Anhalt Gothic Novel - Till C. Waldauer - E-Book

Anhalt Gothic Novel E-Book

Till C. Waldauer

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Beschreibung

Nach Jahrzehnten politischer Wirren ist Europa zerfallen. Die Wirtschaft liegt am Boden, die Demografie hat sich verändert. Der Freistaat Anhalt ist Teil einer Konföderation, die unter dem Schutz der Amerikaner steht. Der Sheriff des Salzland Countys bittet das CIC-Field Office von Joseph Benton III. in einer heiklen Sache um Hilfe. Mehrere Schülerinnen sind dort verschwunden, und ein Überläufer vermutet den totalitären Nachbarstaat dahinter. Unterdessen heizen radikale Politiker und unseriöse Medien die Konflikte zwischen den Volksgruppen an. Bibliothekar Knut Thomas, Neuzugang Erich Bruckner und die junge Witwe Kyra Kovac aus der Roma-Community bilden den harten Kern von Bentons Team - und sie sind bald davon überzeugt, einem grauenvollen Geheimnis auf der Spur zu sein. Unheimliche Ereignisse, die ihnen widerfahren, bestärken sie in ihrer Einschätzung. Als die Leiche eines jungen Rucksacktouristen in einem ausgebrannten Wohnwagen gefunden wird, gerät ihre Ahnung zur Gewissheit.

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Seitenzahl: 299

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Inhaltsverzeichnis

MIDTERMS

FIELD OFFICE

DIE HEIMFAHRT

DIE VERSCHOLLENEN

KYRA

BLEIHALTIG

FEUER

DER URBEXER

WOLDEMAR AUS DESSAU

DER WURSTKÖNIG

ENDE EINER FLUCHT

ENDGAME

EPILOG

MIDTERMS.

Es war kurz nach 23 Uhr, als sich Erich aus seinem Rückzugsort an der Adria über Inter-Talk meldete, wo er, erstmals im gemeinsamen Urlaub mit Serpentina Wagner, den Abend der Midterms verbracht hatte. Für das letzte Septemberwochenende, an dem diese regelmäßig stattfanden, war es in den meisten Ländern der Mitropa-Konföderation noch angenehm warm. Es war sein erster Urlaub, seit der County die bittere Gewissheit über alles erlangt hatte, was geschehen war, und es war offenkundig, dass beide diese Tage dringend nötig hatten.

„Wir sitzen noch bei einer Virgin Colada und hören das letzte Grillenzirpen des Jahres, in drei Tagen macht hier alles dicht“, verriet er mir und ließ die Livecam seines Tablets über das Poolareal ihres Hotel in Bibione Spiaggia wandern. Man erkennt Lichter, Tische, eine Handvoll anderer Urlauber auf der Veranda. Eine Alleinunterhalterin, wie sie einmal pro Woche in den Hotels der Ferienorte für die Gäste an der Bar aufspielen, singt eine recht passable Version von „Summertime Sadness“. Zuvor hatte sie bereits auf Wunsch „Gentle On My Mind“ gespielt, erläuterte Serpentina. Schön, die beiden wieder in entspanntem Zustand zu sehen. „Ich hab nur kurz reingesehen, wie alles ausgegangen ist“, meinte Erich, als ich ihn auf die Wahlen ansprach. „Ich denke, das ist gut gelaufen für unseren County. Aber zum Feiern ist mir nicht zumute. Sobald man sagt, woher man kommt, wird man auch hier auf alles angesprochen. Das wird noch lange unser Image prägen.“

„Kann’s dir nicht verdenken, Dude“, antwortete ich. „Ich war auch nicht lange im Rathaus. In Partystimmung war dort keiner. Die meisten waren schon vor einer Stunde weg. Ein paar Frauen aus der Noachidischen Runde hatten Kuchen gebacken, die wurden dankbar angenommen. Aber sonst sehr gedämpft, das Ganze. Huber solltest du dir aber noch reinziehen, seine Rede ist schon online. Du weißt, dass ich ihn nie besonders leiden konnte, aber heute hatte er meinen Respekt.“

„Mach ich morgen vielleicht mal, kommt ja sicher auch im News-Überblick.“

„Recht so, macht euch erst noch mal einen schönen Abend. Wir sehen uns, wenn ihr wieder zurück seid. Liebe Grüße auch von Kyra und Knut.“

„Danke, ihnen auch gleich zurück.“

Große Sensationen hatte der Abend nirgendwo gebracht, aber dass die Stadt und der gesamte Salzland-County so stabil bleiben würden, damit hatte man auch nicht gerechnet. Im Vorfeld hätte ohnehin keiner sagen können, wie die Leute auf eine so unfassbare Entdeckung wenige Wochen vor den Wahlen reagieren würden, deshalb hatten auch die Demoskopen kapituliert.

Der Salzland County reagierte außerordentlich nüchtern: Dr. Rantebihl wurde mit vier Fünftel der Stimmen als Sheriff bestätigt, wobei er in Bernburg sogar noch deutlich über dem Gesamtergebnis lag. Elka Jabłońska blieb in ungefährdeter Weise State Representative, Lancelot Huber wurde anhaltweit mit 60 Prozent als Gouverneur bestätigt.

Dass er, statt sich in der Mitropa-Hauptstadt Bratislava von seinen Fans beweihräuchern und vielleicht sogar zum künftigen Präsidentschaftskandidaten ausrufen zu lassen, den Abend lieber bei uns in der Stadt verbrachte, rechne ich ihm hoch an. Eigentlich hatte ich es immer mit dem „Anhalter Tageskurier“ gehalten, der ihn als „korrupt und narzisstisch, aber unübertrefflich als demagogischer Volksgruppenflüsterer“ beschrieben hatte. Wahrscheinlich stimmt die Charakterisierung ja immer noch, aber heute hatte der notorische Polterer und Sprücheklopfer, als er im Rathaus ans Mikro trat, genau die Worte gefunden, die diese Gemeinschaft und die Menschen im County in einer solchen Zeit gebraucht hatten.

„Was wir als Gemeinwesen in diesen bitteren Stunden durchgemacht hatten, hat uns gemeinsam getroffen, als persönlich betroffene Angehörige, als Teil unserer Familie, unserer Gemeinde, unserer Communitys, unserer Vereine, unserer Betriebe und unserer Freundeskreise“, rief der neue und alte Gouverneur in die versammelte Menge. „Und wenn wir als Gemeinwesen aus all diesem Schrecken und all dieser Bitterkeit wieder emporsteigen sollen, wird uns das nur gelingen, wenn wir unsere Stärke dort suchen, wo wir sie schon zuvor gefunden hatten: in unserer Entschlossenheit, unserer Verbundenheit mit dem, was unser Leben ausmacht, unseren starken Familien und Gemeinschaften, unserem Glauben an Gott und unsere Aufgabe im Leben, in unserer Zuversicht und in unserer Vielfalt, die uns stark macht. Und mit dieser Stärke werden wir auch aus dieser schweren Prüfung als eine bessere Gemeinschaft hervorgehen. Ich werde auch in den kommenden Jahren mein Bestes geben, um dazu beizutragen.“

Es wird dennoch eine lange, lange Zeit in Anspruch nehmen, bis Bernburg und der Salzland County wieder zur Tagesordnung übergehen können. Dass das Grauen über so viele Jahre unbemerkt bleiben konnte, obwohl die Berührungspunkte mit dem alltäglichen Leben so vieler der braven, strebsamen, eigentümlichen, aber auch liebenswerten Bürger dieser unbeschreiblich schönen, ländlichen Gegend so mannigfaltig waren, nagt am wechselseitigen Vertrauen.

Denn eine Frage wird sie und uns alle weiter quälen: Wer weiß nach dem, was geschehen war, noch, welche Abgründe sich hinter der Fassade des Nachbarn, des Postboten, des Bäckers, des Lehrers oder Trainers verbergen könnten, mit dem man gerade über das Wetter oder die Pläne für Thanksgiving geplaudert hatte?

FIELD OFFICE.

Vieles von den Begebenheiten, die ich in den Ausführungen schildern werde, die nun folgen, kenne ich aus eigenem Erleben. Anderes ist mir auf dem einen oder anderen Wege zugetragen worden oder ich habe mir ein ungefähres Bild davon machen können, wie es gewesen sein musste.

Nun ist es denke ich erst einmal an der Zeit, mich vorzustellen. Ich bin 51 Jahre alt, verwitwet, alle Kinder sind außer Haus und ich bin seit mittlerweile zehn Jahren Counterintelligence-Beauftragter für das Netzwerk „Rural Vanguard“ im CIC Field Office Bernburg im Salzland-County. Eigentlich ist mein wirklicher Name Joseph E. Benton III. und mein offizielles Zuhause ist die Siedlung für US-amerikanische Militärs und Auslandsbeamte knappe 20 Kilometer außerhalb der Stadt in einem etwas abgelegenen Seitental bei Wilsleben.

Tatsächlich kennt man mich aber unter dem Namen Will A. Carrier und ich trete offiziell auf als Koordinator für die Kontraktoren der Truppen in der Kaserne bei Aschersleben, die auf halber Strecke zur Grenze liegt. Manchmal mache ich das sogar wirklich, aber im Grunde werde ich hier für etwas anderes gebraucht. Außerdem vermittle ich Schüleraustauschprogramme zwischen hier und meiner langjährigen Heimatstadt Stephenville in Texas – und dafür kennen mich die Bürger im County.

Ich lebe allein in einem von außen unspektakulär wirkenden Reihenhaus etwas unterhalb des Bahndamms der alten Siedlung Waldau im Norden von Bernburg, das unscheinbar an der Durchzugsstraße liegt und neben einem gemütlichen, sichtgeschützten Garten auch über einen kleinen Pool verfügt. Es ist im Grunde mein Zuhause, denn es ist die dortige Wohnzimmerschrankwand, auf der die Urne mit der Asche meiner verstorbenen Frau steht – und wohl auch deshalb fahre ich auch am Wochenende kaum nach Wilsleben zurück, sondern nur dann, wenn meine Anwesenheit dort explizit gewünscht ist. Als Eigentümer des Hauses ist eine GmbH eingetragen, deren einziger Gesellschafter wiederum eine andere ist mit Firmensitz auf den Bermudas. Eines Tages hoffe ich, es offiziell erwerben zu können – das hängt aber von der guten Laune der höheren Chargen ab.

Die meisten durchqueren die Siedlung lediglich auf dem Weg zu weiter entfernten, geschäftigeren Zielen. Hier hält fast nur an, wer irgendeinen Bezug zu der Ecke hat – als Gast oder Angehöriger von Anwohnern, als Kunde des Autohauses, des Pooldienstes, des Bäckers oder der kleinen Werkstätten und Schankbetrieben, die dort seit Jahrzehnten ein bescheidenes, aber hinreichendes Auskommen finden.

Zwanzig Meter vor meiner Haustüre zweigen auch gleich drei Nebenstrecken von der Landstraße ab, die unter anderem in Vororte der Nachbarstadt Staßfurt führen. Sie werden kaum noch genutzt, seit vor ein paar Jahrzehnten einen halben Kilometer oberhalb des Bahndamms die Fernstraße gebaut wurde und von dort aus zur wenige Kilometer entfernten Autobahnauffahrt führt. Jeder kann auch mit der Bahn anreisen oder in einer der Nebenstraßen um die Ecke parken, ehe er entweder offiziell vorne an der Haustüre klingelt oder aber den Schleichweg nimmt, der von der Rathmannsdorfer Straße zwischen drei angrenzenden Grundstücken am Hügel von hinten in meinen Garten führt.

Für vertrauliche Unterredungen ist das Domizil eine großartige Sache und deshalb nutze ich es meist auch dafür. Manchmal zitiere ich die Leute auch in das kleine Café in der Breiten Straße neben dem kleinen Einkaufspark am alten Ackerbürgerhof etwa 500 Meter weiter stadteinwärts. Dieses wird fast nur von Ortsansässigen genutzt, die sich selbst genügen und deshalb ihre Neugier auf anderer Leute Gespräche im Zaum zu halten vermögen. Manchmal finden die Unterredungen aber einfach auch während des gemeinsamen Joggens im Waldstück an der alten Landstraße statt, die heute fast nur noch für den landwirtschaftlichen Verkehr genutzt wird. Und wenn das Leben es nahelegt, das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden, setze ich mich auch schon mal während einer Vorstellung mit meinen Gesprächspartnern in die Visionsbar des prachtvollen alten Art-déco-Kinos in einer Seitengasse der Bernburger Fußgängerzone.

Für die Nachbarn in der Siedlung bin ich der nette Ami, mit dem sie am Gartenzaun ein Schwätzchen halten, dem sie ihre Kinder für ein Schüleraustauschjahr anvertrauen oder bei dem sie, weil es heißt, dass ich irgendwas mit Ämtern zu tun habe, auch mal um irgendwelche Hilfe bei Formularen nachfragen. Eigentlich aber, und das muss keiner wissen, koordiniere und betreue ich ein Team von derzeit etwa 40 Personen, die als Informanten die Lage in unserer Region knapp 100 Kilometer vor der Grenze zur Europäischen Föderativen Republik (EFR) im Auge behalten und auffällige Beobachtungen melden sollen, die mit etwaigen Destabilisierungsbemühungen zusammenhängen könnten. Die politischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte waren es, die es erforderlich gemacht hatten, neue Wege zu gehen oder Altbewährtes wieder hervorzuholen.

Die Aufgabe meines Field Office besteht darin, die Informationen unserer Zuträger auszuwerten und jene, die potenziell für die nationale Sicherheit von Bedeutung sind, nach oben weiterzureichen. Das Hauptaugenmerk gilt dabei feindlichen Akten, die einen mutmaßlichen Bezug zur EFR aufweisen und zu jenen Personen und Vereinigungen, die wir im Verdacht haben, als deren fünfte Kolonne im Salzland, in Anhalt oder in der Mitropa-Konföderation insgesamt zu wirken. Für die Beobachtung eurasischer, chinesischer oder anderer potenzieller Einflussversuche sind wiederum andere Field Offices zuständig, die ebenfalls ihre Beobachtungen an vorgesetzte Stellen weiterleiten. Das ist im Interesse der Überschaubarkeit sinnvoll, verhindert Stress und Kompetenzstreitigkeiten – und was an den Erkenntnissen der Kollegen wichtig ist, lese ich dann ohnehin später in deren Berichten.

Es gilt als offenes Geheimnis, dass die in Anhalt selbst wenig bedeutende Oppositionspartei „Fortschrittsallianz“ (FA), mehrere NGOs, Think-Tanks, Stiftungen, Medien und nach außen hin als Bildungseinrichtungen oder andere vermeintlich gemeinnützige Organisationen auftretende Zusammenschlüsse entweder von Akteuren der EFR gesteuert sind oder diese dort ein ruhiges Hinterland finden. Nach der Gründung der MiK wurden alle Parteien und die meisten politischen Vereinigungen und NGOs, die zu EFR-Zeiten bestanden hatten, wegen „organisierter Korruption und Unterminierung des Gemeinwesens“ verboten, die Akteure hatten sich allerdings schon bald in neuen Zusammenschlüssen organisiert. Malte-Sören Hoeft, der starke Mann der Europäischen Föderativen Republik, macht uns Amerikaner dafür verantwortlich, dass sich vor Jahren mehrere Länder Mittel-, Süd- und Südosteuropas und sogar Landesteile der dort verbliebenen Länder wie eben auch Sachsen oder das alte Herzogtum Anhalt abgespalten und zusammen innerhalb von kürzester Zeit die „Mitropa-Konföderation“ (MiK) gegründet hatten.

Was dort keiner gerne hört: Herbeigeführt hatten Hoeft und seine Mitstreiter die Situation selbst. Die irrwitzigen Experimente der dortigen Führung und ihre hemmungslose Arroganz hatten es geschafft, ihre eigenen Weltmachtambitionen von innen heraus zu untergraben. Ideologischer Wahnwitz und Polarisierung hatten Europas Gesellschaften so weit gespalten, dass auch der Versuch nicht mehr anschlug, sie auf der Grundlage gemeinsamer Feindbilder wie Russen oder Muslimen zusammenzuhalten. Preisexplosionen infolge von Misswirtschaft und außenpolitischen Muskelspielen sorgten dafür, dass immer mehr Menschen Wohnung, Lebensmittel und Energie nicht mehr bezahlen konnten. Vor allem Klein- und Mittelbetriebe mussten deshalb reihenweise aufgeben. Aus allen erdenklichen Vorwänden von Seuchenschutz über Umweltnotstände, bewaffnete Konflikte an der Peripherie bis hin zum Terrorismus wurden wirtschaftliche Freiheit und Mobilität eingeschränkt, was die Privatwirtschaft weitgehend abwürgte. Dazu kamen der rücksichtslose Assimilationsdruck auf missliebige Minderheiten, die permanenten Strafsanktionen gegen alle erdenklichen Mitgliedsländer, die angeblich die situationselastisch nach jeweiligem Bedarf interpretierten „Werte“ verletzten, die allgegenwärtigen Bevormundungen und Gängelungen. Je stärker der frühere Wohlstand zurückgebaut wurde, umso mehr führte dies zu Armutsrevolten, bürgerkriegsähnlichen Unruhen und Fluchtbewegungen.

Als die späteren MiK-Länder sich auch noch weigerten, den verbliebenen Kernbereich ihrer Hoheitsrechte an Hoeft in Brüssel abzugeben, entzog ihnen die Führung der EFR im Wege eines administrativen Putsches mit Mehrheitsentscheid Sitz und Stimme in allen gemeinsamen Gremien. Immerhin hätten sie durch ihre Weigerung ja „unsere regelbasierte Wertegemeinschaft unterminiert“. Daraufhin erklärten die Regierungen der betroffenen Länder ihren Austritt aus dem über die Köpfe der Bürger hinweg zum Bundesstaat ungewandelten früheren Staatenbund und die Gründung eines neuen. Volksabstimmungen brachten deutliche Mehrheiten für diesen Schritt, obwohl Hoeft und Generalstabschefin Marine Le Cochet mit der Entsendung der Europäischen Armee gedroht hatten.

Dann musste alles schnell gehen. Die provisorische Führung der MiK begann, Milizen in ihren Mitgliedsländern zu bewaffnen, machte Bratislava zu ihrer Hauptstadt, erhob den Gefangenenchor aus „Nabucco“ zur offiziellen Hymne und bastelte im Schnellverfahren eine Verfassung für das Gebilde, die eine weitgehende Kopie der Gründungsdokumente der USA war. Sogar die Institutionen der USA wurden in weiten Teilen übernommen mit dem Argument, dass diese sich am längsten als tauglich erwiesen hatten, um eine Vielvölkernation dauerhaft als freies Gemeinwesen zu erhalten. Auch dies dürfte dazu beigetragen haben, dass man uns in der EFR als federführende Macht hinter der Entwicklung darstellte und offiziell zum Feindbild erhob. Zu gerne hätte man sich selbst als Weltmacht, Vorbild und Lehrmeister inszeniert. Die Realität mochte allerdings nicht so recht mit dem großen Traum konformgehen.

Tatsächlich hatte Präsident Kai Musk nur erklärt, mögliche Angriffe der Europäischen Armee auf unsere Truppen mit Gegengewalt zu beantworten, die zu befürchten wären, sollte Hoeft versuchen, die Gründung der MiK, die er bis heute nicht anerkannt hat, auf militärischem Wege rückgängig zu machen. Immerhin standen amerikanische Truppen am Ende hauptsächlich in den späteren MiK-Ländern – teils wegen der Konflikte entlang der eurasischen Interessenssphäre, aber auch, weil andere frühere Verbündete erklärt hatten, sie nicht mehr auf ihrem Territorium zu brauchen, weil die „Europäer*innen“ ja jetzt ihre eigene Armee hätten. Die Ansage aus Washington ließ Hoeft aber von seinem Vorhaben Abstand nehmen. Zudem hatte seine Armee von Anfang an mit abtrünnigen Einheiten aus den eigenen Reihen Probleme, die sich in einigen Städten mit Aufständischen verbündeten. Wenig später schloss die Regierung der MiK mit uns einen umfassenden Beistands- und Unterstützungspakt, um zu verhindern, dass der neue Staatenbund von der gekränkten Republik im Westen oder von den mehr und mehr unter chinesische Dominanz geratenen Ländern im Osten überrannt würde.

Nach mehrfachen Grenzverletzungen und feindseligen Akten in der Grenzregion haben sich EFR und MiK in einem von den USA vermittelten Abkommen verpflichtet, militärische und nachrichtendienstliche Präsenz in einem Abstand von je 50 Kilometern zu den Grenzen zu unterbinden. Wer nicht völlig naiv ist, dem musste klar sein, dass sich keine Seite tatsächlich daran halten würde. Im Zeitalter weltweiter Kommunikationsnetze wäre dies auch kaum zu erwarten. Außerdem ist die Grenze zwischen EFR und MiK nicht vollständig geschlossen, obwohl Hoefts Kabinett versucht, die Auswanderungsbewegungen, die in den vergangenen Jahren immer stärker geworden sind, zu drosseln. Da Bernburg knappe 100 Kilometer von der Grenze entfernt liegt, wurde der weitläufige, durch Wanderungsbewegungen auf 250.000 Einwohner angewachsene County Salzland zum nachrichtendienstlichen Schwerpunkt ausgebaut. Und hier kommen wir ins Spiel.

Mich hatte der Dienst hierher abkommandiert, weil ich über die erforderlichen Sprachkenntnisse und auch ein Mindestmaß an Ortskenntnissen verfüge. Mein Vater hatte lange Zeit hier gelebt, ehe er in die USA ausgewandert war. Er war nicht der Einzige in einer Zeit, da die Verhältnisse hier bereits schwieriger und instabiler geworden waren. Viele sollte seinem Beispiel folgen, als das wirtschaftliche und zivile Leben nach der großen Seuche und dem weitgehenden Zusammenbruch der Versorgung infolge der Energiekrise auf dem Boden lag.

Die Führung hielt dennoch eisern an ihren Utopien fest. Um das Ziel eines CO2-neutralen Kontinents zu verfolgen, wurde die Mobilität eingeschränkt, es gab weitreichende Bargeldverbote, konventionelle Energie und Treibstoffe wurden dort, wo sie nach den selbstzerstörerischen Sanktionen gegen die Eurasier noch vorhanden waren, für weite Teile der Bevölkerung unbezahlbar. Der Anteil der Menschen, die von staatlichen Zuwendungen abhängig waren, wurde immer größer, diejenigen, die es nicht waren, wurden unter unterschiedlichsten Vorwänden immer stärker belastet, ebenso die Eigentümer von angespartem Vermögen oder Immobilien. Menschen, die in ihrem kleinen Häuschen ihren Lebensabend verbringen wollten, das seit der Generation ihrer Groß- oder Urgroßeltern im Eigentum einer Familie war, wurden mit teuren Sanierungsauflagen oder horrenden Zwangshypotheken belastet. Einige verkauften daraufhin an den Staat, der ihnen unter der Bedingung eines ausreichenden Sozialkredit-Scores ein Wohnrecht einräumte, andere nahmen sich einen Strick und erhängten sich in ihren Kellern, oft, nachdem sie kurz zuvor noch alles in Brand gesteckt hatten. Noch heute stehen Ruinen, die von solchen Häusern geblieben waren, in der Landschaft. Gleichzeitig waren die öffentlichen Haushalte immer weniger in der Lage, die Tätigkeiten, die sie sich selbst bis ins Detail selbst zu gestalten angemaßt hatten, zu finanzieren.

Mein Vater hatte sein Haus rechtzeitig weit unter dessen Wert an eine Stiftung verkauft, um der von Brüssel aus drohenden Zwangshypothek zu entgehen, und schaffte es, mit dem, was ihm verblieben war, nach Stephenville, Texas, wo er an einer Fachhochschule lehren und sich und seiner fünfköpfigen Familie eine neue Existenz schaffen konnte. Nach der Abspaltung der MiK wurden alle Zwangshypotheken gelöscht und Auswanderer durften in ihre unbelasteten Häuser zurückkehren, für viele war es aber zu spät. Aus meiner Familie nahm nur ich sofort nach Ende meiner Ausbildung in Stephenville das Angebot an, über Armee und Militärgeheimdienst an Dads alte Wirkungsstätte zurückzukehren.

Einer der Klassenkollegen meines Vaters aus der gemeinsamen Gymnasialzeit in Könnern, der mittlerweile mit Bernburg zu einer Großgemeinde zusammengeschlossenen Stadt knapp 20 Kilometer südlich, war Carl A. Bruckner, der dort in der Weinertsiedlung lebte und mit ihm zusammen schon damals ganze Nachmittage in den Spielautomatenhallen des Salzland-Einkaufsparks, heute „Anhalt Mall“, verbracht hatte. Wie mein Vater gehörte auch Bruckner zu den etwa 20 Familien aus der Gegend, die damals in die USA ausgewandert waren. Wie das Schicksal so spielte, besuchte Bruckners Enkel Erich die Tarleton State, an der auch mein jüngster Bruder Steve unterrichtete. Von ihm wusste ich, dass Erich dort durch herausragende Leistungen in den Fächern Angewandte Psychologie und Kriminologie auffiel.

Über soziale Medien nahm ich mit ihm Kontakt auf und nachdem ich mich selbst davon überzeugen konnte, was dieser junge Kerl für ein Naturtalent war, ließ ich es mir nicht nehmen, Heimaturlaub zu beantragen und ihn in dieser Zeit auf die Möglichkeit anzusprechen, Auslandspraxis zu sammeln – in meinem Field Office. Dass mein Hintergedanke dabei durchaus war, ihn perspektivisch auf Dauer hier zu behalten und zu einem möglichen Nachfolger für die Zeit meiner Rente aufzubauen, ließ ich aus taktischen Gründen unerwähnt, als ich zum ersten Mal mit ihm auf der Terrasse der Purple Goat saß, die für unsere Familie zum ersten Stammlokal nach der Auswanderung geworden war.

Dass ich zu dieser Zeit kurz davorstand, im Auftrag des Dienstes das Elternhaus seines Vaters in der Weinertsiedlung als strategisches Objekt zum Ankauf vorzuschlagen, traf sich gut. Die Option bestand, ihn dort offiziell als Betreiber einer Unternehmensberatung und Kunstagentur einzuquartieren – die als Tarnidentität dienen sollten. Ich nutzte sie. Die Tarnidentität sollte der Wohnqualität in der Lage zwischen alten Villenvierteln auf der einen und mondänen Terrassenwohnungen auf der anderen Seite des Mittelklasse-Wohnquartiers als angemessen erscheinen. Außerdem wäre es dann naheliegender, dass Stadtbibliothekar und Archivar Knut Thomas häufig bei ihm auf der Terrasse sitzen würde. Was nämlich außerhalb der Field Office keiner weiß: Dieser ist der inoffizielle Leiter des nachrichtendienstlichen Zentrums und der persönliche Ansprechpartner für alle Zuträger. Er sammelt die Informationen und fungiert als „Briefkasten“ für Dokumente oder Erzählungen, deren elektronische Übermittlung zu heikel wäre. Gleichzeitig nimmt er eine Art erster Vorab-Überprüfung vor, welche Informationen valide und brauchbar sein könnten. Die bekomme am Ende des Tages ich zu Gesicht und kann dann weitere Veranlassungen treffen – und alle paar Wochen einen Bericht für die Führungsebene damit bestücken.

Die Quellen selbst, das sind die unterschiedlichsten Personen: Ihre einzige Gemeinsamkeit ist, dass bei ihnen allen davon auszugehen ist, dass sie dauerhaft in Bernburg oder der Umgebung bleiben würden. Sie reichen von Dissidenten und Auswanderern aus der EFR über allerlei Personen, die kraft ihrer beruflichen Funktion „Leute kennen“ bis hin zu Kontaktleuten bei den Nachbarschaftswachten, Crime Stoppers oder in den jeweiligen ethnischen und religiösen Communitys. Auch in den Sicherheitsbehörden gibt es den einen oder anderen, der zumindest ahnt, woher Knut Thomas‘ waches Interesse an all dem herrühren könnte, was die Menschen in meinem Gastland bewegt, und gerne unverbindlich Beobachtungen mitteilt oder um Einschätzungen fragt – notfalls am Rande einer Tennispartie oder Kunstausstellung.

Ich selbst treffe Zuträger oder andere Kontaktpersonen aber nur in Ausnahmefällen, wenn es sich um ganz heikle Angelegenheiten handelt. Das geschieht immer in Gegenwart von Knut Thomas – und der stellt mich dann je nach Bedarf als Kontaktmann zu Armee oder Militärpolizei, zu Anwälten oder Mitarbeitern des FBI vor. Mir perspektivisch eine rechte Hand zuzulegen, um Termine dieser Art wahrzunehmen, würde auch im Interesse der Geheimhaltung der Struktur unseres Field Office Sinn machen. Ob Erich Bruckner der Richtige dafür ist, müsste ich noch herausfinden. Auf Herz und Nieren getestet werden sollte er jedoch noch deutlich früher, als ich es mir gedacht hätte.

DIE HEIMFAHRT.

Etwas übermüdet, aber mit einem freundlichen Lächeln auf den Lippen traf Erich Bruckner an jenem regnerischen Märzabend nach einer etwa zehnstündigen Anreise von Dallas über London auf dem Flughafen in Prag ein, von dem ich ihn persönlich mit dem automatisierten Octavia abholte, den ich offiziell als Firmenfahrzeug der Schüleraustauschagentur verwende.

„Willkommen in der alten Familienheimat“, begrüßte ich ihn, und wir ließen es uns nicht nehmen, vor der Fahrt nach Bernburg noch eine Portion überbackenen Käses und ein Bier in einem Terminal-Restaurant einzunehmen. Ich fragte ihn schon ganz zu Beginn ein wenig aus über seine Familie und die der Klassenkollegen seines Vaters. Immerhin war es schon wieder ein Jahr her, seit ich zum letzten Mal in der alten Heimat war und es sind am Ende des Tages doch nur Fragmente des Lebens vor Ort, die man über die Beiträge der Leute in den sozialen Medien mitbekommt – allen Videochat- oder sonstigen Echtzeit-Kommunikationsfunktionen zum Trotz. Vor allem musste man jahrelang alte Bekannte über zehn unterschiedliche Anbieter aus allen Ecken der Welt zusammensuchen, weil die großen amerikanischen Social-Media-Konzerne wegen der weitreichenden Datenschutz- und Kontrollvorgaben die EFR verlassen hatten. In der EFR gab es offiziell keine Zensur ausländischer Webseiten oder Nachrichtenquellen. Die Datenschutzvorgaben wurden jedoch so extrem gefasst, dass kaum ein internationaler Anbieter bereit war, sich auf die drohenden Bußgelder für etwaige Verstöße einzulassen, und deshalb brachen sie massenweise die Zelte dort ab – was im Ergebnis einen ähnlichen Effekt hatte. Immerhin kehrten manche von ihnen mittlerweile in die MiK-Länder zurück, obwohl Hoeft ihnen für diesen Fall schwere Sanktionen angedroht hatte. Die Nachwirkungen des Exodus vom Markt sind trotzdem noch zu spüren.

Unsere Rede kam schnell auf das Bordprogramm der Airbus-Maschine, die Erich nehmen musste, um von London nach Prag zu gelangen.

„Das war schrecklich“, eröffnete er mir. „Keine Countrysender, nur nervtötendes Gehämmer oder seichte Dudelmusik auf allen Kanälen, vielleicht mal mit viel Glück ein Klassik-Radiosender, aber kein einziges Programm, egal ob Film, Hörprogramm oder Nachrichtensender, in dem sie einen nicht an allen Ecken und Enden mit Brainwash-Botschaften in den Werbeblöcken zugeschissen hätten.“

Die Regierung der EFR hatte das Recht, Fluglinien zu betreiben und Flugzeuge zu benutzen, auf ihrem eigenen Gebiet massiv eingeschränkt. Nur Diplomaten, hohe politische Amtsträger, Beamte und Personen, denen von der Luftfahrtbehörde ein besonderes geschütztes Interesse zugebilligt worden war, durften Flugzeuge der zugelassenen Airlines zu regulären Konditionen nutzen. Für alle anderen wurden die vorgeschriebenen Kompensationsabgaben so drastisch erhöht, dass sie nur noch für sehr reiche Bürger erschwinglich sind. Um die Auslastung trotzdem sicherzustellen, beantragten die Airlines, ihre Dienste im Ausland anbieten zu können, etwa im Vereinigten Königreich. Um dies genehmigt zu bekommen, hatten sie die Wahl, entweder horrende Ausfuhrzölle und Strafzahlungen wegen möglicher Einreisen in das Gebiet eines nicht von der EFR anerkannten Staates – insbesondere der Mitropa-Konföderation – zu entrichten, oder der Regierung und von dieser ermächtigten NGOs das Recht einzuräumen, kostenlos Botschaften an die Nutzer des Bordprogramms zu richten.

Seither werden Filme, Musikkanäle und sonstige Unterhaltungsprogramme regelmäßig durch Spots und Einblendungen unterbrochen, in denen es zum Beispiel heißt: „Mit deinem Flug belastest du den Planeten mit [xy] Tonnen CO2 – denk an Mutter Erde und deinen Sozialkredit“, was in weiterer Folge mit der Aufforderung zur Zahlung an einen staatlichen Kompensationsdienstleister der EFR verbunden wird. Andere Einblendungen mahnen dann wieder: „Kinder sind Freiheitskiller und belasten den Planeten – entscheide weise über deine Reproduktion“, „Eine intakte Umwelt braucht keine dörflichen Strukturen – Schluss mit dem Kult um Eigenheim und Individualmobilität“ oder „Willst du wirklich der Gemeinschaft länger zur Last fallen als nötig? Die Frühablebensberatung berät auch dich“. Einige werben für den Umzug in Gemeinschaftsunterkünfte, um den hohen Energiekosten für eigene Wohnungen zu entkommen. Der von führenden internationalen Wirtschaftsforen propagierte „Große Wandel“ bildet dabei das Leitmotiv. Immerhin hat die UNO erst vor drei Jahren erklärt, dass der Menschheit nur noch zehn Jahre zur Rettung des Planeten vor dem endgültigen Untergang blieben – nachdem die letzte diesbezüglich verkündete Frist in etwa einem Jahr geendet hätte. Böse Zungen behaupten, es wäre mittlerweile die gefühlt 39. „letzte Chance zur Umkehr“ gewesen, die seit 1989 von öffentlichen Einrichtungen offiziell verkündet worden wäre.

An anderer Stelle beweihräuchern sich die Regierung der EFR, die UNO oder irgendwelche internationale Institutionen selbst dafür, dass sie der Welt die Erleuchtung in Form von grüner Energie, Geburtenkontrolle, irgendwelcher Dienste in Sachen staatlicher Bildung oder Hilfe bei der Durchführung gesellschaftlicher Experimente brächten – und geißelten Länder, die sich dieser Form von Entwicklungszusammenarbeit verweigerten. An Nachrichtensendern sind in den Lizenzmaschinen lediglich solche aus der EFR verfügbar, und entsprechend sind die Formate bis oben hin voll mit Hasstiraden gegen die „Feinde der ökosozialen Demokratie und unserer aufgeklärten und humanistischen Gesellschaft“, von denen man sich aus allen Windrichtungen eingekesselt sieht. Wann immer wie derzeit ein von Brüssel nicht geschätzter Präsident im Weißen Haus sitzt, geht es auch gegen die „amerikanischen Imperialisten und Infiltranten“, die diesen in ihrem Blendwerk hülfen.

„Uns haben sie auch immer wieder gewaltig auf dem Kieker“, eröffnete ich Erich. „Und so gerne ich dir zum Einstand erst einmal ein paar Tage die Schönheit der Gegend, die Dörfer und die prachtvollen Sonnenuntergänge über den weiten Ebenen gezeigt hätte, liegt gleich einmal eine Menge Arbeit vor uns.“

„Du hattest mir so etwas schon angedeutet, ja.“

Ich wollte die Autofahrt zurück nutzen, um ihm eine erste Orientierung zu geben, weshalb wir zeitnah nach dem Essen aufbrachen.

„Es ist im Moment viel Unruhe in der Stadt und wir haben Anlass zu der Annahme, dass die EFR und ihre fünfte Kolonne versuchen könnten, die Lage zum Eskalieren zu bringen. Es gehen eigenartige Dinge vor sich im County, Sheriff Dr. Rantebihl hat sich vertraulich an Archivar Knut Thomas gewandt und um Hilfe gebeten.“

„Weiß der denn, was wir machen?“

„Wie viele im Staatsapparat nicht im Detail, aber sie wissen, dass Knut immer gut informiert ist und weiß, wie man Dinge rausbekommt – oft auch, bevor die Behörden diese selbst ermittelt haben oder die Presse davon Wind bekommt. So etwas spricht sich herum und ab und an taucht dann jemand in der Bibliothek von Bernburg auf und fragt Knut, ob er nicht Zeit für eine Tasse Kaffee hätte. Er hört sich alles an und sagt dann zu, sich zu bemühen. Am nächsten Tag schlägt er dann entweder bei mir im Garten auf oder kommt zu mir ins Café Nico, wenn ich dort gerade mein Frühstück einnehme.“

„Die Bibliothek als lebender und toter Briefkasten zugleich…“

„So in etwa, ja.“

„Und was ist jetzt in der Stadt genau los? Ich habe ja manchmal in Social Media mitbekommen, wie die EFR-Propaganda von angeblichen Fake-News über entführte Kinder geschrieben hat, die in Anhalt verbreitet würden.“

„Nun, ob das tatsächlich Fake-News sind, gehört zu den Dingen, die wir helfen sollen, herauszufinden. Hattest du vor zehn Jahren diese Fichtelberg-Geschichte mitbekommen?“

„Gehört habe ich schon mal davon, ja.“

Die „Operation Fichtelberg“ war eine groß angelegte Operation des damals noch jungen Nationalen Sicherheitsdienstes der MiK und der Bundesermittlungsbehörde, des FBI, das seinen Hauptsitz in Budapest bezogen hatte. Claus Clement, ein Überläufer aus der EFR, stand eines Tages unangekündigt am Einlass der US-Kaserne in Wilsleben und hat seine Hilfe angeboten, um einen Menschenhändlerring auffliegen zu lassen, der die Rückendeckung staatlicher Stellen der Europäer genießen würde.

Die Entführer sollten vor allem Mitgliedern der Nomenklatura in der EFR zu Nachwuchs verhelfen, die mit 45 oder 50 Jahren nicht mehr in der Lage wären, auf natürlichem Wege eigene Kinder zu bekommen. Während dort in der Öffentlichkeit durch Medien und NGOs eine Kultur der „Kinderfreiheit“ zum Wohle der „Ressourcen der Erde“ und der „Rettung des Planeten“ propagiert wird, versucht der Staat, den noch vorhandenen Nachwuchs an verlässliche und loyale Personen zu verteilen.

Dazu hatte man eine Krippenpflicht ab dem ersten Lebensmonat eingeführt und jeder Mutter wird von der Geburt ihres Kindes an ein „Kinderrechtsanwalt“ beigegeben, der darauf achten soll, dass die Herkunftsfamilien keine unerwünschten Erziehungsstile oder -inhalte pflegten. Vor allem in Familien von Einwanderern und Minderheiten und bei solchen mit religiösem Hintergrund führt dies häufig dazu, dass diesen bis spätestens zum zweiten Geburtstag das Sorgerecht für ihre Kinder entzogen und diese durch den Kinderrechtsanwalt zur Adoption an regierungstreue Antragsteller ohne eigenen Nachwuchs freigegeben werden.

In den meisten Fällen reicht der Vorwurf „nicht nachhaltiger“ Lebensgestaltung, um die Maßnahmen zu rechtfertigen. In schwierigeren Fällen konstruiert man Vorwürfe wie „symbiotische Nähe“ zwischen Eltern und Kindern oder lässt vermeintliche Zeugen aufmarschieren, die – häufig frei erfundene – Fälle angeblicher Kindesmisshandlung bescheinigen. Bei jüdischen Familien reicht der Verdacht, im Ausland die EFR-weit verbotene Brit Mila durchgeführt zu haben, Roma-Müttern wird regelmäßig vorgeworfen, falsche Angaben zu ihrem Alter gemacht zu haben, um deren Minderjährigkeit zu vertuschen.

Seit auch noch die islamkritische „Werte-Allianz“ an der Regierung beteiligt ist, die vor dem Hintergrund bewaffneter Unruhen in einigen Städten der EFR bis zu einem Drittel der Stimmen bei Wahlen abgeräumt hat, ist auch die Zahl der Inobhutnahmen wegen des Verdachts „islamistischer“ oder „separatistischer“ Einflüsse im Familienverband deutlich angestiegen. Einige Fälle wurden bekannt, in denen es für eine Kindeswegnahme ausreichte, dass die Mutter ein Kopftuch trug. Die Regierung bestreitet bei jeder Gelegenheit, dass es in der EFR zu Zwangsadoptionen käme. Allerdings werden häufig in dortigen öffentlich-rechtlichen Medien Personen aus Communitys mit sogenanntem ausbaufähigem Sozialkredit gezeigt, die vor Kameras die Politik der Regierung dafür loben, sie aus „einengenden“ Traditionen zu befreien und ihnen ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen, in dem sie keine „Gebärmaschinen“ mehr wären.

Die Praxis hatte zur Folge, dass zahlreiche Familien mit Kindern insbesondere nach der Abspaltung der Mitropa-Konföderations-Gebiete versuchten, aus der EFR zu fliehen – obwohl die MiK dort regelmäßig als vermeintlicher Hort des Fremdenhasses und des Rassismus gezeichnet wird. In den MiK-Ländern wurde den meisten Familien, die aus Angst vor Kindeswegnahme geflohen waren, Asyl gewährt. Für Hoeft und sein Kabinett war dies eine Provokation. Schon bald versuchte er, die Grenzen für Personen mit Kindern so gut wie möglich zu sperren, allerdings war die EFR auf offene Grenzen für den Güterverkehr angewiesen. Die Ausstiege aus sämtlichen Formen fossiler Energieversorgung, der Atomenergie und allen Lieferverträgen mit früheren Energiepartnerländern hatten dazu geführt, dass bereits für die Aufrechterhaltung einer eingeschränkten und überteuerten Versorgung massive kurzfristige Importe erforderlich waren. Auswanderungswillige lassen sich nun häufig in illegalen Lagern in Grenznähe nieder und überlegen sich teils gewagte und originelle Wege, um auf das Gebiet der MiK zu gelangen. Um ehrlich zu sein: Ein paar Secret-Service-Kollegen helfen manchmal mit, wenn es darum geht, falsche Dokumente oder Vorwände zu finden, die es Familien ermöglichen, auszureisen. Und manche Beamte in EFR-Behörden entlang der Grenze sind gegen ein wenig zusätzliches „Energiegeld“ durchaus bereit, mal ein Auge oder sogar beide zuzudrücken, damit er und seine Angehörigen noch in einer eigenen Wohnung bleiben können und nicht in eine gemeinschaftliche Wohn- und Schlafhalle umziehen müssen, wie sie an allen Ecken der EFR aus dem Boden sprießen.

Auch, weil man sich nicht die Blöße des Vorwurfs geben wollte, wie frühere kommunistische Regime die eigenen Bürger einzumauern, verzichtete die EFR auf eine vollständige Abriegelung der Außengrenzen. Allerdings verschwanden schon bald Kinder aus Familien, die es längst über die Grenze geschafft hatten, und mancherorts machten Gerüchte die Runde, Häscher der Regierung der EFR würden einsickern, um diese zu verschleppen und „zurückzuholen“.

Bewiesen werden konnte der Vorwurf lange Zeit nicht, bis Clement kam und sich als desertiertes Mitglied eines solchen Kommandos zu erkennen gab. Gegen die Gewährung einer neuen Identität und Zusicherung der Straflosigkeit packte er umfassend aus und ermöglichte es den Behörden der MiK, in der Operation Fichtelberg mehrere komplette Netzwerke von Entführern im Dienste der EFR zu zerschlagen. Clement nannte als Grund für seinen Seitenwechsel, dass er erlebt habe, wie ein entführtes Kind, das unter einer zusätzlichen Bodenplatte eines Transporters eingepfercht und geknebelt war, auf dem Staatsgebiet der EFR infolge einer Panikattacke verstarb und in einem Waldstück vergraben wurde.

Die Regierung der EFR bestritt trotz entgegenlautender Aussagen mehrerer in weiterer Folge in Anhalt festgenommener Tatverdächtiger jede Mitwisserschaft und beschrieb die Verschleppungen als kriminelle Akte, die eine Bande aus eigenem Antrieb vollzogen habe. Als einer der Verhafteten die Identität des verstorbenen Mädchens als jene einer vermissten Achtjährigen aus einer in den Freistaat Anhalt geflohenen türkischen Familie bestätigen konnte, wurde in der EFR ein 30-jähriger nach einem Unfall am Gehirn Geschädigter mit einem IQ unter 60, der kaum noch einen Satz formulieren konnte, als vermeintlicher Täter vor Gericht gestellt. Die dortigen Medien bezeichneten die Nachrichten über einen aufgeflogenen Entführer-Ring, der mit Duldung der Regierung agiert habe, als „Desinformationskampagne der Abtrünnigen und ihrer amerikanischen Drahtzieher“. Social-Media-Accounts, die Artikel über die Angelegenheit teilten, wurden gelöscht, einige Urheber von ihnen wegen „antieuropäischer Hetze“ abgeurteilt.

„Clement lebt übrigens nur ein paar Häuser weiter von dir mit neuer Identität“, informierte ich Erich. „Er heißt jetzt offiziell Gert Krämer und versorgt Sportstätten, Schulen und gesellschaftliche Institutionen mit Ausstattungsgegenständen. In einigen Einrichtungen macht er auch freiberufliche Hausmeisterdienste. Irgendwo zwischen Bebitz und Lebendorf hat er vor einigen Jahren auch ein kleines Grundstück erworben und dort eine Schweine- und Hundezucht aufgebaut. Niemand im Salzland mit Ausnahme des Sheriffs, Knut Thomas, mir und jetzt dir weiß, wer er wirklich ist, und er weiß seinerseits nicht, dass es uns gibt. Aber kürzlich ist er einmal beim ihm vorstellig geworden, und was er zu sagen hatte, klang sehr interessant.“

„Was war das?“

„Er meinte, dass sich neue Netzwerke gebildet hätten. Und tatsächlich sind in den vergangenen sechs Jahren allein im erweiterten Gemeindegebiet von Bernburg fünf Mädchen zwischen zehn und 16 Jahren verschwunden. Der letzte Fall ist jetzt vier Wochen her. Die Emotionen kochen hoch und ich habe den Eindruck, dass einige Leute bewusst versuchen, die Tragik der ungelösten Fälle zu nutzen, um Leute gegeneinander aufzuhetzen. Da das ein möglicher gezielter Destabilisierungsversuch sein könnte, ist unser Typ gefragt. Morgen will ich Knut und dich deshalb in meinem Wohnzimmer sehen, dann verschaffe ich dir einen detaillierten Überblick über alles, was wir bisher wissen.“

Es war längst dunkel, als wir die tschechische Grenze weit hinter uns gelassen hatten. Um einem angekündigten Stau bei Halle auszuweichen, nahm ich einen Umweg über das Mansfelder Land, irgendwann bewegte der Wagen sich nach der Abfahrt von der Autobahn auf einer schlecht ausgeleuchteten und kaum befahrenen Landstraße. Ich wollte Erich an jenem Tag auch nur noch kurz die wichtigsten Besonderheiten über sein künftiges Quartier erläutern, dessen unteres Stockwerk in der darauffolgenden Woche noch auf Vordermann gebracht werden sollte.

Er war sichtlich müde, phasenweise schlief er ein auf dem Beifahrersitz, während ich noch meinen Streamingkanal mit Countrymusik der vergangenen 50 Jahre laufen ließ. Es waren noch etwa 40 Kilometer zu absolvieren und ich war mit meinen Gedanken schon bei den Dingen, über die ich ihn tags darauf unterrichten wollte.

Die Fahrt plätscherte dahin, ich zählte schon innerlich die Kilometer, bis sie vorbei sein würde. Nur noch kurz mit ihm mitkommen und ihm das Wichtigste im Haus zeigen, und dann nichts wie ab nach Hause. Es war auch kaum jemand unterwegs. Wir fuhren Kilometer um Kilometer ohne jedweden Gegenverkehr, während der Regen unaufhörlich und monoton an die Scheiben prasselte.