Androgyn - null winterschlaefer - E-Book

Androgyn E-Book

null winterschlaefer

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Beschreibung

Das bittere Resümee einer Frau, welche im falschen Körper geboren ist und sich nach langem Ringen zu einer alles entscheidenden Operation entschließt. Doch sie muss erkennen, wie sehr sich die Welt danach zu verändern beginnt, sobald man anatomisch in eine Form wider seiner Natur gebracht wird und dabei deren Irreversibilität begreift. Folglich gelingt es ihr nicht immer, die neue Rolle anzunehmen, so dass der daraus resultierende tägliche Kampf gegen Dünkel und Vorurteil schnell zur Tortur gerät, worunter sie zu zerbrechen droht. Einerseits lehnt sie jede gleichgeschlechtliche Liebe ab und träumt von einer erfüllten Partnerschaft, andererseits fühlt sie sich ihrer Freundin Viola hingezogen, weshalb in diesem Gefühlstaumel eine klare Orientierung unmöglich wird.

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Seitenzahl: 206

Veröffentlichungsjahr: 2013

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winterschlaefer

Androgyn

im falschen Körper geboren (Leseprobe)

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

- Ein schlechter Mensch? -

- Ein falscher Fuffziger -

- ein tieferes Gefühl -

- Der tägliche Kampf -

- Der Rückfall -

- Die Lüge -

- Der Entschluss -

- Die Probe -

- Er –

- Das Geständnis -

- Ein letzter test -

- Zickentheater -

- Hoffnungen -

- Die Null -

- wahre Liebe -

- Kontakt -

-Das Konzert -

- Der Abend -

-Der Star -

-Bittere Einsichten -

-Der Plan -

-Das Ende -

-Nekrolog -

Impressum

- Ein schlechter Mensch? -

Frühling - schrecklicher Gedanke! Wieder war das erste Quartal vorüber, und mit jedem weiteren würde sich ihre Qual verschlimmern, die Schar ihrer Gegner vergrößern, doch zu allem – das war am bedrückendsten – die gefürchtete Vergreisung unbarmherzig fortschreiten. Oder wie soll man ein Leben jenseits der Fünfzig bezeichnen? War das überhaupt noch ein Leben? Bald würde sie zu einer alten Frau verkommen, die alle Mühe hatte, ihre Fältchen zu kaschieren. Ihre Forschheit würde einem zunehmenden Zynismus weichen und ihr Gebaren erste Anzeichen von Senilität verraten. Was hat man dann vom Leben noch zu erwarten, außer sich selbst und aller Welt zur Last zu werden?

Freilich ist das der Lauf der Dinge, wird man einwenden, und es fiele ihr gewiss leichter, hätte sie nicht so viel durchlitten, um jene Franka Meyer zu werden, deren resolutes Wesen man allseits respektiert, hofiert, protegiert, delegiert, vor allen aber fürchtet und das, je mehr ihr unbeugsamer Wille alle Widersacher niederrang. Niemand wagte ihre Redlichkeit anzuzweifeln, nur weil sie sich überall auf ihren Vorteil verstand. In einem unfairen Kampf, durchdrungen von Diskriminierung und Hass, war das durchaus legitim, zumal es ohnehin nur beschleunigte, was unaufhaltsam war. Schon lange neidete man ihr den Erfolg, vor allem die vielfältigen Kontakte, die sich im Rahmen ihrer Eigenschaft als Behördenabgeordnete für internationale Beziehungen ergaben. Warum sonst das ganze Aufsehen, als jüngst ein namhafter Professor ihren Aufsatz über die Konfliktsituation eines Hermaphroditen in der heutigen Zeit als ‚sehr couragiert’ bezeichnete? Anstatt es zu würdigen, wie es nur logisch und folgerichtig gewesen wäre, galt sie fortan als überhoben und versnobt. Dabei hatte sie nur ausgesprochen, was auszusprechen war, wenn auch gerade dort, wo es am wenigsten vertragen wurde. Zugegeben zählten Zurückhaltung und Diplomatie nicht unbedingt zu ihren Stärken, was ihr oftmals Kritik, beinahe Krieg, manchmal sogar Gewissensnöte einbrachte; doch war sie deshalb ein schlechter Mensch?

‚So ist das also‘, dachte sie, wenn sie wieder einmal mit sich ins Gericht ging, ‚da will man nur das Beste und muss erleben, dass es gar nicht gewollt wird. Selbst leidenschaftliche Appelle verhallen ungehört, als wolle man mit Macht unvernünftig bleiben. Wer sollte das verstehen?‘

Die nachfolgenden Zweifel waren deprimierend. Möglicherweise beschleunigten das jenen Kräfteschwund, der ihre Wehrhaftigkeit herabsetzte und was sie allein dem Fünfzigsten zuschrieb. Aber wer kann schon fremdes Leid ermessen? Folglich erscheint es nur verständlich, dass die gequälte Seele nach einem Halt sucht, selbst um den Preis der Aufgabe einstiger Höhe und des damit unweigerlich verbundenen Niedergangs. Nur wohin - zur Normalität, zur Durchschnittlichkeit? Niemand war normaler und durchschnittlicher als sie, und hätte jemand ernsthaft daran gezweifelt, sie hätte ihn öffentlich zerfleischt! Und doch war gerade das zuweilen nötig, was sie zwar ärgerte, doch niemals bedauerte. Vielmehr trat sie noch einmal nach, als schlummere eine dumpfe, sinnlose Wut in ihr, die sie in einer Spannung hielt, die nicht immer angenehm war, sie selbst jedoch am meisten quälte.

Anfangs hielt sie das für vorübergehend, als Folge ihres ständigen Kampfes, der sie in vielem roh und blind gemacht hatte. Doch schon bald verfestigte sich dieser Zustand, dass er ihr den Nachtschlaf raubte. Der Arzt wusste keinen Rat, meinte, das sei typisch für Menschen in Spannungszuständen und tat, was Ärzte in solchen Situationen tun; er empfahl Ruhe und längere Spaziergänge; auch ein gutes Buch könnte nicht schaden, nur keine Erregung, schon gar keinen Stress. Wer wollte ihr also die nachfolgende Zurückhaltung im Dienst verdenken? – nicht, um sich zu schonen, wie man es fehlinterpretierte, sondern um verschlissenen Kräfte zu regenerieren. Schließlich handelte es sich um keine Laune, sondern eine unverschuldete Notwendigkeit. In der Tat muckte kaum jemand dagegen auf. Viele zeigten sich einsichtig, und es gab eigentlich keinen Grund zu weiterem Ärger. Dennoch wurde sie zunehmend sensibler, reizbarer und neigte zu hysterischen Anfällen, vornehmlich, wenn sie sich wieder einmal über irgendetwas ärgerte, und das geschah in letzter Zeit recht oft. Dabei war das gar nicht nötig. In Talkrunden oder öffentlichen Diskussion, zu denen sie regelmäßig gastierte, spielte sie ohnehin ihre ganze Verschlagenheit aus und brachte jeden Angreifer schnell in die Bredouille, wenn sie ihr Taschentuch umkrampfte und schluchzend mit den Tränen rang. Sinnlos jeder Versuch eines Widerspruchs, zumal sie damit an elementarste Empfindungen zu rührte, wogegen anzugehen niemand wagte.

O ja, aufs Kämpfen verstand sie sich, sensibilisierte ihren Instinkt selbst für die kleinsten Defizite und ließ nicht locker, bis sie eingestanden waren. Diese Unnachgiebigkeit machte sie zu einem gefürchteten Gegner, der kein Pardon kannte, bis jeder Widerstand gebrochen war. So sah man es gern, wenn sie sich mit verschränkten Beinen im Sessel räkelte und dabei den weißen, unendlich schlanken Schenkel durch den seitlichen Rockschlitz sehen ließ. Mit süffisantem Lächeln erwartete sie die gegnerischen Attacken, jederzeit bereit, diese auszukontern. Dann dauerte es auch nicht lange, und sie verwandelte sich vom mondänen Vamp zur reißenden Furie, bereit, alles zu vernichten, was sich ihr in den Weg stellte.

Andererseits konnte sie aber auch überaus liebeswürdig werden, sobald ihr etwas zu Herzen ging. Dann wurde sie richtig rührselig und legte eine Opferbereitschaft an den Tag, die schon an Narrheit grenzte. Glaubte sie ihre Gefühle erwidert, nahm ihr ansonsten so verbittertes Gesicht einen ganz anderen, eigenartig-warmen Ausdruck an. In solchen Fällen zeigte sie sich sogar bis zu einem gewissen Grade tolerant. Auch war jetzt etwas Kritik erlaubt, allerdings nur, solange sie nicht spüren musste, dass sie anders war, und anders war sie schon immer, das wusste, oder genauer fühlte sie, wenn auch nur ungern.

Aber was hieß das schon? War nicht jeder irgendwieanders?Niemals würde sie ihr gegenüber deswegen verurteilen. Dafür war sie viel zularge-minded, wie sie es zu nennen pflegte, vornehmlich in Gegenwart höher gestellter Persönlichkeiten, deren Nähe sie gern suchte

‚Eine starke Frau‘, urteilten die einen, ‚verschrobener Querulant‘ die anderen. Doch wer wusste schon genaueres über diese rätselhafte Femme fatale, die vielen ein Dorn im Auge, anderen eine Ulknummer, den meisten jedoch ein Rätsel blieb? Einen solchen Menschen zum Freund zu haben, hätte entschieden einen Vorteil bedeuten können, wären nicht jene Unannehmlichkeiten gewesen, die sich allein schon beim Nennen ihres Namens einstellten. Nur was war es, was sie vor aller Welt eliminierte oder genauer kristallisierte? An ihrem Äußeren mochte es kaum gelegen haben, denn sie war eine durchaus attraktive Dame, welche ihrer Fraulichkeit durch eine stets modische Erscheinung die nötige Betonung verlieh. So glich sie mit ihrer dunklen Löwenmähne, den blitzenden Augen und den üppigen Brüsten eher einer attraktiven Diva, denn streitbarer Amazone, und wäre ihr femininer Touch nicht durch ihre breiten Schulter und die für eine Frau etwas zu robuste Gestalt gestört worden, man hätte sie fast attraktiv nennen können.

So aber blieb etwas Unklares in ihrem Wesen, das nicht näher zu bestimmen war; etwas, worum sie wusste und fürchtete, weil es ihren Spöttern Nahrung bot und schnell zu ungerechtfertigten Vorurteilen führte. Hinzu kam, dass sie nicht frei von einer gewissen Überhobenheit blieb. Das kam besonders dann zum Tragen, wenn sie vorschnell urteilte und dabei zu Extremen neigte. Zwar bedauerte sie das, brachte jedoch nie den Mut zur Selbstkritik auf. Vielmehr pflegte sie ihre Unsicherheit mit betonter Forschheit zu überspielen, was schnell den Eindruck einer leichtfertigen Person vermittelte, welche sich kaum Gedanken um die Folgen ihres Handelns macht. Aber selbst das täuschte. Denn obgleich sie sich bisweilen recht frei und ungezwungen gab, erkannte man schnell eine tiefe Sensibilität, welche ihrer im Lauf der Jahre entstandenen Laxheit zuwiderlief. Doch selbst wenn sie es verstand, die Blicke auf sich zu ziehen und in den Mittelpunkt zu drängen, so hatte sie doch niemals einen wirklichen Freund. Möglicherweise lag das an ihrer Unduldsamkeit gegenüber fremder Dominanz – einer ausnahmslos männlichen Eigenschaft. Vor allem aber war sie von einer femininen Überlegenheit überzeugt, was ihre Erfahrung immer wieder bestätigte. Folglich kritisierte sie gerade Männer am häufigsten, obgleich sie ihnen gegenüber nicht abgeneigt war, ja bisweilen sogar vor ihnen kokettierte. Doch gerade das führte oft zu Irritationen und neuen Anfeindungen. Was aber suchte sie wirklich?

- Ein falscher Fuffziger -

Nehmen wir mal Fischöder, ein älterer Kollege mit aufgedunsenem Gesicht, hängendem Doppelkinn und eisgrauem Haarkranz, dazu die verkniffene Miene eines maulfaulen Beamten, kurzum, ein Kerl, mit dem man nicht unbedingt in einem Fahrtsuhl eingesperrt sein möchte. Als Mensch empfand sie ihn nicht sonderlich interessant (als Mann schon gar nicht), hielt ihn anfangs sogar für degeneriert und zeigte sich geneigt, gelegentlich Spott mit ihm zu treiben. Doch als sie mal einen albernen, kaum nennenswerten Vergleich zu seiner Leibesfülle anstellte (wie kam sie nur auf gemästeter Truthahn?) und das wirklich nur im Scherz, nahm er das allzu wörtlich. Dabei stellte sich heraus, dass er gar nicht so unbedarft war und zu allem noch recht bissig werden konnte. Zwar bemühte sie sich sofort um Schadensbegrenzung, nannte das Ganze ’einen dummen Schabernack‘ und war sogar geneigt, es zu bedauern, doch ohne Erfolg. Es folgte eine dumme, völlig unnötige Beschwerde. Kurioserweise solidarisierte sich die gesamte Belegschaft mit ihm und das nur, weil man keinen Spaß verstand. Kein Wunder, dass schon sich bald eine latente Spannung aufbaute, welche ihr auf Schritt und Tritt entgegenschlug. Dabei hatte sie wiederholt für eine Klärung vor der Behördenleitung plädiert, bot sogar eine Stellungnahme im Kurier an, zu dessen Chefredakteur sie beste Kontakte pflegte. Dieser hatte auf ihr Betreiben hin schon so manches ans Licht befördert, was den Betreffenden hinterher nicht schmeckte. Doch dieses Mal blieb ihr Bemühen vergebens.

Zugegeben war es im Vorfeld zu kleineren Verstimmungen gekommen, weil sie sich, entgegen der Absprache, in ihrer Ratlosigkeit sogleich an die Frauenvertretung gewandt hatte. Diese kontaktierte wiederum den Pressemenschen, der seinerseits sofort einen saftigen Artikel in die Zeitung setzte. Bloß wie ihm anders beikommen, wenn nicht durch öffentlichen Druck und dem Aufzeigen eines für jedermann nachvollziehbaren Lösungsweges? Sperrte sich dieser Kerl doch fortan gegen jedes vernünftige Gespräch, ja hörte nicht einmal zu. Und als sie ihn einmal am Arm fasste, um seine Aufmerksamkeit zu erzwingen, endete das in einem Eklat.

Von wegen penetrant. Das war ja wohl das Letzte! Selbst Tage danach konnte sie nicht schlafen und geriet mit jedem sofort in Streit, der sie nur schief ansah. Die Folgen waren verheerend. Nicht nur, dass man sie zu meiden begann; man ignorierte sie, so dass sie in ihrer Verzweiflung bald von sich aus das Gespräch mit Leuten suchte, die sie früher kaum beachtet hätte. Aber selbst die verweigerten ihr jedes Mitgefühl, so dass sie eines Tages glatt die Nerven verlor und einen dieser Schweiger förmlich anflehte, damit aufzuhören. Der aber sah sie nur verständnislos an, als wüsste er überhaupt nicht, wovon sie rede. Folglich bereute sie diesen Schritt und nahm sich vor, künftig mehr Härte zu zeigen.

Dabei hatte sie bestimmt alles versucht, indem sie erst vor kurzem um Verständnis für ihre Lage warb und ihre Ansichten vom Recht auf eigene Lebensgestaltung in Form eines öffentlichen Skripts jedermann zugänglich machte. Das sorgte für großes Aufsehen und allerlei Ärger, und doch war dieser Schritt nötig. Schließlich geschah das nicht aus einer Laune heraus, sondern aus Notwendigkeit. Außerdem - wie konnte etwas falsch sein, nur weil man es nicht hören wollte? Allenfalls unnötig, wird man einwenden, denn was gingen andere ihre Probleme an? Die Intensität der nachfolgenden Kontroversen bewies jedoch das Gegenteil. Das sich damit die Schar ihrer Gegner nicht unbedingt verringerte, stand zu befürchten - sie jedoch deswegen gleich als Nestbeschmutzerin hinzustellen, ging nun doch zu weit. Hatte man denn eine Vorstellung, welche Überwindung ein solcher Schritt kostete? Aber wie ein allgemeines Verständnis erreichen, ohne schonungslose Offensive? Doch statt Anteilnahme und Verständnis, folgten neuerliche Verunglimpfungen, bis hin zu dümmlichen Spötteleien, was einmal mehr den allgemeinen Unverstand und somit weiteren Handlungsbedarf bewies.

Was war geschehen? Aber gerade hier lag das Problem. Nichts, obwohl längst etwas hätte geschehen müssen, und ausgerechnet den Hinweis darauf machte man ihr zum Vorwurf. Damit nicht genug, man drehte den Spieß noch um; sie wäre zu weit gegangen und habe die Kollegen mit Dingen belastete, die keinerlei dienstliche Relevanz besäßen. ’Ihr ganzes Problem’, wie man es abfällig nannte, wäre aus moralischer Sicht mit der Integrität eines gehobenen Beamten unvereinbar und ihr ’Pamphlet’ - diese 90 Seiten! – eher ein Fall für den Psychiater. Mit diesen Worten knallte man es ihr vor die Nase, ohne zu bedenken, welche tiefe Erschütterung das in ihr auslöste.

Natürlich war das inakzeptabel, wie alles, was man ihr in diesem Zusammenhang vorwarf. Denn welche Integrität, welche Moral? – etwa die der Verlogenheit und Heuchelei? Allein die Vorhalte blieben Ausdruck maßloser Doppelzüngigkeit, wenn man bedenkt, welche Ränkespiele dort ‚oben‘ stattfanden. Oh nein, dafür wusste sie zu viel, als darüber länger zu schweigen; und ihren wissenschaftlichen Bericht über ihre persönlichen Erfahrungen im Kampf um die Gleichberichtigung von Minderheiten als Pamphlet zu bezeichnen, würde noch ein Nachspiel haben.

Nachdem sie aber in der nachfolgenden Revision ihre Argumente ganz unverhohlen darzulegen begann und das, wie sie fand, nicht mal schlecht, folgte eisiges Schweigen. Das war natürlich unfair, weil es so zu keiner Klärung kam und das Problem weiterhin im Raume stand. Was blieb ihr, als die nächsthöhere Instanz.

Herr G., ihr übergeordneter Bereichsleiter und Träger des Bundesverdienstkreuzes zweiter Klasse, war ein guter Freund des Herrn F., ihres neuen Chefs, welchen sie wiederum an einem der letzten Ballabende etwas näher kennen lernte. Ihm legte sie ihre ganze hoffnungslose Lage dar, worauf er sich tief erschüttert zeigte, ihr in allen Punkten zustimmte und sie eine ’unerschrockene Person’ nannte. Selbst dessen Frau, eine sympathische Mittfünfzigerin (wenn auch nicht unbedingt ihrTyp), die dem Ganzen nur kopfschüttelnd beiwohnte, konstatierte danach betroffen: „Ja, ist denn das die Möglichkeit? Dagegen musst du etwas unternehmen, Herbert.“

Das pulverte sie nur noch weiter auf. Bereits am nächsten Tag wurde sie bei ‘Herbert‘ vorstellig. Er brachte ihr auch vollstes Verständnis entgegen und zeigte sich empört und besorgt zugleich, letzteres vor allem über ihren Zustand, welchen zu verbergen ihr nicht länger möglich war. Wiederholt forderte er sie auf, sich zu beruhigen, nannte sich untröstlich und versprach eine rasche Lösung, vor allem, nachdem sie während ihrer emotionalen Schilderung einer Ohnmacht nahe war.

Doch anstatt der erhofften Klarstellung, kam es nur noch ärger. Immer weitere Kollegen solidarisierten sich mit Fischöder, was darin gipfelte, dass man dreiste Lügengeschichten in Umlauf setzte. F. war gezwungen, den Dingen nachzugehen und überall unangenehme Fragen zu stellen. Diese fanden natürlich ebenso unangenehme Antworten, jedoch nur, weil man unter einer Decke steckte - ein Umstand, worauf sie übrigens im Vorfeld längst hingewiesen hatte.

Aber selbst wenn die erhobenen Behauptungen haltlos und dümmlichen Vorurteilen geschuldet blieben, stand am Ende ihre Versetzung in einen anderen Bereich - aus ’rein taktischen Gründen’, wie ihr Herbert versicherte. Das dürfe sie aber um Himmels Willen nicht missverstehen, vielmehr erfordere mancher Schritt voran zunächst einen zurück.

Blah blah blah! Das stank zu Himmel, denn als es öffentlich wurde und er endlich Farbe bekennen musste, verlor er sich in vielen schönen Reden, die anzuhören zwar ganz tröstlich waren, doch den Kern der Sache niemals trafen. Mit keinem Wort erwähnte er die begangenen Frechheiten, mit keiner Silbe das wirkliche Problem. Und als dann noch von ‚schwierig‘ und ‚zerfahren‘ und einer ‘gütlichen Einigung‘ die Rede war, wurde klar, wohin das alles driftete. Fischöder grinste, und der nachfolgende Applaus gab ihr den Rest. Ihr letzter Glaube an Gerechtigkeit war dahin.

Aber auch wenn sie ihre Enttäuschung darüber zu verbergen wusste und sogar noch zynisch lächelte, schwelte ein solcher Schmerz in ihrem Herzen, dass sie am liebsten laut geschrien hätte. Letztlich blieb ihr nichts, als das Handtuch zu werfen und Fischöder im Hinausgehen noch ein schnödes „falscher Fuffziger!“ zuzuwerfen.

Doch kaum zu Hause, warf sie sich aufs Bett, presste das Gesicht ins Kissen und wünschte, auf der Stelle zu ersticken. Warum hatte sich alles gegen sie verschworen? Wieso diese himmelschreiende Ungerechtigkeit, obgleich sie sich aufrichtig um Verbesserung bemühte? Fehlte ihr wirklich jeder gesunde Instinkt, oder war sie einfach nur zu naiv?

- ein tieferes Gefühl -

Natürlich kam es vor, dass sie sich, von Selbstzweifeln zerrissen, in ihren Verwünschungen bis zu Tränen verstieg, zuweilen sogar beschimpfte - freilich nur leise. Dann suchte sie die Nähe ‘neutraler’ Kollegen, in der Hoffnung auf Gehör oder ein tröstendes Wort. Aber nicht mal das hatte man für sie übrig, machte allenfalls verharmlosende Bemerkungen, die eher kränkend wirkten und nicht den Bruchteil von dem erbrachten, was sie sich erhoffte. Aber wie sollten andere etwas verstehen, was sie selber nicht verstand? Meist nahm sie dann ’etwas‘, freilich nur wenig und aus sicherer Quelle. Danach wurde sie ruhiger, entspannter und konnte stundenlang vor sich hin starren, ohne an etwas zu denken. Doch wenn sie danach erwachte, wurde alles nur noch schlimmer. Das war natürlich keine Lösung. Niemand wusste das besser, und doch wäre sie eher gestorben, als zu tun, was man von ihr verlangte, namentlich den Mund zu halten und diese ewigen Gängeleien zu tolerieren. Sie machten das Leben zur Qual und waren für Leute bezeichnend, die sich in ihrem Mittelmaß genügten und jede Herausforderung als Bedrohung ihrer kleinen, engen Welt betrachteten.

Nur wo, verdammt noch mal, lag die Ursache? Woher diese plötzliche Unsicherheit und vor allem Aggressivität, wie jüngst bei der unnötigen Szene in Herberts Vorzimmer. Sie war ohne jede Vorankündigung hineingeplatzt und hatte gleich mit der Faust auf den Tisch geschlagen: „Was heißt hier ’nicht avisiert‘, gute Frau, sind Sie denn närrisch? Glauben Sie, ich habe meine Zeit in der Lotterie gewonnen?”

Wie sich später allerdings herausstellte, war Herbert tatsächlich nicht da, ein Blick in ihren Terminkalender hätte alles aufgeklärt; statt dessen ein solcher Eklat. Würde man sie nach dem Grund gefragt haben, hätte sie sicher tausend Ausflüchte parat. Doch mit keiner Silbe gäbe sie etwas preis, was sie gar nicht preisgeben konnte, weil sie sich davor fürchtete. Es war dieses Fühlen tief im Inneren, was im Gegensatz zu ihrem Äußeren stand und sie zu Dingen trieb, die nicht immer plausibel schienen. Zuweilen war es wie ein Feuer, lebhaft und schnell, dann wieder wie kaltes Wasser, trübe und schwer, was sie derart durcheinander wirbelte und niemals sein ließ, wie sie gerne wäre, sondern immer nur, wie sie sein musste. Aber gibt es etwas Schlimmeres, als anders zu sein, als man fühlt; wenn sich das Innere gegen das Äußere kehrt und tief im Herzen ein Konflikt schwelt, der zu ständigen Irritationen führt? Wie kann man lieben, ohne sich selbst zu hassen; wie in den Spiegel sehen, ohne sich zu verleugnen? Tausendmal schon hatte sie es versucht und war ebenso oft gescheitert. Was blieb, war ein ewiger Taumel, ein Wirrwarr an Emotionen, welche sie, je nach Befindlichkeit, zur einen, dann wieder zur anderen Seite warf, ohne zu einer Mitte zu finden. Mit bitterer Wehmut erinnerte sie sich der fernen Kindertage, in denen sie noch nichts verstand, diesen Zwiespalt jedoch längst spürte.

„Frank, was machst du da?“ herrschte sie die Mutter an, wenn sie heimlich in ihren Petticoat vor dem Spiegel posierte. „Du solltest dich schämen. Ein Junge tut so etwas nicht!“ Es folgten Schläge auf die Finger. Schließlich verbrannte Mutter den Petticoat und bestand darauf, ihr Haupthaar zu stutzen, damit aus ihr ein richtiger ‘Bub‘ würde. Sie sollte herumtollen, auf Bäume klettern und sich mit anderen raufen, anstatt mit Puppen zu spielen, obgleich sie diese so wundervoll anzukleiden verstand.

„Was soll der Nagellack? Ich verbiete dir so was, das ist ja furchtbar!“ Was daran furchtbar war, verschwieg sie allerdings. Stattdessen drückte ihr ganzes Wesen tiefe Abscheu aus. Folglich entstand ein Gefühl der Scham und des Schmutzes, der viel schmerzhafter war als alle Prügel, wenn auch die tieferen Ursachen noch unklar blieben. Nur wo Rat und Hilfe holen? Selbst Großvater, der immer so warm und herzlich zu ihr gewesen war und ihr oft beigestanden, wurde bei diesem Thema sofort kühl. Allein ihrer Hartnäckigkeit war es zu danken, dass er sich einmal zu einer Bemerkung hinreißen ließ, die sie nie vergessen sollte. „Gott verdammt, es gibt Stuten und Hengste, dazwischen gibt es nichts. Niemandem steht es frei, sich zu entscheiden, weil die Welt nun mal so eingerichtet ist. Alles andere sind Wege des Teufels!“

Daraufhin war sie fortgerannt und hatte sich im Schuppen eingesperrt. Lange saß sie dort in völliger Apathie, bis Mutter die Tür aufriss und sie an den Ohren zog. Die nachfolgenden Prügel und der verordnete Hausarrest vereinsamten sie nur noch mehr. Auch der spätere Zwang zum Tragen von Lederhosen, was ihr seitens ihrer Schulkameraden Hohn und Spott einbrachte, vermochte daran nichts zu ändern. Längst schwelte etwas tief in ihr, das einfach nicht zu bändigen war und sofort hervorquoll, sobald sich die Gelegenheit bot. So blieb es unvermeidlich, dass dieser ’Bub’, kaum alleine, auffallend lange vor dem Spiegel stand und sich oft stundenlang betrachtete. Dabei erwachte, noch scheu, bereits ein neues, süßes Gefühl, das eine unerklärliche Neugier weckte. Ganz von selbst griff sie dann zur Bürste und stellte sich die herabwallende blonde Mähne vor, deren Spitzen zärtlich ihre Brüste umspielten. Und wenn sie dazu Perlonstrümpfe trug, die mit straffer Festigkeit ihre weißen Schenkel umspannten; wenn sie ihre Lippen von Herzen schminken und ihrem gegenüber Kussmünder zuwarf, fühlte sie sich in eine andere Welt gerissen, in welcher alles so voller Zauber war und mit wundervollem Entzücken ihr Herz durchschauerte. Dann kitzelte sie ein verführerisches Verlangen, das, obzwar noch immer von Angst und Scham durchdrungen, dennoch nach Erfüllung heischte. Alles in ihr war so unbekümmert und leicht, dass sie endlich lachen, tanzen und sein konnte, wer und vor allem was sie wirklich war.

Nicht, dass es ihr an Versuchen mangelte, dem zu widerstehen. Im Gegenteil, anfangs zwang sie sich sogar und meinte in dem, was sie tat, etwas Schmutziges, Verwerfliches zu sehen, dessen man sich schämen müsse. Doch wie, wenn hinter jedem Versuch eine schmerzhafte Selbstverleugnung stand? Wie diesen Schmerz überwinden, ohne ihn erneut zu provozieren? Niemand konnte so etwas auf Dauer ertragen, ohne Schaden an der Seele zu nehmen.

Die Mutter sah mit großer Sorge die androgynen Züge ihres Kindes, welche mit dem Einfordern bestimmter Verhaltensweise partout nicht korrespondierten. Selbst all die fiktiven Lausbubengeschichten, welche sie in der Nachbarschaft herumtrug, halfen nichts. Vielmehr wurden die häuslichen Sanktionen immer strenger, nur um das gewünschte Verhalten zu erzwingen. So reagierte sie selbst bei nichtigsten Verstöße oftmals sehr empfindlich und scheute nicht einmal davor, sie vor anderen bloßzustellen.

„Stell Dir nur vor, unser Frank wird langsam männlich“, spöttelte sie einmal am Mittagstisch in Gegenwart von Onkel Willi, einem grobschlächtigen Mittfünfziger, der schrecklich viel aß und unverhohlen laut über Dinge redete, worüber anständige Menschen nur verschämt schwiegen. „Sieh nur, er muss sich bereits rasieren“ und streichelte ihr zärtlich die Wange.

„Wirklich?“, fragte dieser ungläubig staunend. „Ich finde, er sieht immer noch recht zart aus, richtig knabenhaft. Aber jetzt, wo du es sagst -, stimmt, der Flaum auf der Oberlippe sieht putzig aus.“

„Putzig?“

„Nicht doch, Grete, so meine ich das nicht. Er sollte ihn später unbedingt einmal stehen lassen - den Bart meine ich, ähä.“ Diesen Nachsatz fand er wer weiß wie komisch und klatschte sich vor Begeisterung aufs Knie.

Gott, wie drehte sie ihr der Magen um, angesichts solcher Trivialität. Und als er dann noch eine gegarte Spargelstange vom Teller fischte und demonstrativ in die Höhe hielt, wurde ihr ganz schwarz vor Augen. Ihr Herz begann zu Rasen, ihr Magen rebellierte, so dass sie aufsprang und in ihr Zimmer rannte, wo sie den Rest des Tages allein in blinder Wut über die eigene Ohnmacht verbrachte.

Sie hatte lange gebraucht, diese Instinktlosigkeiten und vor allem Mutters Gleichmut zu verdauen, zumal sie zu diesem Zeitpunkt weder ihre eigene Scham noch Erregung begriff. Abends lag sie noch lange wach. Ständig trat ihr diese obszöne Geste mit dem Hinweis auf jenes verräterische Rudiment vor Augen, das sie vor anderen zwar zu verbergen verstand, jedoch nicht gänzlich verleugnen konnte. Es war einfach schrecklich, so unvollkommen, oder genauer, so missgestaltet zu sein und das auch noch ständig zu spüren. Jeder Hinweis darauf erfüllte sie mit Schmerz und Scham, weil es schmutzig und widerwärtig war, weil es ihre Seele vergiftete und einfach nicht zu ihr passte.

Doch was dagegen unternehmen? Wiederholt trug sie sich mit dem Gedanken an Selbstverstümmelung, schreckte jedoch davor zurück. Es musste einen anderen Weg geben, einen sanfteren. Nur welchen?

- Der tägliche Kampf -



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