Anna und Alena - Ilka Scheidgen - E-Book

Anna und Alena E-Book

Ilka Scheidgen

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Beschreibung

Odila hat ihre Tochter Anna vor zwei Jahren durch Krebs verloren. Seitdem hat sie sich von der Umwelt abgekapselt. Als sie durch Zufall die zehnjährige Alena trifft, entwickelt sich zwischen ihnen eine zarte Freundschaft. Durch Alenas kindliche Natürlichkeit lernt Odila, sich wieder dem Leben zu öffnen. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Ilka Scheidgen

Anna und Alena

FISCHER E-Books

Inhalt

Meinen Kindern Phil, Daniel [...]Ein Kind fragte: Was [...]Alena öffnete die mächtige [...]

Meinen Kindern Phil, Daniel und Irina

Ein Kind fragte: Was ist das Gras? und brachte es mir mit vollen Händen.

Was konnt’ ich dem Kinde sagen? Ich weiß so wenig wie das Kind, was es ist.

Ich glaube, es müsse die Flagge meines Wesens sein, aus hoffnungsgrünem Stoff gewebt.

Oder ich meine, es müsse das Taschentuch Gottes sein,

Eine duftende Gabe, ein Andenken, absichtlich fallen gelassen,

Der Name des Eigentümers in einer Ecke vermerkt, damit wir ihn sehen und fragen: Wem gehört’s?

 

Walt Whitman

Alena öffnete die mächtige Tür einen Spalt, was ihre gesamte Kraft erforderte, gerade so weit, dass sie hineinschlüpfen konnte. Plötzlich umfing sie ein wunderbar gedämpftes Licht, das aus den hohen Fenstern vielfach farbig auf den Fußboden und die im Halbdunkel stehenden Bänke fiel.

Sie war allein. Um diese Zeit war das Gittertürchen fast immer unverschlossen. Dort hindurch konnte sie in ihr Geheimreich.

Leise ging sie durch die Kirche, bis sie vorne links die niedrige Gittertür erreicht hatte. Es ging eng gewunden steinerne Stufen hinab. Hier war es noch schwächer erleuchtet. Jedes Mal beim Hinuntersteigen befiel sie ein leichter Schauer.

Aber nun, als sie in der Höhle, wie sie den Raum nennt, ankommt, ist die Furcht vorbei.

Es ist ein ziemlich kleiner Raum. Im Gegensatz zu dem hohen oberen ist dieser geradezu zwergenhaft. Mit wenigen Schritten kann Alena ihn durchmessen. Durch zwei kleine, halbrunde Fenster dringt nur spärliches Licht von außen. Dafür brennen hier ganz viele Kerzen. Sie stehen auf einem schwarzen Eisentablett und flackern und beleben die niedrige gewölbte Decke mit rötlichem Schimmer.

In der Mitte der Höhle steht ein Sarg aus Stein. Und auf diesem steinernen Sarg liegt ein Mensch aus Stein. Er muss dort schon sehr lange liegen. Dieser Mensch – Alena weiß nicht recht, ist es ein Mann, ist es eine Frau, denn er ist mit einem langen Gewand bekleidet – liegt dort wohl schon viele Jahrtausende, denkt Alena. Und er ist so allein. Deshalb besucht sie ihn.

 

Seit Odila alleine lebt, geht sie oft ungewohnte Wege. Da kommt es schon mal vor, dass sie eine Kirche betritt. Es ist nur wegen der Ruhe dort.

Heute hat sie einen freien Tag. Da ist sie in das mittelalterliche Städtchen gefahren mit seiner noch teilweise erhaltenen Stadtmauer. Nachdem sie eine Weile durch die engen Gassen geschlendert ist, kommt sie auf einen Platz, wo Marktleute dabei sind, ihre Stände abzuräumen. Hinter dem quirligen Treiben erhebt sich wuchtig die Kirche, deren zwei Türme Odila schon von weitem gesehen hat.

Fast mechanisch steigt sie die Treppen zum Eingangsportal empor. Die Tür ist nicht verschlossen. Schwer nur lässt sich die Bronzetür öffnen. Odila bleibt ganz hinten stehen. Sie lässt ihre Blicke über die Bankreihen nach vorne zu dem Halbrund des Altarraums wandern.

Das Halbdunkel behagt ihr. Es bringt die vielen Stimmen in ihrem Innern zum Schweigen. Sie nimmt sich eins von den Gebetbüchern aus dem Regal und setzt sich in die letzte Reihe. Sie schlägt die Lieder auf, liest »Großer Gott, wir loben Dich«. Bilder von ihrer Konfirmation tauchen als Erinnerung auf. Das ist lange her, fast zwanzig Jahre. Wie vieles ist seitdem geschehen. Und sie findet noch dieses Lied: »Schönster Herr Jesu«. Die Erinnerung liegt noch weiter zurück. Kindheit. Sie summt die Melodie: »Schöhönster Herr Jehesuh.« Aber der Herrjesu ist für sie schon vor langer, langer Zeit gestorben. Als sie anfing, sich erwachsen zu fühlen.

 

Alena nimmt wie immer eins von den Lichtern aus Wachs, die von einer roten Schale umgeben sind. Nur die flackern so schön und brennen auch viel länger. Sie entzündet es an einem anderen und stellt es zu Füßen des steinernen Heiligen. Heilig ist er oder sie, so viel weiß sie, sonst läge er nicht in einer Kirche begraben.

Er freut sich über die flackernden Lichter, denkt Alena. Nein, sie denkt es nicht, sie weiß es. Denn manchmal kommt es ihr so vor, als wenn er sie anlächle.

Nun muss sie aber wieder hoch. Mit schnellen Sprüngen, zwei Stufen auf einmal nehmend, ist sie bei dem Gittertürchen. Sie bewegt es vorsichtig, weil es manchmal so entsetzlich quietscht, huscht durch den schmalen Gang zwischen den Bankreihen im Seitenschiff.

 

Die Sonne blendet, wenn man so plötzlich aus der Dämmerung ans Licht tritt. Alena hält sich die Hand vor die Augen. Ihre Hand wird warm. Die Wärme breitet sich auch im Körper aus. Das Frösteln, das sie nach einer Weile in ihrer Höhle stets überkommt, ist schnell vorüber.

Sie nimmt ihr Rad, das sie seitlich an die Kirchenmauer gelehnt hat, und schwingt sich drauf wie auf ein Pferd.

»Holla«, ruft sie halblaut. Das ist das Startsignal für ihren Hengst.

Mai ist es. Es riecht nach Sommer. Noch reicht die Zeit vor dem Mittagessen, um in die Felder zu galoppieren. Mit wildem Schwung, dass ihre dunklen, lockigen Haare nur so fliegen, fährt Alena über einen Feldweg. Schön die Unebenheiten, die Löcher mit den Pfützen, der Mittelstreifen mit einer hohen Grasnarbe voller Löwenzahn und Kleeblumen! Da überall hindurch, voller Lebenslust.

Zu gerne würde Alena stundenlang so weitergaloppieren. Immer im Geiste auf dem Rücken ihres Pferdes. Aber sie weiß, dass ihre Mutter mit dem Essen auf sie wartet und es nicht gerne hat, wenn sie auf Alena warten muss.

Ein kühner Satz vom Stahlross. Sie wirft es ins Gras. Soll es inzwischen von dem saftigen Grün fressen! Alena beginnt, Blumen für einen Strauß zu pflücken. Zuerst den Mohn. Sie stellt es ganz vorsichtig an, damit die zarten Blätter nicht schon beim Pflücken abfallen. Auch ein paar Knospen sind dabei. Die sind noch von einer grünen Kapsel umschlossen. Dann Margeriten. Hier wachsen mehr, als sie pflücken kann. Wie Sterne, denkt sie, als sie sie anschaut. Ein paar Stengel Raps dazu, der duftet so intensiv. Und am Rande des Rapsfeldes entdeckt sie zu ihrer Freude noch Kornblumen. Ach, noch ein paar Stiele mit den rötlichen Sauerampferblüten und lila und weißem Klee. So sieht der Strauß wirklich schön aus. Mutti wird sich freuen! Aber jetzt wird es höchste Zeit. Die Turmuhr schlägt gerade.

 

Odila war in der Stille der Kirche ein wenig zur Ruhe gekommen. Lange hatte sie sich nicht mehr so ruhig gefühlt. Seltsam, dachte sie, hier ist es anders als draußen. Ein Lichtstrahl fiel durch das bunte Fenster auf ihre rechte Hand. Er zeichnete tanzende Reflexe auf den schmalen Handrücken. Nichts denken, einfach nur ausruhen. Während Odila fast so etwas wie Frieden in ihrem Innern empfand, ließ sie ihre Blicke in dem gewaltigen Kirchenraum umherwandern. In vielen Nischen standen Heiligenfiguren, vorne links eine Muttergottes mit dem Kind auf dem Arm. Überall üppiger Blumenschmuck. Vor der Madonna brannten Kerzen.

Wie sie eben überlegte, ob sie auch eine Kerze dort aufstellen sollte, sah sie aus einer niedrigen Türöffnung, die sie bisher nicht beachtet hatte, jemanden heraushuschen. Ein brauner Lockenkopf! Ein Mädchen, etwa zehn Jahre alt mochte es sein. Ehe sie es noch recht hatte erkennen können, war es im Seitenschiff verschwunden.

 

Ihr Herz wurde augenblicklich sehr wund. Dieses kleine, quirlige Mädchen hatte in ihr wieder all das wachgerufen, was sie vergessen wollte und – nicht konnte. Zehn Jahre – so alt wäre jetzt Odilas Tochter. Wenn sie noch lebte! Sie durfte nicht daran denken, sie wollte nicht.

Voller Unruhe stand sie auf, blieb eine Sekunde unschlüssig vor dem Becken mit Weihwasser stehen, ging dann aber schnell zum Ausgang, trat hinaus in den sonnigen Tag.

Einen Moment lang hoffte sie, das Mädchen zu sehen. Sie schaute sich suchend um. Aber es war bereits fort.

 

Es war Montag. Alena sauste mit ihrem Rad durch die geraden asphaltierten Straßen in dem neuen Wohnviertel vor den Mauern der alten kleinen Stadt. Die Schule war vorüber. Heute war alles schief gelaufen. Frau Rittgen hatte sie in Erdkunde drangenommen. Erdkunde mochte Alena nicht. Und die Frau Rittgen auch nicht. Sie hatte sie streng angesehen und erwartungsvoll »Nun?« gesagt. Da war Alena das wenige, was sie vielleicht zu sagen gewusst hätte, im Munde stecken geblieben.

»Setz dich!«, hatte sie voller Tadel gesagt und: »Zum Träumen ist die Schule nicht da!«

Nun musste Alena erst mal ihre Wut ablassen. Die verging am schnellsten, wenn sie wie verrückt durch die Straßen jagte.

Es lag alles bloß daran, dass gestern Sonntag und Besuchstag war. Besuchstag beim Vater. Diese Tage brachten sie stets aus dem Gleichgewicht.

Vom Fenster aus konnte sie ihn auf der Straße stehen sehen. Er war immer pünktlich. Vier Uhr. Alena hatte nichts gegen ihren Vater. Dennoch graute ihr vor diesen Treffen regelmäßig. Sie wusste nicht genau, wieso. Aber alles lief so künstlich ab. Die Fragerei nach der Schule und wie es zu Hause ginge.

Sie stürmte die Treppe hinunter. Auf der Straße bremste sie ihre Schritte. Langsam – wie eine Aufziehpuppe – ging sie auf den Vater zu. Er sah in ihre Richtung, hatte sie jedoch noch nicht erkannt. Er war sehr kurzsichtig. Dann aber ging ein Strahlen über sein Gesicht, und er breitete die Arme aus. Da konnte Alena nicht anders. Sie lief die letzten Schritte auf ihn zu.

»Mein Goldkind«, sagte er. Und einen Moment lang fühlte Alena wieder wie früher, als sie noch klein war. Sie legte ihr Gesicht auf seine Schulter. Er wirbelte sie im Kreis. Sie schloss die Augen. Könnte die Zeit stehen bleiben, dachte sie, könnte es immer so bleiben.

 

Eine Woche ist vergangen. Odila geht ihrer Arbeit nach. Die Kinder im Kindergarten können jetzt draußen toben. Sie liebt diese lärmende Kinderschar. Es gab Zeiten, in denen es ihr wehtat, wenn wohlmeinende Mütter sie nach ihren Kindern fragten. Dann war sie unempfindlich dagegen geworden. Seltsam, dass es jetzt wieder schmerzte. Seit sie das Mädchen in der Kirche gesehen hat.

Am Nachmittag fährt sie nach Hause. Es ist nicht mein Zuhause, denkt sie. Niemand erwartet mich dort.

Unterwegs bleibt sie an einem Feld stehen, lässt den Wagen im Schatten einer Ulme zurück und geht. Geht lange. Ohne Ziel. Am Feldrain eine dichte Reihe mit tiefroten Mohnblumen. Ein weißes Pferd inmitten einer hohen Wiese unter alten, verknorrten Obstbäumen. Das Pferd hält den Kopf in den Wind, seine Mähne fliegt. Mit aufgeblähten Nüstern trabt und galoppiert es immer wieder über die lang hingestreckte Wiese. Stolz erhoben den Kopf. Voller Unruhe und Begier, zu seinen Artgenossen zu gelangen, von denen es durch zwei Zäune getrennt ist.

Odila spürt die Wildheit der Natur. Sie möchte am liebsten die Zäune zerschneiden.

Mit einem Mal ist der Himmel von Gewitterwolken überzogen. Noch ehe sie das Auto erreicht, prasseln Regenschauer herab. Die Obstbäume werden vom Sturm gepeitscht. Ihre Blütenblätter stieben durch die Luft. Im Nu ist Odila durchnässt.

 

In der Nacht träumt Odila von einem Mädchen auf einem weißen Pferd. Es ist eine Prinzessin. Sie sieht aus wie das Mädchen aus der Kirche.

Das Kind galoppiert einen Hang hinauf. Auch Odila sitzt auf einem Pferd. Das Kind ist bereits oben angelangt. Es schaut sich um. Da reitet auch Odila los. Sie will es erreichen. Ihr Pferd greift weit aus. Schon ist Odila kurz vor der Bergkuppe. Da setzt das Pferd zu einem Sprung an. Es hebt sich in die Luft und schwebt einen Moment lang. Vor ihr liegt nun eine Ebene. Eine baumlose Landschaft im Schnee. Die Prinzessin ist verschwunden.

 

Eine Sommerwiese. Blauer Himmel. Vogelgezwitscher. Vögel tanzen, segeln sehr hoch. Sie stehen in der Luft ohne Bewegung. Plötzlich lassen sie sich fallen. Im letzten Augenblick ziehen sie wieder aufwärts.

Alena liegt in der Wiese. Ein Gebrumm von Fliegen. Es gibt schon Schmetterlinge. Hummeln kriechen in die Blütenkelche hinein. Lauter Pusteblumen. Alena knipst vorsichtig einen Stengel ab. Sie hält die Samenkugel gegen die Sonne. Sie muss die Augen zusammenkneifen. Die Oberfläche der Kugel sieht aus wie ein Fell. Nein, wie Seide. Durchsichtig und schimmernd. In der Mitte der Kugel ist ein fester Kern. Heute ist es windstill. Alena spitzt den Mund und bläst gegen die Kugelblume, Pusteblume. Lauter kleine Fallschirme segeln erst hoch und dann langsam zu Boden. Alena träumt von den Ferien.

Frau Rittgen hat sie in der Schule heute wieder angeschnauzt. Weil sie so unordentlich geschrieben hat. Blöde Schule, denkt Alena. Sie rupft eine ganze Hand voll Pusteblumen ab und bläst wie wild die Samen in die Lüfte.

 

Odila will das Mädchen wiedersehen. Sie meint, sie müsse es finden. Als hänge ihr Glück davon ab.

Sie ist heute besonders nett zu den Kindern. Sie hat Seifenblasen mitgebracht. Das gibt ein Juchzen und Hopsen. Einer zaubert die meisten, ein anderer die größten aus dem gelben Plastikring hervor. Wie die Blasen tanzen und schillern! Wenn sie ein Blatt berühren, eine Kindernase, einen Ball, zerplatzen sie lautlos. Umso lauter schreien die Kinder vor Vergnügen. Sie springen nach den glänzenden Kugeln, fangen sie mit ihren kleinen Händen auf. Odilas Herz ist ganz weich und voller Freude. Ein schöner Tag, denkt sie.

Nachdem die Kinder von ihren Müttern abgeholt sind und die Stühlchen alle an ihrem Platz stehen, beginnt der Feierabend. Oft zögert Odila diesen hinaus, indem sie noch aufräumt oder Spiele für den nächsten Tag zurechtlegt. Manchmal hat sie richtig Angst, nach Hause zu fahren. Angst vor der Stille in ihrer Wohnung.

Heute hat sie es eilig. Sie schließt den Kindergarten ab und läuft schneller als sonst zum Auto. Sie will zu dem Städtchen fahren, in dem sie das Mädchen getroffen hat. Das Gesicht ist ihr nicht aus dem Kopf gegangen. Diese scheue, aber selbstverständliche Kniebeuge sieht sie noch vor sich. Die wilden Locken.

 

Odila steuert geradewegs auf die zwei spitzen Kirchtürme zu. Sie kommt sich ein bisschen verrückt vor. Zu hoffen, sie könnte die Kleine finden. Egal. Sie ist so in Gedanken versunken, dass sie nicht merkt, wie aus dem seitlichen Feldweg ein Kind mit dem Fahrrad auf die Straße schießt.

Alena dachte noch immer voller Wut an Frau Rittgen und wie sie sie vor der Klasse runtergemacht hatte.

»Dein Heft sieht aus, als wär eine Herde Säue drübergerannt!«

»Blöde Kuh«, sagt Alena laut vor sich hin und biegt mit Schwung nach rechts in die Hauptstraße. Nach links hat sie gar nicht geschaut.

Sie sieht nur einen dunkelblauen Schatten ganz dicht neben sich, macht einen Schlenker vor Schreck und verliert das Gleichgewicht.

Bremsen quietschen. Odila springt aus dem Auto.

Mein Gott, denkt sie, was ist passiert!

Sie läuft zu dem Kind, das neben dem umgekippten Fahrrad liegt.

»Hast du dir wehgetan?«

Da steht das Mädchen schon wieder auf, ein bisschen bleich im Gesicht. »Nö«, sagt es, »es war mehr der Schreck!«

Es begutachtet sein Fahrrad. Nichts verbogen. Ein Glück. Sonst hätte es Ärger gegeben.

»Da haben wir beide aber Glück gehabt«, sagt Odila und streicht dem Mädchen über das Haar.

»Ja, wirklich«, meint Alena, »ich hätte aufpassen müssen!«

»Ist noch mal gut gegangen.« Auch Odila ist ordentlich erleichtert.

Erst jetzt guckt sie sich das Kind genauer an.

Es ist der Lockenkopf.

»Du, hast du nicht Lust auf ein Eis«, fragt Odila, »nach so einem Schreck kann man eine Stärkung brauchen!«

Da sagt Alena nicht nein.

Sie weiß auch schon, wo es die dicksten und leckersten Bällchen gibt.

»Wie heißt du eigentlich?«

»Alena«, antwortet das Mädchen, »und du?«

»Ich heiße Odila.«

»Oh – Dilah«, Alena zieht die Silben in die Länge. »Seltsamer Name. Dila hört sich gut an. Ich sag Dila, das klingt besser!«

»Einverstanden.«

Alena schlägt vor, dass sie mit dem Rad vorfährt. Odila soll ihr folgen. Weit ist es nicht bis zur Eisdiele. Als sie auf dem Fahrrad sitzt, zittern ihr doch die Knie.

»Da hab ich unverschämtes Glück gehabt«, denkt sie. »Um ein Haar hätt mich das Auto erwischt!«

Sie geleitet den ihr nachfolgenden VW-Käfer zum Parkplatz vor der Stadtmauer.

»Hier kannst du das Auto stehen lassen«, sagt sie zu Odila. Alena schiebt ihr Rad. Vorbei an den duftenden Fliederbüschen. Sie biegen in eine schmale Seitengasse und gelangen zur Bäckerstraße. Alena zeigt auf ein Fachwerkhaus, bei dem die Felder bunt angemalt sind. Von holzgeschnitzten Balkonbrüstungen hängen üppige Geranien herab.

»Da ist Tino«, ruft Alena und hopst vorwärts.

Odila sieht das Schild »Tino’s Eisdiele«.

Alena steht bereits vor der Theke und sieht die unverhoffte Eisspenderin erwartungsvoll an.

»Such dir aus, was du magst«, sagt Odila.

»Erdbeer, Schoko und …« Alena zögert bei der Wahl der dritten Sorte. Soll sie sich für Pistazie oder Nuss oder … entscheiden? Sie wendet sich an Odila.

»Was für ein Eis isst du am liebsten?«

Odila mag Eis nur in Ausnahmefällen. Aber wenn, dann Stracciatella. Sie zeigt auf den Behälter mit den Schokostückchen im Eis. »Stracciatella«, antwortet sie.

»Also gut, dann nehme ich das.«

Zufrieden nimmt Alena das Hörnchen entgegen. »Danke«, sagt sie.

»Lass es dir schmecken!«, wünscht ihr Odila.

Mit dem Eis in der Hand wandern sie weiter. Sie kommen an einem Zaun entlang, dahinter ist eine Baugrube.

»Was ist das denn, soll hier was gebaut werden?«, fragt Odila, die sich in dem Ort nicht auskennt.

»Nee, da buddeln sie nach alten Mauern. Aus der Römerzeit. Hat uns Frau Rittgen erzählt, unsere Erdkundelehrerin.«

»Aha«, meint Odila. Viel mehr kann sie dazu nicht sagen. Ihre Geschichtskenntnisse oder Erinnerungen an Heimatkunde aus der Schulzeit sind nicht gerade groß.Trotzdem hat sie wohl ein wichtiges Thema berührt. Denn Alena sprudelt plötzlich los: »Frau Rittgen kann mich nicht leiden. Und ich sie erst recht nicht! Immer meckert sie über mich. Mal bin ich zu still. Mal sitz ich zu unruhig. Und wenn ich mich mal melde, nimmt sie mich einfach überhaupt nicht dran. Da kann ich mir den Arm ausreißen! Man kann es ihr nie recht machen.«

Dass die Frau Rittgen ihr sonst ordentliches Zeugnis verpatzen wird, daran will sie im Moment lieber nicht denken. Obwohl es nicht mehr lange bis zu den Sommerferien ist.

»Was machst du denn?«, will Alena wissen.

»Ich bin Kindergärtnerin.«

»Ach, das ist ein schöner Beruf. Kleine Kinder sind netter als größere«, meint Alena. Sie denkt an sich und ihre Klassenkameraden. Nett sind sie ja oft wirklich nicht zu ihren Lehrern. Neulich hat der Dirk dem Herrn Heuer einen nassen Schwamm in dessen Aktentasche geschmuggelt. Aber verraten hat ihn keiner! Dafür haben alle doppelt so viel Hausaufgaben aufgekriegt.

Odila protestiert. »Du bist doch aber sehr nett, Alena«, sagt sie.

»Na, ich weiß nicht. So genau kennst du mich ja auch gar nicht.«

Trotzdem gefällt es Alena, dass sie ein Eis spendiert bekommen hat und dass sie, statt Schimpfe für ihre Unachtsamkeit beim Fahrradfahren zu kriegen, auch noch nett gefunden wird.

»Kommst du öfter hierher?«, fragt sie Odila.

»Wenn du magst, kann ich gerne mal wieder herkommen.«

Alena weiß nicht, was dagegen einzuwenden wäre.

»Doch«, sagt sie, »ich fänd es schön.«

Währenddessen sind sie wieder bei dem Auto angelangt.

»Komm noch ein Stück mit«, sagt Alena, »ich zeig dir, wo ich wohne.«

Odila fühlt mit der Hand plötzlich die Seifenblasendose in ihrer Jackentasche. Die ist noch mindestens halb voll. Sie gibt sie Alena. »Da hast du was als Andenken. Und pass besser auf beim Radfahren«, sagt sie mit einem wirklich besorgten Ton in ihrer Stimme.

»Danke, Dila. Das ist nett von dir. Du hast Recht. Mutti sagt auch immer zu mir, dass ich eine wilde Hummel bin. Ich werd wirklich besser aufpassen! Ein Gipsbein ist gar nicht so lustig. Da kann man ja so lange nicht Rad fahren und auch nicht turnen. Sport ist nämlich mein Lieblingsfach in der Schule.«

Schon stehen sie vor den neuen Häusern. Rechteckige Kästen mit flachen Dächern. Sie sehen nicht sehr schön aus in der Landschaft.

»Da oben, die Klingel ist unsere. Matusek steht drauf. Nachmittags bin ich meistens auf dem großen Sportplatz dort drüben. Also tschüs, Dila. Und komm bald mal wieder.« Alena gibt Odila die Hand.

»Und danke noch mal für das Eis! Und für die Seifenblasen«, beeilt sie sich noch zu sagen, während schon die Tür zufällt.

Odila winkt ihr nach. Ein seltsamer Tag, denkt sie. Und leise sagt sie: »War das nun Zufall?«

 

Alena springt die Treppen hoch, zwei, manchmal drei Stufen auf einmal. Sie schließt die Tür zur Wohnung auf. Mutti ist noch nicht zu Hause. Alena hofft, dass ihre Mutter einmal pünktlich nach Hause kommt. Viel zu oft kommt es vor, dass es Abend wird, bis sie aus der Praxis zurückkommt.