Anna Karenina, 2. Band - Tolstoy, Leo, graf - kostenlos E-Book

Anna Karenina, 2. Band E-Book

Tolstoy, Leo, graf

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The Project Gutenberg EBook of Anna Karenina, 2. Band, by Leo N. TolstoiThis eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and withalmost no restrictions whatsoever.  You may copy it, give it away orre-use it under the terms of the Project Gutenberg License includedwith this eBook or online at www.gutenberg.orgTitle: Anna Karenina, 2. BandAuthor: Leo N. TolstoiRelease Date: February 18, 2014 [EBook #44957]Language: German*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK ANNA KARENINA, 2. BAND ***Produced by Norbert H. Langkau, Jens Nordmann and theOnline Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net

Anna Karenina.

Roman aus dem Russischen desGrafen Leo N. Tolstoi.Nach der siebenten Auflage übersetzt vonHans Moser. Zweiter Band.

Leipzig Druck und Verlag von Philipp Reclam jun.

Fünfter Teil.

1.

Die Fürstin Schtscherbazkaja fand, daß es unmöglich sei, die Hochzeit vor den Fasten, bis zu denen noch fünf Wochen waren, zu feiern, da die eine Hälfte der Ausstattung bis dahin nicht fertig zu stellen war; doch konnte sie nicht umhin, sich mit Lewin einverstanden zu erklären, daß es nach den Fasten wieder viel zu spät werden würde, da eine alte Tante des Fürsten Schtscherbazkiy sehr krank war und bald sterben konnte, und alsdann die Trauer die Hochzeit noch weiter verzögert haben würde. Die Fürstin erklärte sich infolge dessen, nachdem sie die Mitgift in zwei Partieen — eine große und eine kleine geteilt hatte, damit einverstanden, daß die Hochzeit zu den Fasten gefeiert würde. Sie beschloß den kleineren Teil der Mitgift schon jetzt bereit zu machen, während der größere später folgen würde, und war sehr erbost über Lewin, weil dieser ihr durchaus nicht ernsthaft zu antworten vermochte, ob er hiermit einverstanden sei oder nicht. Diese Ordnung der Dinge war um so bequemer, als die jungen Eheleute sogleich nach der Hochzeit auf das Land gingen, wo die große Mitgift gar nicht erforderlich war.

Lewin befand sich noch immer in jenem Zustande der Verzücktheit, in welchem es ihm schien, als ob er und sein Glück den hauptsächlichsten und einzigen Zweck alles Seienden bildete, daß er jetzt an nichts denken, für nichts sorgen dürfe, daß vielmehr alles für ihn von anderen gemacht wurde oder gemacht werden würde. Er hatte durchaus keine Pläne oder Ziele für sein zukünftiges Leben, sondern gab die Entscheidung hierüber anderen anheim in der Überzeugung, es werde schon alles gut gehen. Sein Bruder Sergey Iwanowitsch, Stefan Arkadjewitsch und die Fürstin leiteten ihn an, was er zu thun habe, und er war vollständig einverstanden mit allem, was man ihm vorschlug. Sein Bruder nahm Geld für ihn auf, die Fürstin riet, nach der Hochzeit Moskau zu verlassen, Stefan Arkadjewitsch riet, eine Hochzeitsreise ins Ausland zu machen. Er war mit allem einverstanden. „Thut was Ihr wollt, wenn es Euch Vergnügen macht. Ich bin glücklich, und mein Glück kann nicht größer sein und nicht kleiner, was immer Ihr auch thun möget,“ dachte er.

Als er Kity den Rat Stefan Arkadjewitschs mitteilte, eine Hochzeitsreise ins Ausland zu machen, wunderte er sich sehr, daß sie damit nicht einverstanden war, sondern bezüglich des beiderseitigen künftigen Lebens gewisse eigene bestimmte Forderungen stellte. Sie wußte, daß Lewin seine Beschäftigung auf dem Lande hatte, die er liebte. Sie verstand, wie er sah, nicht nur nichts hiervon, sondern wollte auch gar nichts davon verstehen lernen, doch hinderte sie dies nicht, jene Beschäftigung für sehr wichtig zu halten. Sie wußte ferner, daß ihr Haus in einem Dorfe stand, und wünschte nun eben, nicht ins Ausland zu fahren, wo sie ja nicht leben würde, sondern dorthin, wo ihr Haus stand. Dieser bestimmt ausgeprägte Entschluß setzte Lewin in Verwunderung, doch da ihm alles gleichgültig war, bat er sogleich Stefan Arkadjewitsch, als ob dies dessen Verpflichtung wäre, auf das Dorf zu fahren und dort alles vorzubereiten, wie er es verstünde, mit jenem Geschmack, den er in so reichem Maße besäße.

„Höre einmal,“ sagte nun eines Tags Stefan Arkadjewitsch zu Lewin, — vom Dorfe zurückgekommen, woselbst er alles für die Ankunft des jungen Paares eingerichtet hatte — „hast du denn ein Zeugnis, daß du gebeichtet hast?“

„Nein. Warum?“

„Ohne dies wirst du nicht getraut!“

„O, o, o,“ rief Lewin aus; „ich habe ja schon seit neun Jahren keine Fasten mehr innegehalten. Daran habe ich gar nicht gedacht!“

„Du bist mir Einer,“ lachte Stefan Arkadjewitsch, „und mich willst du einen Nihilisten nennen! Aber das geht wirklich nicht — du mußt fasten.“

„Wann denn? Es sind noch vier Tage übrig.“

Stefan Arkadjewitsch ordnete auch dies, und Lewin begann zu fasten. Für ihn, als einen Häretiker, der aber gleichwohl den Glauben anderer achtete, war die Gegenwart und Teilnahme bei jeder Art von kirchlichen Ceremonien sehr lästig. Jetzt, in seiner allen gegenüber gefühlvollen, weichen Seelenstimmung, in der er sich befand, war dieser Zwang zu heucheln, Lewin nicht nur lästig, er schien ihm vielmehr vollständig undurchführbar. Jetzt, in seiner vollen Mannhaftigkeit und Blüte sollte er entweder lügen oder spotten! Er fühlte sich nicht in der Lage, eines von beiden zu thun, aber soviel er Stefan Arkadjewitsch auch anliegen mochte, ob er nicht ein Zeugnis erhalten könne, ohne gefastet zu haben, Stefan Arkadjewitsch erklärte, dies sei unmöglich.

„Und was kann es dir darauf ankommen — zwei Tage? Er ist ein so lieber, verständiger Geistlicher und wird dir diesen Zahn ausziehen, daß du es gar nicht gewahr wirst.“

In der ersten Messe machte Lewin den Versuch, in sich die Erinnerungen an seine Jünglingszeit und jene mächtigen religiösen Gefühlsregungen wieder aufzufrischen, die er in seinem sechzehnten und siebzehnten Jahre durchlebt hatte. Doch alsbald überzeugte er sich, daß ihm dies vollständig unmöglich war. Er versuchte nun, auf alles das zu blicken, wie auf eine eitle Sitte, die keine innere Bedeutung besaß, und Ähnlichkeit mit der Sitte des Visitemachens hatte, empfand aber, daß er auch dies durchaus nicht über sich gewann. Lewin befand sich der Religion gegenüber, wie die Mehrzahl seiner Altersgenossen, auf einem vollständig unbestimmten Standpunkt. Glauben konnte er nicht, war aber bei alledem doch nicht fest überzeugt davon, daß alles Glauben unwahr sei, und so empfand er denn — weder imstande, an die Bedeutsamkeit dessen zu glauben, was er that, noch fähig, gleichgültig darauf zu schauen, wie auf eine leere Formalität — während der ganzen Zeit dieser Fasten ein Gefühl von Unbehagen und Scham, indem er that, was er selbst nicht verstand und was, wie ihm eine innere Stimme sagte, gewissermaßen irrig und nicht gut war.

Während der Kirchenfeier lauschte er bald den Gebeten und bemühte sich, ihnen eine Bedeutung beizulegen, die mit seinen Anschauungen nicht in Konflikt geriet, bald suchte er, in der Empfindung, daß er nichts verstehen könne und sie verwerfen müsse, die Gebete nicht zu hören und beschäftigte sich mit seinen Gedanken, Beobachtungen und Erinnerungen, die mit außerordentlicher Lebhaftigkeit während dieses müßigen Stehens in der Kirche in seinem Kopfe durcheinandergingen.

Er hörte die ganze Messe, die Vigilien und am andern Tage, zeitiger als sonst aufgestanden, begab er sich, ohne den Thee genommen zu haben, um acht Uhr morgens wieder in die Kirche, um die Frühgebete und die Beichte zu hören.

In der Kirche befand sich nur ein armer Soldat, zwei alte Weiber und die Kirchendiener.

Ein junger Diakonus, dessen langer Rücken sich in zwei Hälften scharf unter dem dünnen Leibrock abhob, trat ihm entgegen und begann sogleich, zu einem kleinen Tischchen an der Wand tretend, zu lesen. An der Art seines Lesens, besonders an der häufigen und schnell aufeinanderfolgenden Wiederholung der nämlichen Worte „Herr erbarme dich unser“, die von der Hast völlig entstellt klangen, fühlte Lewin, wie ihr Sinn für diesen Mann verschlossen und versiegelt war, fühlte aber auch, daß es sich nicht zieme, jetzt daran zu rühren, da hieraus nur eine Verwickelung entstehen konnte — und so fuhr er fort, hinter dem Geistlichen stehend, ohne ihn zu hören oder sich in ihn zu versenken, an seine eigenen Angelegenheiten zu denken.

„Es liegt wunderbar viel Ausdruck in ihrer Hand,“ dachte er, sich vergegenwärtigend, wie sie gestern beide am Ecktisch gesessen hatten. Zu sprechen hatten sie wenig miteinander gehabt, wie das fast stets während dieser Zeit ist; sie hatte, nur die Hand auf den Tisch legend, diese geöffnet und geschlossen und dazu gelacht, indem sie auf ihre Bewegung blickte. Er dachte daran, wie er die Hand geküßt und dann die ineinanderlaufenden Linien auf der rosigen Handfläche betrachtet hatte.

„Wieder das entstellte ‚Herr erbarm dich‘,“ dachte Lewin, sich bekreuzend, verbeugend und auf die geschmeidige Bewegung des Rückens des sich beugenden Diakonus schauend. „Sie nahm darauf meine Hand und betrachtete die Linien; ‚du hast eine schöne Hand‘, hatte sie gesagt“ und er schaute auf seine Hand und auf die kurze Hand des Diakonus. „Ja, nun ist es bald zu Ende,“ dachte er, „nein, es scheint wieder von vorn anzufangen,“ dachte er, den Gebeten lauschend; „doch, es ist zu Ende, da neigt er sich schon bis zur Erde, das ist stets erst zuletzt der Fall.“

Diskret mit der Hand unter dem Plüschaufschlag ein Dreirubelpapier in Empfang nehmend, sagte der Diakon, er werde nun registrieren und schritt mit seinen neuen Stiefeln schnell und hallend über die Steinplatten der leeren Kirche zum Altar. Nach Verlauf einer Minute schaute er von dort wieder zurück und winkte Lewin. Der Gedanke, welchen dieser bisher in sich verschlossen gehabt, regte sich jetzt wieder in seinem Hirn, doch bestrebte er sich sogleich, ihn von sich zu weisen.

„Es wird sich schon machen,“ dachte er und schritt zu dem Altar. Er stieg die Stufen empor und erblickte, sich rechts wendend, den Geistlichen. Der greise Priester mit spärlichem, halbergrautem Bart und mattem gutmütigem Blick stand und blätterte in der Agende. Nachdem er Lewin leicht gegrüßt hatte, begann er mit der gewohnten Stimme sogleich die Gebete zu lesen. Als er hiermit zu Ende war, neigte er sich bis zur Erde und wandte sich hierauf mit dem Gesicht nach Lewin.

„Christus steht unsichtbar hier und nimmt Eure Beichte entgegen,“ sprach er, auf das Kruzifix deutend. „Glaubet Ihr an alles, was uns die heilige apostolische Kirche lehrt?“ fuhr der Geistliche fort, die Augen von Lewins Gesicht wegwendend und die Arme auf sein Epitrachelion legend.

„Ich habe gezweifelt und zweifle noch an allem,“ sagte Lewin mit einer Stimme, die ihm selbst unangenehm war, und schwieg dann.

Der Geistliche wartete einige Sekunden, ob Lewin nicht noch etwas Weiteres sagen würde, und sprach dann, die Augen schließend, in schnellem wladimirschen o-Dialekt:

„Die Zweifel sind der menschlichen Schwachheit eigen, aber wir müssen beten, auf daß der barmherzige Gott uns stärke. Was für besondere Sünden habt Ihr auf Eurem Gewissen?“ fügte er hinzu, ohne die geringste Pause dabei zu machen, und gleichsam, als wollte er keine Zeit verlieren.

„Meine vornehmste Sünde ist mein Zweifeln. Ich zweifle an allem, ich befinde mich größtenteils nur in Zweifeln.“

„Der Zweifel ist der menschlichen Schwäche eigen,“ wiederholte der Geistliche mit den nämlichen Worten, „aber woran zweifelt Ihr vornehmlich?“

„An allem. Ich zweifle bisweilen selbst an Gottes Dasein,“ antwortete Lewin unwillkürlich, und erschrak über das Unziemliche dessen, was er gesprochen hatte.

Auf den Geistlichen machten indessen, wie es schien, die Worte Lewins keinen Eindruck.

„Welche Zweifel können wohl über Gottes Dasein walten?“ sagte er schnell und mit kaum merklichem Lächeln.

Lewin schwieg.

„Welchen Zweifel könnt Ihr an dem Weltenschöpfer haben, wenn Ihr seine Werke schaut?“ fuhr der Priester in schneller, gewohnheitsmäßiger Sprache fort. „Wer hat den Himmelsdom mit Sternen geschmückt? Wer hat die Welt in ihrer Schönheit gekleidet? Wie sollte das ohne den Schöpfer möglich gewesen sein?“ sprach er, fragend auf Lewin schauend.

Dieser fühlte, daß es unschicklich gewesen wäre, einen philosophischen Wortwechsel mit dem Geistlichen zu beginnen und gab deshalb zur Antwort nur, was sich auf die Frage selbst bezog.

„Ich weiß es nicht.“

„Ihr wißt es nicht? Aber wie könnt Ihr dann daran zweifeln, daß Gott alles geschaffen hat?“ versetzte heiter-bedenklich der Geistliche.

„Ich begreife nichts,“ antwortete Lewin errötend, und im Gefühl, daß seine Worte thöricht waren und in dieser Situation thöricht sein mußten.

„Betet zu Gott und bittet ihn. Auch die Kirchenväter haben gezweifelt und Gott gebeten um Stärkung ihres Glaubens. Der Teufel hat gar große Macht und wir dürfen uns ihm nicht überliefern. Betet zu Gott und bittet ihn. Betet zu Gott,“ — wiederholte der Geistliche und schwieg hierauf einige Zeit, als sei er in Nachdenken versunken. „Wie ich vernommen habe, bereitet Ihr Euch vor, in den Ehebund mit der Tochter meines Pfarrbefohlenen und Beichtkindes, des Fürsten Schtscherbazkiy zu treten?“ frug er lächelnd, „das ist eine herrliche Jungfrau!“

„Ja,“ antwortete Lewin, über den Geistlichen errötend; „wozu brauchte derselbe bei der Beichte hiernach zu fragen?“ dachte er bei sich.

Als ob der Geistliche diesen Gedanken beantworten wollte, sagte er zu Lewin: „Ihr bereitet Euch vor, in den Stand der heiligen Ehe zu treten, und Gott kann Euch mit Nachkommenschaft segnen, nicht so? Welche Erziehung könnt Ihr alsdann Euren Kindlein geben, wenn Ihr selbst in Euch nicht die Versuchung des Teufels besiegen wollt, der Euch zum Unglauben verleitet?“ frug der Geistliche mit sanftem Vorwurf. „Wenn Ihr Euer Kind liebt, so werdet Ihr, als ein guter Vater, nicht nur Reichtum, Überfluß und Würden Eurem Kinde wünschen; Ihr werdet auch sein Heil wünschen, seine geistige Erleuchtung durch das Licht der Wahrheit. Ist es nicht so? Was werdet Ihr antworten, wenn das unschuldige Kindlein Euch frägt, Vater, wer hat das alles geschaffen, das mich in dieser Welt so sehr ergötzt, Erde, Wasser, Sonne, Blumen und Gräser? Solltet Ihr ihm antworten wollen, ich weiß es nicht? Ihr müßt es wissen, da Gott der Herr in seiner hohen Gnade es Euch geoffenbart haben wird. Oder wenn Euer Kind Euch früge ‚was erwartet mich im ewigen Leben?‘ Was werdet Ihr ihm da antworten, wenn Ihr nichts wißt? Wie wollt Ihr ihm einen Bescheid geben? Werdet Ihr ihm den Reiz der Welt und des Teufels zeigen? Das wäre nicht gut,“ sagte er und hielt inne, das Haupt auf die Seite neigend und Lewin mit guten sanften Augen anschauend.

Dieser antwortete jetzt nicht; nicht deswegen, weil er etwa nicht in einen Streit mit dem Geistlichen hätte kommen mögen, sondern, weil ihm noch niemand derartige Fragen gestellt hatte, und er, wenn erst einmal Nachkommen sie ihm stellen würden, noch Zeit genug hatte, darüber nachzudenken, was er dann antworten wollte.

„Ihr tretet ein in diejenige Zeit Eures Lebens,“ fuhr der Geistliche fort, „da es nötig ist, einen Weg zu wählen und sich auf demselben zu halten. Betet zu Gott, damit er in seiner Güte Euch helfe und sich Eurer erbarme,“ schloß er. „Unser Herr und Gott Jesus Christus in seiner göttlichen Gnade und Milde, seiner Liebe zu den Menschen vergebe dir mein Sohn!“ und das Sühnegebet beendend, segnete ihn der Priester und entließ ihn.

Als Lewin an diesem Tage heimgekehrt war, empfand er ein freudiges Gefühl darüber, daß diese peinliche Lage nun ihr Ende erreicht hatte, so erreicht, daß er nicht hatte zur Lüge greifen müssen. Daneben aber war in ihm auch eine unklare Erinnerung davon zurückgeblieben, daß das, was jener gute und liebenswerte Greis gesagt hatte, durchaus nicht so dumm gewesen war, als es ihm anfänglich geschienen, und daß es etwas hierbei gebe, was der Aufklärung bedürfe.

„Natürlich nicht jetzt,“ dachte Lewin, „aber später einmal.“ Lewin fühlte jetzt mehr, als früher, daß in seiner Seele etwas unklar und unrein sei, und daß er sich in Bezug auf die Religion in der nämlichen Lage befinde, die er so klar bei andern erkannt und nicht eben gern gesehen hatte, wegen deren er seinem Freunde Swijashskiy Vorwürfe gemacht.

Lewin war, den Abend mit seiner Braut bei Dolly verbringend, ausnehmend heiter, und sagte, als er Stefan Arkadjewitsch von der gährenden Gemütsverfassung Mitteilung machte, in der er sich befand, daß er sich wohl befinde wie ein Hund, den man durch den Reifen zu springen gelehrt habe und der nun, nachdem er endlich begriffen und ausgeführt hat, was von ihm verlangt wurde, winselt, und schweifwedelnd vor Entzücken auf Tische und Fenster springt.

2.

Am Tage der Trauung bekam Lewin nach der üblichen Sitte — auf der Beobachtung aller Gebräuche behaarten die Fürstin und Darja Aleksandrowna streng — seine Braut nicht zu sehen und speiste im Hotel wo er wohnte, zusammen mit drei Junggesellen, die sich zufällig gefunden hatten; Sergey Iwanowitsch, Katawasoff, ein Universitätsfreund und nunmehriger Professor der Naturwissenschaften, den Lewin auf der Straße getroffen und mit sich genommen hatte, und Tschirikoff, ein Moskauer Friedensrichter und Gefährte Lewins auf der Bärenjagd.

Beim Diner ging es sehr heiter zu. Sergey Iwanowitsch war in aufgeräumtester Stimmung und trieb seine Kurzweil mit Katawasoffs Eigentümlichkeit. Katawasoff, welcher fühlte, daß seine Originalität geschätzt und verstanden werde, kokettierte mit derselben und Tschirikoff unterstützte die allgemeine Unterhaltung in seiner heiteren und gutmütigen Art.

„Da haben wir es ja,“ sagte Katawasoff mit seiner, auf dem Katheder angenommenen Art, die Worte zu dehnen, „welch ein tüchtiger Bursch unser Freund Konstantin Dmitritsch ist. Ich spreche von dem Abwesenden natürlich, denn er ist schon gar nicht mehr hier. Erst liebte er die Wissenschaft, und nach seinem Abschied von der Universität pflegte er menschliche Interessen; jetzt verwendet er die eine Hälfte seiner Fähigkeiten darauf, sich selbst zu betrügen, und die andere — um diesen Betrug zu rechtfertigen.“

„Einen entschiedeneren Feind des Heiratens, als Euch, habe ich noch nicht gesehen,“ sagte Sergey Iwanowitsch.

„O nein; ich bin kein Feind davon; ich bin vielmehr ein Freund der Arbeitsteilung. Die Menschen, welche selbst nichts fertig bringen können, müssen Menschen hervorbringen, und die übrigen — müssen zu deren Aufklärung und Beglückung wirken. So fasse ich die Sache auf. Für die Mischung dieser beiden Berufszweige giebt es ja eine Unmasse von Liebhabern, ich aber gehöre nicht unter die Zahl derselben.“

„Wie glücklich würde ich sein, wenn ich einmal erführe, daß Ihr Euch verliebt hättet,“ sagte Lewin, „ladet mich nur ja zur Hochzeit ein!“

„Ich bin schon verliebt.“

„Ja, ja, vielleicht in einen Tintenfisch. Du weißt doch,“ wandte sich Lewin an seinen Bruder, „daß Michail Ssemionowitsch ein Werk über Ernährung schreibt und“ —

„Nun; nur nichts durcheinanderbringen! Das ist doch ganz gleich. Es handelt sich jetzt nur darum, daß ich wirklich einen Tintenfisch lieben soll.“

„Das hindert Euch aber nicht, auch ein Weib zu lieben.“

„Er nicht, aber das Weib hindert.“

„Inwiefern denn.“

„Ihr werdet es schon noch sehen. Ihr liebt das Landleben, die Jagd — paßt nur auf!“

„Archip war heute hier und meldete, daß eine Masse Elentiere in Prudno wären, und zwei Bären,“ sagte jetzt Tschirikoff.

„Nun; die müßt Ihr schon ohne mich fangen.“

„Ganz richtig,“ sagte Sergey Iwanowitsch, „empfehle dich nur gleich von vornherein der Bärenjagd — deine Frau wird dich nicht mehr fortlassen.“

Lewin lächelte. Der Gedanke, daß seine Frau ihn nicht mehr zur Bärenjagd lassen würde, war ihm so angenehm, daß er bereit war, dem Vergnügen, Bären zu sehen, für immer zu entsagen.

„Aber es ist doch schade, daß diese beiden Bären ohne Euch erlegt werden. Besinnt Ihr Euch noch, das letzte Mal in Chapilowo? Das war eine wunderbare Jagd,“ sagte Tschirikoff.

Lewin wollte ihn nicht ernüchtern, indem er sagte, daß es auch ohne die Bärenjagd noch manches Schöne geben könne und antwortete daher nicht.

„Nicht unnützerweise hat sich diese Sitte des Abschiednehmens vom Junggesellenleben eingebürgert,“ sagte Sergey Iwanowitsch, „wie glücklich du auch sein magst, schade ist es doch um die verlorene Freiheit. Gesteht nur, man hat dabei ein Gefühl wie der Gogolsche Bräutigam, daß man durch das Fenster hinausspringen möchte.“

„Natürlich ist es so, aber er will es nur nicht zugeben,“ sagte Katawasoff und brach in lautes Gelächter aus.

„Was denn! Das Fenster ist ja noch geöffnet! Fahren wir sogleich nach Twjerj! Dort ist eine Bärin, zu der können wir ins Lager. Fahren wir mit dem Fünfuhrzug. Dort macht man was man will,“ meinte Tschirikoff lächelnd.

„Nun, bei Gott,“ antwortete Lewin lächelnd, „ich kann in meinem Innern dieses Gefühl des Bedauerns über meine verlorne Freiheit nicht finden.“

„Ja, in Eurer Seele ist jetzt aber auch ein solches Chaos, daß Ihr überhaupt nichts darin finden könnt,“ sagte Katawasoff, „wartet nur, wenn Ihr erst ein klein wenig mit Euch ins klare gekommen sein werdet, dann werdet Ihr es schon finden.“

„Nein, fühlte ich auch nur im geringsten, daß es außer meinem Gefühl,“ — von Liebe wollte er vor dem Freunde nicht reden, „noch ein Glück gäbe, dann wäre es schade, die Freiheit zu verlieren — aber im Gegenteil, ich freue mich sogar über diesen Verlust meiner Freiheit!“

„Schlimm! Ein hoffnungslos Verlorener!“ sagte Katawasoff, „nun, trinken wir auf seine Genesung, oder wünschen wir ihm nur, daß wenigstens ein Hundertstel seiner Träume in Erfüllung gehe. Schon dies wird ein Glück werden, wie es nie auf der Erde existiert hat.“

Bald nach dem Essen verabschiedeten sich die Gäste, um zur Hochzeitsfeier Toilette zu machen.

Allein zurückgeblieben und sich die Gespräche dieser Hagestolze vergegenwärtigend, frug sich Lewin noch einmal, ob er denn wirklich dieses Gefühl des Bedauerns über den Verlust seiner Freiheit in der Seele habe, von dem sie gesprochen. Er lächelte bei dieser Frage. „Freiheit? Warum Freiheit? Das Glück besteht allein darin, daß man liebt, wünscht und denkt mit ihren Wünschen, ihren Gedanken, das heißt, ohne jede Freiheit — dies ist das Glück! — Aber kenne ich denn ihre Gedanken, ihre Wünsche, ihre Gefühle?“ flüsterte ihm plötzlich eine Stimme zu. Das Lächeln verschwand von seinem Gesicht und er versank in Nachdenken. Plötzlich hatte ihn eine seltsame Stimmung erfaßt, es überkam ihn Furcht und Zweifel — ein Zweifel an allem. — „Wie, wenn sie mich gar nicht liebte? Wie, wenn sie mich nur deswegen heiratete, um sich eben zu verheiraten? Oder, wenn sie gar selbst nicht wüßte, was sie thut?“ frug er sich. „Sie kann zur Erkenntnis kommen und, kaum verheiratet erkennen, daß sie gar nicht liebt, mich nicht lieben kann?“ Die seltsamsten und schlimmsten Ideen über sie begannen ihm aufzutauchen. Er war eifersüchtig auf sie gegen Wronskiy, wie ein Jahr zuvor; als ob jener Abend, an welchem er sie bei Wronskiy gesehen hatte, erst gestern gewesen wäre. Er argwöhnte, daß sie ihm nicht alles gesagt habe, und er sprang schnell auf. „Nein, so geht es nicht!“ sprach er voll Verzweiflung zu sich. „Ich werde zu ihr gehen, sie fragen, und ein letztes Mal ihr sagen: Wir sind noch frei, ist es nicht besser, es zu bleiben? Es wäre dies doch besser, als ein ewiges Unglück, als Schande und Untreue!“ Verzweiflung im Herzen und voll Zorn gegen die ganze Menschheit, auf sich und sie, verließ er das Hotel und fuhr zu ihr.

Er traf sie in den Hinterzimmern. Sie saß auf einem Koffer und traf mit einer Dienerin Anordnungen, einen Haufen verschiedenartiger Kleider durchmusternd, welche auf den Rücklehnen der Stühle und auf dem Fußboden ausgebreitet lagen.

„Ah!“ rief sie, ihn erblickend, und ihr Gesicht erstrahlte vor Freude. „Wie kommst du — wie kommt Ihr“ — bis zu diesem letzten Tage hatte sie bald „du“, bald „Ihr“ zu ihm gesagt — „das habe ich nicht erwartet. Ich mustere soeben meine Mädchenkleider, für wen das Eine oder Andere“ —

„Ach, sehr gut!“ antwortete er düster, auf die Zofe blickend.

„Geh hinaus, Dunjascha, ich werde dich dann rufen,“ sagte Kity. „Was ist dir?“ frug sie, ihn unbedenklich mit „du“ ansprechend, sobald das Mädchen gegangen war. Sie bemerkte sein seltsames Gesicht, welches aufgeregt und düster aussah, und ein Schrecken befiel sie.

„Kity; ich leide. Ich kann aber nicht allein leiden,“ sprach er, Verzweiflung in der Stimme, blieb vor ihr stehen und schaute ihr beschwörend in die Augen. Er hatte schon an ihrem liebevollen, treuherzigen Gesicht gesehen, daß sich nichts aus dem ergeben werde, was er ihr zu sagen beabsichtigte, aber gleichwohl hatte er das Bedürfnis, von ihr selbst seine Zweifel zerstreut zu sehen. „Ich bin gekommen, dir zu sagen, daß es noch nicht zu spät ist, daß alles wieder aufgehoben und in das alte Geleis zurückgebracht werden kann.“

„Was denn? Ich verstehe nichts. Was ist dir?“

„Das was ich tausendmal gesagt habe und woran ich immer denken muß; das, daß ich deiner nicht wert bin. Du konntest nicht einwilligen, mich zum Manne zu nehmen. Bedenke es. Du hast einen Irrtum begangen. Überlege recht wohl! Du kannst mich nicht lieben! Wenn — sage lieber“ — sprach er, ohne sie anzublicken. „Ich werde unglücklich sein. Mögen alle reden, was sie wollen, es ist besser so, als ein Unglück; es ist besser, jetzt zu sprechen, so lange es noch Zeit ist“ —

„Ich verstehe nicht,“ antwortete sie erschreckt, „das heißt, du willst alles aufheben, daß es nicht mehr nötig sei?“ —

„Ja, wenn du mich nicht liebst.“

„Du bist von Sinnen!“ rief sie aus, vor Unwillen errötend. Aber sein Gesicht sah so kläglich aus, daß sie ihren Verdruß unterdrückte, und sich, die Kleider von einem Lehnstuhl werfend, ihm näher setzte. „Was denkst du eigentlich; sage mir alles!“

„Ich denke, daß du mich nicht lieben kannst. Weshalb solltest du mich denn lieben können?“

„Mein Gott, was soll ich anfangen?“ sagte sie und brach in Thränen aus.

„O, was habe ich gethan!“ rief er jetzt und begann, vor ihr auf die Kniee niederfallend, ihre Hände zu küssen.

Als fünf Minuten später die Fürstin in das Zimmer trat, fand sie die beiden schon vollständig beruhigt. Kity hatte ihm nicht nur versichert, daß sie ihn liebe, sondern ihm sogar, auf seine Frage antwortend, weshalb sie ihn denn liebe, erklärt, warum.

Sie hatte ihm gesagt, daß sie ihn liebe, weil sie ihn ganz kenne, weil sie wisse, was er lieben müsse, und daß alles, was er liebe, stets gut sei. Und dies war ihm auch vollständig klar erschienen. Als die Fürstin bei ihnen eintrat, saßen sie beide nebeneinander auf dem Koffer und musterten Kleider, streitend, daß Kity jenes zimmetfarbene Kleid, welches sie getragen, als ihr Lewin seinen Antrag gemacht hatte, der Dunjascha geben wollte, während er darauf bestand, man dürfe dieses Kleid an niemand weggeben, sondern möge der Dunjascha das blaue schenken.

„Aber verstehst du nicht? Sie ist doch brünett und dies wird ihr daher nicht stehen. Bei mir ist alles schon vorbedacht.“

Als die Fürstin erfahren hatte, weshalb er gekommen sei, geriet sie halb im Scherz und halb im Ernst in Groll und schickte ihn wieder nach Hause, damit er sich ankleide und Kity bei der Toilette nicht störe, da Charles sogleich kommen würde.

„Sie hat so schon während dieser ganzen Tage nicht gegessen und ist magerer geworden und du bringst sie nun mit deinen Thorheiten noch mehr aus der Fassung,“ sagte sie zu ihm; „mach daß du fortkommst nach Hause, nach Hause mein Lieber.“

Lewin kehrte verlegen und beschämt, aber beruhigt, nach seinem Hotel zurück. Sein Bruder, Darja Aleksandrowna und Stefan Arkadjewitsch, alle in voller Gesellschaftstoilette, erwarteten ihn schon, um ihn mit dem Heiligenbild zu segnen. Es war keine Zeit mehr zu verlieren.

Darja Aleksandrowna mußte noch nach Hause zurückkehren, um ihren pomadisierten und frisierten Sohn zu holen, welcher das Heiligenbild mit der Braut tragen sollte. Dann mußte ein Wagen nach dem Brautführer gesandt werden und ein anderer, der Sergey Iwanowitsch fortbrachte, wieder hergeschickt werden. Überhaupt gab es sehr viele und verwickelte Überlegungen hierbei, und nur Eines war unzweifelhaft, daß nicht mehr gesäumt werden dürfe, da es bereits halb sieben Uhr war.

Die Segnung mit dem Bilde hatte nichts weiter auf sich. Stefan Arkadjewitsch stellte sich in komisch-feierlicher Haltung neben seine Gattin, nahm das Heiligenbild, segnete Lewin, nachdem er diesem befohlen hatte, sich bis auf die Erde zu verbeugen, mit seinem gutmütigen und sarkastischen Lächeln und küßte ihn dreimal. Das Nämliche that Darja Aleksandrowna, die sich dann sogleich beeilte, abzufahren und abermals in das Arrangement der Bewegung der Wagen vertiefte.

„Nun, so wollen wir es also machen: du fährst in unserem Wagen ihn abzuholen, und Sergey Iwanowitsch würde, wenn er die Güte haben wollte, vorausfahren, den Wagen aber zurückschicken.“

„Gewiß, sehr gern.“

„Wir aber können gleich mit ihm fahren. Sind die Kleider in Ordnung?“ frug Stefan Arkadjewitsch.

„Sie sind es,“ versetzte Lewin und befahl Kusma, seinen Anzug zu bringen.

3.

Ein Haufe von Menschen, namentlich Weibern, umringte die zur Trauungsfeier erleuchtete Kirche. Diejenigen, welche nicht bis in die Mitte hatten vordringen können, drängten sich um die Kirchenfenster unter Stoßen und Streiten und schauten durch die Gitter.

Mehr als zwanzig Wagen waren bereits von der Polizei die Straße entlang aufgestellt worden und der Polizeioffizier stand, die Kälte nicht achtend, in seiner glänzenden Uniform am Eingang. Unaufhörlich kamen noch weitere Equipagen angefahren und bald traten Damen in Blumenschmuck mit hochgenommenen Schleppen, bald Herren, das Käppi oder den schwarzen Hut abnehmend, in die Kirche ein. In dieser selbst waren die beiden Lustres und alle Kerzen vor den feststehenden Heiligenbildern bereits angezündet. Der goldige Schimmer auf dem roten Fonds des Ikonostas, das vergoldete Schnitzwerk an den Bildern und das Silber der Kronleuchter und Leuchter, die Steinplatten des Fußbodens mit den Teppichen, sowie die Banner oben über den Chören, die Stufen des Altars und die vom Alter schwarzgewordenen Kirchenbücher, die Leibröcke und Chorröcke, alles das war wie von Licht übergossen. Auf der rechten Seite der geheizten Kirche, in der Masse der Fracks und weißen Krawatten, der Uniformen und verschiedenen Stoff-, Samt- und Atlasroben, der Haarfrisuren und Blumen, der dekolletierten Schultern und Arme, und hohen Handschuhe summte ein verhaltenes, aber lebhaftes Gespräch, das seltsam in dem hohen Kuppelbau wiederhallte. Sobald das Kreischen der aufgehenden Kirchenthür ertönte, verstummte das Gespräch in dem Haufen und alles schaute auf in der Erwartung, den eintretenden Bräutigam und die Braut zu erblicken. Aber die Thür hatte sich schon mehr als zehnmal geöffnet, und immer war es nur ein verspäteter Geladener oder eine Geladene gewesen, die sich nun nach rechts dem Kreis der Gäste beigesellte, oder eine Zuschauerin, die den Polizeioffizier überlistet oder nachsichtig gestimmt hatte, und sich nun dem fremden Haufen links anschloß. Die Verwandten und Bekannten hatten schon die ganze Stufenleiter des Wartens durchlaufen.

Anfangs glaubte man, daß der Bräutigam und die Braut in jedem Augenblick erscheinen müßten und schrieb der Verspätung keinerlei Bedeutung zu. Dann begann man öfter und öfter nach der Thür zu schauen, und davon zu sprechen, es möchte doch ja nichts vorgefallen sein. Dann wurde die Verspätung schon peinlich und die Verwandten wie die Gäste gaben sich den Anschein, als ob sie gar nicht mehr an den Bräutigam dächten und ganz von ihrem Gespräch in Anspruch genommen seien.

Der Protodiakonus räusperte sich ungeduldig, gleichsam zur Andeutung des Wertes seiner Zeit, und machte damit die Scheiben in den Fenstern klirren. Auf dem Chor wurden die Proben der Stimmen vernehmbar, dann das Schneuzen der sich langweilenden Chorsänger. Der Geistliche sandte fortwährend bald den Küster, bald den Diakonus nach Erkundigung fort, ob der Bräutigam noch nicht gekommen sei und ging sogar selbst in seinem lilafarbenen Priestergewand mit dem gestickten Gürtel, häufiger und häufiger zu den Seitenthüren, in der Erwartung des Bräutigams.

Endlich sagte eine der Damen nach der Uhr blickend „das ist aber doch seltsam“ und alle Trauzeugen gerieten in Unruhe und begannen laut ihre Verwunderung und ihr Mißvergnügen zu äußern. Einer der Herren fuhr wieder fort, sich zu erkundigen, was denn geschehen sei. Kity stand währenddem, schon lange fertig, im weißen Kleid, langen Schleier und Kranz von Pomeranzenblüte nebst der die Mutter und Schwester vertretenden Frau Lwoffs im Saale des Hauses der Schtscherbazkiy und blickte durch das Fenster, schon seit einer halben Stunde vergeblich die Benachrichtigung des Brautführers von der Ankunft des Bräutigams in der Kirche erwartend.

Lewin indessen lief noch, zwar in den Beinkleidern, aber ohne Weste und Frack in seinem Zimmer auf und ab, unaufhörlich den Kopf zur Thür hinaussteckend und den Korridor entlang blickend. Auf dem Korridor jedoch wurde derjenige nicht sichtbar, den er erwartete, und voll Verzweiflung kehrte er, mit den Armen fuchtelnd wieder zurück und wandte sich an den ruhig rauchenden Stefan Arkadjewitsch.

„Hat sich jemals wohl ein Mensch in einer gleich entsetzlichen und albernen Lage befunden?“ sagte er.

„Ja, es ist dumm,“ bestätigte Stefan Arkadjewitsch, sanft lächelnd, „doch beruhige dich, man wird es sogleich bringen.“

„Nein, sicherlich,“ sagte Lewin mit verhaltener Wut, „und diese albernen ausgeschnittenen Westen! Unmöglich!“ sagte er mit einem Blick auf den zerknitterten Brusteinsatz seines Oberhemds. „Und wie, wenn die Sachen schon zur Bahn wären?“ rief er voll Verzweiflung.

„Dann ziehst du ein Hemd von mir an!“

„Das hätte aber schon längst geschehen sein müssen!“

„Es ist allerdings nicht angenehm, lächerlich zu werden. Warte doch, es wird sich machen.“

Die Sache lag so, daß als Lewin die Toilette befahl, Kusma, der alte Diener Lewins, den Frack, die Weste und alles was nötig war, brachte.

„Und das Hemd?“ rief Lewin.

„Das habt Ihr ja schon an,“ versetzte Kusma mit stoischem Lächeln.

Kusma hatte nicht daran gedacht, ein frisches Hemd dazubehalten, und nachdem er den Befehl erhalten hatte, alles einzupacken und zu den Schtscherbazkiy zu bringen, von wo aus das junge Ehepaar noch am Abend abreisen wollte, that er also und packte alles ein außer einem Paar Fräcken.

Das am Morgen angezogene Hemd war schon zerknittert, und ließ sich unmöglich unter der modernen offenstehenden Weste tragen. Zu den Schtscherbazkiy zu schicken, war es zu weit. Man schickte in ein Geschäft.

Der Diener kam zurück: „Alles war geschlossen — es ist Sonntag heute.“ — Man schickte nun zu Stefan Arkadjewitsch, ein Hemd kam, aber es war viel zu weit und kurz. Man schickte endlich doch zu den Schtscherbazkiy, um wieder auspacken zu lassen. Der Bräutigam wurde in der Kirche erwartet, und lief wie ein im Käfig eingekerkertes, wildes Tier im Zimmer umher, auf den Korridor hinausschauend und mit Entsetzen und Verzweiflung daran denkend, was er Kity sagen sollte und was diese jetzt denken mochte.

Endlich flog der unglückliche Kusma, mit Mühe nach Atem ringend, mit dem Hemd in das Zimmer herein.

„Ich habe sie gerade noch erwischt; die Sachen waren schon auf dem Fuhrwerk,“ sagte er.

Drei Minuten später stürzte Lewin, ohne nach der Uhr zu sehen, um seine Wunde nicht noch zu vergrößern, Hals über Kopf den Korridor entlang.

„Damit kannst du nicht mehr viel helfen,“ sagte Stefan Arkadjewitsch lächelnd, ihm hastig nachstrebend. „Es wird sich schon machen, es wird sich schon machen — sage ich dir!“

4.

„Er ist da! — Da ist er! Welcher ist es? Ist er nicht ziemlich jung? Und sie — ja — mehr tot als lebendig!“ — klang es in der Menge durcheinander, als Lewin, nachdem er seine Braut an der Einfahrt begrüßt hatte, mit dieser zusammen die Kirche betrat.

Stefan Arkadjewitsch hatte seiner Gattin die Ursache der Verzögerung mitgeteilt, und die Trauzeugen zischelten nun lächelnd untereinander. Lewin sah und hörte nichts, er musterte nur unverwandten Blickes seine Braut.

Alle sagten, daß sie in den letzten Tagen sehr abgenommen hätte, und im Kranze bei weitem nicht so gut aussah, wie gewöhnlich, aber Lewin fand dies nicht. Er schaute ihre hohe Frisur mit dem langen weißen Schleier und den weißen Blüten an, den hochstehenden gefalteten Kragen, der eigenartig jungfräulich von den Seiten und von vorn ihren schlanken Hals bedeckte und auf die überraschend enge Taille, und ihm schien, daß sie so schöner sei, als sie je gewesen, nicht deshalb, weil diese Blüten, dieser Schleier, dieses aus Paris verschriebene Kleid zu ihrer Schönheit noch etwas hätte hinzufügen können, sondern, weil trotz der künstlichen Pracht der Kleidung der Ausdruck ihres guten Gesichtchens, ihres Blickes, ihrer Lippen, immer der nämliche bei ihr geblieben war mit seiner unschuldigen Treuherzigkeit.

„Ich dachte schon, du wolltest mir davonlaufen,“ sagte sie lächelnd zu ihm.

„Es war so thöricht, was sich mit mir zugetragen hat, daß ich es gar nicht erzählen kann,“ antwortete er, errötend, mußte sich aber jetzt zu seinem an ihn herantretenden Bruder Sergey Iwanowitsch wenden.

„Nicht übel, die Geschichte mit deinem Hemd,“ sagte Sergey Iwanowitsch, lächelnd den Kopf schüttelnd.

„Ja, ja,“ versetzte Lewin, ohne zu verstehen, wovon man mit ihm sprach.

„Nun, mein Konstantin, jetzt müssen wir,“ sagte Stefan Arkadjewitsch mit scheinbar erschrecktem Gesicht, „eine wichtige Frage entscheiden. Du nur bist jetzt in der Verfassung, die ganze Bedeutung derselben zu ermessen. Man frägt mich, ob heruntergebrannte Kerzen angesteckt werden sollen, oder nicht heruntergebrannte? Der Unterschied macht zehn Rubel aus,“ fügte er hinzu, die Lippen zu einem Lächeln kräuselnd, „ich habe entschieden, fürchte jedoch, daß du mir deine Einwilligung nicht geben wirst.“

Lewin erkannte, daß dies ein Scherz sein sollte, aber er vermochte nicht zu lächeln.

„Also wie? Nicht gebrannte oder heruntergebrannte? Das ist die Frage.“

„Nun, nicht gebrannte.“

„Nun, freut mich sehr. Die Frage ist entschieden,“ sagte Stefan Arkadjewitsch lächelnd. „Aber wie thöricht doch die Menschen in einer solchen Situation werden,“ fuhr er zu Tschirikoff gewendet fort, nachdem Lewin, ihn zerstreut anblickend, wieder zu seiner Braut getreten war.

„Paß auf, Kity, du mußt also zuerst auf den Teppich treten,“ sagte die Gräfin Nordstone herzukommend. „Wie stattlich Ihr ausseht,“ wandte sie sich an Lewin.

„Dir ist doch nicht ängstlich?“ frug Marja Dmitrjewna, ihre alte Tante.

„Ist dir nicht wohl? Du bist blaß. Halt, beuge dich ein wenig,“ sagte die Lwowa, die Schwester Kitys, ihre vollen schönen Arme krümmend und lächelnd ihr die Blüten auf dem Haupte ordnend.

Auch Dolly kam; sie wollte etwas sagen, konnte aber nichts herausbringen und begann zu weinen und unnatürlich zu lachen.

Kity schaute alle mit den nämlichen abwesenden Blicken an, wie Lewin. Mittlerweile hatten die Kirchendiener ihren priesterlichen Schmuck angelegt und der Geistliche mit dem Diakonus traten zu dem Altar, welcher in der Vorhalle der Kirche stand. Der Geistliche wandte sich an Lewin und sagte zu diesem einige Worte. Lewin vernahm nicht, was der Priester gesagt hatte.

„Nehmt Eure Braut an der Hand und führt sie,“ sagte der Brautherr zu ihm.

Lange Zeit konnte Lewin nicht verstehen, was man von ihm wollte. Man besserte lange an ihm herum und wollte schon die Hoffnung aufgeben — weil er stets nicht mit der richtigen Hand griff, oder den richtigen Arm nahm — als er endlich erkannte, daß er mit der rechten Hand ohne seine eigene Stellung zu verändern, sie ebenfalls bei der rechten Hand zu nehmen hatte. Nachdem er endlich die Braut in der gehörigen Weise bei der Hand genommen hatte, ging der Priester einige Schritte vor und blieb auf der Altarerhöhung stehen. Die Schar der Verwandten und Bekannten in summendem Gespräch und unter dem Rauschen der Schleppen folgte ihnen; jemand beugte sich nieder und ordnete die Schleppe der Braut. In der Kirche wurde es so still, daß man das Fallen der Wachstropfen vernahm.

Der alte Priester im Scheitelkäppchen mit seinen schimmernden, silbergrauen Haarlocken, die hinter den Ohren nach beiden Seiten geteilt waren, streckte die greisen kleinen Hände aus dem schweren silbernen und mit einem goldenen Kreuz auf dem Rücken geschmückten Gewand hervor und blätterte noch ein wenig auf dem Altar.

Stefan Arkadjewitsch begab sich behutsam zu ihm hin und flüsterte ihm, nach Lewin hinblinzelnd etwas zu, worauf er wieder zurückkehrte.

Der Geistliche zündete zwei mit Blumen geschmückte Kerzen an, indem er sie mit der linken Hand schräg hielt, sodaß das Wachs langsam von ihnen herniedertropfte und wandte sich zu den Neuvermählten. Der Geistliche war der nämliche, bei welchem Lewin gebeichtet hatte. Er schaute mit mattem, traurigen Blick auf Bräutigam und Braut, seufzte und segnete mit der Rechten, die er unter dem Priestergewand hervorstreckte, den Bräutigam, worauf er gleichfalls, aber mit einem Anschein hütender Zärtlichkeit, die Finger auf das geneigte Haupt Kitys legte. Er reichte hierauf beiden die Kerzen und verließ sie langsam, das Räucherfaß nehmend.

„Ist es denn wahr?“ dachte Lewin und blickte auf seine Braut. Wie von oben herab erschien ihm ihr Profil, und an einer kaum bemerkbaren Bewegung ihrer Lippen und Wimpern erkannte er, daß sie seinen Blick empfunden hatte. Sie schaute nicht auf, aber der hohe Rüschenkragen bewegte sich leise, der bis zu ihrem rosigen kleinen Ohr heraufging. Er sah, daß ein Seufzer ihre Brust belastete und die kleine Hand zitterte, welche in dem hohen Handschuh das Licht hielt. All jener eitle Kram mit dem Hemd, der Verspätung, die Auseinandersetzung mit den Bekannten und Verwandten, deren Mißvergnügen, seine komische Situation — alles das war plötzlich verschwunden und es wurde ihm freudig und bange zugleich zu Mut.

Der schöne stattliche Protodiakonus im silbern-schimmernden Chorhemd und den nach seitwärts in gewundenen Locken gekämmten Haaren trat schnell vor und blieb, in der üblichen Geste mit zwei Fingern die Stola hebend, dem Geistlichen gegenüber stehen.

„Segne, Herr!“ ertönten langsam einer nach dem anderen, feierliche Klänge, die Luft in Schwingungen versetzend.

„Gelobt sei unser Gott immerdar jetzt und fürderhin in alle Ewigkeit,“ antwortete sanft und in singendem Tone der alte Geistliche, noch immer auf dem Altar nach etwas suchend. Die ganze Kirche erfüllend von den Fenstern an bis zu den Kreuzbögen, erhob sich, harmonisch und getragen, ein voller Akkord vom unsichtbaren Chor aus, wuchs an, stand einen Augenblick und erstarb dann.

Man betete, wie üblich, für den himmlischen Frieden und das Seelenheil, für die Synode und für Gott, es wurde gebetet auch für den Knecht Gottes, Konstantin, und Jekaterina, die sich jetzt verlobten.

„Daß ihnen sende hernieder eine völlige friedsame Liebe, daß ihnen helfe Gott, das bitten wir,“ atmete gleichsam die ganze Kirche von der Stimme des Protodiakonus.

Lewin vernahm die Worte und sie machten ihn betroffen. „Wie konnte man vermuten, daß Hilfe not that, gerade Hilfe?“ dachte er, sich alle seine kürzlichen Befürchtungen und Zweifel wieder zurückrufend. „Was weiß ich! Was vermag ich in dieser schweren Aufgabe ohne Hilfe? Allerdings, Hilfe thut mir jetzt not.“

Als der Diakonus die Litanei beendet hatte, wandte sich der Priester mit seinem Buche zu den Verlobten: „Ewiger Gott, der du das Getrennte vereinet hast,“ las er mit weicher, singender Stimme, „der das Band der Liebe unauflöslich gestiftet, und Isaak und Rebekka gesegnet hat, dir stelle ich diese als Nachfolger in deinem Bunde vor. Segne du sie selbst, diese deine Knechte, Konstantin und Jekaterina, denen ich allen Segen wünsche, gleichwie du ein erbarmender Gott voll Menschenliebe bist und wir dir Lob singen, dem Vater und dem Sohne und dem heiligen Geiste jetzt und von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.“ Wiederum ertönte in der Höhe der unsichtbare Chor.

„Der das Getrennte vereinet hat und das Band der Liebe gestiftet, wie gedankenvoll diese Worte sind und wie sie dem entsprechen, was man in diesem Augenblick empfindet,“ dachte Lewin. „Ob sie wohl das Nämliche fühlt wie ich?“

Aufschauend begegnete er ihrem Blick, aus dessen Ausdruck er schloß, daß sie ebenso verstanden hatte, wie er. Aber dies war durchaus nicht der Fall; sie hatte fast gar nichts von den Worten der Ceremonie verstanden, ja, diese während der Verlobung nicht einmal vernommen. Sie war nicht fähig, sie zu vernehmen und zu fassen, so mächtig war jenes eine Gefühl, welches ihr die Seele füllte und mehr und mehr zunahm. Dieses Gefühl war das der Freude über die endgültige Vollendung dessen, was schon sechs Wochen zuvor in ihrer Seele vollendet gewesen war und sie im Laufe dieser langen Wochen erfreut und zugleich bedrückt hatte. In ihrer Seele hatte sich, am nämlichen Tage, als sie in dem zimmetfarbenen Kleid im Salon des Hauses Arbatskiy schweigend zu ihm hingetreten war und sich ihm ergeben hatte, zu Tag und Stunde ein völliger Bruch mit ihrem früheren Leben vollzogen; sie hatte ein vollständig anderes, neues, ihr noch völlig unbekanntes Leben begonnen, in der Wirklichkeit freilich das alte nur fortgesetzt. Diese sechs Wochen bildeten die seligste und doch zugleich auch qualvollste Zeit für sie. Ihr ganzes Leben, alle ihre Wünsche und Hoffnungen, vereinigten sich in jenem einen, von ihr noch nicht verstandenen Manne, mit welchem sie ein Etwas, welches von ihr noch weniger begriffen wurde, als jener Mann selbst, verband, ein bald näherungslustiges, bald abstoßendes Gefühl; bei alledem aber fuhr sie fort, in den Verhältnissen ihres vorherigen Lebens weiter zu leben. In diesem ihren alten Leben hatte sie Schrecken empfunden über sich selbst, über ihre vollendete, unbezwingbare Gleichgültigkeit ihrer gesamten Vergangenheit gegenüber; ihrem Eigentum, ihren Gewohnheiten, den Menschen, die sie geliebt hatten und noch liebten, ihrer Mutter die über diese Gleichgültigkeit erbost war, und ihrem guten, früher über alles in der Welt geliebten, zärtlichen Vater gegenüber. Bald erschrak sie über diesen Gleichmut, bald empfand sie Freude über das, was sie dazu gebracht hatte. Sie mochte nichts weiter denken oder wünschen als ein Leben mit jenem Manne, aber dieses neue Leben war noch nicht eingetreten, und sie vermochte es sich nicht einmal klar vorzustellen. Es war nur ein Erwarten — Furcht und Freude über etwas Neues und noch nicht Bekanntes. Jetzt aber, siehe da, war dies Erwarten und die Unkenntnis, die Reue über den Verzicht auf ihr vorheriges Leben vorüber, und etwas Neues sollte beginnen. Dieses Neue aber konnte nicht furchtbar sein in seiner Unbekanntheit; gleichviel, mochte es furchtbar oder nicht furchtbar sein, es hatte sich sechs Wochen vorher schon in ihrer Seele voll entwickelt und wurde jetzt nur das geweiht, was sich lange vorher schon in derselben vollzogen hatte.

Wieder auf den Altar zurückgekehrt, nahm der Geistliche mit Mühe den sehr kleinen Ring Kitys und steckte ihn, sich Lewins Hand reichen lassend, an dessen erstes Fingerglied. „Es wird verbunden der Knecht Gottes Konstantin mit der Magd Gottes Jekaterina.“ Nachdem er den großen Ring an den rosigen kleinen, in seiner Schwächlichkeit Mitleid erregenden Finger Kitys gesteckt hatte, wiederholte der Priester das Nämliche.

Mehrmals glaubten die Brautleute zu erraten, was sie thun müßten, irrten aber jedesmal, und der Geistliche wies sie mit flüsternder Stimme an. Endlich, nachdem alles Erforderliche erledigt war, und er die Ringe gesegnet hatte, übergab er nochmals Kity den großen und Lewin den kleinen Ring, aber von neuem gerieten beide in Verwirrung, und wechselten zweimal den Ring, ohne daß das zu stande kam, was erforderlich war.

Dolly, Tschirikoff und Stefan Arkadjewitsch traten vor, um zu verbessern. Eine Konfusion, Zischeln und Lächeln entstand, aber der feierlich stille Ausdruck auf den Zügen des Brautpaares änderte sich nicht, im Gegenteil, als sie sich mit den Händen geirrt hatten, schauten sie noch ernster und feierlicher als vorher, und das Lächeln, mit welchem Stefan Arkadjewitsch flüsterte, daß jetzt jedes seinen eigenen Ring aufzustecken habe, erstarb unwillkürlich auf dessen Lippen. Er fühlte, daß jedes Lächeln sie nur kränken könne.

„Denn du hast von Anfang an das männliche Geschlecht geschaffen und das weibliche,“ las der Priester weiter nach dem Ringwechsel, „und von dir wird dem Manne das Weib gesellt zur Hilfe und zur Fortpflanzung des Menschengeschlechts. Denn du selbst, Herr unser Gott, hast die Wahrheit gesandt zu deiner Nachfolge und für deinen Bund, für deine Knechte, unsere heiligen Väter, deine Auserwählten; schaue auf deinen Knecht Konstantin und deine Magd Jekaterina und bestätige ihren Bund im Glauben und in der Einmütigkeit und in der Wahrheit und in der Liebe.“

Lewin empfand mehr und mehr, daß alle seine Ideen über das Heiraten, seine Gedanken darüber, wie er sein Leben hatte einrichten wollen, kindlich gewesen waren, und daß hier etwas vor sich ging, was er bis jetzt noch nicht verstanden hatte, und jetzt sogar noch weniger verstehe, obwohl es sich über ihm selbst vollzog. In seiner Brust hoben sich höher und höher innere Schauer, und zudringliche Thränen traten ihm in die Augen.

5.

In der Kirche befand sich ganz Moskau an Verwandten und Bekannten. Während der Ceremonie der Trauung, in der glänzend erleuchteten Kirche, im Kreise der geputzten Damen und jungen Mädchen, der Herren in weißen Krawatten, in Fräcken und Uniformen war ununterbrochen eine leise Konversation geführt worden, die namentlich die Herren anregten, während die Damen in der Beobachtung aller Einzelheiten einer sie stets ja sehr fesselnden heiligen Handlung versunken waren.

In dem Kreise der der Braut zunächst Stehenden befanden sich deren beide Schwestern, Dolly und die ältere, ruhige und schöne Lwowa, die aus dem Auslande gekommen war.

„Was ist das für ein Mary-Kostüm in Veilchenblau; gerade als wäre es schwarz — zu einer Hochzeit“ — sprach die Korsunskaja.

„Die einzige Rettung für ihren Teint,“ antwortete die Trubezkaja. „Mich wundert, daß man die Trauung abends ausgeführt hat — das ist so kaufmännisch“ —

— „Aber schöner. Auch ich bin abends getraut worden,“ antwortete die Korsunskaja und seufzte, als sie daran dachte, wie schön sie an jenem Tage, wie lächerlich verliebt in sie ihr Mann damals gewesen war, und wie jetzt so alles ganz anders geworden sei.

„Man sagt, daß jemand der mehr als zehnmal Brautführer gewesen ist, nicht heirate; ich wollte es heute zum zehntenmale sein, um mich in Furcht zu setzen, allein die Stelle war besetzt,“ sprach Graf Sinjawin zu der hübschen jungen Fürstin Tscharskaja, die Absichten auf ihn hatte.

Die Tscharskaja antwortete ihm nur mit einem Lächeln. Sie blickte auf Kity, und dachte daran, wie und wann sie selbst mit dem Grafen Sinjawin an Kitys Stelle sein würde, und wie sie diesen dann an seinen jetzigen Scherz erinnern wollte.

Schtscherbazkiy sagte dem alten Fräulein Nikolajewa, daß er den Kranz auf Kitys Chignon setzen werde, damit sie glücklich werde.

„Es ist gar nicht nötig einen Chignon aufzusetzen,“ antwortete die Nikolajewa, die schon längst entschlossen war, daß, wenn sie der alte Witwer, nach welchem sie angelte, heiraten sollte, die Trauung die allereinfachste sein sollte. „Ich liebe dieses ‚fast‘ nicht.“

Sergey Iwanowitsch sprach mit Darja Dmitrjewna, sie scherzend versichernd, daß die Sitte, nach der Vermählung abzureisen, deswegen so verbreitet sei, weil Neuvermählte stets kein gutes Gewissen hätten.

„Euer Bruder kann stolz sein. Es ist wunderbar, wie schön sie ist. Ich glaube, Ihr beneidet ihn?“

„Ich habe das schon durchgemacht, Darja Dmitrjewna,“ antwortete er und sein Gesicht nahm unerwartet einen trüben und ernsten Ausdruck an.

Stefan Arkadjewitsch erzählte nun seiner Schwägerin einen schlechten Witz über eine Ehescheidung.

„Man muß den Kranz zurechtrücken,“ antwortete diese, ohne ihn zu hören.

„Wie schade, daß sie so angegriffen aussieht,“ sagte die Gräfin Nordstone zu der Lwowa. „Und gleichwohl wiegt er ihren kleinen Finger nicht auf. Nichtwahr?“

„O, mir gefällt er sehr gut; aber nicht deswegen etwa, weil er mein künftiger beau frère ist,“ antwortete die Lwowa, „und wie schön er sich hält! Es ist so schwer, sich in solch einer Situation gut zu halten und nicht komisch zu werden. Er aber ist nicht komisch, nicht steif, er ist offenbar ergriffen.“

„Ihr habt dies wahrscheinlich erwartet?“

„Fast so. Sie hat ihn stets geliebt.“

„Nun, beobachten wir, wer von ihnen zuerst auf den Teppich tritt. Ich habe es Kity geraten.“

„Gleichviel,“ antwortete die Lwowa, „wir sind doch alle die untergebenen Weiber; es liegt dies doch einmal in unserer Rasse.“

„Ich bin aber doch vorsätzlich zuerst mit Wasiliy darauf getreten; und Ihr Dolly?“

Dolly stand neben ihnen, sie hörte wohl, antwortete aber nicht; sie war tief gerührt. Die Thränen standen ihr in den Augen und sie hätte kein Wort reden können, ohne in Thränen auszubrechen. Sie freute sich über Kity und Lewin; in ihrer Erinnerung zu der eigenen Trauung zurückkehrend, blickte sie nach dem wonneglänzenden Stefan Arkadjewitsch, vergaß alles Gegenwärtige und dachte nur ihrer ersten unschuldigen Liebe. Sie dachte nicht allein an sich, sondern auch an alle nahestehenden oder ihr bekannten Frauen. Sie erinnerte sich ihrer in jener einzigen, für sie so feierlichen Zeit, da sie ebenso wie Kity unter dem Kranze gestanden hatte mit Liebe, Hoffnung und Bangen im Herzen, sich lossagend von der Vergangenheit und in eine geheimnisvolle Zukunft eintretend. In der Zahl aller dieser Bräute, die ihr ins Gedächtnis kamen, sah sie auch ihre geliebte Anna, über deren vermutliche Trennung sie unlängst die Einzelheiten gehört hatte. Auch sie hatte rein in den Pomeranzenblüten und dem Schleier da gestanden. Und jetzt? „Furchtbar seltsam“ — sagte sie.

Aber nicht nur die Schwestern, auch die Freundinnen und weiblichen Verwandten folgten allen Einzelheiten der heiligen Handlung; auch die fremden Frauen, die Zuschauerinnen beobachteten voll Aufregung, mit stockendem Atem, in der Furcht, eine einzige Bewegung verlieren zu können, den Ausdruck der Mienen des Bräutigams und der Braut, und antworteten ärgerlich den gleichgültigen Reden der gleichgültigen Männer gar nicht, oder überhörten sie oft sogar, wenn dieselben scherzhafte oder nebensächliche Bemerkungen fallen ließen.

„Weshalb sieht sie so verweint aus? Folgt sie ihm gezwungen?“

„Was, gezwungen einem so schönen Manne! Ist er nicht ein Fürst?“

„Das ist wohl seine Schwester dort im weißen Atlaskleid? Höre nur, wie der Diakonus plärrt ‚und sie soll ihren Mann fürchten‘.“

„Sind sie denn fremd?“

„Nein, es sind synodale.“

„Ich habe einen Diener gefragt. Er sagte, daß der Bräutigam die Braut sogleich mit sich auf sein Gut nehmen würde. Er soll unendlich reich sein, heißt es. Deswegen hat man ihm auch die Braut gegeben.“

„Nicht doch, das Paar ist so schön.“

„Und da habt Ihr nun gestritten, Marja Wasiljewna, daß die Kanarienvögel wegflögen. Sieh die dort, es soll eine Gesandtin sein, wie gewählt“ —

„Die Braut ist doch zu lieblich, wie ein geputztes Lämmchen. Was Ihr auch sagen mögt; es ist doch schade um sie.“

So schwatzte der Haufe der Zuschauerinnen durcheinander, dem es gelungen war, durch die Thüren der Kirche hereinzuschlüpfen.

6.

Nachdem die Trauungsfeier in der Kirche beendet war, breitete der Küster vor dem Altarplatz in der Mitte der Kirche ein rosafarbenes, seidenes Zeug aus; der Chor stimmte einen kunstvollen und schwierigen Psalm an, in welchem Tenor und Baß sich antworteten und der Priester, sich umwendend, wies die Verlobten auf das ausgebreitete rosafarbene Stück Zeug hin. So oft diese nun schon davon gehört hatten, daß, wer zuerst auf den Teppich träte, das Regiment in der Familie führen würde, vermochten sich doch weder Lewin noch Kity dessen zu entsinnen, als sie die wenigen Schritte zurücklegten. Sie hörten weder die vernehmbaren Bemerkungen und Auseinandersetzungen, daß nach der Beobachtung der Einen er, nach der Meinung der Anderen — beide zugleich darauf getreten wären.

Nach den üblichen Fragen betreffs ihres Wunsches die Ehe zu schließen, ob sie nicht anderweit Versprechungen gegeben hätten, auf die ihre Antworten ihnen selbst seltsam genug klangen, begann eine neue Ceremonie.

Kity hörte die Worte des Gebetes und bemühte sich, deren Sinn zu verstehen, aber sie vermochte dies nicht. Das Gefühl des Stolzes und der lichten Freude begann mit der sich dem Ende nähernden Feier mehr und mehr ihre Seele zu erfüllen, und machte es ihr unmöglich, aufmerksam zu sein. Man betete: „Gieb ihnen Weisheit und Leibesfrucht zu ihrem Nutzen, damit sie heiter seien beim Anblick ihrer Söhne und Töchter;“ es wurde erwähnt, daß Gott das Weib aus einer Rippe Adams geschaffen habe, und „deswegen wird der Mensch Vater und Mutter verlassen und dem Weibe anhangen und sie werden beide sein ein Leib,“ und „dieses Geheimnis ein großes“ sei; man betete, daß Gott ihnen Fruchtbarkeit und Segen verleihe, wie Isaak und Rebekka, Joseph und Mose, und daß sie die Söhne ihrer Söhne noch sehen möchten. „Alles das ist schön,“ dachte Kity, als sie diese Worte vernahm, „alles das kann auch gar nicht anders sein“ und ein Lächeln der Freude, das sich unwillkürlich allen denen, die sie anschauten, mitteilte, glänzte auf ihrem hellgewordenen Antlitz auf.

„Setzt ihn nur ordentlich auf!“ vernahm man zuredende Stimmen, als der Geistliche ihnen die Kränze aufsetzte, und Schtscherbazkiy mit zitternder Hand, im dreiknöpfigen Handschuh, den Kranz hoch über Kitys Kopf hielt.

„Setzt ihn auf,“ flüsterte diese lächelnd.

Lewin blickte sie an und war überrascht von dem freudestrahlenden Glanze, welcher auf ihrem Gesicht lag; diese Empfindung teilte sich auch ihm unwillkürlich mit, und auch ihm wurde dabei so leicht und heiter zu Mut, wie ihr.

Es machte ihnen Freude, dem Lesen der Apostelsendung zu lauschen und dem Verrauschen der Stimme des Protodiakonus beim letzten Vers, das von dem zuschauenden Publikum mit großer Ungeduld erwartet worden war. Es machte ihnen Freude, aus der flachen Schale den lauen roten Wein, mit Wasser gemischt, zu trinken, es machte ihnen noch mehr Freude, als der Geistliche, das Meßgewand zurückwerfend, ihrer beider Hände in die seine nahm und sie unter dem Dröhnen der Bässe, welche das „Jesu freue dich“ ausführten, rings um den Altar geleitete. Schtscherbazkiy und Tschirikoff, welche die Kränze hielten, verwickelten sich in die Schleppe der Braut, lächelten gleichfalls und waren heiter, bald stehen bleibend, bald nach vorn anstoßend an die Jungvermählten, sobald der Geistliche eine Pause im Rundgang machte. Der Götterfunke der Freude, der in Kity entzündet war, schien sich allen mitzuteilen, die in der Kirche anwesend waren; und Lewin dünkte es, als wenn auch der Geistliche und der Diakonus, ebenso wie er, zu einem Lächeln neigten.

Der Geistliche nahm die Kränze von ihren Häuptern, las das letzte Gebet und beglückwünschte die jungen Eheleute. Lewin schaute auf Kity und noch nie bisher hatte er diese so gesehen. Sie war reizend in dem ungewohnten Schimmer von Glück, welcher auf ihrem Antlitz lag. Lewin wollte zu ihr sprechen, aber er wußte nicht, ob die Feier zu Ende sei. Der Geistliche entriß ihn seinen Bedenken, er lächelte ihm gutmütig zu und sagte leise, „küßt Euer Weib, und Ihr, küßt Euren Mann“ und nahm ihnen die Lichter aus den Händen.

Lewin küßte taktvoll ihre lächelnden Lippen, reichte ihr den Arm, und verließ im Gefühl der Nähe eines neuen, seltsam berührenden Etwas die Kirche.

Er glaubte nicht und konnte nicht glauben, daß es Wahrheit sei. Erst als ihn verwunderte und schüchterne Blicke trafen, glaubte er daran, weil er fühlte, daß sie schon Eins waren.

Nach dem Souper, noch in der nämlichen Nacht, fuhren die jungen Leute nach dem Dorfe ab.

7.

Wronskiy und Anna reisten bereits seit drei Monaten zusammen in Europa. Sie hatten Venedig, Rom, Neapel besucht und waren soeben in einer kleinen italienischen Stadt angekommen, wo sie sich für einige Zeit niederzulassen gedachten.

Ein eleganter Oberkellner, mit einem vom Nacken beginnenden Scheitel im dicht pomadisierten Haar, im Frack und mit breiter weißer Battistbrust im Oberhemd, auch einem Bündel Berloques auf dem gerundeten Bäuchlein, antwortete gerade, die Hände in den Taschen und geringschätzig mit den Augen zwinkernd, in gemessenem Tone einem stehenbleibenden Herrn. Als er von der andern Seite der Einfahrt Schritte vernahm, welche die Treppe hinaufgingen, wandte sich der Oberkellner um, zog, als er den russischen Grafen erblickte, welcher hier die besten Zimmer gemietet hatte, respektvoll die Hände aus den Taschen und erklärte mit einer Verbeugung, daß der Kurier da wäre, und die Angelegenheit mit dem Mieten eines Palazzo im Gange sei.

„Ach, das freut mich sehr,“ sagte Wronskiy, „ist die gnädige Frau daheim oder nicht?“

„Gnädige Frau waren spazieren gegangen, sind aber jetzt zurückgekehrt,“ antwortete der Kellner.

Wronskiy nahm den weichen, breitkrempigen Hut vom Kopfe und trocknete mit dem Taschentuch die schweißbedeckte Stirn und die halb über den Ohren hängenden Haare, welche zurückgekämmt waren und die kahle Stelle auf seinem Kopfe bedeckten. Zerstreut auf den noch immer dastehenden und ihn anschauenden Herrn blickend, wollte er vorübergehen.

„Dieser Herr ist Russe und frug nach Ihnen,“ berichtete der Oberkellner.

Mit einem Gefühl, in dem sich Verlegenheit und der Verdruß mischten, daß man nirgends seinen Bekannten entgehen könne, aber im Wunsche, doch wenigstens eine Zerstreuung in der Einförmigkeit seines Lebens zu finden, blickte Wronskiy nochmals den abseits getretenen und wartenden Herrn an, und in ein und demselben Augenblick leuchteten beider Augen auf.

„Golenischtscheff!“

„Wronskiy!“

In der That, es war Golenischtscheff, ein Kamerad Wronskiys vom Pagencorps her. Golenischtscheff gehörte im Pagencorps der freidenkenden Richtung an, trat aus demselben mit bürgerlichem Range aus und hatte nirgends Dienste genommen. Die Kameraden waren seit dem Verlassen des Corps ganz auseinandergekommen und hatten sich in späterer Zeit nur einmal wiedergesehen.

Bei jener Begegnung erkannte aber Wronskiy, daß Golenischtscheff eine hochgeschraubte, freisinnige Wirksamkeit entwickelt hatte und infolge dessen die Thätigkeit und den Beruf Wronskiys gering schätzte, und so kam es, daß dieser bei dem Zusammentreffen mit Golenischtscheff jene kalte stolze Haltung annahm, die er den Menschen gegenüber anzunehmen verstand, und deren Gedanke der war: „Mag Euch meine Lebensart anstehen oder nicht, dies ist mir ganz gleichgültig; Ihr müßt mich aber achten, wenn Ihr meine Bekanntschaft sucht.“

Golenischtscheff hingegen verhielt sich diesem Tone Wronskiys gegenüber mit geringschätzigem Gleichmut. Es dürfte nun scheinen, als ob jene Begegnung sie noch mehr voneinander hätte trennen müssen, jetzt aber erglänzten beider Mienen und sie riefen sich freudig an, indem sie einander erkannten.

Wronskiy hätte nie erwartet, daß er sich über Golenischtscheff so freuen könne, aber wahrscheinlich wußte er nur selbst nicht, wie er sich langweilte. Er hatte den unangenehmen Eindruck ihrer letzten Begegnung vergessen und streckte jetzt dem einstigen Schulkameraden mit offener, freudiger Miene die Hand entgegen. Ein solcher Ausdruck von Freude veränderte auch den ersten unsicheren Ausdruck im Gesicht Golenischtscheffs.

„Wie freue ich mich, dich zu treffen!“ sagte Wronskiy, freundschaftlich lächelnd seine festen weißen Zähne zeigend.

„Ich habe gehört, ein Wronskiy ist hier; wußte aber nicht, welcher. Ich freue mich ganz außerordentlich!“ —

„Komm doch mit herauf. Nun, was machst du denn?“

„Ich wohne schon seit zwei Jahren hier. Ich arbeite.“

„Ach so,“ versetzte Wronskiy voll Teilnahme, „also komme mit herein.“

Nach der Gewohnheit der Russen begann er französisch, anstatt gerade russisch das zu sagen, was er vor der Dienerschaft verbergen wollte.

„Bist du mit der Karenina bekannt? Wir reisen zusammen. — Ich gehe zu ihr,“ — fuhr er auf französisch fort, Golenischtscheff aufmerksam ins Gesicht blickend.