Angefangen, abgebrochen, neu erfunden - Eva Maria Hoffmann - E-Book

Angefangen, abgebrochen, neu erfunden E-Book

Eva Maria Hoffmann

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Beschreibung

Die 33 Menschen, die Eva Maria Hoffmann ihre Geschichte anvertraut haben, waren an einem Punkt in ihrem Leben angelangt, an dem sie sich fragen mussten: weitermachen wie bisher oder etwas ändern und dabei Gefahr laufen, alles zu verlieren? In Angefangen, abgebrochen, neu erfunden erzählen sie, warum sie sich für einen Neustart entschieden haben und wohin er sie geführt hat. So zum Beispiel Cornelia, die 140 Kilo wog und radikal abnahm, obwohl ihr Freund jedes Gramm an ihr liebte. Oder Lotte, die erkannte, dass sie doch nicht zur Biochemikerin taugt, und kurzerhand nicht mehr zur Arbeit ging. Und Gregor, der nach unzähligen One-Night-Stands verstand, dass Sex eben doch nicht alles ist, und seither nur noch eine einzige Frau in sein Bett lässt. Einige der 33 wahren Geschichten, die Eva Maria Hoffmann zusammengetragen hat, sind anrührend, andere witzig, wieder andere kaum zu glauben - und sie alle zeigen: Wer wagt, der gewinnt auch hin und wieder.

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Seitenzahl: 359

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Eva Maria Hoffmann

ANGEFANGEN, ABGEBROCHEN, NEU ERFUNDEN

33 wahre Geschichten von Menschen, die ihr Leben von heute auf morgen geändert haben

Vorwort

Neustarter vs. Angsthasen

Wer von uns hat nicht schon einmal mit dem Gedanken gespielt, noch einmal ganz von vorn zu beginnen? Das alte Ich einfach in die Ecke zu stellen (am besten mit dem verheulten Gesicht zur Wand), den nervenden Partner am Frühstückstisch zurückzulassen und den verhassten Job endlich an den Nagel zu hängen?

Vielleicht bewundern wir gerade deshalb jene, die diesen Schritt wagten. Ganz besonders dann, wenn sich auf dem mühsam verfolgten Weg immer mehr Steine sammeln, die das Vorankommen beschwerlich gestalten. Zumindest war das bei mir so. Ich wurde jedes Mal hellhörig, wenn ich wieder einmal durch Zufall von einem »Neubeginner« erfuhr, wünschte mir auch ein Fünkchen mehr Mut und wollte mehr wissen. Warum gibt es Veränderungsmuffel, die jahrelang an einer unglücklichen Beziehung und/oder einem deprimierenden Job festhalten, die sich abends vor dem Einschlafen nichts sehnlicher wünschen als ein muskulöses Sandmännchen, das doch bitte den schnarchenden Gatten schultern und aus dem Zimmer tragen würde (und wenn schon nicht den, dann zumindest den schimpfenden Chef mit einer Überdosis Sand versorgen), während andere wiederum auf Konventionen pfeifen und einfach so ins kalte Wasser springen? Was also ist es, das den furchtlosen Neustarter von dem gemeinen Angsthasen unterscheidet? Um dieser Sache auf den Grund zu gehen, spitzte ich Ohren und Bleistift und verbrachte sechs Monate damit, bei ehemaligen »Schlussstrichziehern« an die Tür zu klopfen, um mal genauer nachzufragen.

Was folgte, war eine Vielzahl von erstaunt gehauchten »Ist nicht wahr!«, »Wirklich? Einfach so?« und »Hattest du keine Angst?« meinerseits, vor Stolz strahlende Gesichter auf Seiten meiner Protagonisten und die Erkenntnis, dass es jeder schaffen kann. Um das Ruder noch mal herumzureißen, bedarf es nämlich keiner übersinnlichen Kräfte, keiner besonderen Fähigkeiten und meistens braucht man dazu nicht mal Geld. Man muss nur ganz fest an sich selbst glauben, das Knie anwinkeln, das Bein vorstrecken und – schwupps – schon ist der erste Schritt ins neue Leben getan.

Und weil mich all diese gesammelten Geschichten wahnsinnig beeindruckten, weil ich vor vielen meiner Protagonisten ehrfürchtig den Hut ziehe und selbst ein Kitzeln in meinem Unterschenkel verspürte, beschloss ich, diese Storys niederzuschreiben.

Das Resultat hältst du, liebe Leserin, lieber Leser, nun in deinen Händen: ein buntes Potpourri an »Mutmach-Geschichten«. Bestehend aus Veränderungen wie jene von Hubert, der auf seinem Weg zum Marathonläufer sein Übergewicht und seine Gier nach Zigaretten hinter sich ließ. Oder die von Franziska, die viele Jahre zuvor als kleiner Franz das Licht der Welt erblickte. Und von Anja, die sich nun – statt weiter ein Leben als Labormaus zu fristen – um die Versorgung von Leseratten bemüht.

All diese Menschen kümmerten sich nicht im Geringsten um die Meinung der anderen, sondern hörten auf ihr Bauchgefühl und auf ihr Herz. Und auch wenn ich weiter oben geschrieben habe, dass »Neubeginner« keine Superkräfte benötigen – Superhelden sind sie für mich trotzdem!

Eva Maria Hoffmann

1

Downshifting – über den Bergen

Roland (42), Manager, Klagenfurt, über sein ruhiges Leben, nachdem sich sein beruflicher Stress in (Berg-)Luft auflöste

Wenn es um die Verteilung von Arbeit ging, stand ich schon immer in der ersten Reihe und schrie: »Hier!« Manchmal hob ich dabei sogar winkend die Arme. Ich wollte das ganze Lob allein einheimsen, sehnte mich nach Anerkennung, träumte davon, auf den Schultern meiner Kollegen getragen zu werden … (Gut, das war jetzt vielleicht ein wenig übertrieben).

Mein Leben gehörte damals der Arbeit. Ich gab immer 180 Prozent und war daher nicht sonderlich überrascht, als mich eines Tages mein Boss in einer wichtigen Angelegenheit zu sich rufen ließ. Männer seines Alters gelten normalerweise als weise, mein Vorgesetzter hingegen war ein grauer Mann. Graubärtig, grauhaarig und grau im Gesicht. Einzig und allein seine blauen Augen boten einen Kontrast zu der fahlen Wand hinter seinem Schreibtisch und verhalfen ihm zu einer gewissen Präsenz in dem düsteren Raum.

Passend in einen grauen Anzug gekleidet, ließ ich mich ihm gegenüber an dem Schreibtisch nieder.

»Roland, ich mach’s kurz.« Das schienen schon einmal gute Neuigkeiten zu sein, denn wenn Herr Lang einmal zu reden begonnen hatte, kam er nur selten auf den Punkt. Ich nickte erleichtert. »Wie du ja weißt, werde ich zum Ende des Jahres meine Dienste in dieser Firma beenden.«

Wieder nickte ich.

»Aus diesem Grund würde ich dir gern meine Nachfolge anbieten.« Er strahlte mich an.

Und da ich in der Werbeagentur der Einzige war, dem man eine solche Position zutrauen konnte, fragte ich: »Wo soll ich unterschreiben?«

Kein halbes Jahr später siedelte ich von meinem kleinen Zimmer in das Chefbüro über. Voller Stolz spazierte ich vor den mit Ordnern gefüllten Regalen auf und ab, fotografierte mit meinem Smartphone die Aussicht aus dem zwölften Stock, schickte das Bild per MMS an meine Frau Carina und war einfach nur glücklich.

Bis mich das Läuten des Telefons aus meinen Gedanken riss. Bei meinem ersten Gespräch als Big Boss war ich noch voller Freude.

»Roland Peil, was kann ich für Sie tun?«,

Doch sobald das Läuten zu einem festen Bestandteil meines Arbeitstages wurde, verging mir der Spaß und der gute Umgangston schloss sich ihm an. Genauso meine Freizeit – von ihr fehlte von einem Tag auf den nächsten jede Spur.

Ich arbeitete durchgehend und blieb bis zum späten Abend im Büro, um Deadlines einzuhalten, war ständig »on fire«. Der Druck, die oberste Chefetage zufriedenzustellen, wuchs. Statt der gewohnten 180 bot ich 300 Prozent. Ich wurde missmutig, bekam Herzflattern, träumte nachts von versäumten Meetings und erwachte regelmäßig schweißgebadet.

In den darauffolgenden Monaten verlief jeder Tag auf dieselbe Weise: Frühmorgens erreichte ich als Erster die Firma, schuftete, bis mir der Kopf zu platzen drohte, und brauste spätnachts als Letzter mit meinem Firmenwagen nach Hause, um mich vorsichtig zu meiner Frau unter die Bettdecke zu schummeln. Dann wärmte ich meine kalten Füße an ihren warmen Unterschenkeln und schwor mir, wie jeden Tag, sehr bald sehr viel mehr Zeit mit ihr zu verbringen.

»Herr Peil, Ihre Frau ist am Apparat«, flüsterte meine schüchterne Assistentin eines Tages ins Telefon.

»Stellen Sie sie durch!« Das Geräusch zerbrechenden Porzellans vom anderen Ende der Leitung verriet mir, wieder einmal den falschen Ton angeschlagen zu haben.

»Wusstest du, dass Manuel schon wieder Vater wird?«, fragte mich Carina. Sie war aufgeregt und ihre Frage implizierte einen aufdringlichen Vorwurf.

Manuel und ich hatten vor gefühlt hundert Jahren in demselben Fußballclub gespielt. Wir waren gute Freunde, hatten unsere Leibchen und Mädchen getauscht und gemeinsam komatöse Partys gefeiert. Seit ich jedoch mein Leben gegen meinen Job eingetauscht hatte, sahen wir uns nur noch sehr selten. Und wenn, schien seine Frau jedes Mal ein neues Baby auf dem Arm zu tragen, fast so als könnte man mittlerweile zur Babykleidung auch das passende Wunschkind im Internet bestellen. »Nein, wusste ich nicht«, antwortete ich.

»Ich habe ihn heute Morgen zufällig im Supermarkt getroffen. Er meinte, er würde uns gern am Wochenende zum Wandern einladen. Was hältst du davon?«

Trotz der Entfernung konnte ich Carinas Erwartung nahezu spüren. »Wieso eigentlich nicht? Allerdings komme ich erst am Samstag von der Dienstreise zurück«, erklärte ich.

»Herr Peil, Ihr Zwölf-Uhr-Termin wartet«, flüsterte die Assistentin vorsichtig in mein Zimmer.

»Carina, ich muss Schluss machen.« Damit legte ich auf und eilte ins nächste Meeting.

An dem Sonntag unserer Wanderung war der Himmel blau, die Freude über das Wiedersehen mit meinem alten Freund groß und der Aufstieg zum Gipfel zu steil, zumindest für Manuel. Kaum waren wir losgegangen, atmete er schon schwer und erzählte trotzdem unermüdlich von seinem Familienglück. »Weißt du, wie schön es ist, wenn du die ersten Schritte deines Sohnes beobachten darfst? Wahnsinn … Nenn mich ruhig einen Waschlappen, aber ich hab vor Glück geheult«, keuchte er. Carina schmachtete dahin, ich hatte keinen Bock auf diese Gefühlsduseleien und ließ mich ein paar Meter zurückfallen.

Ich hörte das Knirschen des Bodens unter meinen Wanderschuhen, sog die klare Luft tief in meine Lungen und ließ meine blasse Haut von der Sonne wärmen. Ehrfürchtig blickte ich auf die Berggipfel, die um mich herum in den Himmel ragten. Schon seit Ewigkeiten hatte ich mich nicht mehr so frei gefühlt.

700 Höhenmeter später erreichten wir ziemlich verschwitzt die Almhütte, derentwegen wir diese ganzen Strapazen auf uns genommen hatten. Von nichts umgeben als reiner Natur stand sie auf einer grünen Wiese und sah wunderschön aus. In der Sonne hatte man Holzbänke platziert und hinter ihr studierten Kühe die Konsistenz der Gräser.

»Griaß eich!«, begrüßte uns eine blonde Frau im Dirndlkleid, die aussah, als wäre sie der Reklame eines Erfrischungsgetränkes entsprungen, und versorgte uns mit Wasser, Wein und dampfendem Apfelstrudel.

»Wahnsinn, dieser Ausblick!«, schwärmte meine Frau.

»Ich würde ja auch ganz gern mal mit den Kindern und der Michaela hier …« Um Manuel zum Schweigen zu bringen, streckte ich ihm ein Glas Wein entgegen. Dies alles war viel zu schön, ich wollte es in aller Ruhe genießen und jetzt nichts anderes hören.

Das Läuten der Kuhglocken ließ mich jedoch hochfahren. Mein Handy!, schoss es mir durch den Kopf. Hektisch durchwühlte ich meine Taschen, fand das kleine, rechteckige Gerät und hielt es in die Luft. Kein Empfang! Ich wurde nervös. Das durfte wohl nicht wahr sein! Wie von der Tarantel gestochen, sprang ich von der Holzbank auf, hielt mein Telefon nach oben und umkreiste auf der Suche nach den erlösenden fünf vollen Balken auf meinem Display die alte Hütte. Nichts. Schweiß rann über meine Stirn und sammelte sich in meinen Augenbrauen. Ich schnappte wie ein Fisch auf dem Trockenen nach Luft.

»Ich bin nicht erreichbar! Das ist eine Katastrophe!« Dieser Zustand fühlte sich nahezu an wie Folter. Hastig drängte ich Carina und Manuel dazu umzukehren.

Als ich, kaum zu Hause angekommen, jedoch keine Nachrichten auf meiner Mailbox vorfand, normalisierte sich langsam mein Puls.

In meinem ledernen Fernsehsessel sitzend, ließ ich den Tag Revue passieren. Dachte an die sonnigen Berggipfel, die dichten Wälder und die geruhsam kauenden Kühe und erlitt meine erste Sonntagsdepression. Ich wünschte mir, nicht mehr in dieses Büro gehen, mich nicht mehr beweisen, um keine Aufträge mehr kämpfen zu müssen.

Gegenüber Carina erwähnte ich das nicht, sie hätte für meinen Zwiespalt kein Verständnis aufgebracht. Als freie Mitarbeiterin in einer Werbeagentur konnte sie den Stress, den meine Position mit sich brachte, nicht einmal erahnen.

Und obwohl mich allein der Gedanke an den nächsten Tag zum Verzweifeln brachte und ich mich immer wieder nach Stille und klarer Höhenluft sehnte, fuhr ich fort wie bisher.

Es vergingen noch viele Monate, bis mir die Notwendigkeit einer Veränderung ausgerechnet während des Zähneputzens bewusst wurde. In der Mitte meines Kopfes, direkt am Haaransatz entdeckte ich ein weißes Haar. Mehr Aufmerksamkeit hätte es nur noch durch das Schwingen einer roten Fahne mit der Aufschrift »ALT« auf sich lenken können. Je eingehender ich es betrachtete, desto deutlicher sah ich das Gesicht meines ehemaligen Chefs vor mir. In diesem Moment verstand ich, dass es nun an mir war, die Wandfarbe meines Büros anzunehmen.

Mein Atem und mein Puls beschleunigten sich, und erst als ich das Mahnmal mit Carinas Pinzette an der Wurzel packte und ausriss, beruhigte ich mich wieder. Mit ausreichend Wasser verabschiedete ich es in die Kanalisation. Doch das, was dieses Erlebnis in mir auslöste, hätte kein Abflussrohr der Welt abtransportieren können.

Etwas später an diesem Tag, als ich allein im Büro und vor meinem Computer saß, schlichen sich meine Gedanken zurück in das weiß geflieste Badezimmer und ich trauerte all den verlorenen Jahren nach.

Durch das riesige Bürofenster beobachtete ich die aufgehende Sonne und betrachtete dann den Berg an Arbeit, der sich vor mir auftürmte – und wie von selbst wanderten meine Finger über die Tastatur. Ganz vorsichtig, als fürchteten sie, sofort wieder aufgehalten zu werden. Almhütte gesucht, schrieben sie. Kurz darauf klickte ich mich durch die Gipfel dieser Welt, anstatt mich auf das nächste Meeting vorzubereiten.

Endlich verstand ich, was ich zu tun hatte, um wieder glücklich zu werden: Ich musste hier raus! Das Telefon läutete ununterbrochen, doch ich hielt das nicht mehr aus. Nein, ich WOLLTE das nicht mehr. Ich wollte Zeit mit meiner Frau verbringen, solange ich noch körperlich dazu in der Lage war. Ich wollte in der Sonne sitzen und all die Bücher lesen, die sich in meinen Regalen angesammelt hatten, auf Wiesen starren und nicht nur Geschäftstermine im Sinn haben.

Voller Euphorie fasste ich einen Entschluss: Ich würde noch einmal von vorn beginnen. Nur diesmal ohne Stress.

Gesagt, getan. Es genügte ein Telefonat mit meinem Bankberater. Darauf folgte ein Besichtigungstermin hoch oben auf der Alm und danach eine schriftliche Kündigung.

Drei Monate später war es endlich so weit.

Ich erwachte und hielt für einen Moment inne. Aufmerksam lauschte ich in den Raum … und hörte nichts, mit Ausnahme von Carinas Atemzügen und des aufgeregten Zwitscherns einiger Vögel in weiter Ferne. So leise wie möglich stieg ich aus dem Bett und verließ das Schlafzimmer. Die Kälte des Holzbodens stach schmerzhaft in meine Fußsohlen, aber ich wollte nicht umdrehen, nur um die Hausschuhe zu holen. Wäre Carina erst einmal wach, würde ihr Kommunikationsbedürfnis den Zauber des Morgengrauens zerstören. Da war es doch angenehmer zu frieren.

In der kleinen, zweckmäßig eingerichteten Küche braute ich mir einen starken Kaffee, wickelte zwei karierte Geschirrtücher um meine nackten Füße, schlüpfte in meine Schuhe und trat hinaus vor unsere Hütte.

Ich setzte mich auf die Bank, gleich rechts neben die Tür, streckte meine Nase in Richtung Himmel und ließ mir die kühle Haut von den frühen Sonnenstrahlen wärmen. So verbrachte ich meinen Morgen am liebsten. Um mich herum die grünen Wiesen, ein paar grasende Kühe und das Läuten der Glocken um ihren Hals. An mein Handy dachte ich dabei schon lange nicht mehr.

Vor einem Jahr noch hätte ich bereits seit Stunden in meinem Büro gesessen und so viel Arbeit um mich herum gestapelt, dass ich den Wald vor lauter Bäumen nicht gesehen hätte. Schmunzelnd ließ ich meinen Blick über das angrenzende Waldstück streifen. Ich hatte den Absprung geschafft!

»Da bist du ja! Guten Morgen. Wir müssen uns beeilen, die ersten Gäste kommen bald.« Carina gab mir einen flüchtigen Kuss auf die Wange und flitzte – mit einer Milchkanne bewaffnet – zu unserem nächstwohnenden Nachbarn. In einer halben Stunde würde sie wieder zurück sein. In der Zwischenzeit würde ich die Zimmer auf eventuelle Mängel kontrollieren, Holz zum Heizen vorbereiten und genügend Lebensmittel aus dem Keller in die Küche bringen.

Anfangs hatte der Gedanke, auf einer Alm eine Ruheoase für ausgebrannte Manager zu gründen, nur als verschwommene Idee in meinem Kopf existiert, doch kaum hatte ich Carina davon erzählt, war er wie ein Funken auf sie übergesprungen. Mittlerweile schlug unser kleines Idyll bei unseren Gästen ein wie eine Bombe.

Nachdem ich den Rundgang durch die Zimmer beendet und die Bänke in der Sonne platziert hatte, begann sich das Haus auch schon zu füllen. Carina wuselte eifrig in der Küche herum, ich übernahm die Bedienung.

»Für mich den Gelassenheits-Kräutertee und einen Topfenstrudel für die Seele«, gab eine Frau Mitte 40 ihre Bestellung auf. Ihr Haar war grau, Tränensäcke hingen tief über ihren Wangen und lange Falten an den Mundwinkeln verliehen ihr Ähnlichkeit mit einer Marionette.

»Und für Sie?« Meine Frage galt einem Mann an demselben Tisch, der verzweifelt versuchte, sich mit seinem Tablet-PC ins Internet einzuloggen.

»Jetzt nichts«, schnauzte er mich an.

Auf dem Weg in die Küche blieb ich für einen Augenblick vor dem Spiegel in der Stube stehen. Die vormals graue Haut in meinem Gesicht hatte sich an den Wangen rot gefärbt und die Sorgenfalten waren von Lachfalten abgelöst worden. Bevor ich nach weiteren grauen Haaren suchen konnte, unterbrachen Kinderstimmen meine selbstkritische Musterung.

Ich spähte durch das Fenster und entdeckte vier kleine Jungs über die Wiese auf unsere Hütte zutollen. Die hohen Berggipfel schickten das Lachen als Echo zurück.

Hinter den Kindern und mit verschwitztem Hemd trat Manuel über die Kuppel – an seiner Seite seine schwangere Frau.

Während wir unsere Besucher begrüßten, sprang der Mann mit seinem Tablet-PC auf, durchwühlte hektisch seine Hosentaschen, ergriff sein Mobiltelefon und lief mit ausgestrecktem Arm panisch um das Häuschen. Und ich lachte.

2

Echt fett

Cornelia (39), Bürokauffrau, Krems, über ein leichteres Leben nach ihrem Sieg über ihren inneren Schweinehund

Im Gegensatz zu anderen Mädchen meines Alters freute ich mich schon im Kindergarten nicht auf das Tanzen, Singen oder etwa auf das Puppenspielen, sondern auf 9.30 Uhr, denn das bedeutete Jausenzeit. Das Knistern des Butterbrotpapiers und der Duft der frischen Wurst, der mir beim Auspacken in die Nase stieg – all das versetzte mich in Hochstimmung. In diesen Minuten war ich glücklich. Und dick.

Mehr als 30 Jahre später war mir es gelungen, eine Festung aus Fett um mich herum aufzubauen, in der beinahe jeder Zentimeter meines Körpers ein ganzes Kilo wog. Die gute Nachricht dabei ist, dass ich mit 1,50 Meter nicht gerade groß gewachsen bin. Und obwohl mein Leben nicht immer leicht war – wie auch, immerhin brachte ich 140 Kilogramm auf die Waage –, hatte ich mich ganz gut damit arrangiert. Ich absolvierte eine kaufmännische Ausbildung, arbeitete in einem kleinen Büro, wohnte in einer kleinen Wohnung und fuhr ein kleines Auto. Kurzum, ich war zufrieden, und meistens gelang es mir, mich in meinem »erfüllten« Leben wohlzufühlen.

Meine Geschichte begann an einem schicksalhaften Mittwochmorgen im Juni. Zuerst sorgte das Verschließen des Klettverschlusses an meinen Schuhen für einen Schweißausbruch, dann streikte auch noch mein Wagen und ich musste zu minderen Mitteln greifen, um rechtzeitig zur Arbeit zu gelangen. Mitteln, deren Existenz ich erfolgreich seit Jahren ignorierte: öffentliche Verkehrsmittel. Für mich das Sinnbild des Bösen.

Nach einem fünfminütigen Fußmarsch zur Haltestelle schmerzten meine Knie und ich japste nach Luft. Mit einem Taschentuch entfernte ich den Schweiß von meiner Stirn und hob den Rock ein wenig an, um meine geschwollenen Beine zu belüften.

Zwei coole 13-jährige Jungs, die am Bushäuschen lehnten und sich lässig eine Zigarette teilten, waren auf mich aufmerksam geworden.

»Angenehm kühl, jetzt wo wir im Schatten stehen, ne?«, stellte einer der pickligen Knaben fest und erntete von dem anderen einen anerkennenden Schlag auf die Schulter. Ich hätte ihm gern ein blaues Auge verpasst. Zum Glück wurde das pubertäre Gelächter wenig später von den quietschenden Bremsen des Busses verschluckt. Mühsam hievte ich mich die drei Stufen hinauf ins Innere, spürte die verachtenden Blicke der Menschen und steckte in der Menge fest. An meinen rechten Oberarm wurde der Junge gepresst, der sich zuvor noch über mich amüsiert hatte, und zumindest für diesen kurzen Augenblick verging ihm das Lachen. In der nächsten Kurve, in der er noch enger an mich gedrückt wurde, schrie er aus Leibeskräften: »Hilfe, ich versinke!« Die anderen Mitfahrer grölten vor Lachen, der Bus hielt an der nächsten Station, öffnete seine Türen und spuckte mich aus. Nie wieder, so schwor ich mir, würde ich ein solches Gefährt betreten. Verschwitzt und traurig entfernte ich mich mit kleinen Schritten von der Haltestelle.

»Ich habe gehört, was da drinnen passiert ist. Das tut mir leid.« Auf den Nachsatz »… dass Sie so fett sind« wartend, ignorierte ich die Stimme und setzte meinen Weg zum Büro fort.

»Hören Sie?! Entschuldigung? Darf ich kurz mit Ihnen sprechen?«

Also drehte ich mich zu dem sehr großen, sehr schlanken Mann um. In der Hand hielt er eine Aktentasche, die nicht so ganz zu seinen sportlichen Nikes passen wollte. Sein dichtes, schwarzes Haar war ordentlich frisiert und unter seinem Oberlippenbart prangte ein sympathisches Lächeln – ebenso wie auf dem Aufdruck auf seinem T-Shirt. Verlegen strich ich meine braunen Haare hinter meine Ohren und antwortete höflich: »Was haben Sie mir denn bitte zu sagen?«

»Dass ich Sie toll finde … Und dass ich Sie gern kennenlernen möchte«, lautete seine Antwort. Ich glaubte ihm natürlich kein Wort, doch mir fehlte die Zeit, um mit dem fremden Herrn darüber zu diskutieren. Daher drückte ich ihm schnell meine Visitenkarte in die Hand und eilte weiter, konnte aber den ganzen Tag an nichts anderes denken. Was, wenn es dieser Mann ernst meinte? Sollte dem so sein, musste ich abnehmen! Endlich hatte ich einen triftigen Grund dafür, denn wenn Heinz – so hieß er, wie ich später erfuhr – an mir interessiert sein sollte, durften ihm nicht 140 Kilogramm Fett den Weg zu meinem Herzen versperren.

Später, als ich zu Hause auf dem Sofa saß, durchforstete ich all meine alten Frauenzeitschriften nach Diäten, die ich noch nicht getestet hatte. Schließlich entschied ich mich für die Hollywood-Diät. Verwendete Colaflaschen als Hanteln – was durchaus seine Vorteile hat, wenn man während des Trainings durstig wird –, aß tagelang bereits zum Frühstück Steaks und Eier und wog eine Woche später zwei Kilogramm mehr. Also stieg ich auf diese wundersame Kohlsuppen-Diät um und wurde am dritten Tag von meinem Chef darauf hingewiesen, mit diesem Gestank seine Kunden zu vertreiben.

Heinz, mit dem ich mich bereits mehrmals auf ein Glas Wasser und erste wilde Knutschereien getroffen hatte, erzählte ich nichts von meinem Unterfangen. Ihn wollte ich mit meinem immer schlanker werdenden Körper überraschen. Aber ab dem Moment, an dem es zwischen uns ernst wurde, schlugen all meine Diätversuche fehl. Sobald ich Heinz sah, überraschte er mich mit kleinen bunten Cupcakes, mit einem selbst gekochten Abendessen oder einer neuen Sorte Schokolade. Für ihn ging Liebe eben durch den Magen und ich genoss es in vollen Zügen. Anfangs. Dann wurde es beschwerlich. Meine Kleider wurden mir zu eng, meine Waage streikte, ich hatte Probleme, mich zu waschen, und selbst für kurze Fußmärsche reichte meine Energie nicht aus – kurzum: Ich fühlte mich elend. Nicht einmal das Essen machte mehr Spaß und das passierte normalerweise nur dann, wenn ich bereits richtig, richtig, richtig viel gegessen hatte.

»Liebe Frau Cornelia, könnten Sie bitte einen Brief beim Portier der Versicherungsanstalt abgeben? Es ist dringend!«, bellte mein Chef ins Telefon. Wieder einmal fragte ich mich, warum ich nicht einen anderen Beruf erlernt hatte. Irgendeinen, in dem es nicht erlaubt wäre, dass mich ein kahlköpfiger Macho unmotiviert von A nach B hetzen konnte. Doch statt mich zu wehren, würgte ich die aufsteigende Wut mit zwei grünen und einem roten Gummibärchen hinunter und begab mich mit dem Brief auf den Weg. Keine zehn Minuten später betrat ich das Gebäude der Versicherung. Neugierig schlich ich mich in den großen Veranstaltungsraum, da hier bei Konferenzen immer wahnsinnig leckere Buffets ausgerichtet wurden.

Alle Plätze waren besetzt, das Licht war gedämpft und ganz vorn stand eine junge, überschminkte Frau. Mit einem roten Laserstrahl zeigte sie auf eine Herzabbildung, die auf eine weiße Wand projiziert wurde.

»75,2 Prozent der Betroffenen leiden an Bluthochdruck. Bei knapp zehn Prozent kann Übergewicht zu einem Herzinfarkt führen.« Mit dem kleinen Schalter in ihrer Hand klickte sie weiter und ein neues Bild erschien auf der Wand. Fettkügelchen, die Blutgefäße verstopften … Mir wurde nicht nur schwindlig, mir wurde sogar ganz anders zumute. Ich spürte die Angst in meinem Nacken sitzen und der kalte Schweiß rann über meinen Rücken. Hektisch griff ich nach einem freien Stuhl, setzte mich und konnte nicht mehr aufhören, der jungen Ärztin zu lauschen.

Als sie ihren Vortrag beendet hatte, besaß mein Feind einen Namen: Diabetes mellitus. Und seine Bedrohung war so spürbar, dass ich mir einbildete, den Tod an meiner Seite atmen zu hören. Ich musste meine überschüssigen Kilos loswerden. Besser heute als morgen. Nur lautete die Frage: Wie?

Darum wartete ich neben der automatischen Glastür am Ausgang auf die junge Frau in dem weißen Kittel. Mein Atem beschleunigte sich, als ich das Klacken der hohen Absätze auf dem Marmorboden hörte. Dann stand sie vor mir – meine Hoffnung.

»Können Sie mir bitte helfen?«, fragte ich sie zurückhaltend. Irritiert starrte sie mich an. Sie schüttelte sich, als wollte sie meine Frage so schnell wie möglich loswerden. Voller Verzweiflung flehte ich sie an: »Können Sie mir bitte helfen? Ich habe Ihren Diabedings-Vortrag gehört und ich glaube, ich habe ein Problem. Hören Sie, ich will keinen Herzinfarkt bekommen. Ich will noch nicht sterben.« Dicke Tränen kullerten über meine Wangen und ich vergrub mein Gesicht in meinen Händen.

Unendlich lange Sekunden später nickte die Frau Doktor zustimmend und erwiderte: »Gut. Hier haben Sie meine Karte. Vereinbaren Sie einen Termin mit meiner Assistentin. Sagen Sie, es wäre dringend. Wir sehen uns.« Schon war sie verschwunden.

Zurück in meinen eigenen vier Wänden, fühlte ich mich zum ersten Mal in meinem Leben leicht und unbeschwert. Ich saß auf meiner Couch, suchte im Internet nach Informationen über die Folgen von Übergewicht und vereinbarte einen Termin bei dieser netten Ärztin. Eigentlich war sie gar nicht so stark geschminkt gewesen, überlegte ich mir.

Das Einzige, was mich nun doch beunruhigte, war Heinz. Nicht nur einmal hatte er erwähnt, wie sexy er meine Kurven fand und wie hässlich im Gegensatz dazu die Magermodels in Heidi Klums Castingshow doch wirkten. Würde er mich verlassen? Als ich an diesem Abend das Schließen der Wohnungstür hörte, suchte ich nervös nach einem Schokoriegel, der meine Nerven beruhigen konnte. Vor Aufregung fiel er mir jedoch aus der Hand, sobald Heinz das Zimmer betrat.

»Hab ich dich gestört?«, fragte mich mein Freund mit einem belustigten Ton in der Stimme. Noch bevor ich darauf antworten konnte, brach ich in Tränen aus. Unter Schluchzen erzählte ich von meinem Erlebnis. Kaum hatte ich meinen Bericht beendet, sah mich Heinz verstört an.

»Aber Conny, du bist doch wunderschön, so wie du bist. Ich verstehe überhaupt nicht, was du hast.«

»Was ich habe? Was ich habe? Also jetzt verarsch mich mal nicht! Ich bin eine kleine Frau und habe das Gewicht eines Elefantenbabys. Was genau kommt dir daran nicht eigenartig vor? Ich habe solche Angst, Heinz. Mein Rücken schmerzt mir bei jeder Bewegung und vor Kurzatmigkeit schaffe ich es kaum noch, zur Arbeit zu gehen. Ich stinke. Und die Leute lachen mich aus. Glaubst du, es macht Spaß, so auszusehen?« Ich wies auf meinen überdimensionalen Körper. Dann begann ich wieder zu heulen.

»Alles wird gut, mein Schatz. Ich wusste das nicht. Es tut mir leid. Hörst du? Wir schaffen das schon«, redete er beruhigend auf mich ein und strich besorgt über meinen Kopf.

Schon am nächsten Tag brachte mich Heinz zu der sehr dezent geschminkten und freundlichen Ärztin. Nachdem sie mir etwas Blut abgenommen hatte, erklärte sie mir: »Frau Engelsmann, ich rede jetzt nicht lange um den heißen Brei herum – Sie sind nicht krank. Noch nicht. Aber Sie müssen dringend abnehmen, hören Sie?«

»Das will ich ja ständig, aber es klappt nicht!«, jammerte ich.

Die Ärztin überlegte kurz und erzählte mir dann von Menschen, die es durch eine Ernährungsumstellung geschafft hatten, erfolgreich abzunehmen. Es klang ganz einfach: drei Mahlzeiten täglich, keine Softdrinks, keine Süßigkeiten, abends keine Kohlenhydrate, mehr Fisch als Fleisch und so weiter. Das würde ich wohl schaffen. Oder zumindest versuchen.

Die erste Zeit war mehr als hart. Nachts weckte mich mein knurrender Magen und ich hievte mich aus dem Bett, trank ein Glas Wasser nach dem anderen – in der Hoffnung, das Hungergefühl darin zu ertränken. Tagsüber zogen mich Bäckereien magisch an. Nur um mir die Nase am Schaufenster platt drücken zu können, verzichtete ich sogar auf mein Auto.

Nicht nur einmal kaufte ich eine Tafel Schokolade, löste unter Rascheln das Papier, hielt den süßen Schokotraum in meinen Händen und roch daran. Ich war voll auf Entzug. Doch auch wenn ich auf köstliche Süßigkeiten verzichten musste, zog ich mein Vorhaben durch.

Ein Jahr später:

»Heinz? Hast du die Taucherbrille eingepackt?«, rief ich in Richtung Küche, während ich meinen Badeanzug in den Koffer legte.

Heinz und ich flogen nämlich in den Urlaub, denn das gehörte zu den Dingen, die ich neuerdings machen konnte: fliegen. Also nicht persönlich, aber ich konnte mich in einen dieser Sitze setzen, die für Menschen mit »Normalgewicht« entworfen wurden. Einige Monate zuvor hätte allein die Vorstellung daran Panikattacken ausgelöst. Aber diese Zeiten sind nun vorbei.

Durch konsequentes Umstellen meiner Ernährung und den Beitritt in eine Nordic-Walking-Gruppe sind meine Kilos dahingeschmolzen. Und je dünner ich wurde, desto mehr motivierte mich das.

»Ich soll dich daran erinnern, deine Sandalen einzupacken«, ertönte Heinz’ Stimme aus einem anderen Teil der Wohnung. Stimmt, die Sandalen! Als ich mich nach unten beugte, um diese filigranen Schühchen mit den goldenen Spangen aufzuheben, dachte ich daran zurück, dass diese Art von Bewegung bis vor einiger Zeit nicht möglich gewesen wäre. Früher hatte ich meine Schuhe – mit Klettverschluss – auf dem Garderobenschrank abgestellt, damit sie sich auf erreichbarer Höhe befanden. Klettverschluss! Daran will ich mich gar nicht mehr zurückerinnern. Andererseits wäre die Alternative gewesen, gar keine Schuhe zu tragen, und das hätte den Leuten erst recht Grund zum Lästern gegeben.

»Schatz? Bist du fertig? Unser Taxi kommt in fünf Minuten.«

»Augenblick noch«, antwortete ich und stellte mich vor den Spiegel, um noch schnell meine Wimpern zu tuschen. Seit ich abgenommen hatte, wirkten meine Augen viel größer. Überhaupt strahlten sie heller und auch meine Haare schimmerten in einem gesunden Braun. Rasch besprühte ich meine rasierten Achseln mit wohlriechendem Deo, um auf der Reise nicht ins Schwitzen zu geraten. Auch das hatte ich zuvor nicht machen können. Achselhaare wegzurasieren, geht nämlich nicht, wenn Fettpölsterchen das Erreichen des anderen Armes verhindern.

»Schatz?«

»Ich komme schon!«, rief ich, drehte mich noch einmal vor dem Spiegel im Kreis, genoss es, dabei nirgends anzustoßen, griff nach meinem Koffer und atmete tief durch. Jetzt war ich bereit, all das kennenzulernen, was mir mein Gefängnis aus Fett all die Jahre über verwehrt hatte.

3

Nenn mich Mrs Robinson

Heike (38), Hausfrau, Berlin, über die Verwandlung vom Putzlappen zur heißen Braut

Montag: Squash. Dienstag: Pokerabend mit den Kumpels. Mittwoch: Mittwochs-Meeting im Büro. Donnerstag: Fitnessstudio. Freitag: Besuch bei seinen Eltern. So sah sie aus, die unfassbar anstrengende Woche meines Gatten Stefan, die mir als Hausfrau unsagbar aufregend erschien. Aber Stefan freute sich nicht über seine vielfältigen Beschäftigungen – er jammerte darüber. Und das provozierte regelmäßig Streit.

»Sei froh, dass du zu Hause bleiben darfst. Mein Tag war eine Katastrophe«, erklärte er mir eines Abends, als ich ihm das Essen servierte. Den Schweinebraten zuzubereiten hatte mir sämtliche Kraftreserven abverlangt, denn während des Kochens hatte sich meine Tochter Lucy übergeben. Eine halbe Stunde lang flitzte ich zwischen Badezimmer und Küche hin und her, um abwechselnd den Zustand des Kindes und den des Schweins im Ofen im Auge zu behalten. Und obwohl mir mit jedem Schwall an Übelkeit, dessen sich meine Tochter entledigte, der Appetit immer gründlicher verging, beschwerte ich mich nicht. Immerhin feierten wir unseren achtzehnten Hochzeitstag. An den ich immerhin gedacht hatte und weshalb Stefan heute etwas Besonderes und nicht das abgedroschene »Essen steht im Kühlschrank« aufgetischt bekam. Und daher wollte ich heute kein »Sei froh, dass du zu Hause bist«, sondern ein »Danke, Schatz, happy Hochzeitstag« hören.

Mit einem »Na ja, mein Tag war auch nicht so berauschend« versuchte ich fast schon verzweifelt, ein paar Worte der Anerkennung aus meinem Mann herauszukitzeln.

»Da bin ich mir sicher«, lächelte er süffisant, »wahrscheinlich hast du dich, kaum war ich zur Tür raus, wieder ins Bett gelegt. Hier fehlt übrigens Salz.« Er schubste die Kartoffeln von seinem Teller und ich wünschte, ich besäße die Kraft, ihn genau so über die Stufen hinaus in die Freiheit zu befördern. Ich hörte sogar schon das Geräusch, das sein aufschlagender Körper 16 Stufen lang von sich geben würde.

Mit einem lauten Knall platzierte ich den Salzstreuer neben seinem Teller und marschierte aus der Küche, um nach meinem kranken Kind zu sehen. Natürlich hatten früher sehr viel häufiger auch glückliche Momente unser Verhältnis geprägt.

Stefan und ich waren noch keine 20, als sich unsere Wege kreuzten. Zwei Sekunden, nachdem ich ihn zum ersten Mal gesehen hatte, fuhr ich bereits voll auf ihn ab – und zwar im wahrsten Sinne des Wortes, denn Stefan war mein Fahrlehrer. Er beeindruckte mich mit seiner spritzigen Art, mit seinem charmanten Lächeln, mit seinem unheimlich coolen Vokuhila (in den Achtzigerjahren war das so), eine Frisur, die heutzutage mehr unheimlich als cool wirken würde.

Wir verliebten uns ziemlich schnell und ziemlich heftig ineinander und beschlossen etwas überstürzt zu heiraten. Darauf folgten die nächsten logischen Schritte: Kredit, Hausbau, Kinderwunsch, Wunschkind. Und auch wenn wir in den darauffolgenden Jahren immer mehr an Eigentum dazugewannen, die Verbindung zwischen uns ging verloren.

In Momenten der Verzweiflung wandte ich mich an meine Freundin Maria. Kaffee trinkend und Kuchen essend tauschten wir uns in meiner wunderschönen Designerküche über die alltäglichen Begebenheiten des Lebens aus.

»Ich halte ihn nicht mehr aus.« Wie schon seit Jahren begann unser Kaffeeklatsch auch nach dem enttäuschenden Hochzeitstag mit diesen Worten.

»Was ist es diesmal?«

»Nichts Neues. Ich ertrage ihn einfach nicht mehr. Würde die kleine Lucy nicht zwischendurch ›Mama‹ rufen und wieder mit dem Geschrei aufhören, sobald ich den Raum betrete – ich hätte das Gefühl, aus Luft zu sein.«

Marias Nicken interpretierte ich als Aufforderung weiterzusprechen.

»Er fragt nicht, wie es mir geht. Er interessiert sich für gar nichts. Wenn er zu Hause ist, sitzt er so lange vor seinem PC, bis ihm die Augen zufallen, dann geht er schlafen. Das Einzige, was ich von ihm bekomme, ist seine Schmutzwäsche und eventuell Geld für den Lebensmitteleinkauf.«

»Hast du ihm je gesagt, dass du unglücklich bist?« Maria fixierte mich mit ihren großen, dunklen Augen.

Ich schüttelte verlegen den Kopf. »Das nicht, aber zu meiner Verteidigung muss ich sagen, dass er mich auch nie danach fragt! Ich fühle mich nicht wie eine Frau. Ich fühle mich wie ein Putzfetzen mit blondierten Strähnen.« Filmreif trocknete ich mit einer Serviette meine Tränen.

»Okay, Heike, hör zu. Samstagabend lassen wir es ordentlich krachen. Die Kleine gibst du zu deiner Mutter und dann lassen wir die Sau raus.«

Sie musste mich nicht lange dazu überreden.

Als ich das »Kleine Schwarze« aus dem hintersten Winkel meines Kleiderschranks fischte, entdeckte ich dort noch nie getragene Dessous. Verschwommen erinnerte ich mich daran, sie für unseren vierten Hochzeitstag gekauft zu haben. Stefan hatte jedoch überraschend eine geschäftliche Auslandsreise antreten müssen und die heiße Wäsche war unbenutzt im Schrank gelandet und dort vergessen worden. Genau das Richtige für den heutigen Abend.

Der rote Lippenstift bot einen wunderbaren Kontrast zu meiner blassen Haut und meine langen, blonden Haare hatte ich zu einer lockeren Hochsteckfrisur angeordnet. Mit offenem Mund betrachtete ich mein Spiegelbild, und hätte Maria nicht schon vor dem Haus gehupt, hätte ich mir noch Kusshände zugeworfen.

Aufgekratzt wie Teenager betraten wir einen Club. Für einen Moment stockte mir der Atem. Weiße Lichtblitze ließen die Menschen auf der Tanzfläche wie Spastiker wirken und die Go-go-Girls aktivierten bei näherer Betrachtung meine Muttergefühle. Elegant ließen wir uns an der Theke nieder und mir gelang es, das aufkeimende Gefühl, nicht in diese Umgebung zu passen, zu unterdrücken. Zumindest, bis uns der Barkeeper den Cocktail »Dirty Mother« empfahl.

Irgendwann gesellte sich ein junger Mann zu uns. Seine blonden Haare trug er gescheitelt, sein Charme traf mich jedoch ungeteilt und selbst im Dunkeln sah man das helle Blau seiner Augen leuchten. »Darf ich dir einen Drink ausgeben?«, fragte er mich. Ungläubig und verlegen kicherte ich, ließ mich aber von dem Jungen einladen. »Ich bin Heimo, ich studiere Kunst. Und du?«, schrie er mir ins Ohr. Seine Aufmerksamkeit schmeichelte mir. »Heike.« Freundlich reichte ich ihm die Hand. »Ich bin Managerin eines kleinen Familienunternehmens.« Er zeigte sich beeindruckt. Ich freute mich über meine dumme Imitation der Werbung für Haushaltsgeräte und ließ ihn in dem Glauben, ich wäre eine erfolgreiche Geschäftsfrau.

»Wollen wir tanzen?« Zaghaft berührte er mein Knie und blickte mir tief in die Augen. Nach kurzem Zögern willigte ich ein und folgte Heimo auf die Tanzfläche. Behutsam legte er seine Arme um mich und schunkelte mit mir zu einer Melodie, die nur in unseren Köpfen existierte, denn in Wirklichkeit erfüllten die eigenwilligen Klänge von House-Musik den Raum. »Du bist so wunderschön«, brüllte mir Heimo ins Ohr und Gänsehaut breitete sich über meinem Rücken aus. Er zog mich ein wenig fester an sich und plötzlich trafen seine Lippen auf meine. Für eine einzelne Sekunde war ich gewillt, den Jungen von mir zu stoßen, nach Hause zu fahren und weiter meinem langweiligen Leben zu frönen. Aber dann erwiderte ich seinen Kuss. Und konnte mich nicht daran erinnern, jemals zuvor so leidenschaftlich gewesen zu sein. »Ich will dich«, raunte er. Und genau das wollte ich auch. Die Kombination aus Alkohol und in Wallung gebrachten Hormonen lähmte mein Gehirn und ließ nur noch einen Gedanken zu: Ich will Sex mit diesem Kerl. Am besten sofort!

In der Absicht, möglichst unwiderstehlich zu wirken, legte ich meine Hand auf seinen Knackarsch und antwortete: »Dann nimm mich.« Von jener Nacht sind mir nur vereinzelte Erinnerungsfetzen geblieben. Eine kleine, spartanisch eingerichtete Studentenwohnung … ein quietschendes Bett, unter mir … ein sehr lauter Kerl auf mir. Schwitzende Körper, ungezügelte Lust und der Wunsch, der nächste Tag möge niemals über mich hereinbrechen. Doch das wäre wohl zu viel verlangt gewesen.

Als ich erwachte, hatte sich der Blondschopf an meine Schulter gekuschelt und ich spürte den (Muskel-)Kater am ganzen Körper. Was hatte ich nur getan? Wie hatte es so weit kommen können? Die Schuldgefühle lasteten auf mir und verursachten zusätzliche Qualen.

»Guten Morgen, schönste Frau der Welt«, nuschelte der Junge in meinen Oberarm.

»Guten Morgen«, antwortete ich etwas verhalten.

»Hast du Bock auf Kaffee? Ähm … Wie war noch mal dein Name?« Er rieb sich die Augen, rollte sich auf den Bauch und starrte mich über seinen blauen Polster hinweg an.

»Nenn mich einfach Mrs Robinson«, schmunzelte ich und blickte in sein faltenfreies Gesicht. Für einen kurzen Moment war ich froh darüber, nicht in meines schauen zu müssen.

»So nenn ich dich sicher nicht. Heike, oder?«

Ich zwinkerte bestätigend. Wahrscheinlich kannte er nicht einmal den Film, auf den ich mich bezogen hatte.

»Also, Kaffee?« Mittlerweile stand er, lediglich mit knappen Boxershorts bekleidet, vor dem Bett. Seine Muskeln wölbten sich hervor, als er sich streckte, um den Schlaf aus seinen Gliedern zu vertreiben, und ich wünschte mir, einfach hier und bei ihm bleiben zu können. Aber ich musste zurück in mein richtiges Leben.

»Ich kann nicht. Ich muss nach Hause.« Eilig schälte ich mich aus dem Bett und begann, meine Kleider vom Boden zu sammeln.

»Warum? Du kannst gern hierbleiben … Oder wiederkommen?« So, wie er aussah, meinte er es ernst. Und so, wie er mich ansah, wollte ich gar nicht mehr gehen. Aber als Ehefrau und Mutter … Das funktionierte nicht! Ich kannte meine Verpflichtungen und daher verließ ich diesen jungen Kerl, der mir die heißesten Stunden der letzten 15 Jahre beschert hatte, und kehrte ernüchtert nach Hause zurück.

Die Tür fiel mit einem Knall hinter mir ins Schloss. Ich ging ins Badezimmer, wusch die Spuren der Nacht von meinem geräderten, alten Körper. Was soll ich nur machen? Diese Frage stellte ich mir immer wieder. Fortfahren wie bisher? Einfach das Vorgefallene ignorieren? Nein, das konnte ich nicht. Ich hatte Blut geleckt. Jetzt musste ich die Konsequenzen tragen.

Im Jogginganzug und mit einem Handtuchturban auf dem Kopf betrat ich die Küche.

»Mami, Mami!«, jubelte die kleine Lucy und umklammerte mein Bein. Voller Schuldgefühle küsste ich ihre Stirn, dachte daran, dass mein letzter Kuss Heimo gegolten hatte, und spürte Schmetterlinge in meinem Bauch. Er war doch noch so jung …

Stefan blickte von seinem PC auf und nickte mir zu. Kein »Wo warst du so lange?«, kein »Geht es dir gut?«. Ein läppisches Nicken, mehr war ich ihm nicht mehr wert. Auf all das verspürte ich keine Lust mehr. Ich wollte mich wieder als Frau fühlen, oder zumindest als Lebewesen. Müde betrachtete ich Stefans Gesicht und versuchte, den spritzigen Fahrschullehrer von damals zu erkennen, in den ich mich verliebt hatte. Aber alles, was ich entdecken konnte, hatte ich schon tausendmal gesehen und brachte meine Libido auf Suizidgedanken.

Nachdem ich Lucy in ihr Zimmer gebracht hatte, ging ich zu Stefan zurück. Fest entschlossen, meinem ganzen Leiden ein Ende zu setzen.

»Stefan?«, begann ich vorsichtig.

»Hmmm«, brummte er und starrte auf seinen Laptop.

»Ich kann so nicht mehr weitermachen …«

»Was?« Diesmal blickte er auf, strafte mich mit einem bösen Blick.

»Ich kann so nicht mehr weitermachen. Ich bin unglücklich. Das funktioniert so nicht! Du schenkst mir keine Aufmerksamkeit, dir ist doch alles egal …«

»Was zum Teufel willst du denn noch?«, schrie er mich aus heiterem Himmel an. »Ich habe dir ein Haus gebaut, ein Kind geschenkt … Du bist genauso undankbar wie deine Mutter!« Mit rotem Kopf schlug er seinen Laptop zu, fischte eine Jacke von der Garderobe und verließ das Haus. Nachdem Stefan gegangen war, fühlte ich mich schuldig, zweifelte an der Richtigkeit meiner Entscheidung, empfand unsagbare Angst. Ich saß, das Gesicht in den Händen verborgen, am Esstisch und bekam diese leuchtenden Augen nicht aus dem Sinn. Das Signal einer SMS läutete – im wahrsten Sinne des Wortes – eine neue Ära ein. Danke für die wunderschöne Nacht, ich vermisse dich jetzt schon. Kuss Heimo.

Und plötzlich war alles so klar. Und so einfach.

Ich nahm meine kleine Tochter, von der ich inständig hoffte, sie bereits nachts zuvor erwähnt zu haben, und einen Koffer mit den wichtigsten Dingen. Den Jogginganzug tauschte ich gegen ein schlichtes schwarzes Kleid, rief ein Taxi und fuhr zusammen mit Lucy zu Heimos Wohnung. Nach einem kurzen Klopfen öffnete er die Tür … und staunte nicht schlecht.

»Hi«, flüsterte ich, »ich weiß, das kommt jetzt etwas spontan, aber ich habe meinen Mann verlassen. Und da dachte ich …«

Ich musste gar nicht weitersprechen, denn Heimo trat einen Schritt zur Seite und meinte: »Bitte, kommt doch herein.« Und so war es dann auch. Bis heute sind wir nicht mehr weggegangen, denn hier fühlen wir uns wohl. Am Montag wird gemeinsam gekocht. Am Dienstag gehen wir ins Kino. Am Mittwoch wird geputzt, am Donnerstag getanzt und am Freitag treiben Heimo und ich andere Dinge … Aber die ganze Zeit über fühle ich mich wie eine wunderschöne, begehrenswerte Frau.

4

Das Mülleimerkind

Lena (37), Lehrerin, Grambach, über eine Motorradfahrt, die ihr Leben veränderte

Ich bin das dritte von fünf Kindern und demnach laut psychologischer Fachliteratur ein »Sandwichkind«. Das Kind, dem nachgesagt wird, es würde ständig um Aufmerksamkeit kämpfen, wenn nicht sogar darum betteln. Doch falls ich etwas niemals in meinem Leben tun musste, dann war es, Erinnungskärtchen mit meinem Namen darauf zu verteilen. Mit ihrem Kummer kamen sämtliche Familienmitglieder immer zu mir. Das galt für meine älteste Schwester Anna und ihre beruflichen Sorgen. Für meinen großen Bruder Dirk, der mir regelmäßig von der Spitze seines Schuldenbergs aus zuwinkte. Für die kleine Ella und ihre Männergeschichten. Aber auch für Nesthäkchen Thomas und meine Eltern, die seit Jahren ihren Rosenkrieg ausfochten und dafür als Austragungsort – wie sollte es auch anders sein – mein Kinderzimmer wählten.

So kam es, dass ich im Laufe der Zeit vom Sandwichkind zum Mülleimerkind mutierte. War der ganze Mist erst mal bei mir deponiert, konnte sich der Verursacher erleichtert zurückziehen, während ich allein zurückblieb. Den anderen war es egal, ob ich am Gestank des Fremdmülls ersticken würde oder nicht. STOPP! FALSCH! HALT! Es gab natürlich jemanden, dem nicht egal war, was mit mir passierte. Nämlich Niklas.