Apfelzeit am Deich - Frieda Lamberti - E-Book

Apfelzeit am Deich E-Book

Frieda Lamberti

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Beschreibung

Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm …

Merle war zwölf, als ihre Eltern sich trennten – ein Bruch, der sie bis heute prägt. Jahre später, lebt sie als Flugbegleiterin ihr eigenes Leben und hat kaum noch Kontakt zu ihren Verwandten. Nur ihre Großmutter Grete, die auf einem Apfelhof im Alten Land wohnt, bleibt ihr nah. Doch Grete ist alt geworden, und Merle sieht sich gezwungen, ihre Angehörigen dazu zu bewegen, sich um die alte Dame zu kümmern. Doch sie alle sind zu sehr mit ihren eigenen Problemen beschäftigt.

Als ihr Partner sich ein gemeinsames Zuhause wünscht, brechenalte Ängste und ungelöste Konflikte in Merle auf. Ein Besuch bei Grete zeigt ihr, wie wenig sie von den Geheimnissen ihrer Familie weiß.

Grete erkennt, dass nur sie die zerrissenen Fäden wieder verknüpfen kann – bevor es endgültig zu spät ist.

Drei Generationen, ein Apfelhof und die Hoffnung auf Vergebung. Wird Grete es schaffen, ihre Liebsten wieder zusammenzuführen?

Der neue Roman von Erfolgsautorin Frieda Lamberti, der wieder mitten ins Herz geht mit wunderschönem Setting im Alten Land zur Apfelzeit!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 315

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Zum Buch:

»Für eine Weile schweigen wir. Der Wind trägt das leise Rauschen der Wellen zu uns herüber, und die Sonne wirft lange Schatten über den Deich. ›Wird es nicht langsam Zeit für eine Aussöhnung? Ich sehe doch, wie sehr du darunter leidest.‹

Ich wende den Blick nicht ab. Meine Stimme ist leise, fast resigniert, als ich antworte. ›Ich fürchte, dafür ist es zu spät.‹

Herta schüttelt den Kopf. ›Zu spät ist es erst, wenn du vorher den Löffel abgibst.‹

Ein schwaches Lächeln huscht über meine Lippen. ›Keine Sorge, das habe ich so bald nicht vor.‹«

Frieda Lamberti nimmt uns in ihrem neuen Roman mit ins Alte Land in die Elbmarsch, wo die Apfelbäume hinter dem Deich ihren Duft verströmen. Eine einfühlsame Geschichte über die Kraft der Familie und den Zauber der Versöhnung.

Zur Autorin:

Frieda Lamberti ist das Pseudonym einer gebürtigen Hamburgerin. Die Autorin lebt gemeinsam mit ihrer Golden-Retriever-Hündin Lotte in der Lüneburger Heide. Frieda Lamberti ist erst spät in ihrem Leben zum Schreiben gekommen und veröffentlichte ihr Debüt mit 50 Jahren. Inzwischen hat sie bereits mehr als 50 Romane erfolgreich veröffentlicht.

Frieda Lamberti

Apfelzeit am Deich

Roman

HarperCollins

Originalausgabe

© 2025 HarperCollins in der

Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH

Valentinskamp 24 · 20354 Hamburg

[email protected]

Covergestaltung von zero-media.net, München

Coverabbildung von Yolande de Kort / Trevillion | Panther Media GmbH / Alamy Stock Foto | Oleghz Hz, Westend61 / Getty Images

E-Book Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783749908707

www.harpercollins.de

Jegliche nicht autorisierte Verwendung dieser Publikation zum Training generativer Technologien der künstlichen Intelligenz (KI) ist ausdrücklich verboten. Die Rechte der Urheberin und des Verlags bleiben davon unberührt.

Merle: Über den Wolken

Merle

Über den Wolken

Ich stehe neben meiner Kollegin in der engen Pantry des Flugzeugs, nur durch eine dünne Tür vom Passagierbereich getrennt. Es ist vier Uhr morgens, und die meisten Reisenden schlafen. Auch ich spüre die Müdigkeit in meinen Beinen, verursacht durch das lange Stehen und Gehen auf diesem Langstreckenflug. Routiniert schenke ich zwei Becher frischen Kaffee ein, als sich die Tür zum Cockpit leise öffnet. Der Pilot tritt heraus. Falk wirkt wie immer makellos. Seine Uniform sitzt perfekt. Freundlich nickt er uns zu, doch sein Blick bleibt an mir haften.

»Ich hätte auch gern einen«, bittet er. Die Chefstewardess macht unauffällig Platz und lässt uns allein. Als ich ihm den Kaffee reiche, berühren sich unsere Finger flüchtig. Ein Funke springt über, und Falk nutzt den Moment, um sich zu mir zu beugen und mich sanft zu küssen. Seine Lippen sind warm und vertraut.

»Bist du müde, Merle?«, fragt er leise und streicht mir sanft über das Gesicht, eine Geste, die er sich nur erlaubt, wenn wir unbeobachtet sind.

Ich nicke und strecke mich, um die Anspannung in meinen Schultern zu lösen.

»In zwei Stunden haben wir es geschafft«, sagt er aufmunternd und nippt am Kaffeebecher. »Dann lassen wir es uns gut gehen.« Sein Tonfall klingt verheißungsvoll, seine Augen funkeln verführerisch.

Ich schüttle den Kopf. »Daraus wird leider nichts«, murmele ich und konzentriere mich wieder auf meine Arbeit. Während ich nach einem Fläschchen Gin greife und einen Drink für einen Passagier in der Businessklasse vorbereite, vermeide ich es, ihn direkt anzusehen. »Ich kann die freien Tage nicht bei dir in Frankfurt bleiben, sondern muss direkt nach der Landung weiter nach Hamburg fliegen. Paul feiert heute seinen Dreißigsten.«

Falks Gesichtsausdruck wird ernst, seine Enttäuschung ist nicht zu übersehen. »Aber du weißt, dass wir morgen einen Besichtigungstermin haben«, erwidert er mit angespannter Stimme.

Ich halte in meiner Bewegung inne und seufze tief. »Paul ist mein Bruder. Das geht doch wohl vor. Der Termin mit dem Makler wird sich gewiss verlegen lassen.« Mein Tonfall lässt keinen Raum für Diskussionen. Geschickt balanciere ich das Tablett mit dem Drink an ihm vorbei.

Als ich kurze Zeit später zurückkehre, ist Falk bereits wieder im Cockpit verschwunden. Anspannung liegt noch in der Luft, als meine Kollegin mich fragend ansieht. »Ärger?«, möchte sie wissen, doch ich bin nicht bereit, sie einzuweihen. Ich habe in den letzten Jahren gelernt, Privates von der Arbeit strikt zu trennen, besonders wenn es um Falk geht. Die Gerüchte, die damals hinter meinem Rücken kursierten, als unsere Verbindung öffentlich wurde, hallen noch immer in meinem Kopf nach. Es hieß, wir hätten keine Zukunft, dass Falk, wie viele Piloten, nur an einer unverbindlichen Affäre interessiert sei und in mir nur ein Abenteuer suche. Doch entgegen aller Erwartungen war es mehr als eine Episode. Unsere Beziehung hat Bestand. Zwei Jahre sind vergangen, und Falk drängt zunehmend darauf, einen festen Platz für unsere Zukunft zu finden. Er wünscht sich eine Wohnung in Frankfurt, ein gemeinsames Leben abseits der Hotels und des ständigen Unterwegsseins. Aber ich spüre, dass ich noch nicht bereit bin, diesen Schritt zu gehen.

»Nein, es ist alles in Ordnung«, antworte ich schließlich, setze mich und beginne meine brennenden Waden zu massieren.

Die Zeit scheint zäh zu vergehen, als hätte sie sich gegen den Sonnenaufgang verschworen. In mir wächst die Erkenntnis, dass nicht nur die Müdigkeit mich niederdrückt. Ich fürchte den Moment, der schon bald kommen wird, in dem ich mich entscheiden muss. Für die Freiheit oder die Sicherheit. Für oder gegen Falk. Aber in diesem Augenblick weigere ich mich, darüber nachzudenken. Aktuell dominieren die Enge der Kabine, der Duft von Kaffee, das gleichmäßige Brummen der Triebwerke und der schlaflose Passagier in Reihe drei, der am Gang sitzt und zum x-ten Mal den Rufknopf betätigt, um sich Nachschub zu bestellen.

»Meine Güte, wie viele Gin Tonic verträgt dieser Mann?«, murmele ich, erhebe mich und widme mich meinem dauerdurstigen Fluggast.

Neunzig Minuten später landet der Flieger planmäßig in Frankfurt. Nachdem alle Passagiere ausgestiegen sind, verlässt auch die Crew das Flugzeug.

Ich folge dem Tross in gebotenem Abstand, um zu vermeiden, dass Falk mir im letzten Moment doch noch eine Szene macht. Ich ahne, mit welchen Vorhaltungen er mich konfrontieren würde. »Dass dein Bruder an diesem Wochenende Geburtstag hat, wusstest du doch lange vorher.«

Sollte dieser Fall eintreten, habe ich mir bereits eine passende Antwort zurechtgelegt. »Aber dass er groß feiert, habe ich erst gestern erfahren.«

Eine Rechtfertigung ist gar nicht nötig. Falk würdigt mich keines Blickes, während ich hektisch auf die Uhr schaue, um zu überprüfen, ob ich es noch rechtzeitig zum weit entlegenen Gate schaffe, um den Flug nach Hamburg zu erreichen.

Es gelingt mir. Ich habe sogar noch Zeit, um vor dem Boarding bei Paul anzurufen.

»Happy Birthday«, stimme ich singend an, um ihn gleich darauf zu fragen, ob er mich mit dem Auto abholen könne. »Ich lande um Viertel nach neun.«

Mein jüngerer Bruder klingt verschlafen. Offensichtlich hat er bereits in seinen Geburtstag hineingefeiert, denn er gibt vor, noch im Bett zu liegen. »Echt? Schon so früh?«

Ich werde ungeduldig. »Was ist denn nun? Ja oder nein?«

»Ich fürchte, ich darf noch nicht fahren. Bestimmt habe ich noch zu viel Promille. Aber ich könnte Mama fragen. Sie ist schon wach und klappert mit Geschirr in der Küche. Ich hoffe, sie hat nicht wieder ihren obligatorischen Geburtstagskuchen gebacken. Du weißt schon, ihren gefürchteten Gugelhupf, bei dem die Rosinen wie Matsch auf dem Boden kleben.«

Ich schüttle den Kopf. Nicht weil mein Bruder noch immer im Hotel Mama wohnt, sondern weil ich auf keinen Fall von meiner Mutter abgeholt werden will. Abgesehen davon, dass Wiebke Börnsen nicht backen kann, ist sie die mieseste und gefährlichste Autofahrerin der Stadt, wenn nicht sogar des ganzen Landes. Nie schaut sie während der Fahrt in den Rückspiegel, es sei denn, sie benutzt ihren kirschroten Lippenstift. Aber das macht sie nicht etwa beim Halten vor einer Ampel, sondern bei vollem Tempo. Kirschrot ist Wiebkes Markenzeichen. Sie verfügt über zahlreiche Blusen, Blazer und Hosen in dieser Farbe. Noch immer hält sie sich für die wahre Lady in Red und ist der festen Überzeugung, dass sie es war, die Chris de Burgh als Inspiration für seinen Hit diente, als sie im Jahr 1989 zur Altländer Blütenkönigin gekürt wurde. Jeder, der über ein Mindestmaß an Verstand verfügt, weiß, dass das nicht stimmen kann, zumal der Evergreen erschienen ist, als Wiebke noch die Schulbank drückte. Aber da sich kaum jemand traut, sich mit ihr anzulegen, widerspricht keiner.

»Auf gar keinen Fall! Schick bloß nicht Mutter her! Ich nehme den Bus.«

»Ich kann auch Klaus fragen.«

Die Rede ist von Wiebkes langjährigem Lebensgefährten, meinem Stiefvater, den ich für einen absoluten Fehlgriff halte. In zwanzig Jahren ist es mir nicht gelungen, mit ihm warm zu werden. Für mich steht fest, dass Klaus uns als notwendiges Übel ansah, das er nur duldete, wenn wir uns seinen Regeln unterwarfen. In meinen Augen war und ist er ein Drönbüddel, ein Dösbaddel. Kurzum: ein pedantischer Langweiler. Mit meinem leiblichen Vater, Hauke Börnsen, kann er es nicht aufnehmen. Hauke würde diese Null mit links in die Tasche stecken. Aber ich verbiete mir jeden Gedanken an meinen Erzeuger, weil ich auch auf ihn nicht gut zu sprechen bin. Ich habe noch nicht den Flieger nach Hamburg bestiegen und schon die Nase voll von meiner Familie.

»Untersteh dich! Viel zu lange habe ich mir von Klaus anhören müssen, dass er nicht unser Privatchauffeur ist. Es bleibt dabei, ich nehme den Bus.«

In meiner akkuraten Flugbegleiterinnenuniform trete ich um halb zehn durch die Tür der Ankunftshalle. Schnellen Schrittes will ich den Terminal verlassen, als jemand meinen Namen ruft.

»Merle Börnsen, nicht so schnell. Warte doch!«, ruft ein langhaariger Typ mir hinterher. »Paul hat mich gebeten, dich abzuholen.«

Ich drehe mich um und unterziehe ihn einer eingehenden Musterung. Was seinen Look betrifft, könnte es sich tatsächlich um einen von Pauls Freunden handeln. Mein Bruder und seine Kumpels legen keinen Wert auf ein gepflegtes Äußeres. Statt ihr Geld in stilvolle Kleidung zu investieren, verbringen sie ihre Zeit lieber im Fitnessstudio, um ihre Muskeln aufzupumpen. Dabei sollten sie lieber ihr Gehirn trainieren, wozu ich ihnen dringend raten würde.

»Und wer bist du?«, erkundige ich mich und umgreife fest den Griff meines Trolleys, um nicht in die Verlegenheit zu kommen, ihm die Hand reichen zu müssen.

»Ich bin Steve, aber du kannst mich auch wie alle meine Follower King Steve nennen.«

Ich pruste erheitert aus. »Ich bleibe bei Steve, oder sollte ich vielleicht doch besser Steffen oder Stefan sagen?«

»Nein, ich heiße wirklich so.«

»Warum? Du stammst gewiss nicht aus England oder aus den Staaten. Dein breiter Hamburger Slang offenbart deine wahre Herkunft.«

»Ganz richtig, ich bin gebürtiger Hamburger aus Bramfeld.«

Ich nehme mir vor, kein weiteres Wort mit diesem Freak zu wechseln und folge ihm stumm zu seinem Wagen. Erst als er die Beifahrertür öffnet, platzt es entsetzt aus mir heraus. »Igitt! Was ist das bloß für eine Siffhöhle? Wohnst du in dem Kombi? Hier stinkt es wie im Pumastall«, beschwere ich mich, während ich mit dem Armrücken versuche, Zigarettenschachteln und leere Papiertüten eines bekannten Fast-Food-Riesen vom Sitz zu schieben.

»Das ist Pauls Wagen. Wenn er dir nicht sauber genug ist, beschwer dich nicht bei mir, sondern bei ihm.«

»Mein Bruder ist ein Schwein«, schimpfe ich und greife mit spitzen Fingern zum speckigen Gurt, um mich anzuschnallen.

So lange es mir möglich ist, halte ich den Atem an, doch bereits im Krohnstiegtunnel, der unter der Startbahn verläuft, japse ich nach Luft und öffne das Fenster.

»Du bist wohl sehr geruchsempfindlich«, amüsiert sich Steve.

Ich reagiere gereizt. »Dir scheint dieser Gestank nichts auszumachen, mir aber schon.«

Es folgt ein lautes Lachen. »Paul hat mich schon vor dir gewarnt, aber du bist eine noch größere Diva, als er dich beschrieben hat.«

Ich bin außer mir. Mein geliebter Bruder hat mich als Diva bezeichnet? Nach all den Jahren, in denen ich fest zu ihm stand, stets meine schützende Hand über ihn gelegt und ihn vor anderen Rüpeln beschützt habe, betitelt er mich jetzt als Diva. Das wird er mir büßen müssen. In spätestens zehn Minuten werde ich ihn mir vornehmen, und dann gnade ihm Gott.

Es dauert nicht zehn, sondern zwanzig Minuten, bis Steve mich vor unserem Elternhaus absetzt. Mit einem kurzen »Danke für den Shuttle« verabschiede ich mich und flitze mit meinem Trolley in der Hand zur Haustür. Ich klingele, bis Wiebke mir in ihrem roten Morgenmantel öffnet.

»Oh, wie schön. Du bist schon da«, flötet meine Mutter und drückt mich fest an sich. In der innigen Umarmung nehme ich den vertrauten Duft ihres Parfüms wahr, das sie trägt, seit ich denken kann. Der schwere blumige Geruch weckt Erinnerungen in mir. Einen Moment fühle ich mich in meine Kindheit zurückversetzt, in die Zeit, als die Börnsens noch eine heile Familie waren und alle glücklich unter einem Dach lebten.

»Schatz, du bist blass. War in Kalifornien kein schönes Wetter?«

»Meine Blässe ist meiner Müdigkeit geschuldet. Ich würde gern ein wenig schlafen. Aber vorher möchte ich Paul gratulieren. Ist er oben in seinem Zimmer?«

Ohne ihre Antwort abzuwarten, sprinte ich die Treppe hinauf, reiße die Tür auf, werfe mich neben meinen Bruder aufs Bett und kitzle ihn. »Du betitelst mich bei deinen sogenannten Freunden als Diva? Warum behauptest du so etwas? Nun sag schon, du Spinner!«

»Hör sofort auf, Merle! Du weißt, dass ich es nicht leiden kann, wenn du mich kitzelst«, wimmert er, dreht sich wie ein Ringer abrupt um und nimmt mich in den Schwitzkasten.

»Alles Gute zum Geburtstag, Lieblingsbruder«, quietsche ich und versuche ihm in dieser Position einen Kuss auf die Wange zu geben. Doch gleich darauf wende ich mein Gesicht angewidert ab. »Puh, du stinkst noch schlimmer als deine Karre. Putz dir die Zähne!«

Mein Bruder steht langsam auf, als hätte er es nicht eilig, meinem Befehl nachzukommen. Während er sich streckt, fällt mein Blick auf seinen nackten Oberkörper, und ich entdecke ein neues Tattoo. Ein Feuer speiender Drache schlängelt sich von seinem Rücken bis hinauf zu seinem Oberarm, die Details gestochen scharf und in lebendigen Farben. Einen Moment starre ich darauf, unfähig, meinen Blick abzuwenden. Der Drache wirkt fast lebendig, als würde er gleich aus Pauls Haut herausbrechen und durch den Raum fliegen.

»Seit wann hast du das?«

»Schon ein paar Wochen«, antwortet er gleichgültig, als wäre es keine große Sache.

Ich habe nie verstanden, warum sich jemand so etwas antut. Ein Tattoo ist mehr als nur Tinte unter der Haut – es ist ein Bekenntnis, eine Entscheidung für immer. Und mit »für immer« habe ich bekanntlich meine Schwierigkeiten. Nicht nur wegen meines Berufs, in dem Tätowierungen ein No-Go sind, sondern auch, weil der Gedanke an die Schmerzen mir Unbehagen bereitet.

»Falk lässt dir liebe Grüße ausrichten«, sage ich plötzlich. Es ist eine faustdicke Lüge, aber sie kommt mir leicht über die Lippen.

Paul sieht mich skeptisch an. »Weshalb ist er nicht mitgekommen?«, fragt er, und seine Augen verengen sich leicht, als würde er versuchen, die Wahrheit hinter meinen Worten zu ergründen.

»Er hat Dringendes zu erledigen«, erwidere ich schnell, ohne ihn direkt anzusehen. Warum habe ich Falk überhaupt erwähnt? Schon in dem Moment, als sein Name über meine Lippen kam, wusste ich, dass es ein Fehler war. Paul und Falk könnten unterschiedlicher nicht sein. Sie sind wie Feuer und Wasser, zwei Pole, die sich gegenseitig abstoßen, statt sich anzuziehen.

Zwar haben sie sich schon einige Male gesehen, aber der Funke ist einfach nie übergesprungen. In den Augen meines Bruders ist Falk ein arroganter Spießer, der zu viel Wert auf Regeln und Ordnung legt. Paul, mit seinem freien Geist und seiner rebellischen Ader, konnte nie nachvollziehen, warum ich mich mit jemandem wie Falk abgebe.

Auf der anderen Seite hält Falk meinen Bruder für einen unreifen Bengel, jemanden, der sich ständig in irgendwelche Abenteuer stürzt, ohne an die Konsequenzen zu denken. Für Falk ist Paul das Paradebeispiel für Unverantwortlichkeit. Kurzum: Die beiden mögen sich einfach nicht. Auch aus diesem Grund bin ich heute allein angereist.

Ich folge meinem Bruder ins Bad, setze mich auf den Wannenrand und sehe dabei zu, wie er die Tube Zahnpasta öffnet. »Du weißt, dass der Bastard heute auch Geburtstag hat und volljährig geworden ist. Hauke hat tatsächlich die Frechheit besessen, mich zu seiner Feier einzuladen.«

Ich erstarre augenblicklich. Für mich fühlt es sich an, als hätte mir jemand hinterrücks die Hände um den Hals gelegt und fest zugedrückt. »Ihr habt Kontakt? Seit wann?«, krächze ich.

»Vater hat es in die WhatsApp-Gruppe geschrieben, aus der du ja bekanntlich ausgetreten bist.«

»Und? Hast du etwa vor hinzugehen?«

»Für wie blöd hältst du mich? Heute findet meine Fete statt. Kommst du später mit zum Rathaus? Dort soll ich fegen. Angeblich ist das ein Brauch, den meine Jungs organisiert haben. Wer mit dreißig noch unverheiratet ist, muss die Treppe kehren, bis ihn eine Jungfrau mit einem Kuss erlöst.«

»Klar komme ich mit. Den Spaß lasse ich mir doch nicht entgehen. Wann soll es denn losgehen?«

Paul antwortet, wie es seiner Art entspricht. Er zuckt mit den Achseln. Mal wieder hat er keine Ahnung. »Ich weiß nicht.«

»Kannst du nicht einmal auf eine simple Frage konkret antworten?«

Während er sich beleidigt abwendet und murmelt, dass ich ihn nicht nerven soll, klopft es an die Zimmertür. Ohne ein »Herein« abzuwarten, betritt Wiebke das Zimmer. »Ist es nicht wunderbar, dass wir drei heute zusammen sind? Kommt doch runter. Frühstück ist fertig.«

Ich erteile meiner Mutter sofort eine Absage. »Ich hatte bereits literweise Kaffee und möchte nicht frühstücken, sondern mich lieber ein bis zwei Stunden aufs Ohr legen.«

Sie bringt Verständnis auf. »Natürlich, Mäuschen. Ich habe das Zimmer bereits für dich hergerichtet.«

Der hergerichtete Raum war früher mein Kinderzimmer, das Wiebke zwischenzeitlich in ihr persönliches Hobbyzimmer umfunktioniert hat. Dorthin zieht sie sich zurück, um in aller Stille zu werkeln. Sie näht, strickt, häkelt und stickt.

Ich stelle ihr die Frage, die mich seit geraumer Zeit beschäftigt. »Warum tust du das hier oben? Du könntest doch auch unten im Wohnzimmer handarbeiten.«

»Stimmt, aber hier bin ich ungestört.«

»Wer außer Klaus sollte dich stören?«

Wiebke versucht ein Lächeln, doch es wirkt gequält. »Komm in mein Alter, dann wirst du mich verstehen.«

Dass es in ihrer Beziehung zu Klaus kriselt, ist mir schon bei meinem letzten Besuch aufgefallen. Jetzt wäre der richtige Moment, um ein aufrichtiges Mutter-Tochter-Gespräch zu führen. Doch ich bin zu erschöpft, um nachzuhaken. Auch Wiebke scheint den Zeitpunkt für unpassend zu halten. »Lass uns ein anderes Mal quatschen. Ruh dich jetzt aus, du siehst wirklich abgekämpft aus.«

Bevor ich mir die wohlverdiente Bettruhe gönne, äußere ich noch eine Bitte. »Darf ich deine Waschmaschine benutzen?«

Selbstverständlich hat sie nichts dagegen, bietet sogar an, das Waschen für mich zu erledigen. Doch ich lehne das freundlich gemeinte Angebot ab. »Ich mache das lieber selbst«, antworte ich und öffne meinen Koffer. Mit einem gezielten Griff entnehme ich einen fest verschlossenen Plastikbeutel, in dem sich meine Schmutzwäsche befindet, und flitze die Treppe hinunter.

Auf dem Weg zum Hauswirtschaftsraum durchquere ich die Küche und treffe auf Klaus, der am Tisch vor dem Fenster sitzt und die Sonntagszeitung liest.

»Na, alles klar?«, frage ich und warte darauf, dass er die Zeitung beiseitelegt und mich ansieht.

Ohne aufzublicken, knurrt er: »Alles bestens.«

Kopfschüttelnd verlasse ich die Küche. »Was für ein Töffel«, murmele ich, während ich Shirts und Slips ins Bullauge der Maschine stecke.

Wieder im Obergeschoss angekommen, ist es endlich so weit, ich kann mich meiner strengen Uniform entledigen und in einen bequemen Pyjama schlüpfen. Ich öffne den Schrank, in dem ich einige Klamotten aufbewahre, um immer saubere Wechselkleidung zu haben. Sowohl bei Mutter als auch bei Omi bewahre ich Jeans, Jogginghosen, Sweatshirts, Wollpullover, Strickjacken und Blusen auf. Aber wo ist mein Schlafanzug? »Mama!«, rufe ich laut durchs Haus.

Wiebke erscheint Sekunden später. »Wenn er nicht hier ist, wirst du ihn wohl bei Oma Grete gelassen haben.«

Ich denke einen Moment angestrengt nach. »Stimmt, du hast recht. Ich habe ihn bei meinem letzten Besuch im Alten Land vergessen.«

»Möchtest du eines meiner Nachthemden anziehen?«

»Nicht nötig, Mama. Es geht auch ohne.«

Hauke: Juniblues

Hauke

Juniblues

Frisch geduscht stehe ich im Badezimmer und betrachte mich kritisch im Spiegel. Die grauen Strähnen, die mir nach Ansicht meiner Frau Beate einen reifen und würdevollen Ausdruck verleihen, sind im nassen Haar kaum zu erkennen. Ein winziger Klecks Rasierschaum klebt noch an meinem Kinn. Ich versuche ihn mit dem Handrücken wegzuwischen, öffne die Tür und trete ins Schlafzimmer, um mich anzuziehen.

Als ich Minuten später ins Esszimmer komme, halte ich inne und beobachte Beate, die mit sichtlicher Freude den Raum mit bunten Ballons, Girlanden und Luftschlangen schmückt. Heute ist unser Sohn Tim achtzehn Jahre alt geworden und damit volljährig. Ein Meilenstein, über den ich mich eigentlich freuen sollte. Doch tief in mir nagt der Gedanke an einen anderen Geburtstag, der heute ebenfalls stattfindet – der meines Sohnes Paul aus erster Ehe. Die Beziehung zu meinen erstgeborenen Kindern ist längst erkaltet, der Kontakt fast völlig abgebrochen. Dieser Verlust schmerzt mich besonders an einem Tag wie diesem.

»Schlafen Tim und Lara noch?«, frage ich schließlich und bemühe mich, meine Stimme locker klingen zu lassen. Beate schaut auf, ihre Augen leuchten vor Vorfreude. Mit einem vertrauten Lächeln kommt sie auf mich zu und wischt mir sanft den weißen Fleck vom Gesicht. »Ja, ich wollte sie erst wecken, wenn alles fertig ist.« Zufrieden betrachtet sie das festlich geschmückte Zimmer und schlägt vor, einen schnellen Espresso auf der Terrasse zu trinken, bevor sich alle zum gemeinsamen Frühstück am Esstisch einfinden.

Ich nicke zustimmend und trete allein hinaus in den Garten. Die warme Morgensonne empfängt mich, der gepflegte Rasen strahlt in sattem Grün, und die blühenden Pflanzen in den Blumenkübeln leuchten in bunten Farben. Es ist ein Ort der Ruhe, den meine Frau mit viel Leidenschaft und Sorgfalt geschaffen hat, doch heute kann ich dieses Refugium nicht richtig genießen.

Beate bringt zwei dampfende Tassen nach draußen und setzt sich neben mich auf die Bank. »Ich kann es kaum erwarten, Tim unser Geschenk zu zeigen«, flüstert sie aufgeregt, während mein Blick zum hinteren Teil des Gartens schweift. Dort wachsen zwei stattliche Obstbäume. Zur Geburt eines Kindes einen Apfelbaum zu pflanzen, hat eine lange Tradition in meiner Familie. Schon mein Vater tat das, später setzte ich den Brauch auf dem elterlichen Hof im Alten Land fort und pflanzte für Merle die Sorte Elstar, für Paul wählte ich einen Boskoop.

Wie jedes Jahr an diesem besonderen Tag fühle ich mich hin- und hergerissen zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Freude und Trauer. Beate bemerkt nichts von meinem inneren Konflikt. Erst als sie sieht, dass ich gebannt auf mein Handy starre, schaut sie mich fragend an.

»Ich erreiche nur Pauls Mailbox.«

»Es ist früh. Probier es einfach später noch einmal«, rät sie mir und horcht auf, als Schritte im Haus zu hören sind.

»Guten Morgen«, grüßt unsere Tochter Lara.

Beate fragt, ob Tim auch schon aufgestanden sei.

»Ich glaub nicht, eben war es noch ganz still in seinem Zimmer«, grummelt sie verschlafen. Vor unseren Augen macht sie Dehnübungen, um wach zu werden. Augenblicklich wird mir bewusst, dass der einstige Teenager zu einer hübschen jungen Frau herangewachsen ist. Ich beobachte, wie sie sich langsam streckt, die Arme hoch über den Kopf hebt und sich dann tief nach vorne beugt. Ihre Bewegungen sind fließend und von einer anmutigen Eleganz, die mich an Beate erinnern. Lara hat ihre schlanke Gestalt geerbt, ihre geschmeidige Art, sich zu bewegen, und diese besondere Ausstrahlung, die jeden Raum erhellt.

Plötzlich heult ein Motor in der Einfahrt auf, eine Autotür klappt, und Lara beendet ihre Übungen. Kurz darauf klingelt es. Ich schaue Beate entsetzt an. »Das werden doch wohl nicht schon die ersten Gäste sein«, bricht es aus mir heraus. »Wir hatten elf Uhr gesagt.«

Beate will sich erheben, um zu öffnen, doch Lara kommt ihr zuvor. »Bleib sitzen, Mama. Das ist für mich.« Schnell sprintet sie ins Haus und öffnet die Tür.

Als ich die Stimme von Janis höre, verziehe ich das Gesicht. Für mich ist Laras Freund ein rotes Tuch. Seit ich ihn das erste Mal gesehen habe, hege ich eine tiefe Abneigung gegen den jungen Mann. Janis verkörpert alles, was ich ablehne: seine nachlässige Haltung, die lockere Art, mit der er durchs Leben geht, und vor allem seine fehlenden Ambitionen. Ich, der stets Wert auf Disziplin und Zielstrebigkeit lege, sehe in ihm einen Traumtänzer, der keinen guten Einfluss auf meine Tochter ausübt. Zwar bemühe ich mich, mich zusammenzureißen, doch meine Abneigung ist mir deutlich anzusehen.

Lara führt Janis ins Wohnzimmer, und während Beate versucht, die Situation mit einem Lächeln zu überspielen, beobachte ich das Geschehen mit zusammengekniffenen Augen.

»Wann gibt’s Frühstück?«, ruft Lara in den Garten. »Wir haben es ein bisschen eilig, denn wir wollen gleich an die Ostsee fahren.«

Das ist zu viel für mich. Ich spüre, wie mir die Wut in den Kopf steigt. Es hält mich nicht mehr auf der Bank. Ich stehe auf und marschiere ins Haus. »Daraus wird nichts!«, sage ich in einem Ton, der keinen Widerspruch duldet. »Der heutige Sonntag gehört der Familie, und ich erwarte, dass du der Feier deines Bruders beiwohnst.«

Laras Augen weiten sich vor Überraschung, und einen Moment herrscht absolute Stille im Raum. Doch dann bricht die Empörung aus ihr heraus. »Was soll das, Papa?«, echauffiert sie sich, während Janis verlegen zur Seite schaut.

»Du hast mich verstanden«, entgegne ich streng. »Und du«, sage ich an Janis gewandt, »gehst jetzt bitte.«

Unsicher schaut er zwischen uns hin und her, doch schließlich kapiert er, dass er hier nicht erwünscht ist.

Als die Tür ins Schloss fällt, wendet sich Beate an mich. »Musste das sein? Er hätte doch mit uns frühstücken können.«

Doch davon will ich nichts hören.

Lara bietet mir entschlossen Paroli. »Du bist zu weit gegangen, Papa. Lass deine schlechte Laune nicht an meinem Freund aus, nur weil du heute wieder deinen Juniblues hast.«

Ich runzle die Stirn. Noch bevor ich etwas erwidern kann, greift sie zu ihrem Handy. »Warte auf mich, Janis, ich komme selbstverständlich mit.«

Schnellen Schrittes läuft sie die Treppe hinauf. Nach nur zwei Minuten verlässt sie ihr Zimmer mit einer Tasche über dem Arm.

Auf dem Flur stößt sie mit Tim zusammen. »Alles Liebe zu deinem Burzeltag, kleiner Bruder. Mein Geschenk für dich liegt in der Küche. Hab viel Spaß auf deiner Feier, wir sehen uns später«, höre ich sie sagen. Zu mir sagt sie nichts. Wortlos verlässt sie das Haus.

Ich bleibe am Treppenaufgang stehen und warte darauf, dass Tim die Stufen heruntersteigt.

»Was war denn hier los?«, fragt das Geburtstagskind.

»Papa hat Janis vor die Tür gesetzt«, antwortet Beate mit hochgezogenen Brauen und knufft mich in die Seite, bevor sie Tim überschwänglich beglückwünscht. Es ist offensichtlich, dass er sich in der festen Umarmung seiner Mutter unwohl fühlt und ihm die vielen Knutscher unangenehm sind, die sie ihm unaufhörlich auf die Wange drückt. Dennoch lässt er sie gewähren.

»Oh, bitte, fang jetzt bloß nicht an zu weinen, Mama«, fleht Tim und geht einen Schritt auf mich zu. Ich lasse ihn mit einem kräftigen Schulterklopfer davonkommen.

»Hunger?«, frage ich und schiebe ihn in Richtung Esszimmer.

Wir nehmen am üppig gedeckten Frühstückstisch Platz. Es gibt eine reichhaltige Auswahl an knusprigen Brötchen und Croissants, die Beate am frühen Morgen im Ofen aufgebacken hat. In kleinen Schälchen liegen goldgelbe Butter, Marmelade und Akazienhonig. Neben den süßen Aufstrichen stehen verschiedene Käse- und Wurstsorten bereit, und auf einem großen Teller thront eine Auswahl an frischem Obst – saftige Erdbeeren, süße Trauben und geschnittene Melonenstücke, die einen Hauch von Sommer versprühen.

Tims Blick wandert über all diese Leckereien hinweg. Auch über die Dekoration verliert er kein Wort. Er ist zu sehr auf das Eine fixiert – sein Geschenk.

Beate und ich bemerken seine Unruhe, doch wir lassen ihn zappeln. Tim, dem Geduld nicht in die Wiege gelegt wurde, hält es nicht mehr aus. Er verlässt die Tafel und geht in die Küche, um das Präsent seiner Schwester zu holen.

Noch im Gehen beginnt er das Geschenkpapier aufzureißen und lässt die Fetzen achtlos zu Boden fallen. Als er schließlich den Inhalt des Pakets sieht, hält er inne und mustert die Gegenstände. »Ein Erste-Hilfe-Kasten? Eine Warnweste und ein tannengrüner Duftbaum?«

Beate und ich beobachten seine Reaktion und tauschen erneut vielsagende Blicke aus. Um Tim nicht länger auf die Folter zu spannen, stehen wir auf und bitten ihn, uns nach draußen zu folgen. Ich greife nach der Fernbedienung für die Garage, und mit jedem Zentimeter, den das Tor nach oben fährt, steigt die Spannung ins Unermessliche.

Als es sich schließlich vollständig geöffnet hat, entdeckt er einen modernen Kleinwagen, lackiert in einem hellen Metallicgrün. Noch spät abends haben Beate und ich eine riesige rote Schleife um den Wagen gebunden.

»Wow«, murmelt Tim mehr gezwungen als begeistert. »Damit habe ich nicht gerechnet.«

Stolz trete ich vor und überreiche meinem Sohn den Autoschlüssel. »Es ist ein Jahreswagen, tipptopp gepflegt und sehr sparsam im Verbrauch.«

»Und ich habe ihn gestern noch für dich vollgetankt«, fügt Beate strahlend hinzu.

»Lass uns eine Runde um den Block drehen«, schlage ich vor, doch Tim besteht darauf, allein zu fahren.

»Ich möchte den Wagen erst mal in Ruhe ausprobieren.«

Er setzt sich ins Auto, stellt den Sitz in eine für ihn angenehme Position und steckt den Schlüssel ins Zündschloss. Gern würde ich ihm noch einige wichtige Details zu dem Wagen erklären, doch Tim startet bereits den Motor und legt den ersten Gang ein. »Kannst du die Schleife entfernen?«, bittet er seine Mutter, die ihm sofort den Gefallen tut. Gleich danach gibt er Gas.

»Denk daran, dass du deinen Führerschein auf Probe hast. Übertreibe es nicht!«, rufe ich ihm noch hinterher, doch er ist bereits zu weit entfernt, um meine warnenden Worte zu hören.

Beate bleibt einen Moment lang still stehen und sieht dem Auto hinterher, bis es um die Ecke verschwindet. Dann kommen ihr erste Bedenken. »Glaubst du, er hat sich wirklich gefreut?«

Ich lege den Arm um sie. »Ich bitte dich, Schatz. Wir haben ihm den Führerschein bezahlt, der teurer war als der für Merle, Paul und Lara zusammen. Damit, dass er obendrein noch einen eigenen Wagen bekommt, hat er gewiss nicht gerechnet. Vermutlich ist er überwältigt und kann seine Emotionen nicht so zum Ausdruck bringen. Was das betrifft, kommt er ganz nach mir. Ich bin auch eher der Typ, der sich innerlich freut.«

»Sag bloß«, veralbert Beate mich und streckt die Arme freudig in die Luft. »Hurra«, ruft sie aus voller Brust, »endlich muss ich die Kinder nicht mehr von A nach B kutschieren. Was fange ich bloß mit meiner neu gewonnenen Freiheit an?«

»Ich weiß es nicht, Schatz. Ich weiß nur, dass ich jetzt den Grill anheizen werde, damit Tims Gäste brunchen können.«

Die Holzkohle glüht rot und knistert leise, als die ersten Gäste im Garten eintreffen. Es sind Tims Schulkameraden und Sportkollegen, junge Männer und Frauen, die ich fast alle persönlich kenne. Tims bester Freund kommt auf mich zu und grüßt freundlich. »Hallo, Herr Börnsen. Wo ist Tim?«

Ich deute mit einem Nicken in Richtung der Garageneinfahrt. »Er dreht gerade eine Proberunde mit seinem neuen Wagen, aber er kommt bestimmt gleich zurück.«

Überrascht schaut er mich an. »Echt? Er hat tatsächlich den Benz von Ihnen bekommen?«

Ich lache und schüttele den Kopf. »Meinen Benz? Wie kommst du denn darauf?«

Verlegen kratzt er sich am Kopf. »Ich dachte, weil Sie und er ständig daran geschraubt haben und Sie ihm doch versprochen hatten, dass er den Wagen irgendwann bekommt.«

Seine Worte lassen mich kurz innehalten. Es stimmt, Tim und ich haben unzählige Stunden in der Garage verbracht, um den alten Mercedes 230SL von 1966 wieder in Schuss zu bringen. Jede Schraube, jede Dichtung steht für eine besondere Vater-Sohn-Zeit. Dieses Projekt hat uns beiden viel bedeutet. Aber den wertvollen Oldtimer einem Fahranfänger überlassen? Unvorstellbar. Der Benz hat für mich einen unschätzbaren ideellen Wert. Er ist ein Relikt aus meiner Vergangenheit und das Einzige, was mir von meinem Vater geblieben ist. Tillmann Börnsen hat diesen Wagen geliebt, gepflegt und gehegt, und ich war das stolzeste Kind im Alten Land, wenn ich bei ihm mitfahren durfte.

»Nein, er hat einen kleinen Franzosen von uns bekommen«, stelle ich klar und horche auf. »Ich glaube, er fährt gerade vor.«

Wie auf Kommando entfernen sich die jungen Leute aus dem Garten, eilen zur Einfahrt und bewundern Tims Gefährt.

Der Duft von Gegrilltem und die Aussicht auf gekühlte Getränke locken sie wenig später zurück. Während Beate und ich uns ums leibliche Wohl kümmern, wird Tim von einer Freundin gefragt, ob seine Eltern beabsichtigen, die ganze Zeit anwesend zu sein. Fast fällt mir die Grillgabel aus der Hand, als ich meinen Sohn antworten höre: »Nein, die hauen gleich ab. So ist es mit meiner Mutter abgesprochen.«

Das ist ja höchst interessant, denke ich und frage mich, ob Beate von allen guten Geistern verlassen ist. Wie kann sie dieser Horde unbeaufsichtigt unser Zuhause überlassen?

»Hast du vergessen, was im letzten Jahr bei den Fiedlers los war?«, erinnere ich sie. Nachdem die Tochter eines Kollegen eine Party veranstaltet hatte, während ihre Eltern ausgegangen waren, musste das ganze Haus renoviert werden. Statt der geladenen zehn Gäste waren über hundert Leute gekommen, die binnen drei Stunden die ganze Einrichtung zerlegten. Der Abend endete mit Blaulicht. Die Polizei musste das Chaos auflösen, und ein Krankenwagen kümmerte sich um die Hausherrin, die einen Nervenzusammenbruch erlitt.

Meine Frau beruhigt mich. »Das wird hier nicht passieren. Du kannst Tim vertrauen. Nun komm schon. Wir vertreiben uns die Zeit anderweitig.«

»Womit?«

»Vielleicht mit einem Stadtbummel.«

Nun bin ich sicher, dass Beate nicht klar bei Verstand ist. »An einem Sonntag? Alle Geschäfte haben geschlossen.«

»Du hast mir nicht zugehört. Ich sagte Stadt- und nicht Einkaufsbummel. Komm einfach mit und lass dich überraschen.« 

Grete: Beste Freundin

Grete

Beste Freundin

Es ist früher Nachmittag, als ich die schwere Haustür hinter mir schließe und mich auf mein altes Fahrrad schwinge. Der Rahmen mag zwar rostig sein, doch die Reifen sind frisch aufgepumpt, und die Kette läuft nach ein paar Tropfen Öl wieder geschmeidig. Dieser alte Drahtesel hat mich über sechs Jahrzehnte auf meinen Touren durch das Alte Land begleitet.

Während ich in die Pedale trete und der Fahrtwind sanft durch mein ergrautes Haar streicht, wandern meine Gedanken in die Zeit, als ich noch eine junge Frau war und zum ersten Mal am Deich entlangradelte. Ich war achtzehn, als ich meine trostlose Heimat in Westfalen verließ, eine kleine, graue Stadt, die noch von den Narben des Krieges gezeichnet war. Es gab nur eine Lösung für mich: weg, weit weg. Mit einem einzigen Koffer und dem festen Entschluss, meinem Leben eine neue Richtung zu geben, bestieg ich den Zug nach Hamburg. Die Großstadt empfing mich mit offenen Armen, und schon bald fand ich Arbeit als Bedienung in einem kleinen Café nahe dem belebten Wochenmarkt.

Jeden Samstag kamen die Obstbauern aus dem Umland, um ihre frischen Waren anzubieten. Einer von ihnen war Tillmann Börnsen, ein kräftiger Mann mit wettergegerbtem Gesicht und ernsten Augen. Es war nicht Liebe auf den ersten Blick, aber etwas an ihm zog mich an. Als er mir eines Tages seinen Hof und die umliegenden Obstplantagen zeigte, war es für mich, als beträte ich eine andere Welt. Die endlosen Reihen von Apfelbäumen, die in voller Blüte standen und die Luft mit ihrem betörenden Duft erfüllten, hinterließen einen tiefen Eindruck bei mir. Für mich fühlte es sich an, als hätte ich endlich den Ort gefunden, an dem ich bleiben wollte. Als Tillmann später um meine Hand anhielt, zögerte ich kurz, denn ich wusste, dass er kein umgänglicher Mensch war. Er war wortkarg und stur, aber auch erfahren und zielstrebig, was mir imponierte. Bei seinem Vorhaben, den Hof zu einem lukrativen Betrieb auszubauen, wollte ich ihn unterstützen. Die Gewissheit, dass das Leben als Bäuerin harte Arbeit bedeuten würde, schreckte mich nicht ab. Ich sagte Ja zu dem Mann, der mich erst zur Frau und kurz darauf zur Mutter machte.

Die Menschen in der Region haben es mir nicht leicht gemacht, mich einzugewöhnen. Für sie blieb ich eine Fremde, eine Zugereiste mit viel zu kurzen Röcken und modernen Ansichten, die nicht in ihre Gemeinschaft passte. Vor allem die Frauen im Dorf mit ihren tief verwurzelten Traditionen und strengen Moralvorstellungen begegneten mir mit Argwohn. Oft spürte ich die misstrauischen Blicke im Rücken, hörte das Flüstern, wenn ich vorbeiging. Aber ich ließ mich nicht entmutigen und war entschlossen, meinen Platz in dieser neuen Welt zu verteidigen.

In all den Jahren gab es nur eine Person, die mir von Anfang an mit Offenheit begegnete: Herta Kröger. Sie hatte den Mut, gesellschaftlichen Normen zu trotzen. Für mich wurde sie zu einer wahren Stütze, und unsere Freundschaft hat weit länger als ein halbes Jahrhundert Bestand.

An diesem sonnigen Sonntag im Juni bin ich auf dem Weg zu Krögers Hof, um meine alte Freundin zu besuchen. Die vertrauten Wege führen mich vorbei an Feldern und Kirschbäumen, die bereits erste Früchte tragen. Ich atme tief die frische Landluft ein und spüre die Wärme der Sonne auf meiner faltigen Haut. Trotz all der Jahre empfinde ich noch immer die gleiche Verbundenheit mit dieser Landschaft, die mich damals so sehr in ihren Bann gezogen hatte.

Als ich schließlich mein Ziel erreiche, tobt in Hertas Garten bereits das pralle Leben. Kinderlachen dringt an meine Ohren, und ich sehe, wie die Kröger-Familie fröhlich beisammensitzt. Der Anblick von vier Generationen berührt mein Herz und weckt zugleich eine leise Melancholie in mir. Doch bevor mich die Gedanken an meine eigene Familie ganz einholen, stelle ich mein Rad ab und öffne die knarrende Pforte.