Für Anouk.
Danke, dass Du uns zeigst, was im Leben wirklich wichtig ist.
Und egal, wohin Dein Weg Dich führt – Du sollst wissen, dass
wir immer Dein Zuhause sind.
In Liebe
Mami und Papi
Mit Bildern von
Vollständige eBook-Ausgabe der Hardcoverausgabe München 2022
©
2022 arsEdition GmbH, Friedrichstraße 9, D-80801 München
Alle Rechte vorbehalten
Text: Hendrikje Balsmeyer und Peter Maffay
Illustrationen: Joëlle Tourlonias
Covergestaltung: Grafisches Atelier arsEdition unter Verwendung
einer Illustration von Joëlle Tourlonias
ISBN eBook 978-3-8458-5176-1
ISBN Printausgabe 978-3-8458-5078-8
www.arsedition.de
Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung
oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.
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Inhalt
Die Wahrheit gewinnt immer
7
Du bist etwas Besonderes
27
Angst beginnt im Kopf,
Mut aber auch!
47
Sag niemals nie
67
Ein magischer Ort
89
Voneinander lernen
110
Ab heute für immer
131
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Die Wahrheit gewinnt immer
Anouk sitzt in ihrem Zimmer auf dem Boden und spielt mit ihrer
Eisenbahn. Sie hat eine richtige Landschaft aufgebaut, wie in der
echten Welt.
Für das Bahnhofsgebäude hat Anouk Papas alte Schallplatten anei-
nandergestellt, die hört er sowieso nie. Obendrauf liegt eine, auf der
steht „Sonderzug nach Pankow“, das fand Anouk sehr passend – auch
wenn sie nicht weiß, wo Pankow liegt. Gleich neben dem Bahnhof ist
eine Pferdekoppel. Der Zaun ist schon fertig, jetzt fehlt nur noch ein
Pferd. Da fällt Anouk ein: Ihre Freundin Freda hat ihr doch mal ein
selbst geschnitztes geschenkt!
„Komm, Affi“, sagt sie zu ihrem liebsten Plüschfreund, „holen wir die
Schatzkiste!“
Affi weiß natürlich sofort, was sie meint, schließlich ist er Tag und
Nacht an ihrer Seite.
Aber das ist eine lange Geschichte …
7
Angefangen hat alles kurz vor Anouks siebtem Geburtstag. Seitdem
leuchtet jede Nacht, kurz nachdem sie eingeschlafen ist, ein geheim-
nisvolles Licht unter ihrer Zimmertür, das ganz anders aussieht als
das normale Flurlicht. Erst hat es Anouk ein bisschen Angst gemacht,
aber seit sie weiß, dass sich hinter der Tür immer neue Abenteuer ver-
bergen, kann sie es Tag für Tag kaum erwarten, bis es wieder losgeht!
Gemeinsam mit Affi war sie schon auf einer Ritterburg, bei den Pira-
ten und sogar bei einem Hundeschlittenrennen! Und das selbst ge-
schnitzte Pferdchen stammt von einem Besuch auf dem Bauernhof.
Jeden Gegenstand, den Anouk von ihren Abenteuern mitbringt, be-
wahrt sie in einer hölzernen Schatzkiste auf. Zuerst in einem ver-
steckten Geheimfach, aber das ist längst voll. Und wenn es so weiter-
geht, wird sogar die gesamte Kiste bald zu klein sein! Nur Oma darf
Anouks Schätze sehen, denn sie ist die Einzige, die Anouk versteht,
weil sie als Mädchen selbst solche nächtlichen Abenteuer erlebt hat.
Die beiden haben jetzt ein Geheimnis, das sie mit niemandem teilen –
außer mit Affi natürlich. Denn Anouk befürchtet, dass es sonst vorbei
sein könnte.
Als Anouk gerade ganz verträumt vor ihrer Schatztruhe sitzt und
sich ihre Erinnerungsstücke anschaut, hört sie ein lautes Rumsen im
Flur und gleich darauf einen Schrei.
„Aua, mein Po!“
Anouk erschrickt. Das war Papas Stimme! Was ist passiert?
„Anouk, kommst du mal bitte?“, hört sie Papa rufen.
Auweia! Das klingt ziemlich verärgert. Aber wieso ist Papa über-
haupt schon zu Hause? Anouk hat völlig die Zeit vergessen, und wahr-
scheinlich ist Papa jetzt sauer, weil sie nicht aufgeräumt hat. Sie holt
tief Luft, schnappt sich Affi und geht mit ihm in den Flur. Alleine
nimmt sie nicht die Schuld auf sich, kommt gar nicht infrage! Schließ-
lich hat Affi auch mitgespielt.
9
„Was ist das hier für eine Unordnung, Anouk?“, schimpft Papa. „Ich
bin auf deiner Eisenbahn ausgerutscht. Wie oft habe ich dir gesagt,
dass du nicht alle Spielsachen im Haus verteilen sollst!“
Anouk schaut gemeinsam mit Affi auf den Boden. Es hilft nichts, die
Beweislage ist eindeutig, leugnen zwecklos. Da liegen ihre Lok und
fünf Personenwagen quer über den Boden verteilt.
„Tut mir leid, Papa“, sagt Anouk. „Mein Zug wollte nicht immer nur
im Kreis fahren. Ist doch auch langweilig! Er wollte so gerne mal ans
Meer, also haben wir ihn einfach neben das Gleis gestellt. Aber er hat
es wohl nur bis in den Flur geschafft.“
Anouk konnte so gut verstehen, dass der Zug ans Meer wollte! „Ich
würde auch so gerne mal wieder verreisen, Papa! Alle Kinder aus mei-
ner Klasse fahren in den Ferien irgendwohin – und
wir waren schon so lange nicht mehr im Urlaub!“
Papa seufzt. Dann setzt er Anouk auf
seinen Schoß. Anouk setzt Affi oben-
drauf.
„Momentan müssen Mama
und ich viel arbeiten und haben
leider keine Zeit zu verreisen“,
sagt Papa. „Und du hast recht,
das ist für dich nicht so schön.
Aber ich habe eine Idee.“
Anouk sieht ihn erwartungs-
voll an. Affi auch.
„Möchtest du mal ein ganzes
Wochenende bei Oma und Opa
verbringen?“
„Wow! Ein ganzes Wochenende?
Mit schlafen?“
Papa nickt. „Ja, genau. Mit Übernachtung.“
„Echt, Papa? Das wäre so schön!“, freut sich Anouk.
Noch nie zuvor durfte sie bei Oma und Opa übernachten! Sie denkt
daran, wie sie sich mit Oma über ihre nächtlichen Abenteuer austau-
schen könnte. Omas Kater Karli könnte sich am Abend zu ihr ins Bett
kuscheln, und Opa würde mit ihr im Garten bestimmt ein kleines
Schneckenhotel bauen.
„Papa, darf ich Oma und Opa gleich dieses Wochenende besuchen?“,
fragt Anouk ganz aufgeregt.
„Ja, mein Schatz, aber versprich mir bitte, dass du deine Spielsachen
dort immer ordentlich wegräumst. Wenn Oma über die Eisenbahn ge-
stolpert wäre, hätte das schlimmer ausgehen können.“
„Natürlich“, sagt Anouk und schaut zu Affi. „Das gilt auch für dich!“
„Wo ist eigentlich Mama?“, fragt Papa.
„Sie ist kurz bei den Nachbarn, und
ich soll dir ausrichten … warte, sie
hat es dir aufgeschrieben …“ Anouk
zieht einen Zettel aus ihrer Latzhose.
Papa liest vor: „Die Pizzeria an der
Ecke hat geöffnet und liefert ab einer
Mindestbestellmenge von 10 Euro,
Nummer hängt am Kühlschrank …“
Er schüttelt den Kopf. „Na toll. Dieser
Tag wird ja immer besser … Sonst hat
sie nichts gesagt?“
„Doch. Sie hat dich lieb und man
kann nie auslernen oder so etwas in
der Art.“
Papa schüttelt den Kopf und fragt,
was Anouk essen möchte.
„Hab schon gegessen“, antwortet sie. „Mama hat mir Brote und Ge-
müse zu einem Schmetterling gelegt.“
„Klingt super“, meint Papa. „Obwohl du für so was ja eigentlich schon
viel zu groß bist. Hast du mir wenigstens was übrig gelassen?“
„Zu groß? Pah!!“, sagt Anouk trotzig. „Kann man zu groß für schöne Sa-
chen sein? Dann bist du erst recht zu groß für deine Modelltraktoren!“
Papa lacht. „Okay, 1:0 für dich! Aber lenk nicht ab. Also, hast du mir
jetzt was übrig gelassen oder nicht?“
Anouk zuckt mit den Schultern. „Nein, alles aufgegessen. Ich muss
ja noch wachsen, sagst du immer.“
Zähneknirschend holt Papa den Zettel von der Kühlschranktür.
Anouk zieht inzwischen ihren Schlafanzug an und putzt sich die
Zähne. Dabei muss sie die ganze Zeit lächeln. Sie freut sich so sehr auf
den Besuch bei ihren Großeltern.
„Noch viermal schlafen, dann sind wir endlich bei Oma und Opa!“,
sagt sie zu Affi. Dann fällt ihr Blick wieder auf ihre Schatzkiste. Er-
schrocken wendet sie sich an Affi: „Was ist, wenn es aufhört?“
Affi schaut sie mit großen Augen an.
„Du verstehst wohl nicht!? Was ist, wenn wir plötzlich keine Aben-
teuer mehr erleben? Wir gehen ja immer durch meine Zimmertür!
Aber wenn wir jetzt woanders schlafen …“
Anouk legt sich ins Bett und starrt an die Decke.
Papa gibt ihr einen Kuss auf die Stirn und sagt: „Die Herrschaften
von der Pizzeria waren jedenfalls schneller fertig mit Kochen als deine
Mama, aber sag ihr das nicht.“
Er grinst und Anouk muss kichern.
„Schlaf gut, mein Schatz, ich lass mir jetzt meine Pizza schmecken.“
Anouk geht der Gedanke, dass ihre Abenteuer aufhören könnten,
nicht aus dem Kopf. Vom vielen Denken wird sie ganz müde, und kurze
Zeit später ist sie schon eingeschlafen.
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Es geht wieder los! Anouk und Affi werden wach, weil unter der Zim-
mertür ein helles Licht durchscheint. Die feinen, goldenen Lichtstrah-
len sehen fast aus, als würden sie glitzern, und sie leuchten so stark,
dass Anouk alle Gegenstände erkennen kann, die auf ihrem unaufge-
räumten Zimmerboden liegen. Aber das Licht macht Anouk und Affi
längst keine Angst mehr, denn sie wissen genau: Es bedeutet, ein neu-
es Abenteuer wartet auf sie! Voller Vorfreude stehen sie auf, nehmen
sich an die Hand und öffnen vorsichtig die Zimmertür.
„Wo sind wir?“, fragt Anouk, aber Affi hat auch keine Ahnung. Sie se-
hen sich um. Überall liegen alte Gegenstände. Stapel von Autoreifen,
die höher sind als ihr Baumhaus. Alte Radios, verbogene Treppenge-
länder, ein Dreirad ohne Lenker, Waschmaschinen, ein Rasenmäher,
der fast so aussieht wie der von Opa, mehrere Autos ohne Räder – und
sogar ein Vogelkäfig, bei dem allerdings die Tür fehlt. Berge von Din-
gen, manche glänzend, manche rostig – viele davon kennt Anouk noch
nicht einmal.
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So viele alte Sachen auf einem Haufen hat Anouk noch nie gesehen.
Was passiert bloß mit dem ganzen Zeug? Da bemerkt sie ein Mädchen,
das etwas älter ist als sie selbst – bestimmt schon zehn – und offen-
sichtlich etwas sucht.
„Hast du etwas verloren?“, fragt Anouk.
„Nein, ich suche nach Schätzen!“, antwortet das Mädchen.
„Nach Schätzen?“
Anouk schaut sich um. Sie kann sich nur schwer vorstellen, dass
sich in diesem Durcheinander ein Schatz verbergen könnte. Neugierig
mustert sie das Mädchen. Anouk fällt auf, dass sie ziemlich schick ge-
kleidet ist – viel zu schöne Sachen für den Schrottplatz. Mama erlaubt
es nicht einmal, dass Anouk mit ihren guten Sachen auf den Spiel-
platz geht.
„Wie ist denn dein Name?“, fragt sie das Mädchen.
„Ich bin Lore, und das hier ist mein Paradies. Die Leute schmeißen
einfach alles weg, weil ihnen die Fantasie fehlt, in den Dingen etwas
Neues zu sehen. Jedes dieser Teile kann ja irgendetwas, es kommt nur
auf die richtige Kombination an.“
„Kombi-was?“, fragt Anouk.
„Kombinieren heißt, dass man Dinge neu zusammensetzt – vielleicht
auch ganz anders, als es ursprünglich gedacht war“, erklärt Lore.
„Manchmal muss man deshalb auch zweimal hinschauen, bevor man
einen Schatz erkennt.“
Das erinnert Anouk an Oma, die auch immer sagt, dass Schönheit
für jeden etwas anderes bedeutet.
„Und du darfst dir hier einfach alles aussuchen?“, fragt sie Lore.
„Ja, der Schrotthändler, Herr Schuster, hat mir erlaubt, hier zu spie-
len, wenn ich ihm dafür immer mal bei der Suche nach Teilen für seine
Kundschaft behilflich bin. Wie heißt du eigentlich?“
„Ich bin Anouk“, sagt Anouk.
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Die Mädchen lächeln sich an.
„Komm, Anouk, ich zeige dir meine Schatzkammer. Die kennen nicht
viele Leute … Sie ist ein ganz besonderer Ort für mich.“
Anouk folgt Lore zu einem alten gelben Bus, der bestimmt nicht
mehr fahren kann. Weil die Türen klemmen, klettern die Kinder durch
den Kofferraum hinein.
Anouk traut ihren Augen nicht! So viele außergewöhnliche und
schöne Dinge: ein Vorhang aus lauter Blechdosen, die an Schnüren
aufgereiht sind. Eine Lampe aus einer alten Trompete und eine Bade-
wanne mit lustigen Füßen, die zu einem Sofa umgebaut wurde. Anouk
muss an Onkel Hendrik denken, den besten Handwerker, den sie
kennt. So ein Bus würde ihm bestimmt gefallen! Lore zeigt Anouk,
was sie schon alles aus ihren Fundstücken gemacht hat. Viele Sachen
haben eine ganz andere Funktion, als sie ursprünglich hatten, und se-
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