Antike Welten - Beate Wagner-Hasel - E-Book

Antike Welten E-Book

Beate Wagner-Hasel

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Beschreibung

Knossos, Troja, Athen, Rom, Pompeji, Palmyra Einführungen in die Geschichte der Antike orientieren sich auch heute noch oft an politischen Ereignissen und den Taten "großer Männer". Beate Wagner-Hasel stellt in diesem Studienbuch dagegen die Kultur- und Religionsgeschichte, die Wirtschafts- und Sozialgeschichte sowie die Geschlechtergeschichte der antiken Welt ins Zentrum ihrer Darstellung, die chronologisch vom minoisch-mykenischen Griechenland bis in die römische Kaiserzeit reicht. Entlang von Umbrüchen der politischen Systeme - der Entstehung der griechischen Polis, dem Sturz der Tyrannis, dem Aufkommen der attischen Demokratie, der Gründung und Krise der römischen Republik und der Ausbildung des Prinzipats - entfaltet sie ein farbiges Bild einer Epoche, deren kulturelle und soziale Praktiken uns heute fremd geworden sind, die für die Identität Europas aber unabdingbare Anknüpfungspunkte bietet.

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Beate Wagner-Hasel

Antike Welten

Kultur und Geschichte

Campus Verlag

Frankfurt/New York

Über das Buch

Einführungen in die Geschichte der Antike orientieren sich auch heute noch oft an politischen Ereignissen und den Taten »großer Männer«. Beate Wagner-Hasel stellt in diesem Studienbuch dagegen die Kultur- und Religionsgeschichte, die Wirtschafts- und Sozialgeschichte sowie die Geschlechtergeschichte der antiken Welt ins Zentrum ihrer Darstellung, die chronologisch vom minoisch-mykenischen Griechenland bis in die römische Kaiserzeit reicht.

Entlang von Umbrüchen der politischen Systeme – der Entstehung der griechischen Polis, dem Sturz der Tyrannis, dem Aufkommen der attischen Demokratie, der Gründung und Krise der römischen Republik und der Ausbildung des Prinzipats – entfaltet sie ein farbiges Bild einer Epoche, deren kulturelle und soziale Praktiken uns heute fremd geworden sind, die für die Identität Europas aber unabdingbare Anknüpfungspunkte bietet.

Weiterführende Materialien zum Buch unter http://www.campus.de/spezial/historische-einfuehrungen

Vita

Beate Wagner-Hasel ist Professorin für Alte Geschichte an der Universität Hannover. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Wirtschafts- und Sozialgeschichte sowie die Geschlechtergeschichte der griechischen und römischen Antike.

Inhalt

Einleitung: Antiquierte Antike? Vom Nutzen der Alten Geschichte

1. Die minoisch-mykenische »Palastkultur«

1.1 Was Steine und Mythen erzählen: Europas Anfänge in Knossos

1.2 Buchhaltung und Schriftkultur: Die Entzifferung der Linear B-Tafeln

1.3 Der Untergang der »Palastkultur« und das Problem der Ethnogenese

2. Die griechische Poliskultur

2.1 Polisbildung: Revisionen und Perspektiven

2.2 Neue Schriftlichkeit und das Entstehen der Geschichtsschreibung

2.3 Mündliche Dichtung und Erinnerungskultur: Die Erzählung vom Trojanischen Krieg

2.4 Das Homerische Herrschaftssystem: Erbliches Königtum oder big men-System?

2.5 Der idealtypische Gesetzgeber: Solon und die Formierung der attischen Bürgerschaft

2.6 Tyrannenherrschaft und die Entwicklung Athens zum Kultzentrum

2.7 Politische Dressur im Theater: Demokratische Kultur in Athen

2.8 An der Polis und am Heiligen teilhaben: Das Bürgerrecht der Frauen

2.9 Lockende Ferne: Seeherrschaft und Piraterie im Zeitalter des Hellenismus

3. Das Römische Weltreich

3.1 Tuffstein, Tiberfurt und Salinen: Rom und seine Landschaften

3.2 Gründungsmythen und Exemplaliteratur: Die Fundierung der sozialen und politischen Ordnung Roms

3.3 Konsenskultur und Konkurrenz in der römischen Republik

3.4 Das Ende des Konsenses: Politische Skandale und die Krise der Republik

3.5 Hungerkrisen und die Etablierung des Prinzipats

3.6 Kaiserliche Pracht: Vom aristokratischen Hauswesen zum Hof des Princeps

3.7 Hinter dem Vorhang: Die Nachfolgefrage und die Macht der Kaiserfrauen

3.8 Pompeji: Vom Leben in einer römischen Stadt

3.9 Weltwunder Kolosseum und die Kultur der Spiele

3.10 Das Ende des Weströmischen Reiches: Wandel oder Niedergang?

Danksagung

Bibliographie

Quellen (in Übersetzung)

Literatur

Register

Einleitung: Antiquierte Antike? Vom Nutzen der Alten Geschichte

»Antiquierte Antike?«: Mit dieser rhetorischen Frage überschrieb 1971 der Tübinger Altphilologe und Rhetorikprofessor Walter Jens seine Rede zur 350-Jahr-Feier des Theodor-Heuss-Gymnasiums in Heilbronn, um mit dem Untertitel zugleich die Antwort zu geben: »Perspektiven eines neuen Humanismus«. Autonomie bewahren zu können, einen geistigen Raum zu erhalten, in dem kritisches Überschreiten, Opposition und Absage sich entfalten könne, all dies sollte die Beschäftigung mit der Antike ermöglichen (Jens 1971, 57). Er spielte dabei mit der Doppelbedeutung von Antike als Wert- und Epochenbegriff. Antike kommt vom lateinischen antiquus, anticus (»alt«, »ehrwürdig«, »überkommen«) und wurde erst im 17. Jh. zum Epochenbegriff erhoben (Settis 2005). Indem Jens die Erziehung zur Kritikfähigkeit zur Leitlinie seines gerade nicht antiquierten Antikenverständnisses machte, bot er der kritischen Generation der »1968er« ein ihr zeitgemäßes Antikenbild an, das dem Glauben an die Wandelbarkeit von Normen und Werten Rechnung trug. Damit setzte er sich von seinem älteren Kollegen, dem Tübinger Gräzisten Wolfgang Schadewaldt, ab, einem Verfechter des sogenannten Dritten Humanismus der 1930er Jahre. Zeitlose Geltung von Maß, Ordnung und Schönheit, vor allem aber der Vorrang eines abendländischen Menschenbildes gehörten zum Credo der Vertreter des Dritten Humanismus (Hölscher 1989, 4–6). Sie sahen sich in einer jahrhundertealten Tradition, die bis in die Renaissance und in das Zeitalter der Aufklärung zurückreichte.

Bis ins 19. Jh. hinein dienten antike Werke als ein allgemeines Verständigungsmittel über politische und moralische Wertvorstellungen. Als es beispielsweise im 18. Jh. in Nordamerika darum ging, sich für eine bundesstaatliche oder eine zentralistische Ordnung zu entscheiden, bezogen sich die Gründungsväter der Vereinigten Staaten Amerikas in ihren politischen Reden auf antike Beispiele. Die Antiföderalisten bewunderten die antiken Bürgerheere und verwarfen den Vorschlag der Federalists, eine dauerhafte Armee zu unterhalten, wie dies Römer und Perser getan hätten. Sie hielten dies angesichts des antiken Vorbildes der Spartaner für überflüssig. Diese hätten einst mit nur wenigen Kriegern ihr Land gegen eine Million persischer Sklaven verteidigt (Richard 1994, 79). Auf historische Richtigkeit kam es dabei nicht an. Denn die Klasse der Spartiaten, von der hier die Rede ist, bildete eine gut trainierte Kriegerkaste; sie waren quasi-professionelle Krieger, nicht Bürger, die im zivilen Leben einem anderen Beruf als dem des Soldaten nachgingen. Geschichte diente hier als Schule der politischen Moral. Aus den Schriften antiker Historiker bezog man die Vorbilder für politische Tugenden und Regierungsmodelle. George Washington sah sich selbst als neuer Cato Uticenis, der einst die römische Republik verteidigt hatte (Richard 1994, 58); französische Revolutionäre bezogen sich auf Cicero, dessen Redegewandtheit sie sich zum Vorbild nahmen, und riefen zum Sturz der Monarchie auf (Dahlheim 62002, 671–734).

Der Glaube, Aussagen antiker Autoren seien ohne Berücksichtigung des zeitlichen Abstands und des gesellschaftlichen Umfelds ihrer Entstehung ungebrochen verstehbar, wurde erst infrage gestellt, als die Beschäftigung mit der Antike verwissenschaftlicht wurde. War die Antike bis ins 18. Jh. Teil universalgeschichtlicher Betrachtungen, so bildeten sich im Laufe des 19. Jhs. unter dem Dach der »Altertumswissenschaft« einzelne Fachdisziplinen wie Klassische Philologie, Archäologie und Alte Geschichte mit jeweils eigenen Methoden und Fragestellungen heraus. Mit ihr ging eine quellenkritische Hinterfragung der Glaubwürdigkeit antiker Autoren einher, die einer Reflexion des historischen Kontextes, in dem antike Werke standen, und damit einer Relativierung der in ihnen fassbaren Wertvorstellungen Vorschub leisteten. Manche antike Ideale entpuppten sich bei näherer Betrachtung als Missverständnisse. So wurde das Ideal einer ästhetisch vorbildhaften, in hellem Marmor schimmernden antiken Kunst, das mit dem Namen Johann Joachim Winckelmann verbunden ist, bereits im 19. Jh. durch archäologische Forschungen von Alexander Conze oder dem Architekten und Kunsttheoretiker Gottfried Semper erschüttert. Diese hatten in ihren Werken auf die Farbigkeit antiker Statuen und Bauwerke verwiesen, was im übrigen auch Winckelmann wusste und was inzwischen durch neue wissenschaftliche Methoden zweifelsfrei bewiesen ist (Brinkmann/Wünsche 2004).

Humanistische Bildung

Dass die Antike diese prominente Rolle als Bezugsrahmen für Wertvorstellungen spielen konnte, liegt nicht zuletzt an der Vorherrschaft des humanistischen Gymnasiums, das dem Erlernen der alten Sprachen, Latein und Griechisch, in allen europäischen Nationen Vorrang vor modernen Sprachen einräumte. Wer im 19. Jh. die Universität besuchte, kannte seine alten Griechen und Römer. Karl Marx (1818–1883), der Analytiker der Wirkungsweisen des Kapitals, schrieb seine Dissertation über den griechischen Philosophen Epikur. Max Weber (1867–1920), Gründervater der Soziologie, wurde mit einer Arbeit über die römische Agrargeschichte promoviert. Erst mit der Gleichstellung des Realgymnasiums und der Oberrealschule mit dem humanistischen Gymnasium, die in Deutschland um 1900 erfolgte, begann die Antike ihre prägende Kraft zu verlieren (Stroh 2013, 271–289). Dies rief wiederum jene eingangs erwähnte Re-Idealisierung der Antike im Dritten Humanismus hervor.

Inzwischen sind die Natur- und Technikwissenschaften zu Leitwissenschaften geworden; die Antike hat ihre normative Bedeutung endgültig verloren. Die einst unumschränkte Rolle der altertumswissenschaftlichen Fächer als Deutungswissenschaften für die Gegenwart gilt nicht mehr. Und eben deshalb stellt sich heute mehr denn je die Frage nach dem gesellschaftlichen Nutzen der Beschäftigung mit der Antike. Zwei konträre Antworten seien dem folgenden Überblick über die antike Welt vorangestellt: Identitätsangebot versus Fremdheitsverstehen.

Antike als Epochenbegriff

Christophorus Cellarius (1708) unterteilte die Historia universalis in drei Perioden: Historia antiqua, Historia medii aevi, Historia nova. Letztere umfasste das 16. und 17. Jh.; das Mittelalter dauerte von der Herrschaft des römischen Kaisers Konstantin bis zur Eroberung von Konstantinopel durch die Osmanen. Die Historia antiqua, die »Alte Geschichte« bzw. »das Altertum«, beginnt bei Cellarius mit dem Assyrerreich und endet mit dem Tod des ersten christlichen Kaisers Konstantin am Ende des 3. Jhs. n. Chr. (Cobet 2011, 878). Seitdem haben sich die Koordinaten der Epocheneinteilungen immer wieder verschoben; nur die Reihenfolge blieb bestehen. Unter Antike verstehen wir heute eine Epoche, die vom 2. Jahrtausend v. Chr. bis in die Zeit um 500 n. Chr. reicht und sich auf die griechischen und römischen Mittelmeerkulturen bezieht.

Europäische Identität?

An die Vorstellung von der normativen Geltung der Antike knüpft der 1995 gegründete Verein Alte Geschichte für Europa (AGE) an. Er hat es sich zur Aufgabe gemacht, den Bedarf an Vorbildern jenseits der nationalstaatlichen Geschichte zu befriedigen, der mit der Gründung der Europäischen Union entstanden ist. In der Gründungserklärung des Vereins werden überzeitliche Werte wie etwa antike Bürgerstaatlichkeit (bzw. Demokratie) oder die Geltung des Römischen Rechts im modernen Recht betont. Nach Auffassung des Vereins könnten antike Traditionen das Fundament eines neuen Europas bilden. Denn viele der heute in der Europäischen Union versammelten Staaten waren einmal Teil des Römischen Reiches und bildeten »in der Antike für mindestens fünfhundert Jahre bei vielerlei regionalen Besonderheiten doch eine riesige politisch-kulturelle Einheit, in welcher eine kaum überschaubare Vielzahl von Nationalitäten friedlich nebeneinander existierte, in einem Gebiet gut viermal so groß wie die heutige EU« (Girardet 1998, 26). Der Saarbrücker Althistoriker Klaus Martin Girardet verneint die ›imperialistische‹ Entstehungsgeschichte des Römischen Reiches nicht. Aber entscheidend ist für ihn dessen Einschätzung als eine »umfassende Kultur-, Rechts- und Wertegemeinschaft«, und eben das qualifiziert in seinen Augen das Römische Reich als Vorbild für die heutige Staatengemeinschaft (Girardet 1998, 27 f.).

Fremdheitsverstehen

Es gibt auch Gegenstimmen, die eine solche identitätsstiftende Funktion der Antike als eurozentristisch ablehnen und eine globale Perspektive einfordern. 2005 ist eine kleine Studie des Klassischen Archäologen Salvatore Settis erschienen, die der Zukunft des Klassischen. Eine Idee im Wandel der Zeiten nachspürt. Sein Ausgangspunkt ist genau die Frage, wie sie Girardet stellte, ob die Antike als gemeinschaftliche Wurzel der abendländischen Kultur ein identitätsstiftendes Element der Europäischen Union bilden könne (Settis 2005, 9 f.). Settis verneint dies klar, weil er ein europäisches Überlegenheitsdenken ablehnt und sich gegen eine Indienstnahme der Antike für die Begründung einer kulturellen Hegemonie des Abendlandes gegenüber dem Rest der Welt strikt verwahrt (ebd., 19). Dennoch ist er optimistisch, was den Nutzen der Antike angeht, setzt jedoch einen anderen Akzent. Er unterstreicht nicht die Tradition, sondern die Fremdheit der Antike. Settis will die Antike in das vielstimmige Konzert der Völker der Welt ›einfügen‹. Der Weg dahin führt in seinen Augen zum einen über das konsequente Historisieren und Kontextualisieren der Bemühungen um Rückbesinnung auf die Antike. Es gibt für ihn nicht die Antike, sondern nur verschiedene Arten, sich dieser Tradition zu bemächtigen. Sein Buch bietet einen Überblick über verschiedene Rezeptionsphasen und Rezeptionsarten der Antike von der Renaissance bis zum 20. Jh. Komparatistik bzw. das Anwenden der vergleichenden Methode ist für ihn ein weiterer Ansatz, der die Vielfalt und Komplexität der klassischen Kulturen erkennen lässt und die Klassischen Altertumswissenschaften in die Lage versetzt, sich mit den Experten des ›Anderen‹ zu verständigen. Sein Gewährsmann ist der Kunsthistoriker Aby Warburg, der den Kulturvergleich von seinem akademischen Lehrer Hermann Usener übernommen und in die Kunstgeschichte eingeführt hat. Für Warburg sind die Kunsterzeugnisse der klassischen Kulturen vergleichbar mit denen der Hopi-Indianer Nordamerikas. Alterität, nicht Identität macht nach Settis das Studium der Antike lohnend. Die Beschäftigung mit einer differenzierten, nicht auf ein klassisches Podest gestellten Antike dient ihm als »Schlüssel zum Verständnis der kulturellen Vielfalt unserer heutigen Welt und ihrer gegenseitigen Durchdringung« (ebd., 20). Eine Einbeziehung der ›antiken‹ Kulturepochen anderer Welträume, etwa Asiens oder Mesoamerikas, wie dies neuerdings versucht wird (Schüren u. a. 2015), impliziert dieser Ansatz nicht.

Einführungswerke

Betrachtet man aktuelle Einführungswerke, so orientieren sich diese meistens an der politischen Ereignis- und Institutionengeschichte und folgen einem chronologischen Aufbau, der in der Regel mit dem frühen Griechenland beginnt und bis zum Ende der römischen Kaiserzeit reicht (Gehrke/Schneider 2000/42013; Leppin 2005; Walter 2012). Zugenommen haben Einführungswerke, die nur einen Kulturraum behandeln, das antike Griechenland (Schmidt-Hofner 2016; Hall 2017; Ober 2015) oder das antike Rom (Beard 2016; Blösel 2015; Huttner 2008; Sommer 2013 und 2014). In einigen Einführungswerken haben auch die Geschichte der Antikenrezeption und die Geschichte des Faches einen gebührenden Platz gefunden (Dahlheim 1996/62002, 671–734; Gehrke/Schneider 42013, 1–20). Die Ausrichtung an der politischen Geschichte hat Tradition; das Erzählen der politischen Ereignisse war seit Entstehen der Alten Geschichte als wissenschaftliche Disziplin die vorherrschende Form, sich die Antike zu vergegenwärtigen. In jüngerer Zeit sind systematisch angelegte Einführungswerke hinzugekommen. Das von Eckart Wirbelauer herausgegebene Lehrbuch Antike (2004) enthält neben chronologischen und systematischen Übersichten auch Überblicksartikel über neue konzeptionelle Ansätze wie Geschlechter- oder Umweltgeschichte. Im Wachsen begriffen ist inzwischen die Zahl der Einführungswerke zu Spezialthemen, etwa zur antiken Wirtschaft (Finley 1977; Austin/Vidal-Naquet 1984; Drexhage/Ruffing 2002; Sommer 2013a; von Reden 2015), zur Sklaverei (Schumacher 2001; Herrmann-Otto 2009; 2013), zur Religion (Bruit Zaidman/Schmitt Pantel 1989; Rüpke 2001; Veyne 2008; Scheid 2003) und zur Frauen- und Geschlechtergeschichte (Späth/Wagner-Hasel 2000/22006; Scheer 2012). Eine weitere Variante von Einführungswerken informiert über Methoden der altertumswissenschaftlichen Teildisziplinen, die zur Klassischen Philologie, Archäologie und Alten Geschichte hinzugekommen sind, wie Numismatik, Papyrologie und Epigraphik (Günther 2001; Blum/Wolters 2006), sowie über deren Quellen wie Münzen, Papyri, Inschriften, Statuen und Vasen. Viele Einzeldisziplinen der Altertumswissenschaft wie die Archäologie (Borbein 2000; Hölscher 2002; Renfrew/Bahn 2009), Ägyptologie oder Vorderasiatische Altertumskunde (Nissen 1983; 1999) haben ihre eigenen Einführungswerke.

Eine andere Geschichte

Warum also den vorliegenden Einführungen eine weitere hinzufügen? Mich beschäftigt die Frage, wie eine chronologische Darstellung der antiken Welt, die am politischen Wandel orientiert ist, mit einer systematischen Herangehensweise verknüpft werden kann, die sowohl die Wirtschafts- und Sozialgeschichte als auch die Kultur- und Geschlechtergeschichte einbezieht. Im 19. Jh. wurde das Problem der Verknüpfung von Chronologie und Systematik in der Weise gelöst, dass neben Werken zur politischen Ereignisgeschichte sogenannte »Privataltertümer« verfasst wurden, welche das vermeintlich Beständige in den Blick nahmen, nämlich die Sitten und Gebräuche, die den Alltag prägten: die Wohnhäuser, die Speisegewohnheiten, die Familie mit ihren Heirats- und Bestattungsritualen, das Verhältnis der Geschlechter, die Wirtschaftsweise (Momigliano 1999; Wagner-Hasel 1998; Nippel 2013). Um 1900 wurden auch diese Gegenstände historisiert, d. h. es wurde nach dem Wandel der Wirtschaftsweise oder der Familienformen gefragt. Es entstanden eigene Werke zur Sozial-, Wirtschafts- und Frauengeschichte, die mit einer theoretischen Reflexion der behandelten Gegenstände einhergingen. Ein Beispiel stellt die Entwicklung von Stufenmodellen dar, die dazu dienten, unterschiedliche Wirtschaftsweisen oder Verwandtschaftsordnungen zu systematisieren. Inzwischen haben sich die methodischen und theoretischen Zugriffe vervielfältigt; die Anregungen dazu stammen vielfach aus Nachbardisziplinen wie der Soziologie, Ethnologie und Politologie. Sie haben nicht nur Kategorien- und Begriffsbildung beeinflusst, mit denen antike Befunde erfasst werden, sondern auch zu grundsätzlichen Perspektivenverschiebungen beigetragen. Gerieten mit der sogenannten Neuen Sozialgeschichte der 1970er Jahre neben den politischen Akteuren nun auch andere gesellschaftliche Gruppen wie Sklaven, Arme, Alte, Fremde und Frauen in den Blick, so ist mit der Neuen Kulturgeschichte und Historischen Anthropologie der 1990er Jahre das Individuum mit seinen Erfahrungen in den Mittelpunkt der Betrachtung gerückt. Nur geht es hier nicht mehr um die sogenannten großen Männer, die ihren angestammten Platz in der politischen Ereignisgeschichte haben, sondern ganz allgemein um Mentalitäten, Verhaltensweisen und soziale Praktiken von ganz unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen.

Ein sowohl chronologischer als auch systematischer Zugriff ist nicht ohne radikale Begrenzung möglich. Deshalb liegt der Fokus weniger auf politischen Ereignissen als vielmehr auf politischen Strukturen. Um den Wandel in den Blick nehmen zu können, habe ich mich in diesem Buch für eine Konzentration auf Krisen- und Umbruchphasen entschieden: auf den Übergang von der minoisch-mykenischen Zeit zur entstehenden Polis; auf den Sturz der Tyrannis und die Entstehung der attischen Demokratie, auf die Gründung und Krise der römischen Republik und auf die Herausbildung des Prinzipats. Als ›Grundgewebe‹ dienen die Ausführungen zum Entstehen der Schrift und zu den Anfängen einer schriftlichen Form der Erinnerung des Vergangenen. Dies ist auch der Grund, warum der Überblick anders als viele Einführungswerke die bronzezeitlichen Kulturen des 2. Jahrtausends einbezieht, da hier die ersten Schriftzeugnisse entstehen. Das eigentliche ›Gewebemuster‹ aber liefern die systematischen Schwerpunkte, die der Vielfalt der Subdisziplinen mit ihren spezifischen Fragestellungen und Methoden Rechnung tragen: die Rechts-, Kultur- und Religionsgeschichte, die Wirtschafts- und Sozialgeschichte, die Geschlechtergeschichte. Da es nicht möglich ist, die Breite der neuen Einsichten, die auf diesen Gebieten gewonnen wurden, in einem Band zu präsentieren, wurden in den einzelnen Kapiteln thematische Schwerpunkte gesetzt. Forschungen, die das Fremdheitsverstehen fördern, erhielten Vorrang vor traditionellen Positionen. Zudem werden in jedem Kapitel unterschiedliche Überlieferungsarten bzw. Quellengattungen vorgestellt (Überblick bei Leppin 2005, 18–34), die – um im Bild zu bleiben – den Stoff bilden, aus dem Geschichte ›gewoben‹ wird.

1. Die minoisch-mykenische »Palastkultur«

Im Palast des Minos – so lautet der Titel eines äußerst erfolgreichen Buches über die Ursprünge der europäischen Geschichte, das 1913 erschien. Es beginnt mit dem Satz: »In Knossos gräbt Sir Arthur Evans Märchen aus.« Die Autorin, Bertha Eckstein-Diener, eine Wiener Industriellentochter, die der anthroposophischen Bewegung um Rudolf Steiner nahe stand, hatte damals gerade begonnen, sich als Kulturhistorikerin einen Namen zu machen (Mulot-Deri 1987). In den 1920er Jahren sollte die Studie über Mütter und Amazonen folgen, in der sie sich der Idee eines ursprünglichen Matriarchats annahm, die in der zweiten Hälfte des 19. Jhs. von dem Basler Rechtshistoriker Johann Jakob Bachofen in die Altertumswissenschaft eingebracht worden war. Dass Eckstein-Diener das minoische Kreta zum Sujet ihres ersten Werkes wählte, zeigt die Faszination, die um 1900 von der Archäologie ausging. Diese gab vor, Licht in die Wirkungsstätten der antiken Mythologie zu bringen und zugleich die materiellen Grundlagen für die Bachofen’sche Idee einer urspünglichen Frauenherrschaft zu liefern, die in den neu entstandenen Kultur- und Sozialwissenschaften um 1900 breite Resonanz gefunden hatte (Wagner-Hasel 1992). Kreta war nach Auskunft unserer ältesten literarischen Quelle, den Epen Homers, das Herrschaftsgebiet des Königs Minos, eines Sprösslings des olympischen Göttervaters Zeus, und der Europa, einer phönizischen Königstochter, nach der bereits in der Antike ein ganzer Kontinent benannt wurde (Demandt 1998). Ihren Sohn Minos machte Evans zum Namensgeber der von ihm entdeckten kretischen Kultur des dritten und zweiten Jahrtausends v. Chr. Das minoische Kreta fungiert seitdem in doppelter Weise als Projektionsfläche des Eigenen und des Fremden: In den Augen der Frauenbewegung steht die minoische Kultur für eine friedliche, feminine Gegenwelt zum kriegerischen Patriarchat, wobei als Beleg vor allem Fresken mit Frauendarstellungen dienen, die in der Imagination von Bertha Eckstein-Diener geradezu modern anmuten:

»Auf Terrassen, in Gruppen plaudernd, sahen merkwürdig moderne Damen, onduliert, mit Reifröcken und Stöckelschuhen, über Gärten hinweg, Kampf und Sport der Männer zu, die braun und schlank, glattrasiert, mit lockigem Haupthaar, in ihrer Nacktheit seltsam abstanden von den überkleideten Frauen. Nur ein Lendenschurz mit goldenem Gürtel zog die Taille wespengleich ein. Weiße oder helle Wickelgamaschen schützen den Fuß bis zur Wade. Als ein französischer Gelehrter die minoischen Hofdamen, wie aus einem Modeblatt geschnitten, zum erstenmal erblickte, soll er gerufen haben: ›Mais ce sont des Parisiennes!‹ […] Die minoische Frau stand ungefähr auf dem Standpunkt der heutigen Durchschnittsmondäne« (zitiert nach Mulot-Deri 1987, 184 f.).

Gegenwart und Vergangenheit gehen in der Vorstellungswelt der Wiener Kulturhistorikerin ineinander über; das minoische Kreta des 2. Jahrtausends wird zum Spiegel ihrer eigenen Zeit. Für die Fachwissenschaft, die dieses Bild durchaus bedient hat, geriet das minoische Kreta aufgrund seiner andersartigen Architektur, die keinerlei Ähnlichkeiten mit den Tempelbauten des klassischen Griechenland aufweist, ebenfalls zum radikal Anderen, zumal auch die in den 1950er Jahren entzifferten Schriftzeugnisse mehr Gemeinsamkeiten mit den Schriften des Vorderen Orients als mit denen des klassischen Griechenlands besitzen.

1.2 Buchhaltung und Schriftkultur: Die Entzifferung der Linear B-Tafeln

Die Entzifferung der Linear B-Tafeln

In Knossos wurden nicht nur Fresken gefunden. Evans war ursprünglich von Siegeln mit Schriftzeichen angelockt worden, hatte sich aber ganz auf die Bauwerke und Fresken konzentriert. Er fand allerdings auch Schriftzeugnisse, kleine Tontafeln mit Schriftzeichen, die Linear A und Linear B genannt werden (Abb. 3: Linear B-Tafeln: siehe »Bildquellen« unter www.campus.de). Gefunden wurden die Schrifttafeln nicht nur in Knossos, sondern auch an anderen Fundstätten: in Phaistos und in Hagia Triada im Süden Kretas, in Mallia an der Nordküste, in Kato Zakros an der Ostküste, vor allem aber auf dem griechischen Festland – in Pylos an der Westküste der Peloponnes, in Mykene, im Osten der Peloponnes, in Theben, in Mittelgriechenland und neuerdings in Sparta. Während von den Tafeln mit Linear A-Schriftzeichen nur wenige gefunden wurden, existieren etwa 7.500 Schrifttafeln in Linear B. Etwa 6.000 stammen aus Knossos, 1.445 aus Pylos. Allerdings tauchen auf dem griechischen Festland nur Linear B-Schrifttafeln auf, aber keine Linear A-Tafeln. Diese sind anders als die Linear B-Tafeln nicht auf der Basis des Altgriechischen lesbar. Deshalb nahm man lange Zeit an, dass mykenische Herren um 1300 die Insel vom Festland aus erobert oder zumindest abhängig gemacht und ihre Schrift eingeführt haben. Aus diesem Grund spricht man im Zusammenhang mit den Linear B-Tafeln von einer mykenischen Schrift, auch wenn diese Tafeln auf Kreta gefunden wurden (Doblhofer 1957/2008, 251–295). Erst in jüngster Zeit melden sich Gegenstimmen zu Wort, die den Einfluss des Festlandes relativieren (Maran/Stavrianopoulou 2007).

Die Schrift wurde zu Lebzeiten von Evans nicht mehr entziffert. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg gelang es einem Architekten, Michael Ventris (1922–1956), und einem Linguisten und Klassischen Philologen, John Chadwick (1920–1998), Licht in das Dunkel der Schriftzeichen zu bringen (Chadwick 1979/1995, 30–36; Hiller 2000, 121–149). Während Ventris während des Zweiten Weltkrieges bei der britischen Kriegsmarine als Kartograph gearbeitet hatte, war Chadwick beim Dechiffrierdienst tätig gewesen und hatte gelernt, geheime Codes zu knacken. Die Codierung von Botschaften basiert darauf, häufig benutzte Wörter durch Nummern zu ersetzen. Auf die Entzifferung unbekannter Sprachen bezogen lautet deshalb die Devise, nach sich wiederholenden Mustern zu suchen und zu versuchen, den Kontext zu ermitteln, in dem die einmal ermittelten Wörter auftauchen. Um mit dieser Methode zu einem Erfolg zu kommen und die Texte lesbar zu machen, muss eine hinreichende Zahl von Texten verfügbar sein – und, das gilt gerade für unseren Fall: sie mussten auch publiziert sein. Als Evans 1941 starb, hinterließ er ein unvollendetes Werk, die Scripta Minoa. 1952 wurde der zweite Band dieser Sammlung minoischer Texte von seinem Assistenten John Myres veröffentlicht. Ein Jahr zuvor hatte Emmett L. Bennett die in Pylos gefundenen Linear B-Schrifttafeln publiziert. Es dauerte nur ein Jahr, bis Michael Ventris eine überzeugende Lösung vorlegte, die am 1. Juli 1952 im Radio von der BBC bekannt gegeben wurde. Chadwick, der inzwischen als Lexikograph für Latein arbeitete und damit beschäftigt war, die Bedeutung von unbekannten lateinischen Wörtern zu ermitteln, nahm sofort Kontakt mit Ventris auf und bot eine Zusammenarbeit an. 1956 erschien ihr gemeinsames Werk Documents in Mycenaean Greek, das eine neue Wissenschaft, die Mykenologie, begründete. Es stellte sich heraus, dass die Schriftzeichen auf der Basis des Griechischen lesbar waren. Nur handelt es sich nicht um eine Buchstabenschrift wie das Altgriechische, sondern um eine ideogrammatische Silbenschrift. Da nur von Linear B-Tafeln eine ausreichende Zahl von Texten vorlag, ließ man die Linear A-Tafeln bei den Entzifferungsbemühungen außer Acht. Etwa 55 von 91 der Linear B-Schriftzeichen finden sich in Linear A wieder. Zwar lassen sich Namen, Maßzeichen, Zahlen und Zeichen für Textilien isolieren, eine überzeugende Lesart gibt es aber bis heute nicht.

Schrifttypen

Schrift gilt als Zeichen der Hochkultur; Schriftgebrauch markiert die Grenze zwischen Vorgeschichte und Geschichte. So sah es Leopold von Ranke im 19. Jh. Die Entwicklung hin zur Schriftlichkeit nimmt ihren Ausgang in Ägypten und Mesopotamien. Die älteste ägyptische Schrift ist eine Hieroglyphenschrift – so 150 n. Chr. von dem griechischen Autor Clemens Alexandrinus genannt (»heilige Zeichen«) –, die um 3000 v. Chr. entsteht; die letzte hieroglyphische Inschrift stammt aus dem Jahr 294 n. Chr. (Wiesehöfer 1987, 23). Es handelt sich um eine Denkmälerschrift, die bereits zu Beginn des 19. Jhs. von dem Franzosen Champollion während des Napoleonfeldzuges nach Ägypten entziffert wurde. Da alle diese Bildzeichen nicht die Lautung des Wortes, sondern nur dessen Sinn zum Ausdruck bringen, werden sie Ideogramme genannt.

Aus Mesopotamien im heutigen Irak stammt die Keilschrift, die zwischen 3000 und 600 v. Chr. benutzt wurde. Die Keilschrift setzt sich aus (1) Wortzeichen bzw. Ideogrammen, (2) aus lautlichen Zeichen und (3) aus Determinativen zusammen. Das Wortzeichen oder Ideogramm kann in verschiedenen Sprachen gleich geschrieben, aber jeweils anders gesprochen werden. So ist das Keilschriftzeichen mit dem Bildwert eines Sterns * in allen Keilschriftsprachen Ideogramm für den Begriff »Himmel«, wird aber im Sumerischen »an«, im Akkadischen »samu« gesprochen. Zum Vergleich: Die durchgestrichene Zigarette bedeutet überall das gleiche, wird aber im Deutschen als »Rauchen verboten«, in England als »No Smoking«, im Frankreich als »défense de fumer« gelesen. Kombiniert wurden diese Ideogramme mit Lautzeichen. Lautliche Zeichen stellen Silben mit Vokalen dar, entweder in der Kombination Konsonant und Vokal oder Konsonant, Vokal, Konsonant. Determinative definieren das Bedeutungsfeld, z. B. Mann, Frau, Gott, Stadt, Land, Baum, Metall. Ein senkrechter Keil steht für einen männlichen Personennamen oder für ein männliches Tätigkeitsfeld, eine Vulva für einen weiblichen Personennamen oder ein weibliches Tätigkeitsfeld, ein Stern für einen Gott (Wiesehöfer 1987, 13–18).

Auf Kreta war um 2000 eine hieroglyphisch-piktographische Schrift in Gebrauch, die auf Siegeln zu finden und heute weder phonetisch lesbar noch sachlich verständlich ist. Sie wurde wahrscheinlich in kultischen Kontexten gebraucht. In der Zeit zwischen 1650 und 1450 entstand eine neue Schrift, die eben behandelten Linear A- und B-Schriften. Die Linear B-Schrift besteht aus Laut- bzw. Silbenzeichen (Syllabogrammen), Bildzeichen (Ideo- bzw. Logogrammen) und Zahlzeichen (numerische bzw. Symbole zur Zahlenangabe); hinzu kommen Maß- und Gewichtseinheiten (metronomische Symbole). Logogramme beziehen sich auf Personen, Tiere, landwirtschaftliche Produkte sowie Gegenstände wie Waffen und Werkzeuge. Silbenzeichen kombinieren Vokal und Konsonant; allerdings werden Silben schließende Konsonanten nicht geschrieben; auch sind die Silbenzeichen in Bezug auf ihre Lautwiedergabe mehrdeutig (Hiller 2000, 127).

Um 1500 kam es in Phoinikien zur Entwicklung einer Alphabetschrift. Ihr Vorteil ist, dass sie mit weniger Zeichen auskommt. Anstelle von 91 Silben wie die Linear B-Schrift benötigt die phoinikische Alphabetschrift nur 22 Buchstaben. Im griechischen Raum wurde sie im 1. Jahrtausend gebräuchlich. Die ältesten Zeugnisse der griechischen Alphabetschrift stammen aus Naxos, Ischia, Athen und Euboia und gehören in die Zeit um 770/740 v. Chr. Die phoinikische Schrift war ursprünglich eine Konsonantenschrift, die für alle Silben mit denselben Konsonanten, aber verschiedenen Vokalen nur ein Zeichen besaß. Die Griechen und später auch die Phoiniker fügten Vokalzeichen hinzu, die zwischen die Konsonantenzeichen gesetzt wurden; im Hebräischen und Aramäischen werden die Vokale durch besondere Zeichen über und unter den Konsonanten angezeigt. Im Prinzip ermöglicht die griechische Buchstabenschrift, die sowohl Konsonant als auch Vokal verschriftet, eine lautgetreue Wiedergabe des Gesprochenen; d. h. die Schrift steht im Dienst des gesprochenen Wortes. Eben das war aber nicht der ursprüngliche Zweck der Erfindung der Schrift.

Die Ursprünge der Schrift

Kehren wir noch einmal zu den Anfängen zurück. Der Altorientalist Hans J. Nissen rekonstruiert die Entwicklung wie folgt: Am Anfang steht der Zählstein. »Ein uraltes Mittel, um beim Zählen das Gedächtnis zu unterstützen, sind Zählsteine. Beim Zählen der Tiere einer Herde etwa wird für jedes zehnte oder x-te Tier ein Stein auf einen Haufen gelegt oder in einen Behälter« (Nissen 1983, 94). Festgehalten werden mit diesem System nur die Zahl der Tiere, nicht aber Ort oder Art der Tiere oder beteiligte Personen. Zu einer Weiterentwicklung des Systems kam es, als Zähleinheiten wie Einer, Zehner und Hunderter festgelegt wurden. Man kann dafür verschiedene Steinformen wählen. Um die Zahl der gezählten Tiere mit einer Person, beispielsweise mit dem Besitzer, zu kombinieren, wurden Rollsiegel ausgebildet, indem eine bestimmte Anzahl von Tonstückchen, die Zahlen markieren, in einen Klumpen Ton gehüllt wird, dessen Außenseite mit Abrollungen von einem Siegel versehen wurden. Nun mussten nur noch gezähltes Gut, Zeit und Ort in Erinnerung behalten werden, nicht aber mehr Zahl und Person. In der Folge werden diese Informationen auf Tontafeln geritzt. Diese ältesten Schrifttafeln aus Mesopotamien zeugen von nichts anderem als dem Versuch der Inventarisierung: Unterschieden werden Texte zu Unterhaltszuteilungen, Opferlisten, Texte zu Felderaufteilungen und Herdenhaltung sowie zur Organisation von Metall- und Textilverarbeitung (Nissen 1983, 98). Die Schrift entsteht – überspitzt gesagt – aus dem Geist der Buchhaltung.

Die Funktion der Linear B-Tafeln

Auch auf Kreta dienten die Linear B-Tafeln der Buchhaltung. Es handelt sich auch hier um Listen: Listen von Schafherden, von Weihegaben an Gottheiten, von Tuchabgaben von weiblichen Arbeitsgruppen, um Listen von Rationen für Textilarbeiterinnen. Getreide und Wein wurden in Mengeneinheiten gemessen: Scheffel, Gallone etc. Für Wolle gab es eine eigene Maßeinheit. Auch Landbesitz wurde registriert, wohl nicht in Knossos, aber in Pylos. Ein Teil der an den ›Palast‹ geschickten Güter diente der Durchführung von Opferbanketten, wie aus den in Theben gefundenen Tafeln hervorgeht (Killen 1994; Deger-Jalkotzy 2004). In eben diesen Kontext gehört auch das Fresko eines Frauenkopfes, die so genannte »Parisierin«, die an einem solchen Bankett teilnahm bzw. ihm vorsaß, wie dies auch von den ranghohen homerischen Frauen überliefert ist (Morris 2003, 7; Hiller/Panagl 1976; Nosch 2006).

Die Tafeln belegen sehr deutlich, dass die sogenannten Paläste nicht nur Orte von Kultveranstaltungen waren, wie die oben vorgestellten Analysen der Fresken annehmen lassen, sondern auch und vor allem administrative Zentren, in denen Güter verwaltet und verteilt wurden. Umstritten ist der Status der Arbeitskräfte, die für den Palast Herden beaufsichtigten und Wolle verarbeiteten. Manche vermuten in ihnen Freie, die Arbeitsdienste im Gegenzug für empfangene Unterstützung leisteten. Einige werden jedoch nach ihrer Herkunft bezeichnet, so dass es sich auch um aus der Fremde herbeigeführte Personen handeln kann, die zwangsweise zu dieser Arbeit verpflichtet wurden, also Sklaven waren. Auf jeden Fall besaßen nach den Angaben auf den Schrifttafeln die Textilproduktion und die zentrale Organisation der Weidewirtschaft eine große Bedeutung. Die Anlage von Bergheiligtümern in mittelminoischer Zeit belegt die Nutzung von Berggebieten als Sommerweiden, die Absprachen zwischen Bewohnern unterschiedlicher Siedlungsgebiete notwendig gemacht haben dürfte, wie sie inschriftlich aus späteren Jahrhunderten überliefert sind (Halstead 1981; Chaniotis 1996, 114–120). Zur Frage der Herrschaftsform geben die Tafeln nur bedingt Aufschluss. Es gibt Titel wie wa-na-ka (gr. (w)ánax) und qa-si-re-u (gr. basileús), die auch in späteren literarischen Quellen auftauchen. Der wa-na-ka erscheint in den Pylos-Tafeln als Besitzer eines Landgutes, te-me-no (gr. témenos, wörtlich: das Herausgeschnittene), und als Empfänger von Ölen, in Knossos als Empfänger von Gewürzen. Während bis vor kurzem wánax als Königstitel verstanden wurde, wird der Titel inzwischen auf einen Gott bezogen, der parfümierte Öle empfing und ein témenos