Antarktis - Der gequenchte Forscher - Martin D. Mohr - E-Book

Antarktis - Der gequenchte Forscher E-Book

Martin D. Mohr

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Beschreibung

Verena Goms fühlt sich in der modernen Arbeitswelt zunehmend fremd und ausgebrannt. Die glitzernde Fassade der Pharmaindustrie bröckelt, und sie findet sich in einem Strudel aus Leistungsdruck, fehlender Wertschätzung und einer entfremdeten Kommunikation wieder. Ihre Seele schreit nach Luft, nach Sinnhaftigkeit – nach einem Leben jenseits von Deadlines und Business Lunches.

Als sie in einem Anfall von Verzweiflung ihre Gedanken zu Papier bringt, wird ihr klar: Sie muss ausbrechen, bevor sie vollständig erlischt. Eine verrückte Idee nimmt Gestalt an: die Antarktis! Das ewige Eis, die unendliche Weite, die Isolation – all das scheint ihr die perfekte Flucht vor der modernen Welt zu sein.

Doch die Reise zur Neumayer-Station III wird mehr als nur ein Ortswechsel. Sie wird zu einer Odyssee der Selbstfindung, zu einer Konfrontation mit den eigenen Ängsten und Sehnsüchten. Inmitten eisiger Stürme und majestätischer Eisberge findet Verena nicht nur eine neue Arbeitsstelle, sondern auch eine Gemeinschaft von Gleichgesinnten, die sie auffängt und inspiriert.

Aber das Eis birgt nicht nur Schönheit und Ruhe. Es birgt auch Geheimnisse. Wer ist der mysteriöse Physiker Piero, der plötzlich auftaucht und Verenas Herz höherschlagen lässt? Wohin verschwand dieser Chemiker? Und welche dunklen Machenschaften verbergen sich hinter der glänzenden Fassade des Pharmakonzerns SalutemArtis?

„Chimica Mala IV – Der gequenchte Forscher“ ist eine fesselnde Geschichte über den Mut zur Veränderung, die Suche nach dem wahren Ich und die Kraft der Freundschaft. Eine Geschichte, die uns daran erinnert, dass das Leben mehr ist als nur Arbeit und Erfolg, und dass es manchmal notwendig ist, alles hinter sich zu lassen, um wieder zu sich selbst zu finden.

Tauchen Sie ein in eine Welt voller Eis, Intrigen und unerwarteter Wendungen!
 

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Martin D. Mohr

Antarktis - Der gequenchte Forscher

(Chimica Mala IV)

UUID: 9f5656d8-ad25-44c8-97be-451bf0ddb1c0
Dieses eBook wurde mit Write (https://writeapp.io) erstellt.

Inhaltsverzeichnis

Antarktis - Der gequenchte Forscher

Was ist Quenchen?

Burnout

In einer anderen Welt

Konzernleitung - fünf Jahre zuvor

Roaring Forties

In einer anderen Welt

Willkommen auf dem Ekström

Stationsleben

In einer anderen Welt

Heaven! Endlich alleine!

April - Viel Rauch um nichts

Mai - In Nacht und Eis

In der anderen Welt

Kontakt

Juli - Der frühe Vogel muss den Wurm fressen

In der anderen Welt

In einer wirklich anderen Welt

August - Hört hört!

September - Auf wackligen Beinen

Der gequenchte Forscher

Noch in dieser Welt aber nicht mehr ganz

Der Angriff

Zusammenbruch und Protest

Tagebucheintrag des UN-Generalsekretärs

November - Nach Hause

In der anderen Welt

Wie weiter?

Anmerkungen

Antarktis - Der gequenchte Forscher

(Chimica Mala IV)

Was ist Quenchen?

Im Lexikon steht: "Quenchen ist das schnelle Abstoppen einer ablaufenden chemischen Reaktion zu einem bestimmten Zeitpunkt."

So kann zum Beispiel eine heisse Reaktion mit Eis gestoppt werden oder eine wasserfreie Reaktion mit Wasser. Es ist quasi das "einfrieren" eines laufenden Prozesses.

Der Chemiker quencht eine Reaktion. Er stoppt sie.

Die Feuerwehr löscht den Brand. Sie quenchen die Verbrennungsreaktion von Holz und Sauerstoff mit Wasser oder Kohlendioxid.

Wehe dem, dessen Leben gequencht wird!

Burnout

Seele, wo bist Du? Ich fühle Dich nicht mehr! Die Tage vergehen so schnell. Sie ziehen an mir vorüber und ich fühle das Leben nicht mehr. Die Arbeit wird nie fertig, sie erdrückt mich. Mir bleibt keine Luft zum Atmen.

Seele, wo bist Du? Ich fühle Dich auch abends nicht mehr. In der Erholungsphase, liege ich vom Alltag niedergestreckt vor dem Fernseher. Die Energie ist aufgebraucht. In der Nacht träume ich von meinen Tätigkeiten, die mich am nächsten Tag ungeduldig erwarten. Ich träume vom Versagen und von der erbarmungslosen Beurteilung der gestrengen Jury.

Im Gehirn ist Watte. Ich stehe neben mir und wundere mich über diesen Menschen, welcher ich geworden bin. Ich beobachte den Menschen, der Fehler macht, Anfängerfehler, grobe politische Fehler.

Ich möchte wieder der ruhige, ausgeglichene Mensch von früher werden! Jetzt bin ich nur noch ein Arbeitszombie, der sich von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde weiterhangelt. Der sich von Sitzung zu Sitzung schleppt und sein Gehirn mit Gewalt zur Arbeit und Konzentration zwingen muss. Wo ist das alte Ich geblieben?

Selbst private Dinge verkommen zum Termin mit einer Deadline. Der Geburtstag bekommt ein Due Date, ein Geschenk wird zu einem Projekt, ein gutes Abendessen wird zum Businesslunch und der Schlaf wird zu einer viel zu kurzen Ohnmacht, ehe sie in einem unruhigen Umherwälzen mit düsteren Gedanken endet.

Ich darf nicht ausfallen, sonst werde ich vom Management abgebaut. Also bin ich gezwungen, gesund zu bleiben. Ich muss den Druck gesund aushalten und überstehen.

ICH HALTE ES AUS. Meine Eltern würden mein Versagen nicht verkraften. Ich muss happy sein. Ich muss es aushalten, sonst schade ich allen, die ich liebe. Es ist ein furchtbarer Satz, aber ich bin dazu verdammt!

Aber wie kann ich alte Dinosaurierin diese neue Welt aushalten? Ich habe gelernt, mit Fakten umzugehen. Wissenschaft bedeutet Fakten. Jetzt aber befinde ich mich in einer smarten Welt ohne Fakten. Die Fakten, die es hier gibt, müssen erst diskutiert, erkämpft und von anderen bestätigt und anerkannt werden. Fake News dominieren die Fakten. Sie sind die neue Wahrheit. Networking wird höher eingeschätzt als das Erarbeiten von Lösungen.

Die Worte meiner Freunde - ich höre sie deutlich! 'Niemand wird sich bei dir bedanken. Egal wie sehr du dich bemühst.' Sie sind alle aus dieser Welt geflohen. Die Welt der Industrie und der grossen Konzerne. Ich bin die einzige, die übrig geblieben ist, die einzige, die noch weiterkämpft. Werde ich jemals etwas finden, was zu mir passt? Aber wer nimmt mich schon? Ich bin in einem furchtbaren Zustand. Ich brauche Ruhe.

Wer keine Karriere machen will, ist nicht fähig. Wer nicht fähig ist, ist selbst schuld.

Ich bin müde. Ich will wieder leben! Ich will wieder normal arbeiten können. Wo ist mein Gleichgewicht geblieben? Seele, wo bist Du? Ich fühle Dich nicht mehr!

Verena Goms starrte auf die Zeilen, zögerte kurz und zerknüllte das Papier mit allen Gedanken, die sie gerade von sich geschrieben hatte. Verzweifelt warf sie alles in den Papierkorb. Papier und Sätze landeten dort, aber die Gedanken und das niederschmetternde Gefühl blieben zurück. Sie liessen sich einfach nicht wegwerfen, wie die Zellulose.

Seit zehn Jahren arbeitete sie in der Qualitätskontrolle des Pharmakonzerns SalutemArtis.

Das Leben war ihr schwer geworden. Dabei hatte sie so eine gute Zeit in ihrer alten Firma, wo sie ihr Talent für Chemie und Analytik hatte nutzen können. In der Forschung war sie gefragt gewesen - ganz anders als in dieser stumpfsinnigen Abteilung, wo sie sich jetzt befand.

Die Kollegen ihrer früheren Firma waren Freunde geworden. Ihr damaliger Chef war ein Mentor, zu dem sie aufschauen und sich anlehnen konnte. Jetzt aber fühlte sie sich isoliert und zerdrückt. Selbst ihr Dialekt war in keiner Weise akzeptiert. Sie musste ihre Ausdrucksweise völlig auf Hochdeutsch umstellen. Denken und selbst die Sprache waren ihr verboten worden. Sie wollte einfach nicht mehr. Aber was sollte sie tun? Sie fühlte sich eingeschlossen.

So sehr wünschte sie sich jemanden, mit dem sie über spannende Dinge sprechen konnte. Vielleicht Dinge aus der Wissenschaft! Ein Spektrum der Wissenschaft hatte sie immer in greifbarer Nähe. Es tat ihr gut, darin zu stöbern. Aber mit wem konnte sie über diese Forschungen sprechen, über die sie so gerne las. Manchmal phantasierte sie ein Gespräch mit einem imaginären Freund zusammen. Es waren schöne Stunden, die sie dann träumend verbrachte.

Unschlüssig blickte sie auf das zerknitterte Papier - es war nur die unbeschriebene Seite des Blattes zu sehen - schneeweiss. Da lag es zwischen den Orangenscheiben und anderem Abfall, wie ein gestrandeter Eisberg.

Verena strich sich eine Strähne aus dem Gesicht und erstarrte. Der Eisberg! Ihr kam eine verrückte Idee in den Sinn.

Sie wollte nur noch weg. Weg von der Firma, weg von zu Hause. Verena stutzte. Nie hatte sie solche Gedanken zugelassen. Es war, als wären es fremde Gedanken, die in ihrem Kopf die Führung übernahmen.

“Ich kann doch nicht einfach fort! Meine Eltern! Was soll aus ihnen werden? Was soll aus meiner Zukunft werden?” begehrten ihre eigenen Gedanken auf.

“Sie sind selbstständig genug. Du musst Dich selbst schützen”, tönte die Antwort der neuen Stimme in ihrem Kopf, “Die Sicherheit der Arbeit ist trügerisch. Kümmere Dich um Dich selbst!”

Instinktiv legte sie ihre Hand auf die Tastatur. Sie begann zu tippen. Bald schossen ihre Finger über die Tasten, so als würde sie nicht selbst tippen, sondern jemand anderes und auf einmal erschien der Titel einer Seite:

Alfred-Wegner-Institut!

Neumayer-Station III - Leben und Arbeiten in der Antarktis!

Von irgendwo her hörte sie eine Stimme: “Bewirb Dich, Verena. Denke an Fridtjof Nansens Worte:

‘Hast du das grosse Schweigen erlebt,

Hast du gewagt, das Unbekannte aufzusuchen,

Unbekannte Wege begangen,

Die weissen Flecke der Karte gekreuzt,

Hast du entbehrt, gedürstet, gesiegt,

Bist du aufgegangen in der Grösse des Alls?

Hast du Gott in seiner unendlichen Grösse gesehen,

Den Text gehört, den die Natur dir predigt?

Dann lausche auf die Weite, sie ruft dich zurück!’

Wage den Sprung! Lebe!”

In einer anderen Welt

Eine Stimme im Nichts glaubte, sich rechtfertigen zu müssen.

“Sie brauchte Hilfe.”

“Trotzdem hättest Du es nicht tun sollen”, sagte die andere Stimme streng, “Wir können nicht jeden Menschen retten.”

“Aber Ninagi, wenn wir jetzt nichts unternehmen, werden wir später ein Problem bekommen. Dann wird es tatsächlich unsere Arbeit. Prävention ist hier angebracht.”

“Sie muss lernen. Du kannst Ihr das Lernen nicht abnehmen. Irgendwann wird sie schon die richtigen Schlüsse ziehen. Verena ist intelligent.”

“Natürlich”, brummte die erste Stimme verärgert, “Irgendwann in einem anderen Leben, nach jahrelangem Schmerz. Schau doch, wie verkrampft sie dasitzt!”

“Ach, Cetan! Du bist zu empathisch", antwortete die zweite Stimme wesentlich sanfter als zuvor, “Aber das Wissen muss von ihr selbst kommen. Wir sollten sie nur leiten, wenn sie verloren geht.”

Im Nichts dieser Sphäre stellte sich gespannte Stille ein. Beide Stimmen wussten, dass die andere Stimme nicht ganz unrecht hatte, kannten sie sich ja schon seit vielen tausend Jahren.

“Lass es mich versuchen, Ninagi”, bat die erste Stimme.

Ninagi lachte.

“Cetan, Du bist unverbesserlich.”

Die Stimmung zwischen den beiden Stimmen wurde entspannter.

“Sag mal, Cetan. Hast Du ihr etwas zugeflüstert?”

“Nein”, antwortete Cetan irritiert, “Ich habe ihr nur die Idee eingepflanzt mit dem Blatt Papier - Eisberg - Alfred-Wegner-Institut. Gesagt habe ich nichts.”

“Aber wer hat dann gesprochen?”

“Da war kein anderer Geist gewesen. Ich weiss es nicht.”

“Eigenartig.”

“Meinst Du, sie wird in die Antarktis gehen?” fragte Cetan unsicher. Er fühlte das Lächeln seiner Gefährtin.

“Sie wird”, antwortete Ninagi.

Konzernleitung - fünf Jahre zuvor

Dr. Ísak Reyam atmete tief durch. Die Ernennung zum CEO von SalutemArtis fühlte sich nicht wie ein Triumph an, sondern wie die logische Vollendung eines lange gehegten Plans. Er war nicht nur der Erbe einer Dynastie – schon sein Vater Heiner Reyam, Gott hab ihn selig, war CEO dieses Konzerns gewesen, genauso wie sein Grossonkel David Reyam vor ihm – er war sein Architekt.

David, der Ahnherr dieser stillen Macht, hatte ein Netzwerk geknüpft, dessen unsichtbare Fäden nicht nur die Firma, sondern das pulsierende Herz der ganzen Stadt kontrollierten. Sein Vater trat in dessen Fussstapfen und hatte dieses komplexe Geflecht eins zu eins übernommen, eine Erbschaft der Kontrolle.

Die Erinnerungen an seine Kindheit waren geprägt vom allgegenwärtigen Netzwerk seines Vaters. Jeder Aspekt seines Lebens war engmaschig kontrolliert. Ein Netzwerk, das sich wie ein unsichtbarer Käfig um ihn geschlungen hatte. Er erinnerte sich an die subtilen, psychologischen Schläge, die ihn immer wieder trafen: verweigerte Chancen bei der Ausbildung, wenn er nicht gehorchte, keine Extrawurst beim Metzger, wenn er sein Essen nicht aufessen wollte, selbst der Kioskbesitzer durfte ihm nur dann die Brause oder das Wassereis verkaufen, wenn er seine Hausaufgaben gemacht hatte.

Im Laufe der Jahre hatte er gelernt, die Intrigen zu durchschauen und die Mechanismen des Netzwerks zu verstehen. Er war wie ein geschliffener Diamant.

Aber auch nach dem plötzlichen Tod seines Vaters musste er sich der unsichtbaren Macht des Netzwerks beugen. Er musste sich unterwerfen, um sein Abitur zu meistern, sein Diplom, seinen MBA und letztlich seine Doktorwürde. Er sah es nicht als Demütigung, sondern als ein Schachspiel voller strategischer Züge auf dem Schachbrett des Familienimperiums.

Dann endlich die Gelegenheit: die CEO-Position bei SalutemArtis. Nicht mit blinder Loyalität hatte er sich beworben, sondern mit der kalten, präzisen Berechnung eines Schachmeisters. Er hatte die einzelnen, scheinbar unbezwingbaren Knotenpunkte des Netzwerks gegeneinander ausgespielt, eine Lektion, die er von seinem Vater und Grossonkel gelernt hatte, deren nächtlichen Diskussionen er als Kind mit faszinierter Anteilnahme gefolgt war. Ihre strategischen Züge, die Opfer und die stillen Triumphe – sie waren seine heimliche Ausbildung gewesen.

Jetzt als CEO war er frei! Er hatte die Macht, das Netzwerk neu zu gestalten - es gehörte ihm. Er würde es aber nicht einfach übernehmen, wie es war, sondern er baute es nach seinen Vorstellungen um. Einige störende Elemente, Individuen mit eigenen Ambitionen und Loyalitäten, mussten mit chirurgischer Präzision entfernt werden. Divide et impera! Teile und herrsche! Es war nicht nur ein abgedroschenes Zitat, sondern die erste, eiserne Regel jeder wahren Führungskraft in seiner Position. Er musste seinen Platz nicht nur einnehmen, sondern ihn mit unerbittlicher Effizienz sichern.

Ihm war bewusst, dass der Thron des Konzernleiters ein einsamer Platz war. Die Macht korrumpierte, das wusste er aus bitterer Beobachtung. Doch dieser Preis schien ihm gering im Angesicht seines eigentlichen Ziels: ein Vermächtnis zu schaffen, das über den blossen Profit hinausging. Er würde SalutemArtis in eine neue Ära führen, eine Ära, in der seine Regeln galten, seine Vision unangefochten war.

Er würde die Härte seiner Vorgänger übernehmen, aber mit einer entscheidenden Nuance. Heiner und David hatten mit offener, brutaler Hand regiert, eine Taktik, die ihnen keine Freunde, nur Feinde und opportunistische Gefolgsleute eingebracht hatte. Ihr Erfolg war unbestreitbar, doch die Narben ihrer Herrschaft waren tief. Ísak hatte die bitteren Folgen am deutlichsten bei seinem Vater erlebt, dessen autoritäre Fassade eines Tages in einem schäumenden Zusammenbruch im heimischen Sessel zerbrochen war. Auch die Beerdigung war alles andere als würdevoll gewesen. Zu sehr hatten die Mitarbeiter der SalutemArtis ihrer Zufriedenheit über das Ableben ihres CEOs zur Schau gestellt.

Er würde es subtiler und effizienter anstellen. Die gleiche unnachgiebige Härte, aber er würde die Fäden aus dem Schatten heraus ziehen. Er durfte nicht im Rampenlicht stehen. Der Hass der Mitarbeiter, diese unproduktive Emotion, sollte sich auf andere Untergebene richten. Das würde seine Strategie sein: Herrschen durch die Kunst der unsichtbaren Hand, die Gier als Werkzeug und die Intelligenz als unerbittliche Waffe.

Roaring Forties

Verena Goms schüttelte die Erinnerung ab. Die Kündigung war vollbracht und das Alfred-Wegener-Institut hatte sie tatsächlich in das Überwinterungsteam aufgenommen. Sie war jetzt eine Üwi!

Sie atmete tief durch. Sie fühlte, es war ein Schritt in die richtige Richtung. Dem Leben in der pharmazeutischen Industrie hatte sie den Rücken gekehrt. Was jetzt auf sie wartete, war eine neue Zukunft. Sie sollte wieder atmen können. Was war mit ihrer Seele? Fühlte sie sie wieder? Seele, wo bist Du? Wahrscheinlich noch ein wenig verschreckt. Die Zeit würde sie heilen.

In Bremerhaven hatte die Chemielaborantin das Team während der viermonatigen Vorbereitungsphase kennengelernt. Alles nette Menschen. Es war eine wunderbare Zeit mit viel Spass gewesen. Sie lachten, scherzten und vertieften ihr Vertrauen zueinander auf spielerische Weise. Endlich war sie mit Gleichgesinnten zusammen. Alle waren offenen Geistes und aufgeschlossen gegenüber allen Themen.

Trotzdem war die Vorbereitung sehr intensiv gewesen. Sie absolvierten zahlreiche Vorlesungen, Seminare, Schulungen und Praktika in den verschiedensten Disziplinen, um auf das grosse Abenteuer Antarktis vorbereitet zu werden. Zusätzlich wurde jeder einzelne mit seinen fachspezifischen Aufgaben betraut. Der Stationsarzt hospitierte drei Wochen in der Abteilung für Anästhesie in einem Krankenhaus sowie drei Wochen in einer Zahnarztpraxis. Die Techniker wurden in die Wartung und Reparatur der Blockheizkraftwerke, Pistenbullys, Skidoos und Windkraftanlagen geschult. Die Wissenschaftler entliess man in verschiedene Institute, wo sie sich auf ihre Aufgaben vorbereiteten.

Nach diesen Kursen traf sich die Antarktis-WG wieder in Bremerhaven, um weitere Kurse zu absolvieren.

Die Brandschutzübung auf dem Gelände der deutschen Marine an der Ostsee war etwas intensiver als die Feuerlöschkurse in der chemischen Industrie, die Verena kannte. Auf sie wurde besonders Wert gelegt, denn die Üwis sollten fast ein Jahr lang ganz auf sich gestellt sein. Es gab keine Hilfe von aussen. Brände waren in der Antarktis hochgefährlich. Die Luft war trocken und die Vorräte an flüssigem Wasser sehr gering. Zusätzlich herrschte immer ein Wind, der offene Brände beschleunigen würde.

Sie hatten zahlreiche Szenarien mit verschiedenen Löschmitteln geübt, darunter der bekannte Pulverfeuerlöscher, der CO2-Löscher bis hin zum Impulslöschgerät. Zuerst wie ungelenke Marsmenschen in silbrigen Hitzeschildanzügen und Pressluftatmern, bewegten sie sich von Brandszenario zu Brandszenario immer sicherer.

Besonders in Erinnerung blieb Verena der Bergkurs auf dem Taschachferner, einem Gletscher im Österreichischen Pitztal, wo sie das sichere Bewegen in einem Spaltengebiet, Rettungs-, Kletter- und Seiltechniken übten. Besonders das Biwakieren auf dem Eis liess die Chemikerin noch frösteln.

Spätestens nach diesem Überlebenstraining war die Truppe zusammengeschweisst.

Sie würden bei extremer Kälte und fehlender Privatsphäre in völliger Isolation miteinander auskommen. Dafür hatte ein Coach gesorgt, der ihnen die Grundregeln guter Kommunikation und Konfliktmanagement beigebracht hatte.

Die Üwi-Truppe, das war Marc, der Stationsarzt, der auch die Stationsleitung übernehmen sollte. Als älterer Herr und Gentlemen vertraute man sich ihm gerne an.

Ina, die Geophysikerin, war eine blonde, zierliche Person, die am liebsten allen ihre Dienste anbieten würde.

Arnaud, der Meterologe - auch Met genannt, hatte schon in der ersten Woche den Scherz mit der Mettwurst über sich ergehen lassen müssen. Er hoffte, dass dieser Spitzname nicht an ihm hängen blieb. Met würde als Name genügen. Er war hager und ein sehr unruhiger Typ, dem sehr schnell langweilig wurde. Marc tröstete ihn, dass er auf der Station so viel zu tun haben würde, dass von Langeweile keine Rede sein könne.

Simone, die Köchin, versprach für gute Laune zu sorgen, was zumindest das Essen anbetraf. Die etwas mollige Person war französischer Abstammung, was ihr den Spitznamen Grand Dame Maître oder kurz GDM einbrachte. Zuerst war sie ein wenig eingeschnappt, merkte aber schnell, dass ihre Mit-Üwis es liebevoll gemeint hatten.

Pat, der Elektriker, hatte eingeworfen, dass es eigentlich Maîtresse heissen müsste und nicht Maître, worauf ihn Simone an seinem Vollbart zog und ihn freundlich aber bestimmt zurechtwies. So etwas wolle sie nicht mehr hören. Seitdem wurde nicht mehr darüber gesprochen. Pat hatte schon vor Jahren auf der alten Neumayer-Station II überwintert, was er jeden hatte wissen lassen. Es war auch allen schon früh aufgefallen, dass er enorm viel essen konnte. Simone fürchtete schon, dass die Vorräte der Station schon nach halber Zeit aufgebraucht wären.

Stephanie tröstete sie, dass sie dann eben Pinguine essen würden, was Simone mit einem lauten Igitt beantwortete.

Stephanie, die Stationsingenieurin, schien schon mit dem Schraubenschlüssel auf die Welt gekommen zu sein. Ihre Haare trug sie zwar lang, aber wenn sie diese zu einem Dutt zusammenband, war sie schon in ihrem Element loszulegen. Kein Skidoo und kein Pistenbully würde vor ihr sicher sein.

Kurt der Funker, oder Funke, wie ihn seine Mit-Üwis liebevoll nannten, war am ruhigsten von allen. Er sass in der Ecke und beobachtete das Geschehen mit einem genüsslichen Grinsen auf den Lippen.

Zuletzt gehörte sie selbst zum legendären Üwi-Team. Verena war als Chemikerin für das Spurenobservatorium, oder Spuso, wie es von den Forschern seit jeher getauft worden war, zuständig. Dort analysierte sie Stoffe aus der Atmosphäre und überwachte akribisch, wann genau welche Substanzen im Eis landeten. Der Fokus lag bisher auf Meersalz und Sulfat von Meeresalgen. Doch in den letzten Jahren tauchten immer häufiger Spuren von Treibhausgasen auf, die eindeutig aus dem Norden stammten. Verenas Arbeitstag war vielfältig: Sie würde die Filter wechseln, Messungen überprüfen und weitere anfallende Aufgaben erledigen.

Nie hätte sie sich vorstellen können, sich solch fremden Menschen anvertrauen zu können. Aber die vier Monate hatten dann doch etwas in ihr bewirkt. Sie hätte sich sogar von Marc die Zähne richten lassen, auch wenn - oder vielleicht gerade weil - er von Simone assistiert werden würde. Zu den Aufgaben der Köchin gehörten eben auch solche Aufgaben. Dazu gehörte nun wirklich viel Vertrauen, wie sie meinte.

Nun stand Verena tatsächlich am Bug der FS Helios, ein Schwesterschiff der berühmten FS Polarstern, die regelmässig die Eismeere der Arktis und Antarktis besuchte.

Das Forschungsschiff nannte fast 20.000 PS sein eigen. Vier Hauptmaschinen und vier frei verstellbare Propeller mit einem Durchmesser von über vier Metern trieben sie vorwärts. Meterdickes Packeis waren kein Problem für den doppelwandigen Rumpf und den dicken Spanten aus Stahlplatten. Sie war eine Dame mit unbändiger Kraft.

Vor zwei Wochen waren sie mit dem Flugzeug von Hamburg nach Kapstadt geflogen und nach einem kleinen Aufenthalt, schifften sie sich in die Antarktis ein. Das Ziel: Die Neumayer-Station III!

Die meisten Forscher kamen mit dem Flugzeug auf die Neumayer-Station III, einem umgebauten Propeller-Flugzeug, das den eisigen Winden widerstehen konnte. Der Schiffsweg wurde nur verwendet, um grosse schwere Maschinen und Proviant zur Forschungsstation zu bringen.

Es war gut mit dem Schiff zu reisen. So konnte sie sich langsam auf das Abenteuer einlassen. Auf der FS Helios hatte sie noch ein paar Tage mehr Zeit, sich an die Antarktis zu gewöhnen. Den Weg dorthin wollte sie voll auskosten. Sie wollte den Temperatursturz an der Konvergenz erleben. Sie wollte den ersten Eisberg sehen und das Packeis spüren, das an den Schiffswänden ächzte.

Sie war auch froh, jetzt schon unterwegs zu sein, denn in Asien war wieder einmal ein neuer Virus aufgetaucht, der sich in den nächsten Wochen seinen Weg in den Westen suchen würde. Es war wie damals bei der Covid-Pandemie 2020. Hoffentlich wird es diesmal nicht so schlimm werden. Je schneller sie von der Zivilisation fort kamen, desto besser.

Verena stand als einzige an Deck. Die Wellen türmten sich auf und sie wusste, dass sie endlich hineingehen sollte. Es wurde zu gefährlich an der Rehling. Ihre Hände zitterten vor Erregung und Tränen rollten ihre Wangen herunter, oder war es das Salzwasser der rauen See? Beide hatten diesen salzigen, bitteren Geschmack von einer Last. Wenn auch die Tränen die Last auf ihren Schultern verkörperten und das Salzwasser die Last einer drohenden Gefahr. Die Wellen schwappten schon wild über den Bug der FS Helios.

Antarktis! Eis, Kälte und Freiheit! Freiheit von allen Lasten! So schien es Verena.

Ein Jahr im ewigen Eis der Antarktis! Es war die Chance, wenigstens für einige Zeit auszusteigen - allem zu entsagen: der Familie, der Freunde, ja selbst einer wohlwollenden Wärme. Kälte und Dunkelheit würden sie nun erwarten.

Die eisigen Stürme der Antarktis schienen ihr willkommener - ja sogar wärmer - zu sein, als die soziale Kälte, die ihr in ihrer Heimatstadt und am Arbeitsplatz entgegengeschlagen war.

"Eigentlich witzig", murmelte sie zu sich selbst, "Ich fliehe aus den warmen Gefilden vor der sozialen Kälte in das Eis und erhoffe mir menschliche Wärme."

Eine riesige Welle spritzte kaltes Salzwasser ins Gesicht und Verena wurde aus ihren Gedanken gerissen. Im gleichen Moment ertönte aus dem Lautsprecher die Stimme des Steuermanns: "He, Verena! Mach, dass Du wieder reinkommst! Der Seegang nimmt zu, Du süsse Landratte!"

Richtig! Der Seegang war heftiger geworden - die Wellen mochten nun schon vier Meter erreichen. Für diese Breiten hier war das noch gar nichts.

Sie hatten gerade die kleine Bouvetinsel auf 54° 25′ S, 3° 21′ O passiert. Die vergletscherte Vulkaninsel lag zwischen trüben Wolken auf Steuerbord. Die einzigen Bewohner dort waren Seevögel, Pinguine und Robben.

Verena konnte sie nicht sehen. Sie hatte sich auf die windabgewandte Seite des Schiffes begeben - die Lee-Seite, wie sie vor kurzem gelernt hatte. Obwohl der Wind warm war, war er ihr doch zu heftig.

Als sie Kapstadt verlassen hatten, hatte sie noch gleissendes Sonnenlicht umhüllt, das aber bald von Nebel abgelöst wurde. Das tiefblaue Meer war grau geworden und gerade in diesem Augenblick peitschte es wild über die Rehling.

(Roaring Forties - Foto erstellt von Martin D. Mohr mit KI)

Lässig stand der Steuermann auf der Brücke. Er war die raue See gewohnt. "Der Kahn kann das ab", meinte er immer und grinste über die grüngesichtigen Passagiere, welche versuchten, sich mit Ingwer, Akupressur an den Handgelenken, Pflastern hinter den Ohren und Tabletten zu behelfen. Seekrank wurden sie trotzdem alle. Einer verwendete sogar eine Brille, deren Ränder mit Flüssigkeit gefüllt waren, so dass jede Bewegung des Schiffes an der Flüssigkeit erkennbar war. War doch Seekrankheit nichts anderes als der Konflikt zwischen dem statischen Bild der Augen und dem ständig besserwisserischem Gleichgewichtssinn der Ohren. Das Gehirn versuchte, die gegensätzlichen Informationen von Ohr und Auge in Einklang zu bringen. Das war für den Magen zu viel, der gerne eindeutige Körperlagen signalisiert haben wollte.

"Nee, nicht über die Reling", pflegten die alteingesessenen Seemänner zu sagen, "sonst wirst Du noch Deinem eigenen Fischfutter hinterhergespühlt."

Witzig fand das niemand, aber wehren konnte man sich auch nicht gegen die verdammte Seekrankheit.

Auch Verena verspürte das mulmige Gefühl in der Magengegend, aber sie war doch besser gefeit als andere.

Patschnass wie sie war, ging sie auf die Brücke und blickte weiterhin auf die Schaumkronen. Umziehen wollte sie sich nicht. Ein furchtbarer Gedanke jetzt in die Kabine zu gehen - eine absolute Garantie für Fischfutterproduktion. Sie hatte keine Lust ihr Innerstes mit Putzlappen und Eimer aufzuwischen. Nein, sie blieb nass - wen störte das schon.

"He Mädchen", pfiff Pat zu ihr herüber, "Willst Du Dich nicht umziehen? Ich bin zwar nur der Elektriker, aber trockene Kleider sind gesünder. Das weiss sogar ich."

Verena schüttelte nur den Kopf.

“Früher mussten wir zur alten Neumayer-Station über Ushuaia, Südamerika”, meinte er, “Die ist aber im Laufe der Zeit ganz im Eis versunken. Ich kann Dir sagen, die Drake-Passage zwischen Südamerika und der Antarktischen Halbinsel hat es richtig in sich. Da hat man einen totalen Drake-Shake. Wir brauchten damals zehn Tage bis zur Station.”

Als Verena nichts erwiderte, fügte er hinzu: "Eisberge sehen wir noch lange nicht. Das geht jetzt so ein bis zwei Tage, hoppla!"

Die FS Helios kippte vornüber in ein Wellental und schlug hart auf dem Wasser auf.

Sie befanden sich mitten in den “Roaring Forties” - die Zone zwischen dem 40. und 50. südlichen Breitengrad. Sie waren wegen der besonders häufigen Stürme und dem hohen Wellengang bekannt und wurden nur von den "Furious Fifties” und den “Screaming Sixties" übertroffen.

"Keine Sorge, das sind noch die kleinen Wellen - wollen nur spielen", lachte er, "Weisst Du was Ernest Shackleton sagte?"

Verena verspürte nicht den Drang zu antworten. Pat war ja kein schlechter Kerl, aber er konnte sehr bestimmend sein und deshalb nerven.

"Er meinte: 'Hier misst man Wellen nicht in Metern, sondern in Angst'. Weisst Du wer Shackleton war?"

Die Laborantin blickte den leicht untersetzten Elektriker missmutig an und murmelte: “Shack war Antarktisforscher - einer meiner Favoriten, weil er sehr verantwortungsvoll handelte.”

Natürlich wusste sie es. Sie hatte alle Bücher über die Antarktis verschlungen. Ernest Shackleton war 1901 mit Robert Falcon Scott Richtung Südpol gewandert. Sie hatten ihn nicht erreicht. Auch bei einem zweiten Anlauf den Pol zu erreichen, hatte Shackleton kein Glück. Er musste 1908 umkehren, um das Leben seiner Männer zu retten. Das war es, was diesen Mann auszeichnete. Das Leben seiner Männer war wichtiger als die Expedition. So auch 1911, als er die Antarktis von der Weddell-Sea zum Rossmeer durchqueren wollte. Sein Schiff ENDURANCE blieb im Packeis stecken, wurde zerquetscht und sank. Shackleton und seine Leute konnten sich schliesslich auf Eisschollen bis zur Elephant-Island durchschlagen. Von dort stach er mit einem Beiboot und zwei Begleitern in See und fuhr bis nach Südgeorgien - immerhin über 1300 km. Nach vier langen Jahren konnte er endlich seine gesamte Mannschaft gesund wieder in die Heimat führen. Für Verena war dieses Verantwortungsgefühl ein wahres Heldentum - mehr noch als der Erfolg am Südpol.

Pat grinste beeindruckt.

“Shack?”

“So nannten ihn seine Männer.”

"Hast Deine Hausaufgaben gemacht, Mädchen. Muss man Dir lassen."

"Nenn mich nicht ‘Mädchen’", murrte Verena, “Das habe ich Dir schon in Bremerhaven gesagt.”.

Pat verstummte und nahm sich zum hundertsten Mal vor, diese Gewohnheit abzulegen. Er nannte alle Frauen “Mädchen”. Es war einfach zur Gewohnheit geworden.

"Hier, trink das.” Pat reichte Verena einen heissen Tee, "Das beruhigt den Magen und wärmt Dich."

Er schaute zum Steuermann hinüber, der lässig seine Instrumente überprüfte, als würden sie über den Bodensee schippern..

"De Hoces", murmelte Verena und nippte dankbar an der Tasse.