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Michael Tietz

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Beschreibung

Fünf Jungen, wie sie unterschiedlicher nicht hätten sein können. Ferien. Und eine Entdeckung, welche die Leben der Kinder radikal verändern wird. Was als Spiel, als Abenteuer für einen Tag beginnt, endet mit dem spurlosen Verschwinden der Fünf und einem Kampf auf Leben und Tod. Denn völlig von der Außenwelt abgeschnitten, verwandeln sich Hoffnung in Panik und Freundschaft in Wahnsinn. Und der einzige Mensch, der etwas über den Verbleib der Jungen ahnt, ist ein alter Mann. Ein alter Mann, der nur noch auf seinen Tod wartet … Nach seinem Bestseller"Rattentanz" nun der zweite Thriller von Michael Tietz - packende Erzählkunst vom Feinsten!

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Seitenzahl: 585

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Ähnliche


Michael Tietz

APFELDIEBE

Roman

BOOKSPOT VERLAG

Für Artus

Prolog

Er löschte seine Taschenlampe, einfach so. Nur eine winzige Bewegung seines Daumens und alles veränderte sich. Er und sein Gegenüber verschwanden – zwei Kinder, die es plötzlich nicht mehr gab, ebenso wenig wie Felswände, Staub und jede Erinnerung an die Welt da draußen. Da oben, in der wirklichen Welt, da tickten die Uhren weiter, hier aber blieben sie stehen, und er selbst hatte sie angehalten. Er wagte kaum noch zu atmen, seine Finger zitterten, als er nach dem tastete, was nun ihm gehören sollte. Konnte man dieses Glück fassen? Ja, wusste er, ja. Glück existierte, wenn manchmal auch an Orten, an denen ein normales Kind nie und nimmer danach gesucht hätte. Aber gerade da schien sich sein Glück wohlzufühlen, hier, tief unter alten Mauern vergraben, zwischen Steinen versteckt und scheu. Und neben sich das Unglück des Anderen. Oder gab es gar kein Glück und kein Unglück? Handelte es sich vielleicht um denselben Zustand und es kam einzig darauf an, aus welcher Richtung man sich ihm näherte? Dies hielt er für möglich, allerdings nicht für wichtig genug, diesen Gedanken bis zu einem Ende zu verfolgen.

Er beugte sich nach vorn und konnte die Angst, das Unglück des Anderen riechen. Roch er selbst ebenso, wenn …? Ein Kopfschütteln, die Erinnerung zerkrümelte und verlor sich im Dunkeln. Er hasste jeden Gedanken daran. Jeden.

    »Wir sind ganz allein, nur du und ich«, flüsterte er. »Spürst du mich?« Der Kopf unter seinen Händen nickte. »Kannst du mich riechen?« Es dauerte einen Augenblick, aber dann nickte der Gefragte erneut. »Hast du Angst?« Es war unnötig, auf die Antwort zu warten. Natürlich hatte er Angst. Der Gefangene wollte etwas sagen, aber das dem Kind über den Kopf gestülpte und teilweise in den Mund gestopfte T-Shirt verhinderte dies, zum Glück. Nein, sie mussten sich ganz still verhalten, da oben durfte niemand etwas hören, kein einziges Wort. Sollten die anderen doch trinken und essen, er selbst verspürte keinen Durst, jedenfalls keinen Durst, welchen Flüssigkeit zu löschen vermochte.

Seine Finger berührten eine Stirn und der Gefangene presste die Augen so fest zusammen wie er nur konnte. Die Hand wanderte über die Augenhöhlen hinweg, über Nase und Mund, hin zum Hals. Mit den Augen konnte er nichts sehen, seine Finger sahen für ihn. Er spürte angespannte Sehnen und einen winzigen Kehlkopf unter dünner Haut. Niemand sah sie jetzt, nicht einmal sie selbst. Niemand!

Macht. Fünf winzige Buchstaben nur, allerdings in der richtigen Reihenfolge angeordnet ein Wort, das ganze Welten verändern konnte. Er registrierte die eigene Erregung, staunte über dieses Gefühl. Sein Atem ging schnell und schien genauso zu zittern wie seine Hände. Fühlte sich so Macht an?

Er wusste genau, was jetzt in diesem Augenblick im Kopf seines Opfers vorgehen musste – Wissen, welches den Wert dieses Momentes ins Unfassbare steigerte. Es tat so gut, einmal auf der anderen Seite stehen zu dürfen, mächtig zu sein.

Seine Finger wanderten über nackte Arme, über Bauch und Brust des Kindes bis zu dessen Hals. Nur er und der Gefangene, sonst nichts. Kein Erwachsener, der ihm die Macht aus den Händen riss, er konnte tun und lassen was er wollte, ein Herr über Leben und Tod.

Schauer jagten über den Rücken des Jungen, seine Hand legte sich um einen schlanken, von jedem Schutz befreiten Hals. Er wartete, wollte diesen Augenblick genießen, wollte ihn auskosten, so lange und so intensiv dies nur ging. Der Gefangene zitterte, schluckte, wand sich und konnte doch nicht entfliehen. Er gehörte ihm, nur ihm.

Mit dieser Gewissheit im Kopf und dem Gefühl, genau das Richtige zu tun, drückte er zu.

DIE TAGE DAVOR

1   Die Entdeckung

Alex liebte diese beiden Finger aus Stein. Er liebte sie wirklich und er liebte es, den einen dieser Finger zu erklimmen und dabei Dunkelheit und Enge hinter sich zu lassen. Alles, was im normalen Leben wie Klötze am Bein des Jungen hing, blieb beim Bezwingen des Fingers zwischen Mauerresten und Tannen hängen und zurück – am Ziel wartete so etwas wie Freiheit, zumindest für Alex’ Augen. Auf der Spitze des Turmes existierte weder Zeit noch gab es Grenzen.

Alex’ Augen wanderten über das gewundene Band des zu Füßen der Burg ausgelegten Flusses, über Feuchtwiesen und kleine Baumgruppen. Wie in zu einer Schale geformten Händen öffnete sich das Land und außerhalb dieser Schale existierte nur das, was die Träume des Jungen Wirklichkeit werden ließen. Dicht an dicht stehende Baumwipfel verbargen die Welt, die er beim Besteigen des Turmes verließ, den Weg aber, der von dem Flüsschen, der Steina, kommend zur Roggenbacher Ruine hinaufführte, den ließen sie frei. Es gab keinen zweiten oder dritten Pfad herauf, nur diesen einen Lindwurm, der sich bis zum Burghof schlängelte, und eben diesen Lindwurm behielt Alex bei seinem Spiel im Blick.

Alex saß ganz oben auf dem kleineren der beiden Turmfinger. Turmfinger, ja, genau so sahen sie aus, wie zwei Finger aus Stein, die ein Riese – aus der Zeit, als es noch Riesen gab – hier vergessen hatte. Vielleicht ein Kampf. Vielleicht ein Unfall. Manchmal hielt Alex am Abend in seinem Bett eine Faust vor die nur sehr selten zum Lesen genutzte Leselampe, streckte Zeige- und kleinen Finger nach oben und schon erschien an der Wand die Silhouette der Burgruine. Er selbst verwandelte sich in einen Ritter, in einen Mann, dem die Welt zu Füßen lag und über dessen Heldentaten man an allen Enden seines Reiches sprach. Sogar Lieder sangen sie auf ihn und ein mächtiges, in Leder gebundenes Buch existierte, in dem es einzig und allein um ihn, Ritter Alex, und seine Heldentaten ging. Manchmal wunderte er sich während dieser Tagträume über sich selbst: hier auf der Ruine oder auch abends im Bett, da konnte er sich alles Mögliche vorstellen und es sich dann auch noch merken. Wenn aber Seidel, Alex’ Mathelehrer, seinen Schüler bat, sich eine Zahl mit neun Nullen vorzustellen, dann kam mit einem Schlag die große Dunkelheit. Große Dunkelheit, so nannte Alex diese Momente der vollkommenen Leere, Augenblicke, die es allerdings nur im Klassenzimmer gab, mit nach draußen kamen sie nie. Sie gehörten in die Schule, hier auf der Burg hatten sie nichts zu suchen und das wussten sie ganz offensichtlich auch.

In diesen Stunden, in denen Alex sich in einen Ritter verwandelte, existierten weder Eltern noch eine kleine Schwester (wenn doch, dann höchstens von einem Drachen entführt), es gab keine Schule. Gut, Letztere existierte im Augenblick tatsächlich nicht – große Ferien –, trotzdem hing diese Drohung immer irgendwie über ihm und warf einen viel zu breiten Schatten. Alex aber spielte tunlichst um diesen Schatten herum.

Die großen Sommerferien hatten gerade erst begonnen, dennoch dachte er,wie er fand,viel zu oft an den kommenden September und damit an den Beginn der siebten Klasse, oder besser: den erneuten Beginn dieser siebten Klasse. Ehrenrundehatte Vater nur gesagt und dabei wohl an seine eigene Ehrenrunde gedacht, was ihn aber nicht daran gehindert hatte, seinen Großen zu Nachhilfeunterricht zu verdonnern, den freilich nicht er geben konnte, nein, dafür bezahlte er einen Gymnasiasten. Alex’ Vater hatte am Tag, als er selbst sein alles andere als sehenswertes Abschlusszeugnis in die Hand gedrückt bekommen hatte, mit allem abgeschlossen, was irgendwie nach Schule roch und – alles wiederholt sich irgendwie und irgendwann – heute sehnte sein Sohn diesen Tag herbei. Aber dieser Typ aus Bonndorf, ein Zwölftklässler, der sich mit Nachhilfe das Taschengeld aufbesserte, befand sich zurzeit mit Mama und Papa irgendwo auf einem Campingplatz in Spanien. Welcher Zwölftklässler ging in diesem Alter noch mit seinen Eltern zelten?! Für Alex stand fest, dass der Typ somit nicht ganz rundlief, einen Zacken ab hatte, in seinem Schrank ein paar Tassen fehlten. Aber sollte er doch zwischen seiner Mama und seinem Papa im Zelt liegen – jeder Tag, den dieser Kerl in Spanien verbrachte, bedeutete Freiheit. Alex konnte nach dem Frühstück in aller Ruhe verschwinden und mit dem ganzen langen Tag anstellen was er wollte, vor dem Abendessen wartete sowieso keiner auf ihn. Und wenn dann auch noch wie heute die Sonne auf Alex’ Rücken schien und Leni, Alex’ fünfjährige Schwester, einmal nicht an seinem Hosenbein hing, vergaß er für ein paar Stunden Schule und Ehrenrunde und Nachhilfe, ging von Wittlekofen hinunter zum Wanderparkplatz an der Steina und weiter zu seiner Burg. Mit diesem gut drei Kilometer messenden Sicherheitsabstand zu Dorf, Eltern und Schwester kletterte Alex auf seinen Zeigefingerturm, holte die kleinen Plastikritter aus den Hosentaschen und stellte sie auf den Rand der Mauer. Klar, er wusste, dass ein fast Vierzehnjähriger eigentlich anderes tun sollte als zu spielen, aber es machte eben Spaß. Außerdem wusste es ja keiner, abgesehen von Leni, aber die hielt die Klappe. Ganz sicher.

Die Burg betrat Alex immer allein und während seine Ritter auf mächtigen Streitrössern Turniere kämpften, Drachen erschlugen und die Mauern gegen Angreifer von der Steinegg verteidigten, behielt der Junge den Lindwurmweg zur Ruine im Blick.

Auf Burg Steinegg, einer zweiten Ruine, deren Turmrest Alex auf dem Nachbarhügel durch das Blätterdach ragen sah, lebte in der Welt des Kindes eine Horde Raubritter – Gestalten von der übelsten Sorte, die jede sich bietende Gelegenheit beim Schopfe packten,um zu morden, zu plündern und die wieder und wieder gegen die Herren von Roggenbach anrannten. Alex aber verteidigte sein Reich, er verteidigte es gegen die Steinegger und er verteidigte es auch gegen den Rest der Welt. Keiner musste wissen, dass er hier oben saß und mit Plastikfiguren spielte, keiner musste das von seiner Zunge imitierte Hufgetrappel hören und auch nicht die mit verstellter Stimme gesprochenen Dialoge zwischen den Rittern. Nein, das hier ging keinen was an, nicht Max, Alex’ besten Freund, und schon gar nicht solche Kinderwie Rufus, Kasimir oder den kleinen Timi. Mit denen konnte man vielleicht Fußball spielen, Kasi gerne auch mal einen Tag gefesselt am Baum stehen lassen, aber hier, auf seiner Burg, da hatte keiner von ihnen etwas zu suchen. Die Roggenbacher Ruine gehörte einzig und allein Alexander, dem Ritter, dem Helden.

Alex nahm sein Handy aus der Tasche. Der Bildschirmschoner imitierte eine alte Bahnhofsuhr mit schwarzen Zeigern. Von dieser Uhr wanderte Alex’ Blick zur Sonne. Beide – Sonne und Uhr – übten sich wieder einmal in trauter Einigkeit. Während die Sonne nur noch wenig mehr als eine Handbreit über den Baumwipfeln stand und lange Schatten unten auf dem Weg lagen, rückte der kleine Zeiger seiner Bahnhofsuhr viel zu schnell voran, die Sieben im Blick und durch nichts davon abzubringen, dieses Ziel auch in der nächsten Viertelstunde zu erreichen, am wenigsten durch Alex. Gut, man könnte diese blöden Zeiger einfach ignorieren, aber – Alex schüttelte den Kopf – eine Sache zu ignorieren bedeutete noch lange nicht, dass diese Sache nicht länger existierte. Das ging in der Fantasie vielleicht, aber im richtigen Leben funktionierte das eben nicht, er hatte es mehr als einmal ausprobiert. Man konnte die Zeit ignorieren, dann gab es aber kein Abendessen und der Fernseher blieb auch aus. Alex konnte das Holzholen ignorieren, das aber führte zu einem kalten Haus, einer schreienden Mutter und einem kopfnussverteilenden Vater. Und Holz musste er danach trotzdem ins Haus schleppen. Man konnte auch die bevorstehenden Tests ignorieren – und die siebte Klasse wiederholen. Alles Scheiße.

Mit einem extrem riskanten Manöver wehrte Alex noch schnell den Angriff der Steinegger Raubritter ab, sammelte anschließend die Plastikfiguren ein und stieg von seinem Turm.

Vor ein paar Jahren hatte ein Verein neben dem Turm eine Wendeltreppe aus Beton errichtet und so den Zugang zu diesem erst ermöglicht. Die Treppe überbrückte den unteren Teil des Turmes, ab der Hälfte konnte man Originalstufen benutzen. Gott allein wusste, warum sie diese Betonspirale errichtet hatten; sollte beim Bau die Aussicht auf künftige Touristenscharen eine Rolle gespielt haben, dürfte die Sache gründlich in die Hose gegangen sein, vermutete Alex, denn außer ihm besuchte kaum ein Mensch diesen vergessenen Ort. Oder gab es diese Treppe einzig und allein wegen ihm, damit er hinaufsteigen konnte, damit für ihn ein Platz existierte, an dem er allein sein und spielen durfte? Damit er bis zum Weckruf der Zeiger Ritter sein konnte?

Alex rannte die Treppe hinunter, sprang wie immer zwei Meter,bevor er die sogenannte reale Welt erreicht hatte,übers Geländer, landete und rollte sich ab. Denn wenn Alex die Mauerreste verließ,kam Svoros, der siebenköpfige Drache, aus seiner Höhle und nahm die Burg für sich in Besitz. Am Tag gehörte sie Alex, nachts Svoros. Svoros jagte dem Ritter im Tiefflug hinterher und spie Feuer aus sieben Köpfen. Hatte Alex aber erst einmal die Magie des Burghofes erreicht, nützten dem Drachen weder Feuer noch Krallen etwas. Der aus Kristallen, Gold und Diamanten bestehende Hof beschützte jeden ehrlichen Ritter und der Drache wiederum beschützte bei Dunkelheit diesen Schatz vor den Steineggern und deren Gier. Hatte Alex wie jetzt den Hof in letzter Sekunde erreicht, drehte Svoros ab, flatterte über Turmfinger und Baumwipfel davon und verkroch sich, bevor ihn ein menschliches Auge erspähen konnte, in den Tiefen seiner Höhle, unsichtbar,als habe es ihn nie gegeben.

Alex klopfte sich den Staub von der Hose und kontrollierte den ordnungsgemäßen Zustand seiner Ritter. Alle hatten diesen finalen Sprung heil überstanden. Ein letzter Blick wanderte aus dem Schatten des Hofes hinauf zum Glühen der Turmspitze – vielleicht doch noch ein paar Minuten? Alex riss sich nach einem weiteren Blick auf sein Handydisplay los: Es half alles nichts, spätestens in einer halben Stunde stand daheim das Abendessen auf dem Tisch. Vielleicht wollte Vater grillen, das Wetter dazu hatten sie schon mal. Also dann: bis morgen.

Wie immer nahm der Junge den kaum zu sehenden Trampelpfad über den ehemaligen Burghof. Hätte es nicht die Mauerreste ringsum gegeben, wäre das hier nur ein Stück Wald, mehr nicht. Jahre und Jahrzehnte hatten das Bauwerk wieder in Natur zurückverwandelt, riesige Tannen wuchsen da, wo einmal Pferde durch ein schmales Tor die Burg betreten haben mochten, Holunder und hüfthohes Gras wucherten dazwischen und alles ringsum atmete Menschenlosigkeit und Stille. Vom zweiten Turm herab beobachtete ein Falkenpaar den Eindringling, wie dieser zwischen Birkenschösslingen verschwand und einen Augenblick später durch eine Bresche in der Außenmauer stieg. Dort blieb das Kind stehen, blickte nach rechts, wo der Pfad zum Fuß der Burg seinen Ausgangspunkt hatte, und nach unten. Warum nicht, dachte Alex, stieß sich ab und sprang. Warum nicht die Abkürzung nehmen? Beide Hände auf die Taschen mit den Plastikrittern gepresst, wollte er sich den Hang hinuntergleiten lassen. Er spürte, wie die Mauerreste unter seinen Sohlen verschwanden, zurückblieben, bis morgen. Ein kurzer freier Fall, dann Gras und Geröll. Alex wollte wie schon so oft die Füße nach vorn strecken, den Hang hinabrutschen und zusammen mit einer kleinen Lawine aus Kieseln, Staub und Ästen bis zum Fuß der Ruine rutschen. Aber statt den Jungen auf seinem Rücken nach unten zu tragen, öffnete der Berg plötzlich sein Maul. Als Alex aufkam,spürte er den Boden unter sich zurückweichen, es fühlte sich an wie eine Landung auf Kieselpudding, hart aber gleichzeitig auch weich, fester Boden, der nachgab, sich öffnete und ihn verschlucken wollte. Alex ließ seine Taschen los, breitete die Arme aus, spürte den Berg an ihm saugen. Ja, das traf es genau: Der Berg saugte den Jungen auf und Alex verschwand zusammen mit einer ordentlichen Portion Schutt in einem bis eben nicht da gewesenen Loch am Fuße der Mauer. Alles ging so schnell, dass Alex noch nicht einmal Zeit zu einem Hilferuf fand. Die Falken sahen die Hände des Jungen im Berg verschwinden, hörten etwas aufschlagen. Steine rollten den Hang hinab, dann endlich kehrte wieder Ruhe ein.

2   Tod eines Streicheldiebes

»Miez miez miez …« Max streckte die Hand aus, hielt sie ganz ruhig. Mit einer Stimme süßer als Honig lockte er das kaum sechs Wochen alte Kätzchen und dessen zwei Geschwister aus ihrem Versteck, einer Art Höhle im Heu, ganz hinten, da wo ein Stapel Bretter aus dem vertrockneten Gras herausragte.

Max kam selten hierher, weder in den Stall noch auf den darüberliegenden Heuboden. Seine Eltern hatten längst alle Bemühungen aufgegeben, ihren Ältesten zur Mithilfe im Stall zu animieren und er verbrachte seine Zeit lieber vor dem Fernseher oder im Bett mit einem Stapel Comics und einer Tüte Chips. »Komm mein kleines Kätzchen. Na, komm zu mir.« Max pfiff ganz leise, er säuselte und lockte die unerfahrenen Tiere mit einem Grashalm. Eines der drei bunten Fellknäuel streckte die Pfote aus, schlug nach dem Spielzeug, sprang hervor und biss hinein. Max streichelte das Tier und das Tier ließ es geschehen, schien, als es die große warme Hand endlich bemerkte, diese Berührung sogar zu genießen. Es schmiegte sich in die Hand des Jungen, schnurrte und kaute dabei am Grashalm.

Dem Dreizehnjährigen stand der Schweiß auf der Stirn und das lag ganz bestimmt nicht nur an der hier oben herrschenden Hitze. Schweißtreibender Faktor zwei hieß: Leiter. Doch Leiterund Leitersind nicht immer dasselbe. Bei dieser Leiter hier handelte es sich nicht etwa um ein breites Gestell, mit eng beieinanderstehenden Sprossen und so angelehnt, dass man ganz gemächlich auf ihr hinaufsteigen konnte, nein, diese Leiter hier musste ein Riese gebaut haben. Jede zweite Sprosse fehlte und da sie kaum länger war als gerade so nötig, um auf den Heuboden zu gelangen, stand sie annähernd senkrecht. Max machte seit Jahren einen ziemlich großen Bogen um diese Leiter, das Miauen aber, welches er von da oben jeden Tag lauter hören konnte, hatte ihn alle Ängste vergessen lassen.

Beim Hinaufsteigen musste er an seine Mutter denken und an seinen Stiefvater. Vielleicht hatten sie ja doch recht, wenn sie ihn übergewichtignannten. Erst gestern hatten beide im Wohnzimmer vor dem Fernseher gesessen, ihren Sprössling schlafend geglaubt, doch dieser hatte, vom Klang seines Namens angelockt, vor der Tür gestanden und jedes Wort gehört. Eines davon lautete übergewichtig. Übergewichtig nannte ihn nur Max’ Mama, Stiefvater fett. Mama hatte etwas von Babyspeck erwidert und Max’ Vater ziemlich laut gelacht, so laut, dass im selben Moment Mamas Zischen zu hören gewesen war und Max’ Kopf dazu das schon so oft gesehene Bild seiner Mutter zwischen die Ohren des Jungen gezaubert hatte, ein Bild, auf dem Mama die Lippen spitzte und ihren Zeigefinger davorlegte. Max wischte sich den Schweiß von der Stirn und wusste, dass sein Stiefvater das Problem letzte Nacht beim wirklichen Namen genannt hatte, Mutter nicht. Aber obwohl dieses Problem nun einen Namen besaß, blieb es das Gleiche und wog kein einziges Kilo weniger. Doch was sollte man in einem so winzigen Nest wie Wittlekofen denn weiter machen als Fernsehen und Computer spielen? Sicher, Alex, der mit einer beängstigenden Leichtigkeit jede Leiter hinauffliegen konnte, lebte im selben Nest, allerdings ohne Max’ Rettungsring um die Hüften. Alex hatte aber auch nicht solch einen Stiefvater!

Das sind die Gene, sagte Mama manchmal. Ja, die Gene, was immer das auch sein sollte, aber wahrscheinlich hatte diesmal Mama recht.

Max besaß für einen Dreizehnjährigen bereits ziemlich breite Schultern, was allerdings auch daran liegen konnte, dass alles an ihm ziemlich breit daherkam: breite Schultern und Hüften, breite Hände (Klodeckel nannte sie Alex) und ein breites Gesicht, das durch die in die Stirn gekämmten Haare noch ein wenig breiter wirkte. Max investierte jeden Morgen ziemlich viel seiner reichlich vorhandenen Zeit in diese Frisur, aber was er auch tat, eine Ähnlichkeit zu seinen im Kinderzimmer an der Wand hängenden Idolen wollte und wollte sich nicht einstellen, im Gegenteil. Heute hatte die Frisur keine zwanzig Minuten gehalten, also genau bis zu den ersten Schweißperlen, die abgetrocknet werden wollten und somit die Frisur zerstörten.

»Miezi.« Nummer zwei wollte auch etwas von den Streicheleinheiten abhaben und wagte sich aus der Sicherheit ihres Verstecks, Kätzchen Nummer drei folgte. Max bedachte auch dieses mit einem Grashalm, beobachtete das Spiel der Katzenkinder, ohne eine Miene zu verziehen. Er starrte durch die Tiere hindurch, streichelte und spielte mechanisch, ohne wirklich bei der Sache zu sein. Wieso, ging es Max durch den Kopf, wieso lieben die meisten Menschen Tiere mehr als ihre eigene Familie? Was besaßen Tiere, was den Menschen fehlte? Gut, bei Hunden konnte Max das irgendwie noch verstehen – aber Katzen? Hunde, das wusste Max, die konnten Freunde sein, manchmal sogar einen Menschen ersetzen. Der alte Seiler zum Beispiel, der brauchte keine Menschen, der liebte seinen Hund und sonst nichts und niemanden. Der Alte wollte mit niemandem im Dorf etwas zu tun haben und umgekehrt gingen ihm und seinem Köter alle im Dorf aus dem Weg, einschließlich der Kinder. Hunde konnte man erziehen und sie trotteten ihrem Herrchen hinterher, als habe sie der liebe Gott einzig zu diesem Zwecke erschaffen. Aber Katzen? Die machten ihr eigenes Ding, kamen und gingen, wann immer sie Lust dazu verspürten und scherten sich einen Dreck um die Wünsche ihrer Ernährer. Und trotzdem streckte jeder die Hand nach ihnen aus und wollte sie streicheln, gab ihnen Futter. Manchmal wünschte sich Max, selbst so eine Katze sein zu können, ein Wesen, nach dem Menschen ihre Hände ausstreckten und es streichelten, mit ihm spielten. Richtig spielten, nicht wie Vater.

Max griff in seine Hosentasche. Eines der Jungen, mit leuchtend braunem Fell und einer Schwanzspitze so weiß wie Kasis Gesicht, wenn Max ihm im Schulbus seinen neuesten Pornoclip vorspielte, sprang bei dieser Bewegung zurück, blieb aber in Reichweite des Grashalmes sitzen. Es beobachtete die große Pfote des ihm fremden Riesenwesens, eine Pfote, welche in einem seltsamen Fell verschwand und plötzlich mit einem zappelnden Wurm in der Hand zurückkehrte. Oder versteckte dieses Wesen eine Maus zwischen seinen Krallen und nur der Schwanz schaute heraus? Das leuchtendbraune Kätzchen kam näher und streckte die eigene Pfote nach der fremden Pfote und der vermeintlichen Maus darin aus.

Die Katzenmutter hatte Max vorhin noch hinter dem Haus gesehen, weit genug weg also, denn beim Anblick des sich die Leiter heraufquälenden Jungen hätte sie ihre Kinder sofort in Sicherheit gebracht. Sie ging dem Menschenkind aus dem Weg, wie man eben einem Wesen aus dem Weg geht, das bei jeder sich bietenden Gelegenheit mit Steinen nach einem wirft. Aber Katzenmama ist weg. Weit, weit weg. Und die Kinder sind allein.

In Max’ Hosentaschen befand sich neben seinem Handy, einer Handvoll Gummibärchen und ein paar Münzen immer auch ein Schnürsenkel. Max’ Mutter bestand darauf. Seit bei einem der seltenen Familienausflüge einmal Max’ Schnürsenkel den Geist aufgegeben hatte, Max daraufhin den ganzen Tag mit einem offenen Schuh herumlaufen musste, diesen ständig verloren hatte, gestolpert war und am Schluss so laut geheult hatte, dass sich jeder Kopf nach der glücklichen Familie umgedreht hatte, bestand Mutter auf einen Ersatzschnürsenkel in seiner Tasche. Dass er mittlerweile aber ausschließlich Schuhe mit Klettverschluss trug, schien sie dabei nicht weiter anzufechten. Aber alles, wusste Max in diesem Augenblick, alles besaß einen Sinn, selbst wenn eine Sache auf den ersten Blick sinnlos und dumm erscheinen mochte. Max hielt dem Kätzchen den Schnürsenkel hin und wusste plötzlich, warum er diesen seit einer halben Ewigkeit mit sich herumgeschleppt hatte – eine Erkenntnis, die ein Lächeln auf das Gesicht des Jungen zauberte und ihn noch mehr schwitzen ließ.

Das Kätzchen duckte sich, sein Schwanz zuckte vor Aufregung. Plötzlich sprang es vor und stürzte sich auf den Mäuseschwanz. Das Tier biss hinein, drehte sich auf den Rücken. Und Max streichelte es. Er kraulte das Junge am Bauch und es störte ihn keineswegs, dass das Braune Krallen und Zähne in seine Finger grub. Max lächelte und betrachtete dabei die eigenen Hände. Kannten sich die beiden überhaupt? Wusste die eine, was die andere tat? Mochten sie sich, auch wenn sie ganz gegensätzliche Dinge taten? Max wusste keine Antworten, seine Hände hingegen schon, denn während Max’ Linke das Katzenkind streichelte, schlossen sich die Finger seiner Rechten um Mamas Schnürsenkel.

»Achtung!« So schnell sah sie ihren Sohn selten rennen! Max stieß die Küchentür mit der Schulter auf, schob sich an seiner Mutter vorbei.

»Wieso hast du dein Shirt ausgezogen?« Max’ Mutter stand am Herd und wendete irgendetwas in der Pfanne, das entfernt nach gebratenem Fleisch roch. Max aber wusste, dass es wieder nur diese Dingersein konnten, Tofuklößchen, ihm zuliebe natürlich. Aber das spielte im Augenblick keine Rolle. Sein T-Shirt hielt er wie einen Schatz in der Hand und legte es auf den Küchentisch.

»Da Mama, die hab ich gefunden.« Max schlug den Stoff zur Seite – auf dem Küchentisch lag ein Katzenjunges, mit rotbraun leuchtendem Fell und einer weißen Schwanzspitze. »Ich weiß nicht, ist die …, ist die tot? Sie lag hinten am Schuppen. Ich wollte sie streicheln. Mama, kannst du ihr helfen? Komm, wir fahren zum Tierarzt!«

Eine halbe Stunde später stand da, wo eben noch die Katzenleiche gelegen hatte, das Mittagessen auf dem Tisch: Kartoffeln, Gemüse und Tofuklößchen. Max’ Teller aber unterschied sich in einer nicht unbedeutenden Kleinigkeit von denen der anderen: statt der Tofuklößchen lag ein wundervolles Kotelett vor ihm. Timi, Max’ achtjähriger Halbbruder, schielte immer wieder mit unverhohlenem Interesse auf den Teller seines Bruders, er verstand nicht, dass der Fleisch bekam, er selbst aber nicht! Bloß weil Max versucht hatte, der Katze das Leben zu retten? Deswegen diese Ungerechtigkeit? Und es hatte noch nicht einmal geklappt!

»Nach dem Essen gehst du mit deinem Bruder hinters Haus. Dort hebt ihr ein Loch aus und dann beerdigen wir das Kätzchen, ja?«

Timi nickte, während Max schon die Hälfte seines Koteletts verschlungen hatte. Max genoss das Fleisch und er genoss es, den Teller seines kleinen Bruders fleischlos zu sehen. Und er genoss die Hand seiner Mutter, die gerade bereits zum zweiten Mal über den Tisch gewandert kam und ihren Sohn streichelte. Danke Kätzchen, dachte Max und meinte es genau so. Danke.

3   Zwei Freunde

»Meine Fresse, was ist denn mit dir passiert?« Wie aus dem Boden gewachsen stand Alex plötzlich hinter der zweiköpfigen Trauergemeinde. Max drückte Timi die Schaufel in die Hand, das letzte bisschen Erde konnte der auch allein über dem Kätzchengrab aufhäufen. Er wischte sich die Hände an der Hose ab, stand auf und ging zu Alex. »Diesmal hat es dein Alter aber ganz schön übertrieben!« Max betrachtete Alex’ geschwollene Augenbraue – eine Kruste aus getrocknetem Blut klebte zwischen den Haaren und die Haut auf dieser Seite des Gesichtes sah aus wie mit einem Reibeisen bearbeitet: viele kleine Striemen und Streifen, annähernd parallel zueinander, nicht so tief, als dass sie hätten genäht werden müssen, aber auch nicht so oberflächlich, dass Max sie hätte übersehen können. Außerdem entdeckte Max weitere kleine Wunden und Kratzer an beiden Händen des Freundes. »Diesmal musst du aber ganz schön was ausgefressen haben, dass dein Alter so ausgeflippt ist!« Max konnte nicht verhindern, dass seine Worte beinahe bewundernd klangen. Deshalb also hatte Alex ihn den ganzen langen Vormittag warten lassen, denn selten verging ein Ferientag, an dem Alex nicht schon kurz nach dem Frühstück an die Tür klopfte; heute nicht, was zu Max’ Begegnung mit dem Kätzchen geführt hatte. Genau genommen trug also Alex’ Vater die Schuld an dem kleinen Grabhügel hinter Max’ Elternhaus.

»Nein, mein Vater hat diesmal nichts damit zu tun«, sagte Alex und gab die Schuldfrage damit zurück. Er ging zu Timi und legte dem die Hand auf die Schulter. »Dein Meerschwein?« Timi, die Schaufel mit einem Häufchen Erde darauf in der Hand, hielt mitten in der Bewegung inne. Meerschwein? Was ist mit seinem Meerschwein? »Ist es gestorben?« Jetzt verstand er. Er vollendete die angefangene Bewegung, warf das letzte bisschen Erde auf das Grab und lachte dazu.

»Nein, Mausi geht’s gut!«, sagte er voller Überzeugung, dann fiel ihm ein, dass er heute noch gar nicht nach ihm gesehen hatte und er fügte ein »glaub ich« hinzu.

»War nur ’ne junge Katze, hat sich an einem Strick erhängt.« Max wiederholte die Geschichte, die er auch schon seiner Mutter erzählt hatte. Was sich tatsächlich zugetragen hatte, das konnte er Alex später haarklein schildern, nachher, wenn sich Timis große Ohren außer Hörweite befanden. Alex hörte sich ohne große Anteilnahme Max’ Worte an, sein Blick aber verriet, dass ihn das Kätzchen einen Dreck interessierte, dass er an etwas ganz anderes dachte. »Und was ist jetzt mit deinem Gesicht passiert? Wer war es, wenn nicht dein Alter?«

»Ich war’s.«

»Hä?«

»Ich.«

Max hielt in Bezug auf seinen Freund sehr, sehr viel für möglich, aber dass der sich selbst mit einem Reibeisen bearbeitet hatte schien ihm dann doch etwas zu weit hergeholt.

»Seid ihr hier fertig?« Max’ Blicke folgten der auf das Grab weisenden Hand. Timi klopfte mit der Rückseite der Schaufel soeben den Grabhügel glatt, das versprochene Holzkreuz konnten sie auch später basteln. Oder gar nicht. Was brauchte das blöde Katzenvieh ein Kreuz? »Also, dann komm mit, ich muss dir was zeigen.«

»Darf ich auch mit?« Timi stand plötzlich kerzengerade, die Füße beinahe schon militärisch korrekt nebeneinander. Bitte, dachte er, bitte. Er wusste, mit Alex gab es immer etwas zu erleben, ohne ihn und ohne den großen Bruder wartete hingegen doch wieder nur ein endlos langer Nachmittag in der Nähe seiner Mutter, einer Mutter, die jede seiner Bewegungen, vor allem die draußen auf dem Apfelbaum, mit Argwohn verfolgte und in der Regel lange bevor es richtig Spaß machen konnte mit einem Timi! unterbrach. Aber Alex schüttelte den Kopf.

»Heute nicht Timi, echt nicht.« Rührt euch. Der Junge sackte in sich zusammen und die ihn gerade eben noch umgebende Erwartungsaura verwandelte sich in fast schon greifbare Enttäuschung. Alex tat der Kleine leid. Er ging zu ihm, wollte ihm schon die Hand auf den Kopf legen, besann sich aber eines Besseren und zog Timi stattdessen nur leicht am Ohr. »Morgen vielleicht, okay? Morgen machen wir was ganz Tolles und du kannst mitkommen, ja?« Timi sah auf und versuchte ein Lächeln. Morgen, immer hieß es entweder morgenoder Wenn du größer bist. Aber auf Alex konnte man sich verlassen, das wusste er und wenn Alex morgensagte, dann meinte er das auch genau so, anders als Max, der manchmal das Blaue vom Himmel herunterlog und Sachen versprach, die selbst ein Achtjähriger wie Timi schon beim Hören als Lüge identifizieren konnte.

Timi brachte die Schaufel an ihren Platz in den Schuppen. Als er zurückkam, sah er Alex und Max gerade hinter der Kuppe Richtung Bolzplatz verschwinden.

»Eine Höhle?!«

»Nein, verdammt noch mal, keine richtige Höhle. Ein Raum, ungefähr so groß wie eure Küche oder so.« Max blieb stehen, einerseits weil sein Körper danach verlangte, zum anderen um sich in Ruhe die Größe dieser Küche vor Augen halten zu können. Wie groß mochte sie sein? Drei Meter an der Stirnseite und vier lang?

»Und die liegt unter der Burg?« Alex nickte und ging weiter, ohne auf die körperlichen Bedürfnisse seines Freundes Rücksicht zu nehmen.

»Das Loch, durch das ich eingebrochen bin, liegt unterhalb der alten Mauer. Ich weiß nicht, wie oft ich da schon dran vorbeigegangen bin.«

»Frag mich eh, was du ständig auf dem alten Ding verloren hast.«

»Ich hab echt Glück gehabt! Stell dir vor, die Mauer wäre auch noch eingestürzt und hätte den Ausgang versperrt. Aber so bin ich in diesen Raum gefallen oder besser: gerutscht, zusammen mit einem ganzen Haufen Steinen und Schutt und Gras. Und plötzlich stand ich in diesem Raum, ein richtiges altes Zimmer mit gewölbter Decke und so. Und das Beste …«

Die Jungen hatten den Bolzplatz erreicht, eine der hier seltenen ebenen Wiesen. Rechts und links selbst gezimmerte Tore und zwischen Spielwiese und Waldrand eine Feuerstelle mit ein paar Baumstämmen drum herum, Stämme, die, wie ihre glattgescheuerten Oberseiten verrieten, schon seit Jahrzehnten den Kindern und Jugendlichen des Dorfes als Sitzgelegenheit dienten. Max ließ sich auf einen der Stämme fallen und streckte die Beine aus. Alex aber ging ohne seinen Satz zu vollenden weiter zum Waldrand und verschwand in einem Gebüsch. Gerade als Max mit einem Fluch auf den Lippen dem Freund folgen wollte, tauchte der aber mit einem langen Stock in der Hand wieder auf. Max fiel zurück auf den Stamm.

»Und das hier habe ich dort unten gefunden.« Alex flüsterte, trug den Stab auf beiden Handflächen und präsentierte Max so seinen Schatz, hielt ihn dem Freund unter die Nase. Max wischte sich Schweiß und eine Haarsträhne aus dem Gesicht und streckte die Finger nach Alex’ Fund aus. Auf den ersten Blick sah dieser wie ein hundsgewöhnlicher Stecken aus, allerdings ein ungewöhnlich gerader. Max’ Blicke wanderten über das Holz und was zuerst wie ein angespitztes Ende wirken konnte, entpuppte sich bei genauerem Hinsehen als eine Spitze aus Metall. Max nahm Alex den Fund aus der Hand, verteilte etwas Spucke zwischen zwei Fingern und rieb damit über das Metall, genauer über den Teil der Spitze, in dem das Holz wie in einer Hülse steckte. Die Spitze selbst sah alles andere als toll aus, rostig und, als hätte ein an Mineralienmangel leidendes Erdhörnchen damit seinen Eisenbedarf gedeckt, fehlten rechts und links winzige Stücke. Der Schaft aber gab unter Max’ Spucke winzige Verzierungen frei. Max prüfte mit dem Finger die Spitze, wog den Fund in der Hand, holte plötzlich aus und machte Anstalten, Alex’ Schatz über den Bolzplatz zu werfen.

»Darf ich?« Max’ Augen leuchteten. »Bitte.«

Alex zögerte, schließlich nickte er, im selben Augenblick rannte Max drei, vier Schritte, riss den Arm nach vorn und ließ das Geschoss sausen. Ein kurzes Sirren, der Speer flog in einer perfekten, wenn auch nicht sonderlich weiten Flugbahn Richtung Tor, bohrte sich kurz vor diesem in den Boden und blieb stecken. Das Holz schwang hin und her und gerade als Max die Hand hob um sich den verdienten Gratulationsschlag des Freundes abzuholen, brach dieses Holz – ein sauberer, holzwurmgeförderter Bruch unmittelbar unterhalb der Metallspitze. Max’ Hand blieb ohne Gegenschlag noch einen Moment in der Luft stehen. »Oh. Das, das hab ich nicht gewollt. Ehrlich, das …«

Alex holte tief Luft und schluckte den jetzt eigentlich angebrachten Fluch wieder hinunter. »Schon gut«, sagte er nur und rannte zu seinem Schatz.

»Das kann man reparieren. Wir haben bestimmt noch irgendwo einen alten Besenstiel in unserem Schuppen.«

»Besenstiel?!«

Max nickte, kniete sich ins Gras und untersuchte die Bruchkanten.

»Oder wir machen das hier raus«, Max pulte Holzmehl aus der Hülse, »sägen den Rest sauber ab und stecken ihn wieder rein, was meinst du?«

»Ich meine, dass wir jetzt zusammen zur Burg runtergehen und in den Raum da klettern.«

»Nie und nimmer!« Max ließ die beiden Teile fallen und rutschte ein Stück zurück. »Mich bekommst du nicht in so eine Höhle!«

»Und warum nicht?«

Max zählte die Gründe auf und nahm dabei seine Finger zu Hilfe: »Erstens ist es viel zu weit bis zur Burg …«

»Drei Kilometer – ’ne gute halbe Stunde, selbst wenn wir in deinem Tempo laufen.«

»… außerdem ist es schon zu spät …«

»Wir haben kurz nach drei, Zeit genug.«

»… drittens pass ich vielleicht gar nicht in dieses Loch.«

»Kann man zur Not auch größer machen.« Alex stand auf, nahm Spitze und Holz und ging zu seinem Freund. »Und viertens: du hast Schiss.«

»Hab ich nicht!«

»Doch, genau das ist der Grund: Du hast die Hosen gestrichen voll, Mann!«

»Hab ich nicht.« Es klang schon nicht mehr ganz so entrüstet.

»Du hast Angst und du bist faul, wie immer.« Alex betrachtete die Metallspitze und achtete nicht weiter auf die Widerrede seines Freundes. Er wusste, dass er mit seinen Anschuldigungen vollkommen recht hatte und Max wusste dies auch. »Max, von so einem Fund träumen andere ihr ganzes Leben!«

»Ich nicht.« Max wischte sich etwas aus dem Auge, was Schweiß aber auch eine einzelne Träne sein konnte. Er wusste wie er aussah und er wusste auch, dass ihm dieses Aussehen jeden Schritt zur Qual machte, trotzdem musste er sich das nicht anhören, schon gar nicht von seinem besten Freund!

»Du bist mir was schuldig«, sagte Alex. Max sah endlich auf. »Du hast die Lanze kaputt gemacht und jetzt gehst du mit mir da runter und wir schauen uns alles genau an. Vielleicht finden wir ja noch mehr?«

»Du bist gemein, Alex! Du hast mir erlaubt, das Ding zu werfen! Ich kann nichts dafür, dass …«

»Du bist mein Freund. Kommst du jetzt mit?«

Max wand sich wie ein in die Enge getriebenes Tier. Einerseits interessierte ihn ja auch ein ganz kleines bisschen, was es da in der Ruine noch zu entdecken gab, andererseits graute ihm vor dem steilen Aufstieg.

»Wir könnten ja die Fahrräder nehmen.«

Für den bergab führenden Hinweg keine schlechte Idee, aber bei der Vorstellung, am Abend dann das Rad den endlos langen und sehr steilen Berg aus dem Steinatal hinauf nach Wittlekofen schieben zu müssen … Max schüttelte den Kopf.

»Dann geh ich eben allein!« Alex, die beiden Teile seines Fundes in den Händen, wartete noch eine Sekunde, ging dann aber, als die erhoffte Meinungsänderung seines Freundes ausblieb, ohne ein weiteres Wort davon.

»Morgen?«

Alex blieb stehen. »Was morgen«, fragte er ohne sich umzudrehen.

»Na, morgen eben. Morgen komm ich mit.«

»Und wieso nicht jetzt?«

»Weil, weil wir gar nichts vorbereitet haben.«

»Was müssen wir da groß vorbereiten, Mann? Wir gehen da runter, klettern in den Raum und schauen, was wir noch so alles finden. Da gibt’s nichts vorzubereiten.«

»Und was ist mit einer Lampe?« Alex’ Blick verriet Max, dass er einen Punkt ansprach, den Alex bisher wohl noch nicht in seine Überlegungen einbezogen hatte. »Oder ist es da unten so hell, dass wir keine Lampe brauchen?«

»Stimmt. Also komm, ich hab eine ziemlich gute Lampe zu Hause.«

»Und was zu essen und zu trinken wär nicht schlecht.« Natürlich, dachte Alex, behielt es aber für sich. War doch klar, dass nur jemand wie Max an diesen Punkt denken konnte. »Und mein Handy.«

»Was ist mit deinem Handy?« Max zog es aus der Hosentasche und hielt es Alex hin.

Der zuckte nur mit den Schultern. »Was?«

»Der Akku ist fast leer. Und mit leerem Akku geh ich nirgendwo hin.«

»Mein Gott, du wirst doch mal ein paar Stunden ohne dieses Ding da auskommen, oder? Außerdem hab ich ja auch noch eines.« Alex prüfte die Anzeige des eigenen Gerätes. »Okay, das ist auch gleich leer. Aber wir gehen schließlich nicht da runter um zu telefonieren.«

»Und was ist, wenn irgendwas passiert, he? Wie willst du dann Hilfe holen?«

»Es passiert nichts.«

»Und wenn doch?« Außerdem konnte er damit nach überstandener Expedition seine Mutter anrufen und die würde ihren Großen samt Freund anschließend vom Wanderparkplatz abholen. »Morgen früh, okay? Morgen, wenn wir alles vorbereitet haben.«

Alex dachte über das Gehörte nach. Sofort zu gehen wäre toll, zu zweit aber wäre es noch besser. Na gut, der Raum wird weder weglaufen noch wird ihn jemand anderes in der Zwischenzeit entdecken, schließlich hatte Alex am Vortag den Eingang mit Zweigen und Reisig verdeckt. Dann eben morgen.

»Also gut. Gleich nach dem Frühstück?« Max nickte, seine Erleichterung konnte man beinahe mit Händen fassen.

»Dann spielen wir jetzt aber Fußball!«

4   Rufus

Auf einem Hügel zwischen dem keine zweihundert Einwohner zählenden Wittlekofen und dem benachbarten doppelt so großen Wellendingen konnte man seit einem halben Jahr jeden Morgen einen völlig in Schwarz gekleideten Jungen beobachten. Er kam von Montag bis Freitag mit dem Schulranzen auf dem Rücken aus Wittlekofen herauf, manchmal mit einer Blume in der Hand, manchmal mit einem Blatt Papier, welches er dann auf der Anhöhe, direkt unter dem Funkmast, verbrannte. Von Montag bis Freitag hatte er es eilig, der Schulbus wartete nie, am Wochenende aber oder in den Ferien nahm er sich Zeit und wenn das Wetter mitspielte saß der Junge oft stundenlang unter dem Mast, vor sich die lose dahingestreuten Dächer seiner neuen Heimat, am Horizont schneebedeckte Alpengipfel.

In diesen ersten großen Sommerferien hier im Süden des Schwarzwaldes verbrachte er oft ganze Tage auf seiner Anhöhe, allein mit sich und tausend Gedanken. Vater hatte eine Fahrt nach Südfrankreich vorgeschlagen, gestern erst diverse Ausflüge zum Bodensee, an den Rheinfall oder die Wasserfälle in Triberg, aber für Rufus gab es keinen einzigen Grund, diesen Platz hier zu verlassen, denn unter dem Funkmast fühlte er sich seiner Mutter so nah wie nirgends sonst auf der Welt. Selbst der abschließende Gang hinunter ins Dorf verkörperte für den Zwölfjährigen bereits eine Art Abschied und wenn er am Abend noch wach in seinem Bett lag, spürte er, wie Mutter an ihm zog, nach ihm rief, wie damals am Strand. Nicht immer konnte er diesem Rufen widerstehen, manchmal zog er sich daraufhin ganz leise an, kletterte aus dem Fenster und rannte zu ihr, so nahe wie es irgend ging und setzte sich unter den Mast. Dieser wirkte in Rufus’ Fantasie wie eine Antenne, eine Antenne, welche die Rufe der Mutter aufsammelte, bündelte und an den richtigen Empfänger zu ihren Füßen weiterleitete. Und umgekehrt fing dieser Mast Rufus’ Worte an seine Mutter auf und wenn der Junge auch nicht so richtig an einen Gott glauben mochte, so glaubte er doch, dass Mutter irgendwo da oben zwischen den Wolken und Sternen weiter existierte und von da aus die Gedanken ihres Sohnes lesen konnte. Es musste so sein, denn wenn nicht, welchen Sinn hätte dann noch dieses Leben?

Mutter war kurz nachdem sie die alte Wohnung bei Hamburg weihnachtlich dekoriert hatte gestorben und bis heute wusste ihr Sohn nicht warum. Er vermutete zwar, dass Mutters Tod etwas mit dem Verlust ihres ältesten Sohnes zu tun hatte, mit Leon, dessen Augen Rufus niemals vergessen würde. Aber ganz sicher war er sich da nie. Ein Grund spielte jetzt aber auch keine Rolle mehr, weder für Leons Tod noch für den der Mutter – und, wusste Rufus, ganz bestimmt auch nicht für das eigene Weggehen. Irgendwann.

Rufus glaubte sich heute zu erinnern, dass sie schon, während sie an diesem letzten Tag Räuchermännchen und Pyramiden auf Tischen und Fensterbänken verteilt hatte, viel länger als sonst vor den Fenstern erstarrt war und minutenlang hinüber zum zwischen Bäumen vorbeiziehenden Spiegel der Elbe geblickt hatte. Aber er konnte sich auch irren, so genau wusste man das schließlich nie, Rufus jedenfalls nicht. Im Nachhinein erinnerte man sich immer nur an Sachen, Gesten und Worte, die in dem Moment, in dem man sie entdeckte, bereits eine Bedeutung für einen selbst besessen hatten oder aber zurückblickend eine Bedeutung erhielten. Im ersten Fall übersah man vielleicht manches Detail und dessen Wahrheit, im zweiten war alles bereits so verschwommen, dass man die Erinnerung vermutlich eher selbst konstruierte denn sich tatsächlich erinnerte. Rufus hatte lernen müssen, dass man einem Kopf und dem, was in diesem vor sich ging, einfach nicht trauen konnte, niemals, schon gar nicht, wenn es sich bei diesem Kopf um einen kranken Kopf handelte, wie bei Mutter. Aber was bedeutete krank, was gesund? Diese Frage beschäftigte ihn, seit die bis dahin wichtigste Person in seinem Leben das Haus verlassen und den Weg zurück nicht mehr gefunden hatte. Als dies im Dezember des vergangenen Jahres geschehen war, hatte Rufus am Küchentisch gesessen und seine Hausaufgaben erledigt. Vorher hatte er, was, so sagte es ihm jedenfalls seine Erinnerung, in diesen ersten Dezembertagen öfter vorgekommen war, eine Büchse Ravioli öffnen müssen und den Inhalt in der Mikrowelle erhitzt. Mutter hatte wieder nichts gekocht, nur auf ihrem Stuhl gesessen, noch im Morgenmantel. Sie hatte den Begrüßungskuss ihres Sohnes ebenso ignoriert wie den Teller, den er ihr hinstellte und die sieben oder acht Teigtaschen, die er ihr zu essen gab. Sie hatte ihn einfach nicht wahrgenommen und Rufus – Angst? Selbstschutz? Hilflosigkeit? – hatte von seinem Tag in der Schule erzählt, gegessen, den Tisch abgeräumt und zuletzt mit seinen Hausaufgaben begonnen.

Und plötzlich hatte sie sich erhoben und war aus der Küche gegangen, Rufus dachte, ins Bad oder ins Bett, aber seine Mutter hatte zu diesem Zeitpunkt bereits andere Pläne gehabt. Vielleicht hatte sie jemand gerufen, so wie sie heute jeden Tag nach ihrem Sohn rief. Wer wusste so etwas schon. Hausaufgaben sind wichtig, alle Aufgaben sind wichtig, verhindern sie doch das Denken und das Zuhören. Rufus tauchte in seine Aufgaben, Mutter wird im Bad sein. Bis er sie rufen hörte, seinen Namen, von draußen.

Vom Küchenfenster aus hatte er sie im Morgenmantel am Elbestrand stehen sehen, auf einem vier, fünf Meter breiten Streifen aus feinem Kies und Sand, ein Platz, den kein Fremder kannte und der einzig und allein Rufus und seinen Eltern gehörte. Im Sommer hatte er oft ganze Nachmittage und Abende hier verbracht, gebadet, kleine Schiffe gebastelt und treiben lassen und nachts manchmal an besonderen Tagen zusammen mit Vater Teelichter auf Brettchen gestellt und vom Fluss ins nahe Hamburg und vielleicht noch darüber hinaus geschickt. Mutter starrte zum Küchenfenster herüber, rief den Namen ihres Sohnes und winkte. Rufus wusstedamals ganz genau, was dies jetzt für ein Augenblick war und wie dieser Augenblick alles verändern sollte. Als ob es sich nicht gehört hätte, diesen Augenblick durch eigene Worte und Bewegungen zu zerstören, hatte er am Fenster gestanden, reglos, sprachlos, und zugesehen, wie Mutter ihm einen Handkuss zugeworfen, sich umgedreht und den Morgenmantel ausgezogen hatte. Unter diesem Mantel hatte man später auch ihre Hausschuhe gefunden, sie selbst nie.

Möchtest du noch hier bleiben, weiter hier am Fluss leben?, hatte Vater gefragt. Die Suche hatte sich zwei Tage hingezogen und nur einen weiteren Tag nach ihrem Abbruch hatten auch Rufus’ Großeltern das Haus verlassen. Rufus hatte nicht lange überlegen müssen und mit dem Kopf geschüttelt. Damals trug er schon schwarze Kleider, hatte alles was Farbe besaß aus seinem Kleiderschrank verbannt, in Säcke gestopft und diese Säcke in die Garage getragen. Was aus ihnen geworden war – keine Ahnung, Rufus interessierte es nicht. Er hatte sich die dunkelblonden Haare schwarz gefärbt und während andere in seinem Alter nach dem Zähneputzen etwas Gel auf dem Kopf verteilten oder erste Schminkübungen vor dem Spiegel vollführten, kämmte er sich jeden Morgen schwarzen Schaumfestiger in die Haare. Das gehörte inzwischen zu ihm wie der Gang zur Toilette, wie Zähneputzen und Duschen. Vater ließ ihn gewähren. Vielleicht hoffte er, dass sein Sohn auf diesem Weg den Verlust der Mutter bewältigen konnte.

Rufus hatte sich auf einer überdimensionalen Karte von Deutschland ein neues Zuhause aussuchen dürfen. Bis heute fragte er sich, wieso Vater das erlaubt hatte, schließlich ließen sie so nicht nur Mutter und das jetzt so unwirkliche Haus, in dem alles an sie erinnerte, zurück, sondern auch Vaters Arbeitsstelle in Hamburg, Freunde und Bekannte. Vielleicht, weil er in diesen Tagen nach Mutters Tod selbst nichts entscheiden konnte oder wollte, vermutete Rufus heute. Instinktiv hatte der Junge damals sofort von ganz oben – Hamburg – nach ganz unten gesehen. Dort stand Schwarzwald, entfernt glaubte er sich zu erinnern, dieses Wort einmal im Unterricht gehört zu haben. Wie es dort unten, ganz im Süden aussah – davon hatte er damals keine Ahnung, wichtig schien ihm einzig und allein der Name. Sein Finger wanderte ganz in den Süden dieses Waldes, dessen Namen so gut zu seiner Trauer passte und Vater hatte nur genickt. Drei Wochen später hatten sie ihr Haus verschlossen und den Schlüssel und alles, was dieser Schlüssel wegsperrte, einem Makler übergeben.

Auf der Fahrt durch die Republik hatte Rufus immer wieder an eine Rückkehr seiner Mutter denken müssen. Jedes Mal, wenn er Wasser gesehen hatte, sah er sieaus dem Wasser kommen und zum Haus gehen. Aber niemand öffnete ihr. War es richtig, einfach so zu gehen, ohne Mutter gefunden und beerdigt zu haben?

Ja, es war richtig, das wusste er heute. In Hamburg hatte Rufus nie etwas von ihr gehört, in Wittlekofen aber änderte sich dies radikal. Schon als er in dieser letzten Januarwoche aus dem Auto gestiegen war, hatte er sie gehört, zwar noch recht leise und fern, aber er hatte sie gehört. Aber nur er, Vater nicht. Am Abend dieses ersten Tages war Rufus bereits diesem Locken gefolgt, in die Nacht hinausgegangen und losgelaufen, umgekehrt, wenn Mutters Stimme leiser wurde, hatte Kurven geschlagen, Kreise im Schnee hinterlassen, bis er irgendwann am Fuß des Sendemastes angekommen war und wusste, dass dies hier der einzige Ort auf der ganzen Welt war, an dem er jemals wieder ein Zuhause haben würde. Er hatte seine Mutter wiedergefunden.

Rufus lehnte mit dem Rücken am Sendemast und unterhielt sich mit seiner Mutter. Jeden Tag wünschte er ihr Guten Morgen, jeden Abend Gute Nacht und wenn er, wie jetzt in den Ferien, reichlich Zeit übrig hatte, erzählte er ihr von dem was er sah, wie sich das neue Leben hier anfühlte, las ihr etwas vor. Vater hatte eine Stelle in Waldshut gefunden, zwar deutlich schlechter bezahlt als der Job in Hamburg, aber er schien damit zufrieden, vor allem als er gesehen hatte, wie sehr sein Sohn diesen Ort hier liebte. Und Rufus liebte Wittlekofen, vor allem aber den Berg im Rücken des Dorfes, tatsächlich.

»Was ich mittags gegessen habe?« Rufus griff in seinen neben ihm liegenden Rucksack. Seine Hand fand die Dose, er nahm sie heraus und sah nach. »Zwei Brote.« Da noch eines in der Dose lag und er sich jeden Morgen drei von ihnen einpackte, musste er also zwei gegessen haben. Er legte die Dose zurück. Rufus sah nach dem Schatten des Sendemastes, welcher bei Sonnenschein wie der Zeiger einer Sonnenuhr im Tagesverlauf über die Wiese und den Jungen zu seinen Füßen wanderte, und wusste fast auf die Minute genau, wie spät es sein musste. In zwei Stunden wird Vater kommen und versuchen, fröhlich zu sein und Rufus wird ihm zuliebe ebenfalls fröhlich sein und über seine Scherze lachen, obwohl es doch eigentlich nichts zu lachen gab. Wäre Mutter noch hier, ja dann … Manchmal, in den Zeitspannen, in denen die Medikamente besser gewirkt oder es den Geistern in Mutters Kopf eben einfach so gefallen hatte, schien es beinahe, als gäbe es die Krankheit gar nicht; es waren schöne, wenn auch viel zu kurze Tage, die Tage, in denen es bei seiner Rückkehr von der Schule im Haus nach Gekochtem gerochen, die Küche geblitzt hatte, als habe soeben erst ein ganzes Bataillon Heinzelmännchen sie verlassen und Mutter schon an der Tür auf Rufus gewartet und ihn in die Arme genommen hatte. Wie eine richtige Mutter hatte sie sich nach seinem Tag erkundigt, zugehört, getröstet, wenn es etwas zu trösten gegeben hatte. Nur bei seinen Schularbeiten hatte sie ihm nie helfen können. Sie hatte nur gelacht, wenn Rufus sie darum gebeten hatte und gefragt, ob er das Schuljahr etwa wiederholen wolle. An dieses Lachen erinnerte er sich oft, Leons Lachen aber wollte und wollte ihm nicht mehr einfallen, es war fast, als habe der große Bruder nie gelacht.

Rufus beschattete die Augen mit einer Hand. Wie schön es sein könnte, wären alle noch zusammen. Eine richtige Familie, in der es wirklich etwas zu lachen gab.

Rechts von dem Jungen, im Westen, wo zwischen Dorf und Waldrand Streuobstwiesen und ein kleiner Sportplatz lagen, sah Rufus zwei Jungen spielen, einer stand im Tor, der andere dribbelte um imaginäre Gegner herum und brach nach einem Treffer in Jubelschreie aus, die, etwas verspätet zwar, bis hierher zu hören waren. Es sah lustig aus, wie der Junge – Rufus tippte auf Alex, den Sitzenbleiber – stumm die Arme in die Höhe riss und einen Augenblick später, wenn er sich vielleicht gerade nach dem Ball bückte oder am Kopf kratzte, Jubel an Rufus’ Ohr drang. Alles kam eben auf die Perspektive an und auf die Entfernung, alles im Leben. Rufus Gedanken kreisten immer wieder auch um dieses Thema, vor allem seit Mutters Tod. Er wünschte sich, er könnte dieses Leben verstehen, das Warum, das Wohin, aber keiner konnte es erklären, nicht einmal Mutter, obwohl die doch jetzt die Schlaueste von allen sein musste. Vater versuchte es gelegentlich, aber wie soll jemand etwas erklären, das er selbst nicht verstand? Meist endete es damit, dass er seinen Sohn auf später vertröstete, jetzt sei er noch zu klein. Klein, was bedeutet klein, was groß?

Vom Dorf her näherten sich drei weitere Kinder dem sogenannten Fußballplatz, eines davon war wohl Kasimir: Haare, die in der Sonne wie eine zu groß geratene Kastanie leuchteten – Kasi, der Einzige hier im Dorf, mit dem man ganz gut auskommen konnte. Er war zwar erst zehn, dafür aber doppelt so schlau wie der ganze Rest hier zusammen, was regelmäßig dazu führte, dass dieser Rest seinen Frust über diese ihm durchaus bewusste Tatsache an dem Jungen ausließ. Auch heute würde es so enden, wusste Rufus. Kasi wird weinen und der Rest darüber lachen und sich gut dabei fühlen. Seltsam kam Rufus nur vor, dass dieser Kasimir trotzdem regelmäßig die Nähe der anderen suchte, mit ihnen spielen, dazugehören wollte. Wahrscheinlich wusste auch er jedes Mal, wie der Tag für ihn enden würde. Ein einziges Mal, das musste so zwei Monate zurückliegen, hatte dieser Junge sich auch hier oben sehen lassen, gerade, als Rufus seiner Mutter einen Strauß Wiesenblumen unter den Mast gelegt hatte. Blumen gab es hier – so etwas hatte Rufus nie zuvor irgendwo gesehen! Ganze Wiesen sahen im Mai und Anfang Juni wie abstrakte Tupfengemälde aus, ein betörendes Durcheinander aus Farbe, Wärme und Summen, welches der Choreografie des Windes folgend die Köpfe bewegte – ein Wellenmeer aus Blüten und Blättern und Halmen, bevor die Bauern dieser jeden Betrachter verwirrenden Schönheit ein Ende bereiteten. Lila, rot, gelb und weiß – alle Farben verschwanden in dicken Ballen, welche anschließend wie Riesengolfbälle auf millimeterkurzen Stoppeln ihren Abtransport erwarteten. Mutter hatte Blumen über alles geliebt und in den Tagen des Wenigerkrankseins hatte es überall im Haus nach ihnen geduftet.

Kasimir hatte an diesem Tag vor zwei Monaten plötzlich neben Rufus gestanden und ihn gefragt, was er hier tue, Rufus ihm daraufhin gesagt, dass ihn das nichts angehe und den Eindringling weggeschickt. Seither hatte niemand mehr gestört und Kasi das Thema auch nie wieder angesprochen, auch die Großen nicht. Diese hatten zwar keine wirkliche Angst vor dem schwarzen Heini, wie sie ihn unter sich nannten, wussten aber aus diversen Erfahrungen, dass Rufus auf Fragen nach seinem Platz unter dem Mast oder nach seiner Mutter umgehend reagierte, meist mit einem Tritt oder einem Schlag in die Magengrube. Also sprachen sie dieses Thema nur unter sich an, was zu seltsamen Theorien führte. Momentan hatten sie sich darauf geeinigt, dass einer wie dieser Schwarzegar keine richtige Mutter haben könne. Viel wahrscheinlicher sei, dass er das Ergebnis eines Genexperimentes sein musste, im Reagenzglas gezeugt. Und unter dem Funkmast musste er nur sitzen, weil all die Strahlen und Wellen dort oben Rufus’ krankes Hirn am Leben erhielten. Alex hatte prophezeit, dass, sollte jemand den Mast einmal abschalten, Rufus sofort wegziehen oder aber mausetot umfallen werde. Bis heute aber funktionierte alles einwandfrei, somit fehlte also noch der zweifelsfreie Beweis für Alex’ Theorie.

Die drei Kinder hatten den Platz erreicht. Kasis Kastanienkopf blieb abseits, während Alex jemand, vielleicht war es seine kleine Schwester, in die Höhe hob. Kasi wird heute Abend weinen.

»Du meinst, ich soll auch da hingehen?« Rufus bog den Kopf nach hinten und sah zur Spitze des Mastes, als hinge da ein Zettel mit der Antwort auf seine Frage. Aber die Antwort hörte er in seinem Kopf. Oder glaubte er nur sie zu hören? Die Antwort lautete wie immer so, dass sie in keiner Weise mit Rufus’ bereits vorhandenen Wünschen und Gedanken kollidierte. Konnte Mutter die Gedanken ihres Sohnes lesen und antwortete aus diesem Grund immer in seinem Sinne? Oder bildete er sich ihre Antworten nur ein und ihre Stimme in seinem Kopf war nichts anderes als ein Hirngespinst? Rufus wusste es nicht und er wollte es auch nicht herausfinden. So wie es war, fand er es schön, denn Mutter war immer in seiner Nähe, heute viel mehr als zu der Zeit, in der sie noch gelebt hatte. Und viel mehr als damals hörte er heute auf das, was sie ihm riet.

»Also gut.«

5   Der Schwur

»Los! Spiel ab, Mann!« Kasimir aber verfolgte andere Pläne. Er rannte, ohne weiter auf seinen Mitspieler zu achten, Richtung Tor und dribbelte dabei einen unsichtbaren Gegner aus. Er wollte es den anderen beweisen, ihnen zeigen, dass auch er Fußball spielen konnte, dass er Ausdauer und Kraft besaß. Was konnte er denn dafür, dass für ihn in der Schule alles ein wenig besser lief als für die anderen? Was konnte er für seinen Namen und die Brille? Und warum zogen sie ihn immer an den schulterlangen Haaren und nannten ihn Mädchen? Sie sollten endlich aufhören, ihn herumzuschubsen wie es ihnen gerade beliebte. Jeder durfte ungestraft Kopfnüsse an ihn verteilen, selbst die Kleinen, vorausgesetzt Alex oder Max hielten sich in der Nähe auf. Aber wenn er ein Tor schoss, wenn er ihnen zeigte, was er konnte … nur noch sechs Meter, fünf, vier …

»Hierher!«

… er trat ein letztes Mal gegen den Ball. Im Tor stand Max. Manchmal konnte Kasimir nicht anders und nannte Max in Gedanken Schwabbelbackeund schämte sich umgehend dafür, obwohl er ganz objektiv betrachtet mit dieser Bezeichnung ins Schwarze traf. Trotzdem wusste er, dass man solche Worte nicht denken sollte und schon gar nicht aussprechen. Er mochte es nicht, wenn sie ihm Brillenschlangeund Mädchennachriefen, wenn er umgekehrt nun Max als Schwabbelbacketitulierte, was unterschied ihn dann noch von den anderen? Vater hatte ihm dies einmal erklärt, was aber jetzt nicht verhinderte, dass, als Kasi schoss, plötzlich ein Gedanke in seinem Kopf saß und sich die Hände rieb, weil er – der Gedanke – ganz genau wusste, dass der Besitzer dieses Kopfes so etwas nicht denken sollte: Wie schön wäre es, wenn der Ball dem drei Jahre Älteren mitten ins Gesicht flöge, in das glänzende, runde Etwas, das Kasi ohne erkennbare Emotionen anstarrte, als könne Max allein mit seinem Blick den Ball parieren. Eigentlich wusste jeder, dass er selbst, Kasimir, einen viel, viel besseren Torwart abgab, aber Max als Feldspieler einzusetzen wäre in etwa so sinnvoll wie Alex beim Mathewettbewerb. Also stand Max jedes Mal zwischen den Pfosten und hoffte, dass die Schüsse irgendwie seinen gut gepolsterten Körper träfen, möglichst ohne sich dabei selbst bewegen zu müssen.

Kasimirs Abschluss zeigte Ambitionen für diese Kategorie Schüsse, hätte es da nicht diesen Maulwurfshügel gegeben. Kurz vor Max setzte der Ball auf, änderte den zweiten Teil seines Fluges radikal und verfehlte das Tor um gut zwei Meter.

»Du bist die größte Pfeife weit und breit, ein Mädchen eben!« Alex trabte heran und gab Kasimir die bereits erwartete Kopfnuss. »Hast du nicht gesehen, dass ich viel besser stand?!« Kasimir schwieg und rieb sich den Hinterkopf. Jedes Wort wäre jetzt sinnlos, das hatten ihn die Erfahrungen der letzten Jahre gelehrt. Wenn er jetzt erklärte, dass er gut geschossen hatte und ohne dieses Häufchen Erde da mit Sicherheit getroffen hätte, gäbe es mehr als nur diese eine Kopfnuss. Also hielt er den Mund, starrte auf seine Füße und hoffte, dass sie ihn nicht wieder Arschlochnannten und vom Spielfeld trieben.

»Lass gut sein.« Rufus stellte sich zwischen Alex und Kasimir, schob den Kleinen ein Stück zur Seite. Alex brummte etwas und brüllte schließlich Max’ kleinen Bruder an, weil der, mit offenem Mund auf die unausweichliche Auseinandersetzung wartend, den Ball noch immer nicht geholt hatte. Wie es aussah durfte Kasi heute bleiben. Ohne den Versager weiter zu beachten nahm Alex dem achtjährigen Timi den endlich geholten Ball aus der Hand und trabte zurück zum Anstoßpunkt.

»Wenn du es jetzt nicht besser machst und wieder nicht abgibst, ritz ich dir ein Herz auf die Stirn, verstanden, Mädchen?« Kasimir nickte.

In den vergangenen Jahren, Jahre, in denen er manchmal – Alex’ Gnade vorausgesetzt – mit ihm und den anderen Kindern des Dorfes spielen durfte, hatte es eigentlich nur eine Handvoll Tage gegeben, an denen Kasimir mit einem Lächeln im Gesicht das gemeinsame Spiel beendet hatte. Dabei handelte es sich durchweg um Tage, an denen Alex gefehlt hatte, vielleicht weil er krank im Bett lag, mit seinen Eltern wegmusste oder wieder einmal Nachhilfe bekam. Ohne ihn ging alles besser, gab es weniger Streit und sogar Max verwandelte sich dann manchmal in ein ganz normales Kind, mit dem man spielen und mit etwas Glück sogar einigermaßen vernünftig reden konnte. Und Max und die anderen Kinder nannten Kasimir an solchen Tagen weder Arschlochnoch Mädchenoder Versager, sondern sprachen ihn ganz normal mit seinem Namen an, was ihn am Anfang dann immer ganz durcheinanderbrachte. Dann mussten sie zwei- oder dreimal Kasiund Kasimirsagen, bis er reagierte.

Zu sechst verbrachten die Kinder die letzten Stunden dieses Ferientages und Kasimir freute sich ehrlich, dass Rufus den Weg von seinem Berg heruntergefunden hatte und, wenn auch recht lustlos, mit ihnen spielte. Kasimir bewunderte den zwei Jahre älteren Jungen. An Tagen wie dem heutigen wünschte er sich, Rufus Freundnennen zu können, doch Rufus besaß nur sehr wenig Interesse an einem Freund. Eigentlich gar keins. Er wirkte immer ein wenig abgehoben, als sei er nur zu Besuch in diesem Leben und wenn er einmal von sich aus den Mund aufmachte, sagte er Sachen, die keiner verstand und über die Kasi manchmal abends im Bett noch nachdachte. Zum Beispiel das mit dem Müll. Rufus meinte, dass die Menschen diesen Planeten zerstören und sich selbst am Ende mit, was nicht das Schlechteste sei. Alex und Max hatten nur gelacht, sich an den Kopf getippt und das Thema gewechselt. Kasimir aber hatte diese Worte mit nach Hause genommen und darüber nachgedacht. Und war zu dem Schluss gekommen, dass Rufus vielleicht ein klein wenig recht haben könnte. Überall gab es Müll, oft nahm man ihn gar nicht mehr wahr. Im Wald konnte man an den abgelegensten Stellen Plastikreste finden. Oder Flaschen und Konservenbüchsen. Das stimmte. Aber warum sollte es gut sein, wenn es keine Menschen mehr gab? Wer kümmerte sich dann um alles? Gern hätte Kasi sich darüber noch länger mit Rufus unterhalten, aber normalerweise packte der, wenn ihn jemand ansprach und er keine Lust auf eine Antwort hatte, einfach seinen schwarzen Rucksack und verschwand, entweder nach Hause oder, wahrscheinlicher, hoch auf seinen Berg. Aber heute hatte er den Weg herabgefunden und Kasimir freute sich darüber, was bedeuteten da noch Alex’ Stänkereien?

Max blockierte das Tor, Alex kommandierte herum, forderte ständig den Ball und gab, wenn er vorbeischoss, den anderen die Schuld. Timi, Max’ Bruder, spielte Balljunge und Leni saß am Spielfeldrand und interessierte sich scheinbar viel mehr für ihre Puppe als für das Spiel der großen Jungs. Anhängselnannte ihr großer Bruder sie meist und, wenn sie ihm besonders auf die Nerven ging, überflüssiges Anhängsel, was Leni so sicher wie das Amen in der Kirche zum Weinen brachte. Keiner wollte ein Anhängsel sein, am wenigsten, wenn man gerade erst fünf Jahre alt war. Heute aber stellte sie keine dummen Fragen, saß im Schatten der Birke, an der ihr Bruder sie mit einem langen Seil angebunden hatte, und spielte in dem so geschaffenen Radius mit ihrer Puppe.

»Pause!« Mitten in Alex’ Angriff hinein räumte Max seinen Platz zwischen den Pfosten, Alex’ Protestschreie prallten von ihm ab wie die meisten der heutigen Torschüsse. Max setzte sich neben Leni ins Gras und trank mit der Selbstverständlichkeit des Stärkeren aus Rufus’ Flasche.

»Fragen kannst du wohl nicht?« Max ignorierte Rufus’ Worte, trank weiter. Er trank und betrachtete dabei über die Flasche hinweg den Zugezogenen, den Besitzer der Flasche, die er gerade leerte. Dass Rufus nichts unternehmen konnte, außer den Dieb aus dunklen Augen heraus mit Pfeilen zu bombardieren, machte die Sache noch reizvoller. Das Wasser schmeckte so besonders gut und erst, als er seinen Durst gelöscht und kaum mehr als zwei, drei kleine Schlucke übrig gelassen hatte, setzte er ab. Rufus riss ihm die Flasche aus der Hand, sie kippte um und was eben noch Rufus gehörte, ergoss sich ins Gras.

»Selber schuld«, lautete Max’ Kommentar. Rufus packte die Flasche und richtete sich auf. Hand und Plastikflasche zitterten. Nur zu gern hätte er sich auf den Älteren gestürzt, es ihm heimgezahlt. Aber er wusste, dass er in einem direkten Kampf keine Chance hatte. Man muss warten können, warten, auch wenn es das Letzte ist, was man gerade tun möchte. Rufus presste die Lippen aufeinander.

»Hier, kannst was von mir haben.« Kasimir streckte Rufus die eigene Flasche hin und als der nicht gleich reagierte, stieß er ihn an. »Hier.«

»Wollt ihr mal was richtig Tolles sehen?« Alex schob Rufus und Kasimir auseinander und fiel neben seinem Freund ins Gras. Hinter ihm spielte die kleine Schwester. Sie hatte ihrer Puppe ein Zelt aus Zweigen und Blättern gebaut mit einem Eingang, vorn, und einem Ausgang auf der gegenüberliegenden Seite. In Lenis Puppenwelt gefangen spazierte das Spielzeug an der Hand des Mädchens und verschwand schließlich im neuen Zuhause. Alex streckte sich nach hinten und zog etwas aus einem Versteck im Gras. Er vergewisserte sich noch einmal, dass die Schwester sich auf ihre Angelegenheiten konzentrierte und legte schließlich, beinahe feierlich, die Lanzenspitze vor seine gekreuzten Beine.

Alex und Max hatten in den vergangenen Stunden mehr als eine Hypothese, die Bedeutung des von Alex entdeckten Raumes betreffend, entwickelt: Es könnte sich um ein Verlies handeln, mit etwas Glück, so Alex, könnte man vielleicht noch an die Wände gekettete Skelette finden. Max plädierte für eine Schatzkammer oder doch wenigstens den Zugang zu einer solchen.

»Was ist das?« Timi setzte sich auf den Ball, stützte den Kopf in beide Hände und sah abwechselnd auf das verrostete Eisending und Alex. Max hatte während des Spiels schon so komische Andeutungen gemacht, irgendwas von Geheimnisund Schatz. Was jetzt aber da im Gras lag, sah weder nach dem einen noch nach dem anderen aus, eher wie etwas, das ein Schrottsammler verloren hatte. Timi streckte die Hand nach dem Ding aus, Alex stieß sie zurück.

»Aber ihr dürft niemandem etwas verraten, auf keinen Fall unseren Eltern, versprecht ihr das?«

»Willst du die da auch einweihen?« Max deutete auf Rufus und Kasimir. Beide standen noch etwas abseits, hörten zu, wussten aber nicht, ob Alex tatsächlich auch sie meinte. »Das Mädchen und der da, die werden doch niemals die Klappen halten. Dann können wir auch gleich ein Plakat unten an der Kirche aufhängen.« Alex dachte über die Worte des Freundes nach, aber alles in ihm brannte darauf, die Entdeckung mit jemandem zu teilen und sei es auch nur mit Max’ kleinem Bruder, dem Mädchen und dem Schwarzen. Was soll’s, Alex wollte reden und wenn die anderen nicht ihre Klappen hielten, dann gnade ihnen Gott.

»Könnt ihr den Mund halten?« Alex’ Augen musterten nacheinander Timi, Rufus und auch Kasimir, der sein Glück gar nicht fassen konnte. Sollte er wirklich dazugehören? Er nickte und auch Timi nickte, nur Rufus schien das ganze Theater, wie er Alex’ Geheimniskrämerei nannte, noch nicht richtig einordnen zu können. Kinderkram, dachte er und wollte schon gehen. Aber als Einziger hatte er den Fund als das identifiziert, was er war und Kinderkramund Theaterhin oder her, es interessierte ihn. »Was ist mit dir?« Auch Rufus nickte schließlich.

»Ihr müsst es schwören«, sagte Max, trat gegen den Ball, auf dem sein Bruder saß und Timi fiel auf den Rücken. Gelächter.

»Schluss jetzt«, schrie Alex, das Gelächter erstarb. Alex angelte sich den Ball, legte ihn in die Mitte und als Erster seine Hand darauf. »Aber Max hat recht, ihr müsst schwören, sonst erfahrt ihr nichts. Los, eure Hände. Jeder legt seine Rechte auf den Ball. Du auch, Max.« Max kniete sich wie die anderen um den Ball, ein Kreis aus fünf Jungen. »Schwört, dass ihr niemals etwas von dem weitererzählt, was ich euch jetzt verrate.«

»Ich schwöre.«

»Ich auch.«

»Ja. Ich schwöre.«

»Rufus, was ist mit dir?«

»Meinetwegen. Ich schwöre.« Und, etwas leiser: »Kinderkram.«

»Von wegen Kinderkram!« Max trat in Rufus’ Richtung, verfehlte ihn aber.

»