Antonias Tochter - Nora Elias - E-Book

Antonias Tochter E-Book

Nora Elias

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Beschreibung

Köln 1945: Kurz vor Kriegsende flieht Antonia von Brelow von ihrem Landgut in Preußen ins einstmals prachtvolle Stadthaus der Familie in Köln. Um Geld zu verdienen, sieht sie sich gezwungen, Zimmer des Hauses zu vermieten. So bildet sie schließlich eine Gemeinschaft mit der Tänzerin Elisabeth, der Krankenschwester Katharina, dem Arzt Georg und ihrem intriganten Schwager Richard. Alle Bewohner des Hauses haben eine Vergangenheit, von der sie niemandem erzählen. Doch das größte Geheimnis hütet Antonia selbst: die Identität des Vaters ihrer kleinen Tochter Marie. Gemeinsam mit Georg, zu dem sie sich immer stärker hingezogen fühlt, tritt Antonia schließlich eine Reise zum dunkelsten Punkt in ihrem Leben an ...

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Buch

Köln 1945: Zusammen mit ihrer kleinen Tochter Marie kehrt Antonia von Brelow von ihrem Landgut in Ostpreußen zurück in eine zerstörte Stadt und bezieht mit dem Kind das einstmals prachtvolle Stadthaus der Familie. Da ihr nur eine kleine Rente zusteht, vermietet sie einzelne Räume des Hauses an die erfolglose Tänzerin Elisabeth Kant, die Krankenschwester Katharina Falkenburg und den jungen Arzt Georg Rathenau. Außerdem nistet sich ihr intriganter Schwager Richard bei ihr ein, der Anspruch auf die Villa erhebt. Obwohl sie ganz unterschiedlich sind, freundet sich Antonia schnell mit Elisabeth und Katharina an. Und mit Georg verbindet sie bald eine Liebe, die zögernd beginnt, dann aber immer mehr Raum in ihrem Leben einnimmt. Doch alle Bewohner des Hauses haben eine Vergangenheit, von der sie niemandem erzählen. Allen voran Antonia selbst, denn jeder ahnt, dass ihr Ehemann, der seit langem vermisst wird, unmöglich Maries Vater sein kann. Schließlich tritt sie gemeinsam mit Georg eine Reise an, die sie zum dunkelsten Punkt in ihrem Leben führen wird …

Nora Elias ist das Pseudonym einer im Rheinland lebenden Autorin historischer Romane. Zum Schreiben kam sie bereits als Studentin und widmet sich nun vermehrt der Geschichte ihrer Wahlheimat. Sie liebt Reisen und lange Wanderungen.

Nora Elias

Antonias Tochter

Roman

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Copyright © 2016 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen. Covergestaltung: UNO Werbeagentur München Covermotiv: bpk; Getty Images Redaktion: Regine Weisbrod BH · Herstellung: Str.

»Die große Masse des deutschen Volkes ist, was Ernährung, Heizung und Wohnung anlangt, auf den niedrigsten Stand gekommen, den man seit hundert Jahren in der westlichen Zivilisation kennt.«

Herbert C. Hoover, amerikanischer Präsident 1929–1933

TEIL 1

»Der Trümmerhaufen Kölnwurde dem Feind überlassen.«

Meldung des Reichssenders beim Einrücken der US-Truppen

1

Juli 1945

»Oh, verdammt noch mal!« Elisabeth Kant hob ihren Mantel an, dessen Saum über und über mit Dreck bespritzt war. Der Junge, der seinen Karren mit Wucht durch den Matsch gerollt hatte, sah sie ungerührt an.

»Dann geh halt zur Seite, Prinzessin.«

Elisabeth lag eine unflätige Antwort auf der Zunge, aber sie schluckte sie hinunter, jeder Zoll eine Dame. Immer noch hallten die Rufe ihrer Eltern ihr in den Ohren. Wo willst du hin? Wir sind noch nicht fertig mit dir. Aber ich mit euch, antwortete sie im Stillen und wünschte, sie hätte ihnen die Worte entgegengeschleudert, anstatt einfach nur zu gehen. Ob sie immer noch dachten, sie kehre reumütig heim? Metze. Soldatenhure.

Die Kölner kehrten zurück in ihre Stadt, und Elisabeth trieb zwischen ihnen wie ein Fremdkörper und fragte sich, ob jemand merkte, dass sie nicht hierher gehörte. Nichts war mehr ganz, die Stadt sah aus wie ein Skelett, und aus den brackigen Resten der Häuser quollen Rauchwolken gleich Geistern verlorener Zuversicht. Aber obschon die einstigen Prachtbauten in Trümmern lagen und die Straßenzüge verschüttet und durch Schuttberge an anderer Stelle neu geformt worden waren, gelang es ihr recht schnell, sich zu orientieren. Niemand nahm Notiz von ihr, niemand sah ihr an, was sie war. Zumindest bis zu dem Moment, als sie die niedrige Kaschemme betrat. Da hob der eine oder andere im Vorbeigehen den Blick. Ah, eine von denen.

»In The Mood« von Glenn Miller drang in kratzigen Tönen aus dem Radio, das vermutlich schon bessere Tage gesehen hatte. Elisabeth zog die Tür hinter sich zu und ließ die Blicke suchend von Tisch zu Tisch gleiten, zur Bar. Hier wollte er sie treffen. Hatte sie sich in der Uhrzeit vertan?

Mit vorgeschobener Selbstsicherheit ging sie durch den gut besuchten Raum zur Bar, setzte sich auf einen der hohen Hocker und lehnte sich leicht gegen den Tresen. Das Licht des frühen Nachmittags drang nur spärlich in den Raum, aber die Blicke der Männer entgingen ihr dennoch nicht. Ob sie so hoffnungslos provinziell wirkte, wie sie sich fühlte? Nigel hatte behauptet, sie sei das Schönste, was ihm seit langem begegnet war, aber er hätte vermutlich alles gesagt, um mit ihr schlafen zu können. Elisabeth hatte sich nicht lange geziert, hätte alles getan, um ihre Eltern zu bestrafen, allen voran ihren Vater.

Sie konnte nicht behaupten, dass es ihr Spaß machte. Nigels Versicherung, es tue nur beim ersten Mal weh, hatte sich nicht bewahrheitet, aber um ihn nicht zu verstimmen, tat sie so, als gefalle es ihr. Dann war Nigel am einundzwanzigsten Juni nach Köln versetzt worden und hatte sie gefragt, ob sie mitkäme. Warum auch das bequeme Arrangement und die willige Geliebte aufgeben? Wieder hatte Elisabeth nicht lange gezögert.

Das Lokal war fast ausschließlich von englischen Soldaten und Offizieren bevölkert, an deren Armen junge deutsche Frauen hingen. Elisabeth stellte ihre Tasche ab, bemerkte die Blicke eines Soldaten, erwiderte sie kurz und wandte sich ab. Hoffentlich fühlte er sich dadurch nicht ermutigt. Offenbar doch, denn er schob sich näher an sie heran.

Die Tür wurde aufgerissen, und ein Mann drang in die Szenerie verzweifelter Vergnügungssucht. Er blieb stehen, sah sich mit wilden Blicken um, das Gesicht rot, der Mund ein zornbebender Strich. »Doris!« Die geborstene und für einen so kräftigen Mann relativ hohe Stimme brach die Stimmung wie ein Missklang. Man verharrte im Tanz und im trägen Wiegen der Körper, sah ihn an. Ein Mädchen von kaum achtzehn kam auf ihn zu, zerbiss sich die Lippen und hob trotzig das Kinn. Ihr blieb keine Zeit, etwas zu sagen, denn im nächsten Augenblick bekam sie eine schallende Ohrfeige, und der Mann umfasste ihr Handgelenk, um sie mit sich zu zerren.

»Moment!«, sagte der sichtlich angetrunkene Soldat, in dessen Begleitung das Mädchen gewesen war, und stellte sich dem Mann in den Weg. Der stieß ihn beiseite und wollte gehen, aber offenbar sah der Jüngere darin eine Aufforderung zur Schlägerei. Er holte zu einem etwas wackligen Schwinger aus, als Nigels Stimme durch den Raum drang, kalt und befehlsgewohnt.

»McArthur!«

Der Soldat stand stramm, soweit es ihm in seinem Zustand möglich war.

Nigel Findlay hatte die Hände hinter dem Rücken verschränkt und sah den Mann an, der das Handgelenk des Mädchens wieder umfasst hatte. Dann ruckte er mit dem Kinn knapp in Richtung Tür.

»Wie kannst du mich nur so blamieren?«, weinte das Mädchen. »Wir haben nur …« Die Tür fiel hinter ihnen ins Schloss.

Nigel sah zur Bar und bemerkte Elisabeth. Ein Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Elisabeth erwiderte das Lächeln ein wenig zurückhaltend. Er sollte nur nicht denken, man könne sie so einfach warten lassen, ohne sie zu verstimmen. Er kam zu ihr, umfasste ihre Mitte und küsste sie auf den Mund, ohne sich um die Blicke der Umstehenden zu scheren.

»Ich brauche eine Bleibe«, sagte sie, als er ihre Lippen schließlich freigab.

Er lächelte und zog einen Zettel hervor, hielt ihn hoch und raubte ihr noch einen Kuss, ehe er ihn ihr gab. »Darauf bin ich vorhin auf dem Weg hierher gestoßen.« Sie mochte es, wenn er Deutsch sprach mit seinem britischen Akzent.

Elisabeth nahm das zerknitterte Blatt entgegen und warf einen Blick darauf. »Ich befürchte, wir werden uns dort nicht treffen können. Das klingt grundanständig.«

»Oh, dafür haben wir bisher immer einen Platz gefunden.«

Mit einem kleinen Lächeln las Elisabeth den Aushang erneut. Zimmer zu vermieten bei der Witwe Antonia von Brelow. Dann sah sie Nigel an. »Weißt du, wo die Lindenallee ist?«

Antonia beugte sich über das Beet mit den Karotten und zupfte Unkraut. Die Amerikaner hatten Hilfe zur Selbsthilfe organisiert und Saatgut ausgegeben. Den Garten hatte vor dem Krieg ein Gärtner gehegt und gepflegt, und sie hatten mehr Partys hier gegeben, als Antonia zählen konnte. Ihr Ehemann Friedrich hatte das mondäne Leben geliebt, mit Geld jedoch nicht umgehen können, und so war eine sinnlose Ausgabe zur nächsten gekommen, so dass Antonia nur eine kleine Rente geblieben war. Und da nichts funktionierte, war an eine geregelte Auszahlung derzeit nicht zu denken. Abgesehen davon würde sie nicht reichen, das ahnte sie jetzt schon.

Antonia setzte sich auf die Fersen und strich sich das Haar mit dem Handrücken aus der Stirn. Neben ihr im Gras lag Marie auf einer Decke und wirkte zufrieden, wie sie mit den Händchen nach einem langen Grashalm griff, der außerhalb ihrer Reichweite war. Seit einigen Tagen pürierte Antonia ihr das Essen, und die Kleine aß widerspruchslos, was sie ihr reinlöffelte. Ihre Mieterin, Katharina, war Krankenschwester, was ein Glücksfall war, denn sonst gäbe es niemanden, den Antonia hätte fragen können, ob man Kindern in dem Alter überhaupt dergleichen geben durfte. Antonias Mutter war schon zu Beginn des Krieges an einer Lungenentzündung gestorben, und die Nachbarinnen mieden sie, denn jeder, der bis neun zählen konnte, wusste, dass dies nicht das Kind ihres Ehemanns war. Katharina hatte sie ermutigt, es mit pürierter Nahrung zu versuchen, denn sie hatte während des Kriegs mit ausreichend Frauen und Kindern zu tun gehabt und ihr gesagt, sie habe noch von keinem Kind gehört, das mit einem halben Jahr an Gemüsebrei gestorben sei.

Der Entschluss, Zimmer zu vermieten, war aus der Not heraus geboren, aber nun fand Antonia, es war die beste Entscheidung, die sie seit langem getroffen hatte. Sie und Katharina sahen sich nur im Vorbeigehen, mal in der Küche, mal im Korridor, wenn eine von ihnen kam und die andere ging, und es war ganz sicher nicht so, dass sie dies eine Freundschaft nennen konnte. Aber dennoch tat ihr die Anwesenheit der anderen gut, das Gefühl, nicht mehr allein zu sein.

Während sie das Beet mit den Steckrüben harkte, kribbelte es in ihrem Rücken, als ob jemand sie beobachtete. Und für einen Moment waren sie wieder da, die Schreie, der Schnee. Sieh dich nicht um. Ihre Bewegung stockte, und der Atem kam in einem Stoß aus ihren geöffneten Lippen, ehe sie die Luft hastig wieder einsog, den Blick über die Schulter wagte. Und vor Erleichterung beinahe aufgelacht hätte, als sie die junge Frau sah, die am halb geöffneten Gartentor stand, das in die hohe Mauer eingelassen war. Im Lächeln der Frau bemerkte Antonia etwas Unsicheres, Befangenes unter einer dünnen Tünche von Selbstsicherheit.

»Verzeihung, aber ich habe mehrmals geläutet. Und als ich gesehen habe, dass das Tor offen steht, dachte ich, ich schaue mal rein, ob wirklich niemand da ist.«

Antonia legte die Harke beiseite und erhob sich, strich mit einer raschen Bewegung Erde von ihrem Kleid. »Ich höre die Glocke hier draußen nicht. Was kann ich für Sie tun?«

Die junge Frau hielt ein zerknittertes, schmutzig weißes Blatt in der Hand und kam einige Schritte in den Garten hinein. »Sind Sie Antonia von Brelow? Ich komme wegen der Anzeige. Sie vermieten Zimmer?«

Jetzt erwiderte Antonia das Lächeln. »In der Tat.«

Nun kam die Frau zu ihr und streckte ihr die Hand entgegen. »Elisabeth Kant. Ich bin erst seit einigen Stunden in Köln und suche eine Bleibe.«

»Ich vermiete die Zimmer aber nur längerfristig.«

»Ja, das ist mir recht.«

»Gut. Dann lassen Sie uns im Haus weitersprechen.« Mit einer Handbewegung deutete Antonia auf die geöffnete Verandatür und ging voraus. Sie hob Marie hoch und trug sie mit sich in den Salon, in dem sie und Friedrich früher die Sommerabende hatten ausklingen lassen.

Nachdem Antonia sie aufgefordert hatte, sich zu setzen, ließ Elisabeth Kant sich auf einem der Sessel nieder, die Hände auf ihrer Handtasche. Sie war auf eine recht interessante Weise hübsch mit dem welligen blonden Haar, das ihr bis zum Kinn reichte und zu dem ihre dunklen Augen einen faszinierenden Kontrast bildeten.

»Arbeiten Sie in Köln?«, fragte Antonia und setzte sich ebenfalls, nachdem sie das Kind abgelegt hatte.

»Ich bin Tänzerin, möchte nun aber versuchen, als Schauspielerin an eine der Bühnen zu kommen. Oder zum Film.«

»Und da können Sie ein Zimmer bezahlen?«

Die Wangen der Frau röteten sich kaum merklich. »Es gibt jemanden, der es bezahlt«, sagte sie, und Antonia vermutete, dass sie einen Geliebten hatte, der sie aushielt. Wahrscheinlich gar einer der Soldaten oder Offiziere. Aber sie fragte nicht, es ging sie nichts an.

Offenbar deutete Elisabeth Kant das Schweigen falsch. »Es wird nicht so sein, dass ich laufend Männerbesuch auf dem Zimmer empfange«, sagte sie rasch. »Ich suche es wirklich nur für mich allein.«

Antonia winkte ab. »Ja, das ist in Ordnung. Aber ich brauche einen Ausweis, etwas, das mir bestätigt, dass Sie sind, wer Sie sind. Ich habe eine Art Vertrag vorbereitet, den Sie unterschreiben müssten, wenn Ihnen das Zimmer gefällt.«

Die junge Frau nickte und kramte ein Ausweisdokument aus der Tasche. Dann betrat Richard das Zimmer, und dieser Moment änderte alles. Antonia bemerkte es, als sie die Frau ansah, das leichte Zurücknehmen der Schultern, die aufrechtere Haltung, die Neigung des Kopfes. Richard hatte diese Wirkung auf Frauen. Und es konnte ihm nicht entgehen, wie Elisabeth Kant auf ihn reagierte.

Er warf ihr einen kurzen Blick zu, und ein sardonisches Lächeln spielte um seinen Mund. »Mit wem haben wir das Vergnügen?«

»Elisabeth Kant«, sagte die junge Frau, ehe Antonia antworten konnte.

Wenn Richard wollte, vermochte man in seinem Gesicht zu lesen wie in einem offenen Buch. Gewöhnlich. Er konnte abscheulich sein, das wusste Antonia, und so erhob sie sich rasch, ehe er zu Wort kam.

»Ich zeige Ihnen das Zimmer«, sagte sie und gab Elisabeth Kant mit einem freundlichen Nicken zu verstehen, sie möge ihr folgen.

Die junge Frau erhob sich, wirkte für einen Moment bestürzt, wandte den Blick so rasch von Richard ab, als verwirrten ihre eigenen Empfindungen sie. Antonia konnte ihr nun einen Gefallen tun, indem sie ihr das Zimmer verwehrte. Allerdings brauchte sie das Geld, und zudem war ihr Elisabeth Kant auf Anhieb sympathisch. Nun gut, dachte sie, Lehrgeld zahlen wir alle. Ein kurzer Blick überzeugte sie davon, dass Marie zufrieden mit ihrer Decke auf dem Teppich lag, dann ging sie durch die Halle zur Treppe.

»In der Küche gibt es fließendes Wasser«, erklärte sie auf dem Weg nach oben. »Leider nur kalt. Da Herr von Brelow jedoch ebenfalls die Annehmlichkeiten von heißem Wasser zu schätzen weiß, wird er sich gewiss darum kümmern, den Boiler irgendwann instand zu setzen.«

»Herr von Brelow?«

»Mein Schwager. Er wohnt hier – wie ich hoffe – nur vorübergehend.«

Elisabeth Kant nickte nur. Als Antonia die Tür öffnete, ging die junge Frau an ihr vorbei in den Raum und lächelte entzückt. »So groß?«

Es war eines der ehemaligen Gästezimmer. »Links ist ein kleines Ankleidezimmer, und das Bad teilen Sie mit den anderen Mietern. Aber, wie gesagt, auf die Vorzüge eines heißen Bades werden Sie derzeit noch verzichten müssen.«

»Ach, ich habe während des Kriegs fast nur kalt geduscht, damit kann ich gut leben.«

»Sie können sich Wasser in der Küche erhitzen, wenn Sie doch mal ein warmes Bad nehmen möchten. Es ist nur sehr aufwendig. Größere Mengen Wasser müssten Sie über die Pumpe in der Waschküche holen.«

Elisabeth Kant winkte ab. »Es ist alles bestens. Wie viel soll es kosten?«

»Neun Reichsmark im Monat.«

»Ich nehme es.« Elisabeth Kant ging in den Raum, sah hoch zur Stuckdecke und drehte sich einmal um sich selbst, die Arme ausgebreitet, als wollte sie die Welt umarmen.

»Fräulein von Falkenburg?«

»Falkenburg, ohne von.« Katharina wischte sich mit dem Ärmel das Haar aus dem Gesicht. Der Mann vor ihr war in Ohnmacht gefallen, als der Chirurg die Säge an seinem Bein angesetzt hatte, und inzwischen sahen sie alle aus, als hätten sie ein Schwein geschlachtet.

Die leitende Krankenschwester korrigierte den Fehler mit dem Namen nicht. Sie hing noch dem alten Deutschland an, in dem der Adel mehr war als ein überkommenes Relikt aus der Vergangenheit. »Das wurde eben für Sie abgegeben.«

Ein Brief von ihren Eltern. Sie musste ihnen endlich die neue Adresse geben, damit die Briefe nicht mehr an das Krankenhaus geschickt wurden. Mama machte sich immer Sorgen, schrieb Brief um Brief und schien nicht zu verstehen, dass Katharinas spärlich gesäte Antworten nicht hießen, dass sie umgekommen sei. Als hätte sie Zeit, Briefe zu schreiben. Und was sollte sie erzählen? Ihre Mutter wollte gern glauben, dass es die zum Hofknicks erzogene Katharina noch gab – so es sie denn jemals gegeben hatte.

Sie riss das Kuvert auf, entfaltete den Brief und las die wenigen Zeilen. Nun also auch Hans, der Kleinste. Blieben nur noch sie und Wilhelm, und der war in Gefangenschaft. »Bitte komm wenigstens du heim.«

Bedaure, Mutter. Katharina faltete den Brief zusammen und steckte ihn in die Tasche ihrer Schürze. Das hättet ihr euch früher überlegen sollen. Wir tragen alle unseren Teil.

»War es etwas Wichtiges?«, fragte der Chirurg, der Katharina aus umschatteten Augen ansah. Er hatte etwas Großväterliches, das darüber hinwegtäuschte, dass er so ziemlich jedem Weiberrock nachstieg, der in seine Nähe kam. Meist mit Erfolg.

»Nein«, antwortete Katharina. Hans war dem Aufruf Hitlers im Herbst gefolgt. Sei getreu bis in den Tod, und Deutschland wird leben. Der Führererlass war im September des Vorjahrs unterschrieben worden und rief alle Männer im Alter von sechzehn bis sechzig an die Waffen. Hans hatte in jenem Monat Geburtstag gehabt, und nun konnte auch der gestrenge Vater ihn nicht mehr bremsen. Ihr kleinster Bruder war ein glühender Verehrer der nationalsozialistischen Idee gewesen, aber das Sterben stellten sich die meisten heroischer vor. Er war verletzt heimgekehrt und hatte es trotz aller ärztlicher Bemühungen nicht geschafft. Ein Anflug von Trauer überkam Katharina, versickerte jedoch in der Abneigung, die zum Schluss zwischen den Geschwistern geherrscht hatte. Jeder hatte seine Ideale in dem anderen verraten gesehen.

Sie wusch sich die Hände und ging zwischen den Krankenhausbetten entlang, drückte hier eine Hand, hatte dort ein tröstendes Wort, das ihr mittlerweile nahezu beiläufig über die Lippen kam. Sie war abgestumpft, verspürte nichts mehr, kein Mitleid, keine Angst. Nur in diesen wahrhaft raren Momenten, wo sich Finger Trost suchend um ihre schlossen, glomm ein Rest von Wärme in ihr auf. Und Katharina fühlte sich freier als jemals zuvor in ihrem Leben.

Vor drei Wochen hatte sie den Aushang gelesen, der sie in die Villa in der Lindenallee geführt hatte. Zimmer zu vermieten bei der Witwe Antonia von Brelow. Eine Adresse im edlen Stadtteil Marienburg. Katharina, die nach ihrer Arbeit als Lazarettschwester beschlossen hatte, in Köln zu bleiben, hatte zunächst mit drei anderen Krankenschwestern ein Zimmer in einem kasernenartigen Bau geteilt, in dem es kein fließendes Wasser gab. Sie benötigte keinen Luxus, aber sie war von klein auf eine Individualistin gewesen, und da sie sich mit zweien ihrer Mitbewohnerinnen zudem überhaupt nicht verstanden hatte, hatte sie die Gelegenheit beim Schopf ergriffen und nahm dafür auch einen längeren Fußmarsch in Kauf.

Mit der Erwartung, eine ältliche Witwe anzutreffen, hatte sie auf den Stufen der Villa gestanden und war umso erstaunter gewesen, als ihr eine Frau die Tür geöffnet hatte, die kaum älter war als sie selbst, überaus hübsch mit ihrem schwarzen Haar, der blassen Haut und den blauen Augen. Wie genau ihr Schwager Richard von Brelow zu ihr stand, daraus wurde Katharina jedoch nicht ganz schlau.

»Er wohnt hier, bis die Besitzverhältnisse geklärt sind«, hatte Antonia gesagt.

»Andersherum wird ein Schuh draus, meine Liebe«, war Richard von Brelows Entgegnung gewesen.

Katharina und Antonia hatten sich auf Anhieb gut verstanden und sich bereits nach zwei Wochen des Zusammenlebens geduzt, was auch Richard von Brelow in die Schranken wies, dem Katharina nach wie vor mit kühler Distanz begegnete. Und dann war da noch das Kind, das offenbar nicht von Antonias Ehemann war. Nun gut, das war keine Seltenheit, erst recht nicht in Kriegszeiten.

Am späten Vormittag wurde Katharina in das Zimmer der leitenden Oberschwester gerufen. Nachdem die britische Militärregierung die amerikanische abgelöst hatte, veränderten sich auch die personellen Zuständigkeiten. Im Grunde genommen war es Katharina gleich, ob sie den Amerikanern oder den Briten Rede und Antwort zu stehen hatte. Sie wurde oft vorgeschickt, wenn es zu Verständigungsproblemen kam, und so war ihr einwandfreies britisches Englisch – anerzogen, um in den Salons des Hochadels und der reichen Industriellen zu glänzen – doch zu etwas gut.

Als die Oberschwester einige Formalitäten mit ihr durchgesprochen hatte, bekam Katharina zehn Minuten Pause, um eine Kleinigkeit zu essen. Sie holte eine Scheibe Brot hervor, dünn bestrichen mit Butter und mit ein wenig Salz bestreut, damit es nach etwas schmeckte. Sie sah durch die gläserne Wand in den Korridor hinaus, den gerade eine Frau mit einem Neugeborenen im Arm entlangging, den Kopf über das Kind geneigt, lächelnd, als gäbe es niemanden sonst auf der Welt. Unwillkürlich dachte Katharina an Antonia.

Sie kannte diese Art von Müttern, die nicht dem Ideal der Mutter entsprechen konnten, unfähig schienen, ihr eigenes Kind zu lieben, und in Schuldgefühlen ertranken. Die Gründe dafür waren vielfältig, und Katharina hatte während ihrer Jahre als Kriegskrankenschwester viel gesehen, zu viel, als dass dergleichen noch fremd für sie war. Vielleicht hatte Antonia das Kind nicht gewollt – Verhütung war nie gänzlich sicher und in diesen streng katholischen Kreisen preußischen Adels zudem verpönt. Oder es war das Kind eines geliebten Mannes, und sie hatte bei der Geburt festgestellt, dass sie ganz und gar nicht die Gefühle hegte, die der vor dem Krieg so präsente Mutterkult vorschrieb. Wie auch immer, Katharina ging das nichts an, wenngleich sie neugierig war. Sie dachte an die Worte, die ihr eine Frau in irgendeinem Dorf, wo das Lazarett kurzzeitig untergebracht worden war, gesagt hatte. »Als meine Kleine zur Welt kam, habe ich schockiert gemerkt, dass ich sie nicht liebe. Aber im selben Moment wusste ich, ich würde sterben für sie. Und das würde ich für sonst niemanden.«

»Fräulein Falkenburg.« Eine junge Hilfsschwester kam zu ihr. »Wir brauchen Ihre Hilfe bei einem Notfall.«

Katharina ließ den Rest ihres Brots in die Schürzentasche gleiten und folgte der Hilfsschwester in den Behandlungsraum. Im nächsten Augenblick war nichts mehr in ihr außer dem Gefühl der Brust eines Mannes unter ihren Fingern. Der Chirurg hatte ihr einmal gesagt, sie könne mit den Händen sehen, wenn sie zielgenau Brüche, Schwellungen und Verstauchungen ertastete. Auch heute enttäuschte sie die Erwartungen nicht, gab Entwarnung, noch ehe der Arzt abgehetzt eintraf.

Dies war der einzige Ort auf der Welt, an den sie gehörte. Sie hatte nur eine vage Ahnung, wie es weitergehen würde, aber eines wusste sie mit Sicherheit: Die Zeit der Salons und der feinen Konversation lag hinter ihr. Das war das Leben Katharinas von Falkenburg, das Katharina Falkenburg abstreifte wie damals die Kleider nach festlichen Abenden, wenn sie in der Abgeschiedenheit ihres Zimmers wieder zu der wurde, die sie eigentlich war. Und die sie nun bleiben würde.

*

Ihr Schwager hatte erkannt, was ihr Ehemann ihr nie hatte glauben wollen: Antonia von Brelow eignete sich nicht zur Mutter. Im Grunde genommen war sie auch nicht zur Ehefrau geeignet gewesen, aber das hatte sie erst gemerkt, als es zu spät war. Sie hatte 1937 im Alter von zwanzig Jahren geheiratet – ein Alter, in dem man sich nicht mehr mit jugendlicher Naivität herausreden konnte.

Das kleine Bündel auf dem Sofa regte sich, ein Maunzen ertönte, gefolgt von einem lang gezogenen Wimmern. Antonia schloss für einen Moment die Augen, widerstand dem Drang, sich die Fäuste auf die Ohren zu drücken. Stattdessen hob sie den Säugling hoch und drückte ihn sich an die Brust, Bewegungen, die mechanisch erfolgten, erlernt in allzu langen Monaten, während ihre Lippen starr Fragmente alter Wiegenlieder formten.

»Und alles für ein Kind«, sagte Richard von Brelow, »das unseren Namen trägt und doch von so zweifelhafter Herkunft ist.«

Langsam drehte Antonia sich zu ihm um, sah ihn an, wie er in dem Sessel saß mit nonchalanter Selbstverständlichkeit, als hätte er ein Recht, hier zu sein. Friedrich war mit seinem Bruder Richard zusammen in einen Krieg gezogen, der den einen verschlungen und den anderen wieder ausgespien hatte. Aber im Gegensatz zu Schwemmgut, das immerhin einen gewissen Nutzen haben konnte, schien Richards Existenz einzig und allein dafür gut zu sein, Antonia die ihre zu erschweren. Ihr wollte jedoch nicht einfallen, wie sie ihn loswerden konnte. Vor allem, da sie sich derzeit in einer fatalen Abhängigkeit von ihm befand.

In diesen Moment stummen Kräftemessens warf Katharina beiläufig einen »Guten Morgen«, als sie das betrat, was einmal ein hübscher Salon gewesen war. Dunkles Haar, graue Augen und ein Auftreten, das Richard damals auf Anhieb eingeordnet hatte in Unseresgleichen – ein Rest Standesdünkel schlummerte wohl auch noch in ihm. Dass seine Verführungskünste an ihr abprallten, weil sie gelernt hatte, mit Männern wie ihm umzugehen, rang ihm sogar ein wenig Anerkennung ab.

Katharina trug bereits ihre Schwesterntracht und hatte das schulterlange Haar zu einem Zopf gebunden. »Es wird sicher spät.«

Antonia nickte und stellte zu ihrer Erleichterung fest, dass das Kind eingeschlafen war, ein unruhiger Hungerschlaf, aber nichtsdestotrotz. »Nimm einen Schlüssel aus der Kommode«, sagte sie.

»Soll ich Ihnen das Bett warm halten?«, bot Richard an.

»Gerne, wenn Sie später wieder daraus verschwinden«, antwortete Katharina, ohne ihn anzusehen. Ein kurzer Blicktausch mit Antonia folgte, stummes Einvernehmen, dann wandte Katharina sich ab und verließ das Zimmer.

»Deine Versuche, sie zu vergraulen«, sagte Antonia, nachdem die Haustür ins Schloss gefallen war, »sind einfach zu durchschaubar. Aber denk daran, wenn sie geht, kommt jemand anders.« Sie verlagerte das Kind in ihren Armen.

»Ich nehme an, du möchtest, dass ich dir auch heute Milch besorge?«, fragte Richard.

Ein rares Gut in Zeiten der Essensrationierungen, während derer die Kinder wie die Fliegen starben. Wer sich an die Regeln hielt, hatte in diesen Tagen das Nachsehen. Richard wusste das und war bereits in den letzten Kriegstagen auf Raubzug gegangen. Und Antonia zahlte. Nicht für sich selbst, sondern für Marie. Die Kleine hatte sich nicht ausgesucht, in diese Welt zu kommen, zu einer Mutter, die nie Mutter hatte werden wollen und für die ein Kind das Ende ihrer Selbstbestimmung bedeutete.

»Ja«, sagte sie schließlich, als sie bemerkte, dass Richard immer noch auf eine Antwort wartete.

»Der Preis hat sich erhöht.«

»Das tut er doch laufend, oder?« Antonia wandte sich ab und ging durch die Eingangshalle, in deren staubigem Zwielicht kalkiges Licht seinen Weg durch die brettervernagelten Fenster fand. Seit sie zurück war, ging sie mit einem Gefühl durch die Flure, als betrete sie eine längst vergessene Welt, die nur mehr ein Abglanz früherer Vertrautheit war. Antonia hielt kurz inne, dann stieg sie rasch die Treppe hoch.

Mochte Richard in den unteren Räumen in ihrer Abwesenheit während des Krieges recht ausschweifend gehaust haben, hier oben wirkte alles noch, als sei sie eben erst fortgegangen. Laken bedeckten die Möbel, und nur das Fehlen jeglichen Schmucks wie Lampenschirme, silberne Becher und kristallener Vasen zeugte davon, dass Richard nicht nur auf den Straßen auf Raubzug gegangen war. Aber sei’s drum.

Antonia zog das Laken von einem der Sessel, und Marie krauste in dem aufwirbelnden Staub die Nase und nieste heftig, schlief jedoch gleich wieder ein. Nachdem Antonia sie auf dem Sessel abgelegt hatte, machte sie sich daran, die übrigen Möbelstücke zu befreien, und ging in die anderen Räume, schälte ein neues Zuhause aus der Hülle des alten. Die Laken warf sie auf einen Haufen, um sie später zu zerreißen und kleine Bezüge für Decken und Kissen für das Kind daraus zu nähen.

In den drei Monaten, in denen sie wieder hier war, hatte sie zunächst ihr Zimmer wohnlich hergerichtet und das alte Kinderbettchen und die Wiege vom Speicher geholt. Danach war sie damit beschäftigt gewesen, die drei ehemaligen Gästezimmer vorzubereiten, um diese zu vermieten. Es gab in jedem dieser Räumlichkeiten ein breites Bett und eine Sitzecke aus Clubsesseln. Tischchen, Anrichten, Sekretäre und zierliche Stühle hatten offenbar ein Ende als Feuerholz gefunden. Aber wer hier einzog, kam nicht auf der Suche nach Luxus.

Jetzt wollte sie sich die restlichen Räume vornehmen. Nach einer Stunde war Antonia verschwitzt und Marie wach. Erstaunlicherweise schrie sie jedoch nicht, sondern sah sie nur an, müde und resigniert.

Antonia hob sie hoch und ging mit ihr in das Schlafzimmer, das sie damals mit Friedrich bewohnt hatte. Hier hatte sie ihre letzte Liebesnacht mit ihm verbracht, hatte in seinen Armen gelegen, und er hatte sich über sie geneigt, gelächelt.

Es hatte sich endgültig angefühlt, alles war gewesen, als geschehe es zum letzten Mal. Aber sie hatte diese Gedanken weggelächelt, hatte düstere Vorahnungen verdrängt. Und natürlich gab es keinen ersten Urlaub, nur einige Briefe, die leichthin von der Front erzählten, Worte, die sie beruhigen sollten und getränkt gewesen waren von Angst und Grauen.

Geh nach Königsberg. Ich bin dort in der Nähe. Wenn, dann sehen wir uns da.

Sie war nach Königsberg gegangen, hatte das Landgut der von Brelows bezogen. Aber als sie dort ankam, war Friedrich bereits vermisst. Sie hatte ihren Ehemann durchaus gemocht, Friedrich war ein anständiger Kerl gewesen, wenn einem auch nicht entgehen konnte, dass er und Richard »am selben Holz gewachsen waren«, wie ihre Großmutter gesagt hätte. Daher war es vermutlich nicht richtig, angesichts seines sehr wahrscheinlichen Todes von Freiheit zu sprechen, aber sie fand auch kein anderes Wort dafür.

Antonia setzte sich aufs Bett und sah in Maries blaue Augen. Das Kind lächelte – nur kurz, als wollte es ihr zeigen, dass es mehr verstand, als sie ahnte. Wenn ich lächeln kann, kannst du auch eine Mutter sein.

Es hatte einiges gegeben, das Elisabeth sich für ihre Zukunft ausgemalt hatte. Stehend in einem Bretterverschlag genommen zu werden, gehörte nicht dazu. Als Nigel von ihr abließ, glitten ihre Arme von seinem Nacken, und im Halbdunkel richtete sie ihre Kleidung, ordnete ihren Rock und ihre Bluse, während er seine Uniform in Ordnung brachte.

»Diese Schande«, hatte ihr Vater geflucht. »Du bringst Schande über uns.«

Die Schande hatte er jedoch zuvor über sie gebracht. Den ganzen Krieg hindurch hatte Elisabeth in Theatern um ihr Heimatdorf herum getanzt, und es hatte mehr als einen hübschen Burschen gegeben, der nur zu gern gewusst hätte, wie sie in seinen Armen schmeckte. Aber sie hatte jeden abgewiesen, hatte auf die große Liebe gewartet. Dachte für eine kurze Zeit, sie hätte sie gefunden. Und hatte sich dann von dem erstbesten Offizier der Besatzungsmacht nehmen lassen, nachdem der Krieg vorbei war.

Ihr Vater war ein aufrechter, von glühendem Nationalstolz erfüllter Mann, der seine Wehrmachtsuniform in fliegender Hast verbrannt hatte, ebenso alles, was auf seine Parteizugehörigkeit hinwies, als die ersten Briten den Hof stürmten. Und er ertrug es nicht, seine Tochter, an einen von denen zu verlieren. Als trüge er nicht selbst die Schuld daran. Elisabeth würde nie wieder zurückkehren, nie wieder sein zerfurchtes, hartes Gesicht sehen, nie wieder die duldsame Stille ihrer Mutter ertragen, die zu allem, was ihr Mann tat, stets »Dein Vater weiß, was er tut« sagte.

»Hat es dir gefallen?«, fragte Nigel.

»Ja, natürlich.« Zumindest hatte sie sich alle Mühe gegeben, den Eindruck zu erwecken, es sei so.

Er küsste sie und sagte, er müsse nun gehen.

»Geh nur, ich muss mich noch richtig anziehen.« Und zum Beweis für diese Behauptung zupfte sie an ihrer Bluse herum. Sie wollte einen Moment allein sein, wollte nachdenken, ehe sie nach Marienburg zurückkehrte. Noch fiel es ihr schwer, von »zu Hause« zu sprechen. Das erste Bild, das ihr absurderweise bei dieser Bezeichnung einfiel, war der Bauernhof ihrer Eltern.

Sie lehnte sich an die Wand, die morsch knackte – aber das störte sie nicht, die Bretter hatten gerade ganz anderen Dingen standgehalten –, und legte den Kopf zurück. Direkt über ihr hockte eine schwarze Spinne in ihrem Nest, und nun, da es still war, hörte sie das Rascheln, Trippeln und Fiepen in den aufgetürmten, verrottenden Kisten. Dennoch – im Grunde genommen war es besser gekommen, als sie erwartet hatte. Das Zimmer, das sie bewohnte, gefiel ihr, ebenso die beiden jungen Frauen. Sie waren übereingekommen, sich zu duzen, da sie nahezu gleichaltrig waren.

Und dann war da Richard von Brelow. Sandfarbenes Haar, blaue Augen und ungemein attraktiv. Elisabeth hatte genügend Männer von seinem Schlag kennengelernt, um zu wissen, wie sie waren, um zu wissen, dass man auf der Hut sein musste. Und sie fand sie unwiderstehlich. Richard von Brelow interessierte sich nicht für sie, dafür umso mehr für Katharina, allerdings auf jene Art, auf die Nigel sich für Elisabeth interessierte.

Als sie den Verschlag verließ, blinzelte sie in den frühen Abend. Ein Junge stieß sie fast um, als er an ihr vorbei durch die offene Tür rannte.

»Haltet den Dieb!«, brüllte jemand, und drei Männer kamen angelaufen, einer davon gar mit einem Knüppel. Sie blieben stehen, blickten sich um.

»Hey, Mädchen«, sagte einer von ihnen. »Hast du einen kleinen Jungen gesehen? So groß etwa?« Er hob eine Hand in Höhe seiner Brust über den Boden.

Elisabeth sah ihn nur an, dann den Knüppel, und sie schüttelte den Kopf.

»Hat uns beklaut, die kleine Ratte. Mich und meine Söhne.« Der Mann fuhr sich mit dem Handrücken über die Nase.

»Hier ist niemand«, sagte sie.

Der Mann schwang seinen Knüppel und starrte auf das finstere Türloch. »Geh zur Seite!«, befahl er.

»Ich sagte, hier ist niemand.« Die Härte in ihrer Stimme brach, als sie rüde beiseitegestoßen wurde. Der Junge flitzte so schnell zwischen den Beinen der Männer hindurch, dass der erste von ihnen hinfiel und die anderen mit sich riss. Als sie sich aufgerappelt hatten, war das Kind hinter den Häusern verschwunden.

»Verdammtes Balg!«, schrie der Älteste. »Hat einen ganzen Bund Rüben geklaut.«

»Na, das ist ja ein rechter Grund, ihn mit einem Knüppel zu erschlagen«, kam es von Elisabeth.

Die Männer drehten sich zu ihr um. »Hast ihm geholfen, ja? Gehört er zu dir?«

»Nein.«

»Dä kom doch selvs uss dä hött.«, sagte eine ältere Frau, die die Szene schweigend beobachtet hatte.

»Hättet mal den Kerl sehen sollen, der vor ihr rauskam. Einer in Uniform.«

Die Männer suchten ein anderes Opfer, und hier war nun eines, das sich nicht wehren konnte. »Bist eine von denen, ja?«

Elisabeth hob das Kinn, gab sich kämpferisch, was angesichts der Angst, die sie empfand, gar nicht so einfach war.

»Soldatenflittchen«, spuckte einer.

»Wie die uns ansieht. Denkt wohl, wir erschlagen sie.«

»An so was macht sich kein anständiger Kerl die Hände schmutzig«, sagte der mit dem Knüppel. »War wohl dein kleiner Bruder, der die Rüben geklaut hat, ja?«

Als Elisabeth einen Schritt zurückwich, hatte sie das offene Türblatt im Rücken.

»Ah, jetzt hast du Angst, ja?«

»Lasst die Frau in Ruhe«, sagte ein Mann, der in der Nähe dabei gewesen war, Trümmerteile aus der Erde zu graben. »Jeder muss sehen, wo er bleibt.«

»Unsereins schafft das, ohne ein Dieb oder eine Hure zu werden«, entgegnete der Mann mit dem Knüppel.

»Dich würde auch kein Kerl nehmen!«, zischte Elisabeth.

Die Männer brüllten vor Lachen, indes der Angesprochene rot anlief. Der hob nun tatsächlich seinen Knüppel, und als Elisabeth sich schon wegducken wollte, hielt der Älteste ihn am Arm fest. »Bist du närrisch, ja?« Er nickte zu einer Gruppe britischer Soldaten, die die Szenerie offenbar eine Weile beobachtet hatten und sich nun in Bewegung setzten, um einzugreifen.

»Was ist los?«, fragte einer in gebrochenem Deutsch.

Der Mann ließ den Knüppel sinken. »Nichts. Nur ein Gespräch.«

Mit einer knappen Bewegung wandte sich der Soldat an Elisabeth. »Alles in Ordnung?«

»Ja, alles bestens«, sagte sie leise. Sie wollte fort, wollte in keinen lästigen Disput verwickelt werden.

Die Soldaten sprachen auf Englisch miteinander, das Elisabeth nicht verstand. Dann nickten sie und bedeuteten den Männern, sich zu verziehen. Elisabeth bedankte sich und machte sich auf den Heimweg.

»Für eine wie die ist immer alles bestens«, sagte eine Frau, gerade laut genug, damit die Umstehenden es mitbekamen. Elisabeth hob das Kinn und ging weiter, als hätte sie nichts gehört.

Bleigraues Zwielicht schmolz die Schatten im Haus zu Dunkelheit. Antonia hatte Marie zu Bett gebracht und war mit einem Stapel Leinentücher, die sie in Rechtecke geschnitten hatte, in die Küche gegangen, um zu nähen. Das während der Bombardierung zusammengebrochene Wasser- und Stromnetz hatte zwar relativ schnell instand gesetzt werden können, aber mit Strom hieß es nach wie vor, sparsam umgehen, und so gab es stundenlange Stromsperren, vor allem tagsüber. Es herrschte zudem ein eklatanter Mangel an Glühbirnen, und so hatte Antonia alle, die noch funktionierten, herausgedreht und verwahrt, so dass nur die Räume mit elektrischem Licht versorgt werden konnten, in denen dies unbedingt nötig war. Die Küche war der einzige gemeinschaftliche Raum, dem sie eine Glühbirne zur Verfügung stellte. Elisabeth und Katharina hatte sie je eine gegeben, und Richard sollte selbst zusehen, woher er welche beschaffte.

Die Laken ergaben zehn Bezüge für Kissen und drei Decken für Säuglinge, die sie mit den Federn zweier Plumeaus füllen wollte, von denen sie sich schweren Herzens – der nächste Winter kam gewiss, und Heizmaterial war nahezu unbezahlbar – getrennt hatte.

Vor dem Krieg war sie eine gute Fotografin gewesen, das war jedoch eine Kunst, für die es derzeit keine Verwendung gab. Also widmete sie sich der anderen Fertigkeit, die sie ebenfalls gut beherrschte, und nähte. Auf dem Speicher hatte sie Kinderkleidung von Friedrich und Richard gefunden, nicht viel, aber es reichte. Für den Sommer hatte sie einige Hängerchen genäht, und für den kommenden Winter strickte sie kleine Hosen, Pullover und warme Socken. Zudem musste sie etwas zu tun haben. Mir kann nichts geschehen. Friedrich hat mich abgesichert. Aber gleich, wie oft sie sich dies sagte, wahrer wurde es dadurch nicht. Friedrich hatte alles andere getan, als für ihre Sicherheit vorgesorgt.

Und als Antonia nach Hause gekommen war, hatte sie Richard in ihrem Haus vorgefunden, indes ihre Schwiegermutter Hedwig – die glücklicherweise schon bei Antonias Eheschließung in eine eigene Wohnung gezogen war – ihr triumphierend ein ergänzendes Testament gezeigt hatte, das Richard das Haus zusprach, sollte Friedrich kinderlos sterben. Sein Vater habe vorgesorgt, so Hedwig, damit das Haus im Besitz der von Brelows bleibe. Aber so ein ergänzendes Testament gab es nicht, da war sich Antonia sicher, davon hätte Friedrich doch gewusst. Sein Testament sah vor, dass das Haus ihr gehörte, wenn er starb, demnach musste das von Hedwig eine Fälschung sein. Aber das würde sie erst einmal beweisen müssen. Und derzeit war all das müßig, denn Friedrich galt als vermisst, noch nicht als gefallen, und solange hing alles in der Schwebe.

Das Gut in Königsberg hatte Antonia durch die letzten Kriegsjahre gebracht. Es war heruntergewirtschaftet gewesen, die Mittel nahezu verbraucht. Aber sie hatte sich in den Kopf gesetzt, dass es ihnen erhalten blieb. Und dann war es das Erste gewesen, was sie verloren hatten, wenngleich auf andere Art, als Antonia zunächst befürchtet hatte. Sie hatte die Bücher geprüft, hatte mit Pächtern und dem Verwalter gesprochen, geplant und gespart, wo es nur ging. Der finanzielle Ruin schien abgewendet, trotz der harten Winter. Und dann war doch alles umsonst gewesen.

Für einen Moment erstarrte die Welt, wurde zu einem Summen, das wattig zu ihr drang. Bilder tanzten stockfleckig vor ihren Augen. Weinende Säuglinge, die an schlaffen Brüsten sogen. Sterbende Greisenkinder. Antonia blinzelte hastig, und die Bilder zerstoben, gaben den Blick frei auf Richards Gesicht. Sie fuhr zusammen.

»Guten Abend, meine Schöne.« Er stand im Türrahmen und kam langsam in den Raum geschlendert, ein Glas in der Hand, als sei er auf einer Cocktailparty. Mit dem Kinn deutete er auf den Stapel Wäsche. »Was wird das?«

»Kissen für ein Waisenhaus.«

Richard wirkte überrascht, dann lächelte er. »Du und Kinder, Antonia? Ernsthaft?«

Sie antwortete nicht, sondern fuhr fort, Ränder zu säumen.

»Ist das nicht eine ähnlich müßige Arbeit«, fuhr Richard fort, »wie die des Mädchens, das Hemden aus Brennnesseln genäht hat?«

»Das war nicht müßig, sie hat ihre Brüder erlöst.«

»Und wen möchtest du erlösen?«

Mich selbst. Antonia nähte schweigend weiter, und obwohl Richard bemerken musste, dass keine Antwort zu erwarten war, blieb er, lehnte sich mit dem Rücken an die Anrichte und beobachtete Antonia. Eine Weile ignorierte sie ihn, dann hob sie ruckartig den Kopf.

»Was willst du von mir?«

»Ich setze dich nicht auf die Straße, immerhin bin ich Friedrich was schuldig. Obwohl, nein, eigentlich bin ich das nicht. Wir hatten ein seltsames Verhältnis zueinander. Ich habe seine abgelegte Kleidung aufgetragen, er meine abgelegten Frauen.«

Die Nadel glitt von ihrem Fingernagel ab in das Nagelbett, und mit einem kurzen Luftschnappen hob Antonia den Finger an die Lippen. Sie konnte nun stetig wiederholen, dass sie nicht gehen würde, dass dies ihr Haus war, aber was würde das bringen? Sie würde einen Weg finden. Sollte Richard nur glauben, er hätte diese erste Runde gewonnen.

Ein Klirren sprengte die Stille, und augenblicklich hoben Richard und Antonia wachsam den Blick, lauschten, hörten das Schaben und Knirschen, als laufe jemand auf Scherben. Richard ging zur Tür, gefolgt von Antonia. Nun war nichts mehr zu hören, als halte die Person auf den Scherben ebenso atemlos inne wie sie selbst. Langsam gingen sie durch den Korridor im ehemaligen Dienstbotenbereich in Richtung der Eingangshalle, aus der das Geräusch kam.

Sie hörten Schritte auf der Treppe, dann wieder das Knirschen, und Richard rannte los. Als Antonia in der Halle ankam, sah sie Katharina auf dem untersten Treppenabsatz stehen und Richard zum zerbrochenen Fenster laufen, durch das gerade eine schmächtige Gestalt wieder hinausstieg, sich offenbar an den Scherben verletzte und einen Schmerzenslaut ausstieß – die helle Stimme eines Jungen vor dem Stimmbruch. Ohne innezuhalten kletterte die Gestalt gewandt aus dem Fenster, eine Silhouette, die mit der Dunkelheit verschmolz.

Richard versuchte noch, ihn zu fassen zu kriegen, aber er war nicht schnell genug. Mit einem Fluch fuhr er zurück, hatte sich offenbar an den spitzen Glasresten des Fensters geschnitten. »Na warte, Bürschchen.«

»Das war ein Kind«, sagte Katharina. »Also reparieren Sie einfach das Fenster und lassen Sie es gut sein.«

»Ein Kind, das gerade versucht hat, uns zu berauben.«

»Uns«, spöttelte Antonia.

Richard ignorierte sie.

Die Türglocke wurde angeschlagen, und Katharina, die der Tür am nächsten stand, öffnete sie.

Elisabeth, die das seltsame Empfangskomitee zu verwundern schien, sah sie fragend an. Dann bemerkte sie die Scherben in der Halle. »Oh!«, sagte sie. »Das letzte intakte Fenster.«

»Tja«, entgegnete Richard mit beißendem Hohn, »da hat jemand doch tatsächlich auf Anhieb das eigentliche Problem erkannt.«

Elisabeth sah mitgenommen aus, seltsam blass, so dass die roten Flecken auf ihren Wangen wie losgelöst wirkten. Nun wandte sie sich an Richard.

»Ignorier ihn«, empfahl Antonia, und zu ihrer Überraschung tat Elisabeth das tatsächlich.

»Ich gehe zu Bett.« Elisabeth begann, die Treppe hochzugehen.

»Warte nicht auf mich, meine Hübsche«, antwortete Richard, der es einfach nicht gut sein lassen konnte.

Elisabeth hielt inne, sah ihn an, kräuselte spöttisch die Lippen. »Mein Bester, selbst wenn ich wollte – um mich heute noch in Stimmung zu bringen, bist nicht einmal du Manns genug.«

Richard schwieg perplex.

Antonia hob die Brauen. »Glücklicherweise bleibt ihr nun einiges erspart«, sagte sie zu Richard, als Elisabeth außer Sichtweite war. »Ich mag sie viel zu sehr, als dass ich tatenlos zugesehen hätte, wie du sie dir einverleibst und verschlingst.«

»Und ich mag sie viel zu wenig, um es überhaupt zu versuchen.«

Katharina warf ihm einen kurzen Blick zu, in den sie alle Verachtung legte, derer sie fähig sein musste, dann ging sie in Richtung Küche. Antonia schloss sich ihr an, im Begriff, ihre Näharbeit wieder aufzunehmen und aus den Teeblättern einen weiteren Aufguss zu machen.

»Soll ich etwas mehr Wasser aufsetzen?«, fragte Katharina, ohne sich zu ihr umzudrehen.

»Ja, bitte.«

Schweigend hantierte sie mit dem Kessel und blieb am Ofen stehen, als wolle sie jedes Gespräch und jeden Kontakt vermeiden. Antonia nahm die Näharbeit wieder zur Hand.

»Ich kann nichts dafür, dass er ist, wie er ist«, sagte sie, als das Schweigen zu viel Raum einnahm.

»Nein, kannst du nicht«, antwortete Katharina, ohne sich umzudrehen. »Ich bin einfach nur müde, das ist alles.« Als der Kessel pfiff, nahm sie ihn vom Feuer und goss für sich und Antonia Tee auf. »Es ist nicht unsere Aufgabe, auf sie aufzupassen, sie muss selbst mit ihm klarkommen, und wenn nicht, lernt sie es eben.« Sie umfasste die dampfende Tasse mit beiden Händen.

»Ich hoffe, er ist nicht mehr lange genug hier, als dass sie es lernen müsste.«

Katharina nippte an dem Tee und starrte ins Leere. »Dann sieh zu, dass du ihn loswirst«, sagte sie schließlich.

*

Richard schmeckte die ranzigen Reste der Nacht auf den Lippen. Der Gestank von den Straßen quoll durch Ritzen und Fenster, Leichen verwesten unter den Trümmern, und das Kanalnetz war zerstört, so dass Abwässer im Boden versickerten. Ratten bevölkerten die Ruinen. Das kreischende Lachen einer Frau war zu hören, gefolgt von männlichen Stimmen, ansonsten herrschte Stille. Hier und da gingen Menschen von der Arbeit nach Hause, denn aufgrund der Stromsperren hatten viele Betriebe ihre Tätigkeit in die Nachtstunden verlegt.

Wachsam beobachtete er jede Regung, jedes Verschieben von Schatten, wenn sich ein Lichtkegel näherte. Zwei Razzien hatte es in diesem Monat bereits gegeben, eine am dreizehnten, eine am einundzwanzigsten – groß und öffentlichkeitswirksam. Englische Militärpolizei und deutsche Polizei hatten zusammengearbeitet und den Schwarzmarkt vor dem Dom zerschlagen. Da ihm diese Art öffentlicher Zurschaustellung mehr oder weniger geduldeter illegaler Aktivitäten zu unsicher war, hatte Richard die ganze Aktion entspannt aus der Ferne beobachten können. Weder stand ihm der Sinn nach drei Jahren Gefängnis noch nach einer Geldstrafe von viertausend Reichsmark.

Man ließ ihn warten, und Richard hasste es zu warten. Er zündete sich eine Zigarette an, inhalierte den Rauch und stieß ihn durch die Nase wieder aus. Und wenn das eine Falle war? Allerdings würde niemand, der ihn kannte, dergleichen versuchen. Nichtsdestotrotz tastete er nach seinem Armeerevolver, einem Überbleibsel aus Wehrmachtszeiten. Richard war kein Anhänger des Nationalsozialismus gewesen, eher hatte er ihm gleichgültig gegenübergestanden. Während des Krieges hatte er seine Pflicht getan, und nun, da neue Zeiten angebrochen waren, setzte er alles daran, auch aus diesen seinen Vorteil zu ziehen.

Das Haus, in dem er stand, hatte nur noch Wände, aber kein Dach mehr. Durch klaffende Löcher in der Decke konnte er den Himmel sehen, die verblassenden Sterne.

»Romantische Anwandlungen?«

Richard senkte langsam den Blick und wandte sich ohne jede Hast in die Richtung, aus der die Frauenstimme kam, rau, wie geborsten. »Hedda?«

»Ich bin besser geworden, du hast mich nicht gehört.«

Er neigte anerkennend den Kopf, was sie in dem Dämmerlicht wohl eher erahnen als sehen konnte. »Wo ist Andreas?«

»Kommt später. Ich soll dir so lange die Zeit vertreiben.«

»Du machst Witze, hoffe ich?«

»Keineswegs.«

Richard nahm einen letzten Zug, dann ließ er die Zigarette zu Boden fallen, trat sie aus, hob den Stummel auf und steckte ihn ein. »Ist er in fünf Minuten nicht hier, gehe ich.« Wenn es hell wurde, war es ohnehin zu gefährlich. Der Schleichhandel war eine Schattenwelt, gefährlich und ohne Grauzonen. Richard musste von allen Seiten auf der Hut sein, und in seinem Netz kannte er alle, aber die Mitglieder untereinander stets nur den Nächsten in der Hierarchie.

Hedda kam zu ihm, legte ihm einen Arm um den Hals. Er senkte den Kopf, blähte die Nasenflügel leicht. »Der wievielte bin ich heute, hm?«

Sie zuckte nur mit den Schultern. »Zeitvertreib.«

Im nächsten Moment war ihre Hand an seiner Waffe und seine Hand an der ihren. »Auf die Tour, Hedda? Ernsthaft?« Er drückte ihr Handgelenk so fest, dass sie zusammenzuckte, aber sie gab keinen Laut von sich.

Er verstärkte den Druck leicht. »Es gab ein Problem«, sagte sie schließlich.

»Welches?«

»Lass mich los.«

Er drückte noch ein wenig fester zu, und dieses Mal stöhnte sie auf, dann löste er seine Finger von ihrem Handgelenk. »Also?«

»Andreas ist gleich hier.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust und brachte etwas Abstand zwischen sich und ihn. Im nächsten Moment war der Motor eines Lkw zu hören, der sich rumpelnd näherte.

»Warum fährt er nicht gleich eine Sirene aus?« Richard konnte es kaum fassen. Er legte die Hand an den Revolver und sah misstrauisch durch die klaffenden Fensterlöcher. Eine Tür wurde zugeschlagen, dann näherten sich Schritte, und ein Mann in Richards Alter, schlank, dunkelhaarig und ein wenig untersetzt, erschien in Richards Blickfeld. Andreas. Dieser sah sich um, bemerkte offenbar Hedda, und als diese zischte, wandte er sich zu Richard, der nach wie vor am Fenster stand.

»Es gibt ein Problem«, sagte er, nachdem er die Ruine betreten hatte.

»Du meinst, ein noch größeres, als direkt vor meinem Versteck zu parken? Schreib doch gleich ein Schild mit der Aufschrift Konspiratives Treffen und häng es an die Tür.«

Andreas fuhr mit den Händen in seine Hosentaschen, suchte darin herum und zog sie fahrig wieder hervor. Noch einer, den die Tabakrationen schwerer zu treffen schienen als die mangelnde Nahrung. »Unsaubere Ware. Mehl gestreckt mit Mörtel, gefärbtes Pökelfleisch, das gerochen hat, als seien Maden darin. So ein Zeug halt.«

Richard nickte nur. »Und der Kerl?«

»Ist mit dem Geld auf und davon.«

»Du hast dafür bezahlt?« Richards Stimme war sehr ruhig, und die leise Drohung glitzerte darauf wie Raureif.

»Hör zu, ich …«

»Nein, du hörst mir zu. Hast du dafür bezahlt?«

»Ja.«

»Wie viel?«

»Den vollen Betrag.«

Richard stieß einen Fluch zwischen den Zähnen hervor. »Sollte sie mir deshalb den Revolver wegnehmen? Hattest du Angst, dass ich dich dafür erschieße?«

Andreas drehte sich zu Hedda um. »Du hast …«

»Sicher ist sicher, oder?«

»Saublödes Huhn«, murmelte Andreas, dann wandte er sich wieder an Richard. »Ich zahle es zurück.«

»Das steht außer Frage. Außerdem bist du raus.« Was für eine Stümperei. Glücklicherweise war der Verlust überschaubar. Andreas hatte den neuen Lieferanten empfohlen, aber Richard war angesichts der Preise misstrauisch gewesen. »Ich trage das Risiko«, hatte Andreas ihm versichert. Na dann, dachte er, trag es. Der Schuldschein lag sicher verwahrt in einer Schatulle, und sollte Andreas nicht zahlen, würde die Sache teuer für ihn werden, sehr teuer.

»Wenn du mich rauswirfst, kann ich nicht zahlen.«

»Das ist dein Problem.«

»Himmel, Richard, wir sind zusammen zur Schule gegangen.«

Richard zuckte mit den Schultern und wandte sich ab. Als er auf die Straße trat, hörte er Hedda und Andreas streiten. Von links näherten sich zwei britische Soldaten, die den Lkw kritisch beäugten. Ohne jede Eile schlenderte Richard davon. Sollte Andreas sehen, wie er sich rausredete.

Im März war Köln sturmreif gebombt worden, und Tausende von Minen und Sprengbomben hatten die Linksrheinische umgepflügt. Schutt und Schotter machten die Straßen unwegsam, wenn sie durch die Trümmerberge nicht ohnehin gänzlich unbrauchbar geworden waren. Antonia hatte Goebbels’ vollmundige Propaganda im Radio gehört, die vermutlich der Hauptgrund für die letzte Bombardierung gewesen war. Ich stehe hier, einerseits als Vertreter des Volkes – andererseits als Vertreter dieser meiner rheinischen Heimat, der ich mich auch heute noch zugehörig fühle, um vor der Nation und der ganzen Welt zu erklären, dass wir dieses Gebiet niemals aufgeben werden und es verteidigen werden wie eine Festung bis zum letzten Atemzug. Und nun lag diese Festung in Trümmern.

Jedes Mal, wenn Antonia in die Stadt ging, bot sich ihr ein anderes Bild, als atmeten die Straßen und wälzten sich, bis sie eine neue Form gefunden hatten. Trümmerfrauen arbeiteten sich durch den Schutt, Männer mit Schubkarren räumten die Wege frei. Eine Stunde Fußmarsch war es bis in die Kölner Innenstadt. Geröll knirschte unter Antonias Füßen, spitze Steine bohrten sich in die armseligen Reste ihrer Schuhsohlen. Kurz blieb sie stehen, verharrte einen Moment, sah hastig über die Schulter, als könnten sich aus dem steinigen Dunst Augen schälen, die gesehen hatten, was sie nicht sehen durften.

Dann ging sie weiter und zog ihr Gefährt mit sich. Sie hatte Draht über einen Bollerwagen gespannt und mit Stoff bezogen, ein behelfsmäßiger Kinderwagen mit Sonnenschutz. Bisher hatte sie sich Marie um die Brust gebunden, ein Arrangement, mit dem weder sie noch das Kind glücklich waren. In dem Wagen fühlte Marie sich nun offenkundig wohl und stieß ab und zu ein zufriedenes Quietschen aus.

»Ach je, das Würmchen so warm eingepackt, bei der Hitze«, sagte eine Frau. »Also manchmal möchte man euch junge Dinger schütteln für so viel Unvernunft.«

Antonia sah zu Marie und überlegte, ob die wollene Decke nicht tatsächlich zu warm war, bedachte man, dass sie auch auf einer lag. Sie zog die Decke ein wenig zurück, bis sie nur noch ihre Füßchen bedeckte. In der Sonne war es tatsächlich sehr warm, nur wenn man in die Schatten zwischen die Ruinen trat, wurde es kühl.

»Wenn’s Kleine nicht verhungert, sorgt euereins dafür, dass es sich den Tod durch Verkühlung holt«, schimpfte eine Frau mit drei halbwüchsigen Kindern, als sie an Antonia vorbeiging.

Antonia ignorierte sie. So kalt war es gewiss nicht.

»Legen Sie das Kind auf den Bauch, auf dem Rücken kann es beim Schlafen ersticken«, empfahl eine weitere Frau, jedoch nicht unfreundlich.

»Sie dreht sich immer wieder auf den Rücken«, entgegnete Antonia.

»Musst die Decke vernünftig um sie feststecken«, sagte eine weitere, »dann kann sie sich nicht drehen.«

Antonia nickte nur und beschloss, nichts dergleichen zu tun. Nun wurde es etwas mühsamer, den Wagen zu ziehen, da die Straßen unwegsamer wurden. Aus Löchern und Ruinen krochen Männer und Frauen, um ihr Tagewerk aufzunehmen. Als Antonia die langen Schlangen vor der Bezirksstelle des Ernährungs- und Wirtschaftsamtes, an dem die Lebensmittelkarten ausgegeben wurden, sah, seufzte sie. Ganz gleich, wie früh am Morgen sie aufbrach, die Schlange schien immer gleich lang zu sein. Alle vierzehn Tage erhielt man neue Lebensmittelkarten, die stets an die Vorlage eines gültigen Arbeitspasses gekoppelt waren. Brot, Fleisch, Fett, Zucker, Eier, Fisch, Kartoffeln, Tabak und weitere Nährmittel – für alles gab es Karten. Daneben gab es welche für Bedarf an Kleidung, Schuhen und was noch benötigt wurde, alles stark rationiert.

Um sie herum unterhielten sich Leute mit Bekannten und Nachbarn, einige schalten ihre gar zu ungeduldigen Kinder, andere standen in stumpfem Schweigen da und warteten. Antonia zog den Bollerwagen hin und her, in der Hoffnung, die eintönige Bewegung würde Marie zum Schlafen bringen. Beim letzten Mal hatte sie angefangen zu brüllen, als sie die Hälfte der Schlange geschafft hatten, und nicht mehr aufgehört, bis sie daheim angekommen waren. Das war einer der Momente, in dem Antonia wusste, warum sie nie Kinder hatte haben wollen. Und so sehr sie sich für den Gedanken geschämt hatte, er wiederholte sich doch stetig und verklang erst, als das Weinen in Schluckauf gipfelte und in kleinen Schluchzern auslief, bis die Kleine eingeschlafen war. Dann kam das schlechte Gewissen.

Jetzt jedoch schien Marie gut gelaunt zu sein, und Antonia hing ihren Gedanken nach. Es hatte weitere Bewerber auf das dritte Zimmer gegeben, aber es war keiner dabei gewesen, der ihr gefiel. Während Katharina und Elisabeth auf Anhieb gepasst hatten, wurde es nun schwieriger. Es waren Frauen mit Kindern gekommen, für die das Zimmer nicht genug Platz bot. Alleinstehende Männer, deren Blicke an Antonia entlanggeglitten waren, dass nur zu deutlich wurde, worauf sie hofften.

Allmählich rückte sie weiter vor in der Schlange, dieses Mal schien es schneller zu gehen. Schon bald ließ sie wie jedes Mal die nervenzehrenden Formalitäten über sich ergehen, ehe sie ihre Lebensmittelmarken bekam. Sie erhielt Lebensmittelkarten für Hausfrauen und für Kleinstkinder, was eine wöchentliche Ration von tausendneunhundert Gramm Brot, zweihundertvierzig Gramm Fleisch und hundert Gramm Fett ergab. Außerdem siebzig Gramm Tee und zweihundertvierzig Gramm Kaffee. Antonia hatte den Steckrübenwinter 1916 nicht miterlebt, aber immer wieder von Leuten gehört, die befürchteten, er könne sich in diesem Jahr wiederholen.

Als sie sich zur Seite wandte, um dem Gedränge zu entkommen, stieß sie mit einem Mann zusammen und ging fast zu Boden.

»Hoppla«, rief er und fing sie auf, ehe sie rücklings über den Bollerwagen fiel. Einen Moment lang hielt er ihre Oberarme umfasst, und sie war ihm so nahe, dass sie jede Farbnuance seiner Augen sehen konnte. Grüngrau, wie Waldmoos unter einem Firnis aus Frost. Dann ließ er sie unvermittelt los, und sie brachte einen Schritt Abstand zwischen sich und ihn.

»Entschuldigen Sie bitte vielmals«, sagte sie.

»Ich habe mich zu entschuldigen«, antwortete er galant.

Er war schlank und kräftig – was ihr bei dem Zusammenstoß nicht hatte entgehen können. Vielleicht ein ehemaliger Soldat, wie fast alle jungen Männer in seinem Alter, wenngleich das dunkelblonde Haar nicht aussah, als wäre es noch vor Kurzem militärisch kurz geschoren gewesen. Antonia wurde bewusst, dass sie ihn auf eine geradezu unhöfliche Weise anstarrte. Rasch blinzelte sie und wandte sich ab, sah nach Marie, die eingeschlafen war. Als sie sich wieder umdrehte, bemerkte sie, dass auch der Blick des Mannes auf das Kind gefallen war, die Brauen leicht gefurcht, die Augen kaum merklich verengt. Dann trafen seine Augen wieder die ihren, und er lächelte. »Nun denn. Ich befürchte, die Schlange wird nicht kürzer.« Er deutete mit einem Nicken zu der Menschenmenge. »Vielleicht sieht man sich.«

Antonia nickte und erwiderte das Lächeln. Vielleicht sieht man sich. So leicht dahingesagt, wie sie es seit Jahren nicht gehört hatte. Als hätte es den Krieg nie gegeben.

Elisabeth wusste, dass es sie nichts anging, was sich in den Räumen befand, außer denen, die sie nutzen durfte – ihr eigenes Zimmer, ihr Bad und die Küche. Aber als sie die offene Kellertür sah, konnte sie nicht widerstehen. Schon als Kind hatten Kellerräume eine geradezu magische Anziehungskraft auf sie ausgeübt. Die Tür stand auf und wies in einen dunklen Schlund.

Elisabeth sah sich um, obwohl sie wusste, dass außer ihr niemand im Haus war. Sie war früher zurückgekommen als geplant, nachdem sie sich bei der zuständigen Stelle zur Trümmerbeseitigung gemeldet hatte und ihr gesagt worden war, sie müsse erst am folgenden Tag mit der Arbeit anfangen. Die aus dem Keller aufsteigende Luft war kalt und klamm, umso mehr, da Elisabeth die Wärme des Julinachmittags noch in den Gliedern steckte. Ein leichtes Frösteln überlief sie. Zögernd trat sie auf die erste Stufe, nahm die nächste, die übernächste, und nachdem sie am Fuß der Treppe angelangt war, stand sie in dem gewölbeartigen Keller mit einer Vielzahl von Gängen und Türen, die vermutlich in alle Arten von Lager- und Wirtschaftsräumen führten. Vor fünfzig Jahren hatte man hier unten vermutlich Waren gelagert, die leicht verderblich waren. Aus dem nach rechts abzweigenden Gang kam ein sanfter Lichtschimmer. Als sie ihm folgte, bemerkte sie einen Raum, dessen Tür nur angelehnt war.

Sie stieß die Tür vorsichtig auf und gelangte in eine Art Vorratsraum, der mit einer Masse an Nahrungsmitteln und verkorkten Flaschen gefüllt war, wie Elisabeth es seit den Tagen vor dem Krieg nicht mehr gesehen hatte. Säcke mit Mehl und Zucker, Salz, Öl, Kartoffeln, Gewürze, Vanille, gepökeltes Fleisch – und, direkt über ihr, Salami, deren Geruch dafür sorgte, dass Elisabeths Magen sich zusammenzog und vernehmlich zu knurren begann. Es kostete sie ihre gesamte Selbstbeherrschung, nicht einfach die Hände auszustrecken, um die weiße, längliche Rolle von der Decke zu reißen und ihre Zähne hineinzugraben.

Langsam trat sie in den Raum, versuchte zu ergründen, was sich in den Kisten und Säcken weiter hinten befand. Hortete Antonia diese Massen an Lebensmitteln? Sie sah Tee, roch Kaffee, und ihr wurde schwindlig vor Verlangen. Der Hunger schien auf einmal unerträglich, nagte an ihren Eingeweiden, grub seine Klauen in ihren Magen. Elisabeth presste die Hände darauf und drehte sich um. Dann erstarrte sie.

Im Türrahmen lehnte Richard, die Arme vor der Brust verschränkt, düster lächelnd und gefährlich. Das Haar fiel ihm in die Stirn, sein Hemd stand am Hals offen, die Ärmel waren bis zu den Ellbogen aufgekrempelt. Elisabeth holte tief Luft, hielt sie an und stieß sie in einem langen Seufzer wieder aus.

»Und?«, fragte Richard. »Gefällt dir, was du siehst?«

Er ließ offen, ob er sich oder den Raum meinte, und da beides zutraf, nickte Elisabeth. Sein Blick wanderte über ihr Gesicht, ihre Brust, ihren Bauch bis zu ihren Füßen und wieder zurück, und seine Miene ließ nicht erkennen, was er dachte.

»So viel Essen«, sagte er. »Das kann die moralischen Werte, die uns anerzogen wurden, schon ins Wanken bringen, nicht wahr?«

»Ich habe nichts davon genommen.«

»Natürlich hast du nicht. Wo hättest du es auch verstecken wollen?« Erneut glitt sein Blick über sie.

»Du betreibst Schwarzhandel?« Unwillkürlich war sie ebenfalls dazu übergegangen, ihn zu duzen.

Richard lachte. »An deiner Fähigkeit, die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen, ist jedenfalls bemerkenswert wenig auszusetzen.«

Wieder kam sich Elisabeth in seiner Gegenwart vor wie ein dummes Schulmädchen, und sie hob das Kinn, um ihre Unsicherheit zu überspielen. »Und Antonia?«

»Was denkst du, wovon ich ihren kleinen Bastard versorge. Aber hiervon«, er machte eine ausholende Handbewegung, »weiß sie nichts. Sie denkt, ich hole es jedes Mal von außerhalb, über Kontakte. Sie ahnt nicht, dass ich selbst in großem Stil damit handle. Sie soll es auch künftig nicht erfahren, Mitwisser bergen immer ein Risiko.«

»Dann wäre es vielleicht eine gute Idee, die Türen zu verschließen.«