Angst - Stefan Zweig - E-Book

Angst E-Book

Zweig Stefan

4,5

Beschreibung

Irene Wagner, verheiratet und Mutter zweier Kinder, lebt vordergründig ein Leben, das den Anforderungen bürgerlicher Moralvorstellung vollauf genügt. Im Widerspruch zu diesem Leben steht ihr Verhältnis mit einem Musiker. Sorgsam um Geheimhaltung bemüht, wird sie bei einem Treffen mit ihrem Liebhaber von einer vermeintlichen Nebenbuhlerin gestellt und erpresst. Als auch ihr Ehemann Verdacht zu schöpfen scheint, entsteht aus dem Konflikt zwischen individueller Leidenschaft und gesellschaftlicher Norm ein Sog, der Irene, getrieben von Angst und Schuld, schließlich zum Äußersten treibt ? Die Novelle des österreichischen Schriftstellers Stefan Zweig entstand 1910 in Wien. Sie exemplifiziert am Charakter der Irene die Freud?schen Theorien zur Psychoanalyse. Der Text wurde behutsam an die neue Rechtschreibung angepasst und durch ein Nachwort sowie umfangreiche Wortanmerkungen ergänzt.

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ISBN 978-3-87291-601-3 Ungekürzter Text Vollständige E-Book-Version des Hamburger Leseheftes Nr. 235 (ISBN 978-3-87291-234-3) Heftbearbeitung: Stefan Rogal Umschlagzeichnung: Isa Dietrich © 2013 by Hamburger Lesehefte Verlag, Husum/Nordsee Gesamtherstellung: Husum Druck- und Verlagsgesellschaft

Als Frau Irene die Treppe von der Wohnung ihres Geliebten hinabstieg, packte sie mit einem Male wieder jene sinnlose Angst. Ein schwarzer Kreisel surrte plötzlich vor ihren Augen, die Knie froren zu entsetzlicher Starre, und hastig musste sie sich am Geländer festhalten, um nicht jählings nach vorne zu fallen. Es war nicht das erste Mal, dass sie den gefahrvollen Besuch wagte, dieser jähe Schauer ihr keineswegs fremd, immer unterlag sie trotz aller innerlichen Gegenwehr bei jeder Heimkehr solchen grundlosen Anfällen unsinniger und lächerlicher Angst. Der Weg zum Rendezvous war unbedenklich leichter. Da ließ sie den Wagen an der Straßenecke halten, lief hastig und ohne aufzuschauen die wenigen Schritte bis zum Haustor und dann die Stufen eilend empor, wusste sie doch, er warte schon innen auf sie hinter der rasch geöffneten Tür, und diese erste Angst, in der doch auch Ungeduld brannte, zerfloss heiß in einer grüßenden Umarmung. Aber dann, wenn sie heimwollte, stieg es fröstelnd auf, dies andere geheimnisvolle Grauen, nun wirr gemengt mit dem Schauer der Schuld und jenem törichten Wahn, jeder fremde Blick auf der Straße vermöchte ihr abzulesen, woher sie käme, und mit frechem Lächeln ihre Verwirrung erwidern. Noch die letzten Minuten in seiner Nähe waren schon vergiftet von der steigenden Unruhe dieses Vorgefühls; im Fortwollen zitterten ihre Hände vor nervöser Eile, zerstreut fing sie seine Worte auf und wehrte hastig den Nachzüglern seiner Leidenschaft; fort, nur fort wollte dann immer schon alles in ihr, aus seiner Wohnung, seinem Haus, aus dem Abenteuer in ihre ruhige bürgerliche Welt zurück. Kaum wagte sie in den Spiegel zu schauen, aus Furcht vor dem Misstrauen im eigenen Blick, und doch war es nötig zu prüfen, ob nichts an ihrer Kleidung die Leidenschaft der Stunde durch Verwirrung verriete. Dann kamen noch jene letzten, vergeblich beruhigenden Worte, die sie vor Aufregung kaum hörte, und jene horchende Sekunde hinter der bergenden Tür, ob niemand die Treppe hinauf- und hinabginge. Draußen aber stand schon die Angst, ungeduldig sie anzufassen, und hemmte ihr so herrisch den Herzschlag, dass sie immer schon atemlos die wenigen Stufen niederstieg, bis sie die nervös zusammengeraffte Kraft versagen fühlte.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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