der Wohnung und trat in den strömenden Regen.
Ohne Schuhe und Socken.
Sie schlug die Kapuze des Parkers über ihr Haar und schaute sich um. Wo steht die Scheißkarre?
Sie sah den ehedem weißen Benz in einer Parklücke stehen. Das Alter sah man ihm an. Er bestand fast ausschließlich aus Rostflecken und Antifaaufklebern. Sie fragte sich, warum der Wagen erst kürzlich zwei Jahre TÜV bekommen hatte. Offenbar hatte Fuzzi auch die TÜV-Beamten bestochen. Sie schloss den Wagen auf und warf sich auf den Fahrersitz, der natürlich viel zu weit nach hinten geschoben worden war. Fuzzi war für ihre Verhältnisse ein langes Elend, bestimmt einsachtzig. Sie schob den Sitz bis zum Anschlag nach vorn, steckte den Schlüssel in die Zündung und glühte vor. Das Fahrzeug war schon so alt, man musste es noch vorglühen. Der Diesel sprang sofort an. Sie fuhr quer durch Rostock, sie suchte die erstbeste Autobahn, die in Richtung Westen führte. Schuhe und Socken hatte sie schon längst vergessen.
♦
Eva-Maria Schinken war sauer, um nicht zu sagen fürchterlich beleidigt. Ihr Freund – Willi Wildschwein – hatte sie doch tatsächlich verlassen. Sie stand in einer Toilette an einer Autobahnraststätte. Sie wusste noch nicht einmal, welche Autobahn. Sie hatte den Frust ersoffen. Sie starrte in den großen Spiegel und entblößte die Zähne. An denen kann es nicht liegen, dachte sie und schwankte nach rechts. Sie hielt sich an dem roten Waschbecken fest, trat unsicher zurück und begutachtete ihre Figur. Meine Titten sind auch noch stramm, mein Arsch kann sich sehen lassen. Warum verlässt das Arschloch mich? Ihre schwarze Löwenmähne, auf die sie so stolz war, konnte es auch nicht sein. Okay, ihr Gesicht war ein bisschen pummelig, die Nase etwas zu groß und ein bisschen schief, aber sonst ... sie war mit sich zufrieden. Sie beschloss, sich zu rächen. Eva (ihren zweiten Vornamen konnte sie nicht leiden, geschweige dann den Nachnamen) verließ die Toilette und schwankte zurück in das Restaurant. Sie bestellte noch einen doppelten Scotch. Der junge Mann hinter der Theke (der etwa zehn Jahre jünger als sie sein mochte) begutachtete Eva besorgt. »Sie trinken aber ganz schön viel, gnädige Frau. Ich glaube, Sie haben jetzt genug. Sie müssen doch sicher noch fahren? Ich habe doch eine Verantwortung gegenüber meinen Gästen.«
»Das geht Sie einen Scheißdreck an. Und ob ich noch fahre oder nicht, dito«, gab sie leicht lallend zurück.
Der Jüngling zuckte zusammen. »Aber ich wollte doch nur ...«
»Wollen Sie nicht. Tun Sie das, wofür sie bezahlt werden!«
Der Jüngling schüttelte den roten Haarschopf. »Das ist aber der letzte Drink, etwas anderes kann ich nicht mehr verantworten.«
Sie kippte den Drink in ihre Kehle und war mit einem Mal fürchterlich geil. »Hast du Lust zu ficken?« Was ihr Freund nicht mehr erledigen wollte, das musste eben der Kellner tun.
»Gnädigste. Ich muss doch sehr bitten!«
»Warum nicht? Bin ich dir zu alt?«
Die anderen Gäste, vielleicht zehn oder elf, schauten zur Theke, an der Eva saß. »Warum will mich niemand begatten, ich bezahle auch dafür. Ich bin jetzt gerade fürchterlich geil!«
»Gute Frau, ich bitte Sie!«, rief der Kellner, der den Namen Schinkenhäger auf seinem Brustschild trug.
»Wer will mich befruchten, ich brauche jetzt eine Nummer! Ich kann auch gut blasen!«, rief sie in den großen Saal hinein.
Ein alter Mann mit Glatze erhob sich, dessen Frau mit weißem Haar zog ihn auf den Stuhl zurück. »Archibald! Untersteh dich!«
Der Piccolo raufte sich verzweifelt das Haar. »Ich bitte Sie, verhalten Sie sich ruhig. Ihr Benehmen stört die Gäste, das geht so nicht!«
»Ach, lasst mich doch alle in Ruhe!« Eva warf einen Fünfzigeuroschein auf die Theke und schwankte in Richtung Ausgang.
Der Kellner wühlte hektisch in seiner Wechselgeldtasche. »Sie bekommen noch etwas Wechselgeld zurück.«
»Leck mich doch, du kannst es behalten«, lallte sie und trat in den strömenden Regen. Sie torkelte auf ihrem roten Sportwagen, welchen sie von ihrem Freund geschenkt bekommen hatte, zu. So konnte sie sich nicht rächen, sie musste sich etwas anderes überlegen. Sie sollte noch schnell in den heißen Genuss der Rache kommen.
♦
Giselmar Hahnemann stand auf einem Rastplatz an der A 20, kurz vor Wismar. Die Nutte hatte ihn gut bedient, sie war ihr Geld wert. Er schaute auf seine Uhr, er hatte noch zehn Minuten Pause. Er hatte Zement geladen, der nach Lübeck zum Flughafen Groß Grönau gekarrt werden musste. Eigentlich überladen. Ein paar Sack waren es schon zu viel, aber ob da jetzt dreißig oder einunddreißig Tonnen auf der Ladefläche waren, es war doch einerlei. Er lud ständig über, sonst konnte er seinen Arsch nicht am Kacken halten, wie er es immer nannte. Seine geschiedene Frau wollte jeden Monat ihr Geld, der Lkw fuhr nicht mit (schön wär’s) Wasser, und die Wohnung musste bezahlt werden. Und die Prostituierte war auch nicht so ganz billig. Und dann ständig der Staat, jeden Scheiß wollte der bezahlt haben. Und die Bankster, welche die ganze Scheiße verursacht hatten. Diese mussten auch mit dem speziellen Obolus entlohnt werden. Schließlich wurde der Staat von diesen Gangstern erpresst. Bei denen hatte er noch ein Darlehen an der Backe.
»Mach es gut, bis zum nächsten Mal«, flötete die Nutte (Sabrina?). Er konnte sich an den Namen nicht erinnern. Sie warf die Tür des Lkw ins Schloss.
Er schloss den Reißverschluss und setzte sich wieder hinter das Steuer. »Noch fünf Minuten, dann darf ich weiterfahren.« Die Lenkzeiten waren penibel vorgeschrieben, daran musste er sich halten. Die Bullen waren da schnell hinterher. Schließlich war er kein Gesetzesbrecher. Scheiß was auf die paar Sack Zement.
Aus dem Rasthaus kam eine Frau, sichtlich vollgeladen. Sie torkelte durch den strömenden Regen auf einen roten Sportwagen zu. »Kinder, Kinder, warum ist die mittags schon so voll?« Er spuckte ja auch nicht ins Glas, aber des Mittags? Außerdem musste er fahren, dann trank er nicht.
Die Blinker des Autos zuckten zum Zeichen, dass der Wagen entriegelt war, kurz auf. Die Frau, die schwarzes Haar trug, startete und fuhr los.
Gegen die Fahrtrichtung!
Geisterfahrer! Das konnte Giselmar Hahnemann ja gar nicht leiden. Er griff zum Funkgerät und informierte die Polizei.
♦
Punk fuhr auf der A 19 in Richtung Süden, dann wechselte sie am Kreuz Rostock auf die A 20 und fuhr Richtung Westen. Sie wusste nicht so recht, ob sie auf dieser Autobahn bis nach Dortmund gelangen konnte, sie wusste es überhaupt nicht! Sie fuhr einfach drauflos, irgendwann würde schon ein Schild, welches ihr die Richtung weisen sollte, kommen. Sie kroch hinter einer Lkw-Kolonne her. Die Zeit brannte ihr unter den Nägeln. Sie wusste nicht, weshalb, sie wusste nur, dass sie so schnell wie möglich nach Dortmund fahren musste. Sie kannte niemanden in Dortmund, außer Marianne und Klaus, ihre Verwandten. Tante und Onkel. Aber zu denen wollte sie nicht, sie musste woandershin. Wohin, das wusste sie nicht. Sie hatte das Gaspedal fast bis zum Anschlag durchgetreten, viel mehr gab der alte Daimler nicht her. Sie schaute sich um und wartete auf eine Lücke, sie wollte die Kolonne überholen. Nach einer Weile fiel ihr auf, dass der Karren einen Rückspiegel hatte. Sie blinzelte in den Spiegel und wartete auf die Lücke. Nach einer Ewigkeit zeigte sich eine Lücke, die ihr groß genug erschien. Sie setzte vorschriftsmäßig den Blinker und scherte aus. Dann trat sie das Gaspedal bis zum Anschlag durch. Der alte Daimler beschleunigte behände. Aus dem Windschatten der Lkw heraus, bemerkte sie den starken Regen wieder. Sie stellte die Scheibenwischer auf die höchste Stufe. Diese kamen kaum gegen die Regenmassen an. Dazu der böige Westwind, sie kam kaum voran. Endlich hatte sie den ersten Truck überholt, vier oder fünf weitere standen ihr noch bevor. Hinter Punk hatte sich inzwischen eine lange Schlange gebildet. Der rote Sportwagen hinter ihr setzte mal den linken Blinker, mal blitzte dessen Lichthupe auf. Er hatte es anscheinend noch eiliger als sie. Aber sie konnte ihn nicht vorbeilassen, dort war keine Lücke, die Lkw fuhren dicht an dicht. »Wartet doch mal ab, eine alte Oma ist doch kein D-Zug!«, rief sie in den Rückspiegel. Den zweiten Lkw hatte sie geschafft, der alte Daimler gab sein Letztes. Nur noch zwei oder drei, das konnte sie ob des Regens nicht so genau erkennen.
Nach einer endlosen Zeit hatte sie den vordersten Lkw erreicht. Der Trucker spielte mit seiner Lichthupe, er winkte ihr hektisch zu. Punk winkte lustig zurück. »Was hat der denn?« Sie schaltete das Radio, welches irgendeine beschissene Volksmusik dudelte, ab. Dann sah sie wieder gen Westen.
»Scheiße!« Ein rotes Auto kam ihr mit aufgeblendeten Scheinwerfern entgegen. »Scheiße!« Sie versuchte, vor dem Lkw einzuscheren, aber es war zu spät. »Scheiße!«, waren Punks letzte Worte. Sie sah einen See oder Weiher, einen Hund und einen Wald. Die Uhr im Armaturenbrett zeigte 09:04 Uhr.
Und dann:
Nichts.
Beide Fahrzeuge gingen in Flammen auf.
Der Nachrichtensprecher berichtete an diesem Abend von einem Unfall auf der A 20, welcher zehn Todesopfer gefordert hatte. Darunter eine kleine Frau ohne Führerschein in einem geklauten Auto. Vielleicht sogar noch besoffen oder bekifft. Oder beides.
Von einem Trucker, der von einer Prostituierten erfolgreich bedient wurde, wurde kein Wort erwähnt; die wahren Helden einer Geschichte werden nie erwähnt, sie sterben im Universum der Unbekannten.
Wie immer.
♦
Der Troll mit der roten Nase nahm eine Spielfigur, die hektisch zappelte, vom Brett und fraß sie genüsslich auf. Sie (die Spielfigur) knackte und zersplitterte. »Eine weniger!«, lachte er mit seiner Laubrasselstimme. »Dann wollen wir uns mal den nächsten Mitspieler vornehmen, wie es die Zweibeiner sagen.«
(Vergangenheit oder etwa Zukunft?)
James Winter saß auf einer Holzbank in einer Einöde unweit Paulina, Oregon, Vereinigte Staaten von Amerika. Er wartete auf seinen Vorgesetzten Archibald – Arche – Lydia McBrains. Er fragte sich, weshalb der Boss ihn in diese verlassene Gegend beordert hatte. Er sah weit und breit nur Felsen, Wüste und Steine. Er fragte sich noch viel mehr, wer und warum jemand in diese verlassene Gegend eine Bank hingestellt hatte. Hierhin verirrte sich noch nicht einmal ein Kojote oder eine verwundete Schlange. Er schaute in den Himmel, der nicht ein Wölkchen zeigte. Kein Wind wehte. Die Temperatur musste mittlerweile über zwanzig Grad betragen. »Besser als in Europa«, murmelte er in den Vollbart. Er hatte in der Morgenzeitung gelesen, dass es in Europa seit zwei oder drei Tagen wie aus Eimern schüttete. In Amerika interessierte dies kein Mensch; warum es in der Zeitung gestanden hatte, war ihm schleierhaft. Was interessierte ihn Europa, er war Amerikaner. Die Herrscher der Welt, Wall Street, Central Park, Anderland, MC Donalds ... und, und, und.
Anderland?
»Was ist oder bedeutet Anderland?« Er schaute auf seine Armbanduhr. Der Boss war schon überfällig, dieses Gebaren kannte er von ihm nicht. Er war sonst die Pünktlichkeit in Person.
Immer.
Die Uhr zeigte ihm 09:04 Uhr. »Schon vier Minuten Verspätung«, murmelte er und biss in ein Salamisandwich, sein zweites Frühstück. »Das ist aber ungewöhnlich.« Er spülte mit heißem Hirtentee nach.
Um fünf nach neun erschien eine Limousine am Horizont, welche eine dicke Staubwolke hinter sich herzog. Sie fuhr auf James’ schwarzen Van zu.
»Na endlich!« Er stand auf. Der schwarze Wagen, der verdunkelte Scheiben hatte, stoppte hinter dem Van. Er ging darauf zu, eine Hand an der entsicherten Waffe. Man konnte ja nie wissen. Eine der hinteren Türen wurde geöffnet, die Fahrertüren blieben verschlossen.
Eine Frau – nicht sein Boss von der CIA – stieg aus. Er bewunderte die schlanken, schwarzen Beine, welche kaum von dem Minirock verborgen wurden. Die Frau hatte dieselbe Hautfarbe wie er. Eine schwarze, krause Haarflut folgte den Beinen. Diese reichte fast bis zu dem wohlgeformten Arsch, stellte James mit einem anerkennenden Blick fest. Die Frau, die einen roten Rock trug, strahlte ihn an. Sie trug einen braunen Umschlag unterm Arm.