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Menschen nehmen täglich eine enorme Menge an visuellen Eindrücken auf. Schätzungen gehen von täglich 20'000 bis 30'000 Bildern aus, die unser Gehirn verarbeitet. Nicht nur, was wir bewusst als Bilder wahrnehmen wie Fotos oder Bildschirme, sondern alles, was wir in unserer Umgebung sehen. Bilder wirken auch in unserem Unterbewusstsein. Manche bleiben buchstäblich haften, weil sie uns bewegen, bestürzen oder ärgern. Und manche erzählen uns Geschichten. Ein Mensch steht allein, wirkt verloren. Ruth Rechsteiner schaut genau hin und erspürt seine Geschichte. Weshalb bleibt gerade dieses Bild haften? Die Autorin "liest" sozusagen die Geschichte und schreibt sie auf.
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Seitenzahl: 67
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Gedanken zum Voraus
Geschichten am Wegrand
Erwartet
Die Trügerische
Die Geheimnisvolle
Die Vollendete
Ein geheimes Paradies
Der Flötenspieler
Katharina
Wartebank
Alte Post
Der Zug fährt ab
Grundlos
Isabelles Lächeln
Nicht sein Ding
Lichtspiele
Licht- und Windträume
Belichtete Aktualität
Hinter Nebeln
Wasser, Lebensquell und Tod
Sonnenzeit
Der gefangene Vogel singt
Aliou – der Kämpfer
Viel mehr als tausend Schritte
Achmed
Blut und Faust
Ins Weite
Schattenriss
Gedankenspiele
Flieg Vogel flieg
Unabänderlich
Ausgemustert
Nur Marie
Begegnungen
Belichtete Vergangenheit
Im Nebel
Morsches Holz
Verloren
Verschwiegen
Gefangen in der Vergangenheit
Höllenfahrt
Im Feengarten
Bleiben für immer
So frei wie der Adler
‘Ein Bild sagt mehr als tausend Worte’ – diesen Worten will ich auf den Grund gehen, daraus die Geschichte eines Bildes herausspüren und sie aufschreiben. Wenn ich ein Bild aufmerksam betrachte, springt mir die Geschichte oft ins Auge, und ich brauche sie nur noch aufzuschreiben. Bilder faszinieren, erschrecken, verzaubern mich. Solche Emotionen wecken von selbst die Wahrheit des Dargestellten, auch wenn ich die Geschichten dazu frei erfinde. Fotografien leben vom Licht. Bilder werden ans Licht gebracht. Im Lichte dieser Bilder erfinde ich Geschichten dazu.
Oft erschrecke ich, wenn ich ein Bild betrachte, weil es die Gegenwart im grellen Licht der Realität zeigt und zum Nachdenken zwingt. Ich sehe das Leid der Menschen im Nahen und Fernen und möchte dieses ans Licht bringen.
Im Nahen erlebe ich die Welt um mich in aller Schönheit. Ich lebe im Frieden und in Sicherheit. Die Natur um mich empfinde ich als Paradies. Auch diesem Erleben widme ich Worte.
Es sind kurze Geschichten, Momentaufnahmen, so wie auch Bilder in einer kurzen Belichtung ein Stück Leben zeigen. ‘Ans Licht gebracht’ ist mein Wahrnehmen der Welt im Nahen und im Fernen.
Ruth Rechsteiner
Frühling 2025
Nieselregen und dahinter diese runden und eckigen Formen, deren Sinn sie nicht erkennen kann. Sie schaut gebannt, ein Bild, geheimnisvoll verhüllt hinter dem Tropfenvorhang. Ein Rund im Blau, ein Torbogen. Da müsste gleich jemand kommen. Sie wollte die Erwartete sein. Darum steht sie hier im Nieselregen, schon eine ganze Weile. Die Erwartete sein. Wann war sie zum letzten Mal die Erwartete gewesen? Das war wohl in einem anderen Leben. Jedenfalls kann sie sich nicht erinnern. Wie dieser Vorhang aus Tropfen, schiebt sich manchmal ein Nebel vor ihre Erinnerungen. Wann war sie die Erwartete gewesen? War sie es je gewesen? Sicher ist sie nicht. Immer stehen andere vor ihr, die Erwarteten, wenn sie voller Erwartung hofft die Erwartete zu sein. So ähnlich wie dieses Bild, so denkt sie. Dieses Rund im Blau verdeckt das Wesentliche, das, was erwartet wird. Sie schüttelt verwirrt den Kopf, weiss immer weniger, warum sie überhaupt hier steht. Erwartet sie jemanden, oder wird sie erwartet? Nochmals betrachtet sie das Bild. Es gefällt ihr. Die Formen und Farben sind in Harmonie, und nicht aufdringlich, dank des feinen Tropfenvorhangs. Harmonie. Das Wort weckt Erinnerungen, zwar nur nebelhaft, aber immerhin. Verschwommen tauchen Bilder auf an solche Tage, harmonische Tage, wie man ihr sagte. Warum die Tage harmonisch waren, kann sie sich nicht vorstellen, aber es stellt sich ein leises Glücksgefühl ein. Und dieses Gefühl wiederum zaubert ein Lächeln in ihr Gesicht.
Eine freundliche Stimme fragt, ob sie schon lange warte. Sie sieht das Gesicht hinter der Stimme, den ganzen Körper, und was sie sieht, gefällt ihr. Also war nicht sie die Erwartete, sondern sie hatte jemanden erwartet. Ob es diese Person mit der freundlichen Stimme ist, kann sie nicht sagen. Aber immerhin, ob erwartet oder nicht, ob sie gewartet hatte oder nicht, spielt keine Rolle. Das Lächeln im Gesicht des anderen verspricht Harmonie. Und so sieht sie das Bild mit rotem Kreis auf blauem Hintergrund mit dem feinen Tropfenvorhang davor harmonisch. Es fügte sich alles zusammen. Sie hat gewartet und ist erwartet worden.
Formvollendet bist du tatsächlich nicht. Da sind tiefe Täler, schrumpelig bist du und deine pelzige Oberfläche verbirgt deine erahnte goldene Farbe. Die Haut ist oft gesprenkelt von braunen Tüpfchen, deine Fliege hockt wie zusammengedrückt zwischen Falten. Oft bist du so gross, dass du kaum in meine Hände passt. Nicht unangenehm, die Berührung, dein Pelz bleibt hängen an meiner Haut. Wenn ich dich wasche beginnst du zu leuchten, als würdest du sagen mein Äusseres trügt, lass dich näher auf mich ein. Ich schnuppere an deiner jetzt glatten Haut. Eine wahre Duftexplosion dringt durch die Nase in meinen ganzen Körper! Ich lasse mich auf dich ein, bin neugierig was sich hinter diesem Äusseren verbirgt – und beisse zu. Das hätte ich nicht tun sollen. Du bist so hart, dass ich mir die Zähne ausbeissen könnte. Also lasse ich es bleiben. Doch Duft und Farbe versprechen mehr. Ich versuche dich zu schälen. Mühsam! Meine Hände schaffen es kaum, dir die Haut abzuziehen, und wenn geschafft, kommt das Zerteilen – ein Kraftakt. Endlich liegst du in feinen Schnitzen vor mir. So, jetzt in den Kochtopf mit dir, Wasser dazu – da muss doch noch mehr sein. Du köchelst langsam – und dein Duft verbreitet sich im ganzen Raum! Ich bade darin und bin gespannt, wie du dich entwickeln wirst. Geduld ist gefragt. Fertiggekocht. Ich lasse dich abkühlen und koste einen Schnitz – und wieder bin ich enttäuscht. Deine Farbe hast du verloren und schmeckst nicht besonders. Also Zucker dazu, Sternanis – und nochmals köcheln. Lange! Rühren, bis der Arm schmerzt. Ich koste – und endlich: Was der Duft versprochen, löst du ein. Köstlich dein Mus! Mein Gaumen feiert ein Fest! Du Trügerische.
Lange bist du gewachsen. Deine lila Blüten haben mich verzaubert. Jede einzelne. Und diese Verzauberung war eigentlich schon genug der Freude. Doch dir genügten die Blüten nicht. Du wolltest Frucht werden. Und eines Morgens war die Blüte verblüht und der Ansatz einer Frucht liess mich staunen beim aufmerksamen Betrachten. Ich besuchte dich fast jeden Tag. Wenn die Sonne schien, konnte ich dir beim Wachsen zuschauen. An Regentagen machtest du Pause. Ich trauerte noch ein wenig deinen Blüten nach. Doch mit der Zeit war nicht nur ein unscheinbarer, grüner Fruchtansatz zu sehen. Du nahmst Form an – wie eine kleine, violette Bohne zuerst – und wurdest grösser und grösser. Wie Sterne schmiegten sich deine Blütenblätter um dich, schienen dich zu halten am Stiel. Nicht mehr Bohne, viel grösser wirst du. Deine Haut ein einziges Leuchten, fast schwarz ist dieses Blau – edel würde ich sagen. Bist du ausgewachsen und ausgereift? frage ich eines Morgens. Will hinter dein Geheimnis kommen. Ich schneide zu. Deine Oberfläche schmeichelt meiner Haut. Und wie es deine Bestimmung ist, lege ich dich sorgfältig ins warme Olivenöl, dein weisses Inneres bräunt sich golden. Ein wunderbarer Duft breitet sich aus – und mein Gaumen feiert ein Fest. Du hast deine Geheimnisse gelüftet.
Wie eine Glocke hängst du am Baum. Leuchtest mir entgegen zwischen dunkelgrünen Blättern und lockst mich mit deiner dunkelvioletten Farbe. Ich trete näher, betrachte dich und staune! Form und Farbe eine einzige Harmonie. Vollkommen bist du geschaffen. Hängst am grünen Stiel, der sich gegen deine Mitte sanft blau färbt. Du musst süss sein, denn die Schmetterlinge umschwärmen dich, schmücken dich mit ihren Farben in Rot und Orange. Es sind Admirale, diese Schmetterlinge, nichts weniger. Dir angemessen. Ich trete näher. Obwohl deine Haut matt ist, scheint sie in Licht getaucht, von der Sonne gewärmt. Diese Wärme lässt dich reifen bis zur süssen Frucht. Ob ich dich ernten darf? Noch zögere ich. Da sind die Schmetterlinge – du schmückst den Baum – und da bist du, die herangereift bist. Bist du geschaffen, um gepflückt zu werden? Ich wage es, will wissen, ob dein Inneres hält, was es verspricht, dufte und berühre. Sanft fällst du in meine Hand. Andächtig beisse ich zu – und wahrhaftig: Aussen und innen bist du vollendet!