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Angeklagt – die Männer, die sie vergewaltigten.
Angeklagt – die Männer, die dabeistanden und zusahen.
Angeklagt – die Frau, der man vorwarf, alle provoziert zu haben.
Ein unfassbares Verbrechen geschieht, und niemand soll dafür bestraft werden: Die junge Sarah Tobias, ein Mädchen aus der Arbeiter-Klasse, wird öffentlich von einer Gruppe brutaler Jugendlicher vergewaltigt, aber alle Welt scheint eine Vergewaltigung noch immer für ein Kavaliersdelikt zu halten. Nur die aufstrebende Staatsanwältin Katheryn Murphy bietet Sarah ihre Hilfe an – und Seite an Seite kämpfen diese beiden vollkommen unterschiedlichen Frauen mit allen Mitteln um Gerechtigkeit.
Angeklagt – der bewegende Roman zu dem aufsehenerregenden Film mit Jodie Foster und Kelly McGillis aus dem Jahr 1988 (Regie: Jonathan Kaplan), der bis heute erschreckenderweise nichts von seiner Aktualität und Relevanz verloren hat.
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Veröffentlichungsjahr: 2018
DEBORAH CHIEL
Angeklagt
Apex Crime, Band 12
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
ANGEKLAGT
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
12.
13.
14.
15.
16.
18.
19.
Angeklagt – die Männer, die sie vergewaltigten.
Angeklagt – die Männer, die dabeistanden und zusahen.
Angeklagt – die Frau, der man vorwarf, alle provoziert zu haben.
Ein unfassbares Verbrechen geschieht, und niemand soll dafür bestraft werden: Die junge Sarah Tobias, ein Mädchen aus der Arbeiter-Klasse, wird öffentlich von einer Gruppe brutaler Jugendlicher vergewaltigt, aber alle Welt scheint eine Vergewaltigung noch immer für ein Kavaliersdelikt zu halten. Nur die aufstrebende Staatsanwältin Katheryn Murphy bietet Sarah ihre Hilfe an – und Seite an Seite kämpfen diese beiden vollkommen unterschiedlichen Frauen mit allen Mitteln um Gerechtigkeit.
Angeklagt – der bewegende Roman zu dem aufsehenerregenden Film mit Jodie Foster und Kelly McGillis aus dem Jahr 1988 (Regie: Jonathan Kaplan), der bis heute erschreckenderweise nichts von seiner Aktualität und Relevanz verloren hat.
Das The Mill war eine einfache, leicht heruntergekommene Bar wie viele andere in der Arbeiterwohngegend von Portland. Sie war vielleicht noch etwas schäbiger als die meisten übrigen. Das gedrungene, einstöckige Gebäude erweckte den Eindruck, als könne es jeden Tag mit einem tiefen Seufzer in den Boden versinken. Das flackernde blaue Neonlicht, das The Mill als Lokal auswies, leuchtete so schwach, dass man es von der Straße kaum sah.
Aber weder das verfallene Äußere noch das verräucherte Innere hielt die Stammgäste davon ab, jeden Tag nach der Arbeit auf ein paar Bier hereinzukommen und sich mit ihren Kumpels zu treffen. Es war eine der Kneipen, in denen die Männer immer in der Überzahl sind und wo das Saufen nur mal unterbrochen wird, um nach einer Handvoll Erdnüssen zu greifen.
An diesem tristen Samstagabend im April war es nicht anders. Seit Freitagmorgen hatte es ununterbrochen genieselt, so dass die Nässe inzwischen durch Regenmäntel und Gummistiefel kroch und sich überall Pfützen bildeten.
Aber das kalte, klamme Wetter hatte sich noch nicht auf die allgemeine Stimmung geschlagen, und der von Unrat übersäte Parkplatz vor dem The Mill war fast vollständig besetzt mit typischen amerikanischen Autos und verbeulten Kombis und Lieferwagen. Das dumpfe Dröhnen des vorbeirauschenden Verkehrs auf dem nahen Highway wurde von dem lauten Gelächter und den Klängen der Musikbox übertönt, die jedes Mal über den Parkplatz schallten, wenn sich die Eingangstür öffnete.
Auch jetzt schwang die Tür auf, und ein plötzliches, scharfes Geräusch zerriss die Stille der Nacht. Eine schlanke junge Frau war als Silhouette in der Tür zu sehen. Die Frau rang keuchend nach Luft. Tränen rannen über ihre Wangen, und das blonde Haar fiel ihr in Strähnen bis auf die Schultern. Sie zitterte, während sie verzweifelt an ihrem pinkfarbenen Sweatshirt zerrte, das sie so langziehen wollte, wie es ging. Unterhalb der Hüfte war sie nackt.
Die junge Frau wimmerte, als ob sie Schmerzen hätte, und machte einen unsicheren Schritt auf den Parkplatz zu. Dann drehte sie den Kopf und sah mit irren Augen zurück zur Tür.
»Nein!«, schrie sie mit schriller Stimme. »Nein! Nein!«
Dann lief sie wie ein verwundetes Tier geduckt quer über den Parkplatz, voller Angst vor möglichen Verfolgern. Sie trat in Pfützen, und das kalte Wasser spritzte an ihren nackten Beinen hoch, aber sie schien davon nichts zu merken und rannte blindlings auf den Highway zu.
Philip Joyce blinzelte ängstlich durch die regennasse Glasscheibe der Telefonzelle, die etwa dreißig Meter von dem Parkplatz entfernt stand. Er war ein athletisch gebauter junger Mann und so außer Atem, als hätte er gerade versucht, den Rekord im 100-Meter-Lauf zu brechen.
Trotz der kühlen, feuchten Luft schwitzte Philip stark in seiner leichten Windjacke, während er ungeduldig darauf wartete, dass er eine Verbindung bekam. Ein paar
Sekunden später hörte er das Klingelzeichen am anderen Ende der Leitung.
»Birchfield County Sheriff, Notdienst«, meldete sich eine weibliche Stimme.
»Ja... hallo. Ich möchte eine... ich meine, hier ist ein Mädchen in Schwierigkeiten«, stammelte Philip in den Hörer.
Die Frau am anderen Ende drückte routinemäßig auf den Startknopf eines Tonbandgeräts.
»Sir«, sagte sie knapp, »darf ich Ihren Namen notieren, bitte?«
Philip schüttelte den Kopf und zog eine Grimasse. »Hören Sie«, rief er eindringlich, »das Mädchen ist in verdammt großen Schwierigkeiten. The Mill. Das ist die Bar an der Mill Road.«
»Hören Sie, es tut mir leid«, sagte die Frau ruhig. »Ich brauche Ihren Namen und...«
Philip blinzelte wieder durch die Scheibe. Die Straßenlampe oberhalb der Telefonzelle warf ein trübes Licht in die unmittelbare Umgebung, so dass man ihn vielleicht sehen konnte, während er in die regennasse dunkle Nacht starrte. Nirgendwo bewegte sich etwas.
Eine Hupe dröhnte.
Philip fuhr herum und sah, wie das Mädchen über die gelbe Mittellinie des Highways torkelte.
Noch mehr Hupen. Bremsen quietschten. Fahrer, die nur im letzten Augenblick dem Mädchen ausweichen konnten, indem sie das Steuer herumrissen, fluchten laut.
Philips Hand, die den Telefonhörer hielt, verkrampfte sich. »Sie ist verletzt. Sie sind über sie hergefallen, verstehen Sie? Okay, eine Vergewaltigung. Es sind drei oder vier... Ich weiß es nicht so genau... jedenfalls ist es eine ganze Meute...«
»Sir, wenn Sie bitte...«
Philip knallte den Hörer auf die Gabel und rannte aus der Zelle und auf die Straße, dem Mädchen hinterher. War sie verrückt? Sie würde mit Sicherheit überfahren werden, wenn sie nicht sofort vom Highway herunterkam.
Aber die junge Frau schien nichts von der Gefahr zu bemerken, angestrahlt von den entgegenkommenden Autos und Lastwagen.
Philip hatte etwa die Hälfte der Strecke hinter sich gebracht, als die Geräusche von quietschenden Bremsen und kreischenden, radierenden Reifen wie Vorboten einer Katastrophe in seinen Ohren dröhnten. Ein Lieferwagen kam gerade eine Handbreit vor dem Mädchen zum Stehen.
Die stellvertretende Bezirksstaatsanwältin Katheryn Murphy verhielt sich bei der Liebe genau wie vor Gericht - leidenschaftlich, aber kontrolliert und mit einem Auge immer sorgfältig darauf achtend, welche Wirkung sie erzielte.
Mit ihren achtundzwanzig Jahren war Katheryn mehr als nur schön; sie war eine große, auffällige Erscheinung mit langen Beinen, honigblonden Haaren und blauen Augen. Ihr gegenwärtiger Liebhaber David war ebenfalls Anwalt.
An diesem Samstagabend lagen sie eng umschlungen in Katheryns Bett, als sie durch das Klingeln des Telefons aufgeschreckt wurden.
Katheryn atmete einmal tief durch und nahm widerwillig den Hörer auf. »Ja?«
»Hallo, Katheryn. Ich bin's, Dune.«
Ed Duncan war ein verlässlicher, hart arbeitender Detektiv, der seine fehlende Phantasie durch Sturheit und Beharrlichkeit wettmachte. Er war bei mehr Fällen, als sie zählen konnte, ihr Kontaktmann zur Polizei gewesen.
Aber Katheryn hatte heute Nacht keinen Bereitschaftsdienst, und deshalb war sie wütend über die Unterbrechung. Sie schaute zum Radiowecker auf dem Nachttisch und sah, dass es fast ein Uhr war.
»Ich bin heute Nacht nicht dran, Dune«, sagte sie barsch und gab David ein Zeichen, dass sie in einer Minute wieder für ihn da sein würde.
Mit bedauerndem Tonfall erklärte Dune: »Doch, Sie sind dran. Vivian ist krank. Ich warte auf Sie in der Halle, und es wäre schön, wenn Sie so schnell wie möglich kommen könnten. Und bringen Sie eine Kleiderausstattung mit.«
Es hatte keinen Sinn, etwas dagegen einzuwenden. Außerdem mochte sie Dune. »Okay«, sagte sie seufzend. »Ich komme.«
Sie drehte sich zu David um, hob wortlos die Schultern und machte sich nicht die Mühe, ihm irgendetwas zu erklären. Sie wusste, dass er Verständnis hatte. Vor Jahren hatte auch er im Büro des Staatsanwalts gearbeitet.
David schob ihr zärtlich die blonden Locken, die ihr in die Stirn gefallen waren, zur Seite und küsste sie flüchtig auf den Mund. »Arbeit?«
Katheryn lächelte entschuldigend. Dann sprang sie aus dem Bett und bückte sich, um ihre Unterwäsche einzusammeln.
»Arbeit«, bestätigte sie.
So ein Pech.
»Dreh dich mal so rum, Kleines. Ja, so ist's gut. Heb das Kinn ein bisschen an. Gut so. Und jetzt noch die andere Seite...«
Die Krankenpflegerin hasste diesen Teil ihrer Arbeit. Aber es war Vorschrift, Polaroid-Aufnahmen von den Mädchen zu machen. Einige von ihnen sahen wirklich mitleiderregend aus, wie auch dieses arme kleine Ding mit den hässlichen blauen und roten Flecken im Gesicht. Die Pflegerin wusste, dass die Bilder als Beweismittel vor Gericht gebraucht wurden, aber trotzdem, sie hatte immer das Gefühl, besonders herzlos und grausam zu sein, wenn sie von den Mädchen verlangte, sich so zu drehen und dann anders herum, als ob sie für ein Gruselalbum posierten.
Dieses Mädchen schien kaum bei der Sache zu sein. Sie saß still auf dem Untersuchungstisch und machte den Eindruck, als würde sie in dem übergroßen Krankenhaushemd fast ertrinken. Die Pflegerin lächelte dem Mädchen ermutigend zu - Sarah hieß die Kleine, das wusste sie - und wandte sich dann mit fragenden Blicken zu der Krankenschwester, ob sonst noch etwas erforderlich wäre.
Manchmal, das hing davon ab, was während der Untersuchung entdeckt worden war, baten die Schwestern noch um einige zusätzliche Fotos. Aber das schien diesmal nicht nötig zu sein, jedenfalls nicht im Moment.
Der Ablauf dieser Routineuntersuchung war genau vorgeschrieben. Ziel war es, die Mädchen zu beruhigen, es leichter für sie zu machen und niemals den Eindruck zu erwecken, als wären sie die Übeltäter.
Aber es war schwer. Die meisten Mädchen konnten nicht aufhören zu weinen. Einige waren wie betäubt, wie auch diese Sarah, die einfach still dasaß und vor sich hinstarrte, während Deborah, die Krankenschwester, ihre Liste von Fragen durchging.
»Welche Art von Schwangerschaftsverhütung wendest du normalerweise an?«, fragte Deborah.
»Spirale.« Ihre Stimme klang völlig tonlos.
»Wann hattest du deine letzte Periode?«
»Am zweiten April. Mit schlimmen Krämpfen.«
»Wie lange dauert dein Zyklus?«
»Sechsundzwanzig, siebenundzwanzig Tage.«
Sarahs Kopf schmerzte, als hätte sie einen Schlag mit dem Hammer bekommen. Sie wünschte, die Schwester würde sich etwas mehr beeilen, damit sie sich endlich duschen und hier verschwinden könnte.
»Untersuchen Sie mich nicht?«, fragte sie leise.
»Ich brauche zuerst noch einige Informationen«, erklärte Deborah. »Vor diesem Geschehen heute Abend - wann hattest du den letzten Verkehr?«
»Schon einige Zeit her.«
»Kannst du das ein bisschen genauer sagen?«
»Vor ein paar Tagen... vor einer Woche, glaube ich.«
»Bist du sicher?«
»Ja.«
»Hast du schon mal eine Geschlechtskrankheit gehabt?«, wollte Deborah wissen.
Sarah schüttelte den Kopf und verschränkte die Arme fest vor ihrer Brust, als wollte sie sich so gegen die intimen Fragen schützen.
Eine elegant gekleidete Frau steckte den Kopf durch die Tür, nickte Deborah zu und trat dann ein.
»Wie geht es dir, Sarah?«, fragte sie und berührte flüchtig Sarahs Arm. »Ich bin Carol Honeycutt von der Selbsthilfegruppe für vergewaltigte Frauen. Gibt es jemanden, den ich anrufen kann? Soll ich jemandem Bescheid sagen?«
Sarah starrte auf die grau-schwarzen Kacheln auf dem Boden des Untersuchungszimmers. Sie schüttelte den Kopf.
Carol Honeycutt sah das Mädchen noch einen Moment lang mitleidig an, dann betrachtete sie die Polaroid- Fotos, lange und nacheinander. Anschließend wandte sie sich wieder an Sarah. »Ich bin da, um dir zu helfen. Lass mich wissen, wenn ich irgendwas für dich tun kann, ja?«
Sarah blickte finster vor sich hin. Es gab nichts, was Carol Honeycutt oder irgendeiner sonst für sie tun konnte. Sie wollte raus hier, sonst nichts. Sie wollte sich ins Badezimmer einschließen und sich ganz lange in ein heißes Bad legen, sich richtig einweichen. Und dann wollte sie sich volllaufen lassen, damit sie das aus dem Gedächtnis löschen konnte, was diese Schweine mit ihr gemacht hatten.
Im The Mill war es jetzt ruhiger als am frühen Abend. Der Fernseher war leise gestellt, und aus der Musikbox klang ein melodischer Westernsong über eine verlorene Liebe. Die meisten Gäste hatten ihren letzten Drink besteht oder bezahlten gerade die Zeche, oder sie waren dabei zu gehen. Nur einige wenige Nachtschwärmer blieben noch - Danny Maquette und Kurt Wolpe schliefen schon fast an der Theke, und Arthur Polito ging dem Wirt mit todsicheren Tips, wie man zu viel Geld kommen konnte, auf die Nerven.
Jesse hatte das alles schon einige dutzendmal gehört. Arthur Polito war ein netter Kerl, und Jesse wusste, dass geduldiges Zuhören zu seinem Job gehörte, also konnte er nicht klagen. Er schenkte Arthur noch einen Scotch ein und überprüfte mit einem kundigen Blick, ob die anderen noch versorgt waren. Dann griff er unter die Theke nach einem feuchten Tuch.
Er sehnte sich nach dem Feierabend. Es war eine lange Nacht gewesen, die ihren Höhepunkt hatte, als die Jungs im Hinterzimmer ein bisschen verrückt geworden waren und sich ihren Spaß geholt hatten. Er hätte gut ohne diesen Zwischenfall auskommen können, fürs Geschäft war dabei nichts rausgesprungen.
Die Tür ging auf, und der Cop, der in dieser Gegend Streife lief, kam herein. Er schüttelte seine Mütze aus und sprühte dabei einen dünnen Wasserfilm durch die Bar. Breitbeinig trat er an die Theke.
»Einen für unterwegs?«, fragte Jesse.
Der Cop schüttelte den Kopf. »Hat's heute Abend bei dir Ärger gegeben?«, wollte er wissen.
Jesse wischte mit dem feuchten Tuch einen Eiswürfel auf, der gerade auf der Theke zerschmolz. »Nicht mehr als üblich«, sagte Jesse mit einem Achselzucken. »Du weißt ja, wie's an einem Samstagabend zugeht.«
»Wir haben einen Anruf wegen einer Vergewaltigung bekommen«, erklärte Joe, der Cop. Er drehte sich um und betrachtete die einzelnen Gestalten.
»Vergewaltigung? Du willst mich wohl auf den Arm nehmen, was?«, meinte Jesse und grinste schwach. »Diese Jungs hier kriegen doch gar keinen mehr hoch. Die haben alle einen zu viel gehoben.« Er lehnte sich über die Theke und flüsterte Joe zu: »Da waren ein paar Jungs vom College hier, so'n paar richtige Partygänger, wenn du verstehst, was ich meine.« Dabei zwinkerte er verschwörerisch.
Der Cop nickte und zwinkerte zurück. College-Typen also, verwöhnte reiche Bälger, die sich volllaufen ließen, obwohl sie nichts vertragen konnten. Warum trieben die sich überhaupt in dieser Gegend herum? Sie gehörten nicht hierhin.
»Alles klar«, sagte er und nickte wieder. »Danke, Jesse.«
Jesse grinste. »Ist schon okay, Mann.«
»Versuch, dich zu entspannen.« Deborah redete beruhigend auf Sarah ein.
Das Mädchen krallte die Finger zu Fäusten zusammen, als das kalte Metall des Spekulums in sie hineinglitt. Sie lag flach auf dem Rücken, die Beine in den erhöhten Auflageflächen zu beiden Seiten des Untersuchungstischs. Sie schloss die Augen und versuchte, an den Sommer am See zu denken, sich vorzustellen, dass sie in der Sonne lag und sich bräunen ließ.
»Du verkrampfst dich«, sagte Deborah.
Sie zuckte zusammen, als Deborah das erste Spekulum herauszog und ein zweites einschob. »Entspannen... ganz entspannen... okay.«
»Der Abstrich kostet nichts«, erklärte Deborah und lächelte Sarah an.
Obwohl sie sich Mühe gab, schaffte Sarah es nicht, das Lächeln zu erwidern.
»Und jetzt«, sagte Deborah, eine Spritze in der rechten Hand, »nur noch ein bisschen Blut.«
Sarah zuckte erneut zusammen, gab aber keinen Laut von sich. Sie war ja so müde...
Deborah griff nach einem Kamm, bei dem die Zähne ungewöhnlich dicht standen.
Carol Honeycutt erklärte: »Sie sucht nach Haaren. Nicht von dir, sondern von den Typen. Vielleicht ist eins hängen geblieben. Das kann später als Beweismittel dienen.«
»Gut«, sagte Deborah nach einer Weile. »Du kannst dich jetzt aufsetzen. Wir sind fast fertig. Streck mal deine Hände vor, nur für einen Augenblick.«
Sie griff nach einem orangefarbenen Plastikstocher. »Ich versuche, Gewebeteile ihrer Haut zu finden«, erklärte sie, während sie behutsam mit dem spitzen Stift unter Sarahs Fingernägel fuhr.
Sarah starrte auf die Schwellungen und Flecken an ihren Armen und Schenkeln. Sie konnte sich denken, dass ihr Gesicht nicht viel anders aussah. Ihre Lippen fühlten sich rissig und geschwollen an, und auf ihrer Stirn musste sie eine Beule oder eine Schürfwunde haben, denn es brannte entsetzlich. Gott, welches Bild musste sie abgeben!
Sie wollte die Krankenschwester gerade um einen Spiegel bitten, als es an der Tür klopfte. Am liebsten hätte sie gesagt: Schickt alle wieder nach Hause, mir ist nicht nach Besuchern zumute.
Aber Carol war schon an der Tür. Sie öffnete, und Sarah hörte sie sagen: »Hallo, kommen Sie doch herein.« Als ob das eine Cocktailparty wäre oder so etwas. Jetzt stellte Carol ihr die neue Frau vor: »Sarah, das ist Katheryn Murphy. Sie ist die stellvertretende Bezirksstaatsanwältin und übernimmt deinen Fall.«
»Hallo, Sarah«, grüßte Katheryn. Sie setzte die Einkaufstüte ab, in der sie Unterwäsche und ein Kleid für Sarah mitgebracht hatte.
»Hi«, erwiderte Sarah den Gruß und wünschte heimlich, sie würden sich alle in Luft auflösen.
»Bist du allergisch gegen Penicillin?«, fragte Deborah.
»Das bekommst du für den Fall, dass einer von ihnen was gehabt hat«, erklärte Carol schnell.
Sarah schüttelte den Kopf und drehte sich auf den Bauch, damit Deborah ihr die Spritze setzen konnte.
Ihr Blick fiel auf Katheryn Murphy. Die stellvertretende Staatsanwältin musterte Sarah intensiv, als überlegte sie, wo sie das Mädchen schon einmal gesehen hätte. Für Sarah war klar, dass sie sich noch nie vorher über den Weg gelaufen waren, aber Katheryn überlegte noch. Diese Sarah schien nicht viel jünger zu sein als sie selbst, und in der High School hatte Katheryn viele Mädchen wie Sarah gekannt. Mädchen, die nicht die Kraft oder die Willensstärke hatten, aus ihrer armseligen Welt auszubrechen. Das waren die geborenen Opfer. Ihr ganzes Leben lang fielen sie von einer Katastrophe in die andere, und dann waren es verantwortungsbewusstere Menschen, zu denen sich auch Katheryn zählte, die sie da herausholen mussten.
Privat hatte Katheryn nichts als Verachtung für diese schwachen Mädchen übrig. Aber beruflich konnte sie sich eine solche Einstellung nicht erlauben, da musste sie sich hundertprozentig neutral verhalten, damit sie sich vor Gericht für die Interessen auch dieser Typen einsetzen konnte.
Katheryn verließ sich oft auf ihren ersten Eindruck, und ihr Gefühl sagte ihr, ganz egal, welche Geschichte Sarah erzählen würde, später würde sich heraussteilen, dass alles ganz anders gewesen war. Vermutlich hatte die Kleine genau das bekommen, was sie verdient hatte.
Sie sah, wie Sarah vor Schmerzen die Zähne zusammenbiss, als Deborah mit der Injektionsnadel zustach.
Als das Penicillin gespritzt war, sagte Deborah: »So, jetzt hast du es hinter dir. Du kannst dich jetzt duschen. Und mach auch eine Spülung.«
Carol half ihr vom Untersuchungstisch herunter. »Die Toilette liegt am Ende des Flurs«, erklärte sie. »Die Dusche ist gleich, wenn du reinkommst, links.«
Sarah nickte und humpelte auf die Tür zu. Dann fiel ihr plötzlich ein, dass sie außer dem Sweatshirt, das völlig durchnässt war, nichts anzuziehen hatte.
Katheryn schien ihre Gedanken gelesen zu haben. »Ich hoffe, Sie haben nichts gegen Grau«, meinte sie scherzhaft und reichte Sarah die Einkaufstüte.
Solange die Kleider sauber und trocken waren, war die Farbe das Letzte, was Sarah im Moment interessierte. Als sie schon in der Tür stand, fiel ihr plötzlich noch etwas ein. »Haben Sie vielleicht etwas, womit ich mir den Mund spülen könnte?«, fragte sie leise und verschämt.
Deborah reichte ihr eine Flasche, und dann war Sarah aus dem Zimmer.
Jetzt, da das Mädchen versorgt war, widmeten sich die drei Frauen dem Papierkram. Während Deborah und Carol ihre Berichte schrieben, las sich Katheryn Murphy das durch, was bisher über Sarahs Fall festgehalten worden war. Zwischendurch machte sie sich immer wieder Notizen.
Eine Eintragung überraschte sie nicht: »Hoher Alkoholgehalt«, murmelte sie halblaut.
Ohne aufzusehen, bestätigte Carol: »Sie war betrunken.«
»Rauschgift auch noch«, fuhr Katheryn fort. Hat sie außer Hasch noch was genommen?«
Etwas in Katheryns Stimme gefiel Carol nicht. Entschieden sagte sie: »Was spielt das für eine Rolle? Sie ist von drei Männern vergewaltigt worden.«
»Carol«, sagte Katheryn kühl, »ich gehöre nicht zu eurer Frauengruppe. Ich fungiere hier als Ankläger und muss zusehen, dass ich vor Gericht einen anständigen Fall präsentieren kann.«
Carols und Katheryns Blicke trafen sich und sie musterten sich einen Moment lang gegenseitig. »Dann klagen Sie mal schön an«, sagte Carol schließlich, und sie hätte gern hinzugefügt: Und achten Sie darauf, dass es die Männer sind, die angeklagt werden, und nicht das Opfer.
Katheryn gab das Klemmbrett mit den Untersuchungsergebnissen an Deborah zurück. »Sagen Sie ihr, dass ich im Büro des Verwalters auf sie warte.«
Sie verließ das Zimmer, ohne zum Abschied etwas zu sagen.
»Die Musik brach plötzlich ab«, erzählte Sarah. »Ich hörte jemanden schreien, und das war ich. Hört sich komisch an, was?«
Katheryn schwieg, und Sarah summte eine Melodie. »Das war die Platte, die gerade lief«, sagte sie.
Draußen auf dem Flur blieb Dune einen Augenblick vor der Tür stehen, bevor er zu Sarah und Katheryn in das spärlich eingerichtete Zimmer trat. Katheryn schaute zu ihm hoch und lächelte.
»Sarah, das ist Detective Duncan.«
Dune streckte eine Hand aus, und zögernd griff Sarah sie. Sie sagte nichts, und Dune wiederholte seinen Namen. Er gab Katheryn zu verstehen, dass sie mit ihren Fragen fortfahren sollte. Er wollte zuhören. Katheryn hatte eine Art, Menschen auszufragen, von der man lernen konnte. Sie fragte auch nach Einzelheiten, auf die andere nicht so leicht kommen würden. Außerdem, glaubte Dune, wäre es dem Mädchen bestimmt lieber, weiter mit einer Frau zu reden als mit einem Polizisten.
»Würden Sie die Männer wiedererkennen?«, fragte Katheryn.
Sarah brauchte nicht lange darüber nachzudenken. Sie nickte. Das war so sicher wie das Amen in der Kirche, dass sie die Bastarde wiedererkennen würde.
Katheryn schaute auf die Uhr. »Das The Mill hat noch auf«, stellte sie fest. »Ich schlage vor, dass wir zusammen hingehen und sehen, ob sie vielleicht noch da sind.«